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Dort draussen

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Es war wieder einmal einer dieser Tage, an denen mir einfach alles egal war ... egal, was ich noch zu tun hatte, egal ob man mich erwartete, ich musste einfach mal raus aus diesem ewig gleichen Ablauf, diesen immer gleichen Gefühlen, die da in mir hochkommen ... ich habe da nichts verloren, gehöre nicht dazu. Es war nicht das erste Mal, dass ich nach der Schule darauf verzichtete, nach Hause zu fahren, stattdessen einen Seitenweg nahm und die Stadt hinter mir ließ. Sicher, man erwartete mich zum Mittagessen, und es ist ja nicht so, dass ich nicht gerne dabei sein möchte, aber noch viel mehr sehnte ich mich an diesem Tag nach diesem Ort, meinem Ort. Ja, irgendwie war die offene, einsame Landschaft das Einzige, wo ich mich wirklich geborgen und irgendwie auch sicher fühlte - nicht, dass mir die Stadt Angst gemacht hat, nein, aber irgendwie wagte ich dort nicht, der Mensch zu sein, der ich wirklich bin ... solche Menschen möchte niemand, das durfte ich bisher oft genug erfahren. Ohne ein Wort des Abschieds schwang ich mich auf mein Fahrrad, fuhr noch beim Bäcker vorbei, um etwas Proviant in Form von belegten Brötchen und kaltem Kakao einzuladen, und dann ging's wie in Eile raus aus der Stadt, auf einem Weg, der immer schmaler wurde und schließlich nur noch als Sandweg zu bezeichnen war. Der Weg führte direkt auf einer Anhöhe, der perfekte Aussichtspunkt - zur einen Seite lag die gesamte Stadt, andere sagten gerne etwas abwertend "unser Dorf", rund 50 m unter mir - zur anderen Seite nur noch Hügel und Wald, abundzu durchschnitten von Ackerflächen, einzelnen Häusern und zahlreichen Seen. Dorthin wollte ich, und ich hatte mir vorgenommen, dort zu bleiben, bis die Sonne hinter dem Horizont verschwand. Es war später März, und der erste Tag in diesem Jahr, wo es richtig angenehm warm wurde, so dass die Jacke endlich zuhause bleiben konnte ... der Winter hatte mich die letzten Wochen abgehalten, an "meinen Platz" zu fahren, wo ich im letzten Herbst, nachdem ich ihn gefunden hatte, alle paar Tage einmal war.

Ich verließ den Hügel und fuhr durch den Wald, auf verlassenen schmalen Pfaden, es ging auf und ab durch immer dichteren Kiefernwald, Naturerlebnis in Deutschland ... kein Mensch begegnete mir auf diesen Strecken, und genau das war auch der Grund, warum ich hier sein wollte. Nein, ich hasse die Menschen nicht, wenn es so wäre, hätte ich es vermutlich leichter im Leben, es waren nicht die Menschen an sich, sondern das, was sie taten. In der Schule, ich stand eigentlich oft mitten drin, von außen hat man mich bestimmt nicht für einen Außenseiter gehalten, ich redete mit, den gleichen Schwachsinn vom gestrigen Abendprogramm auf Sat1 und von den Erlebnissen auf der letzten Party ... doch in Gedanken war ich ganz woanders. Mein Freundeskreis, ja, manchmal nannte ich es so, dieser Kreis war nicht mehr als eine Aktivitätenvermittlung, wollte Matze ins Kino, rief er eben die anderen an, ob wir mitwollten. Aber wehe, Hendrik rief uns an und erzählte von seinem Kummer, den er die letzten Tage hatte, dann heißt es »Lass uns doch mit dem Scheiß in Ruhe« ... nein, das hat niemand gesagt, oberflächlich waren wir doch füreinander da, es war anders.

Wer für Kummer sorgte, wer sich als Spaßverderber zeigte, wurde das nächste Mal eben nicht zur Party mitgenommen. Das Ganze war aber im Grunde kein Problem, denn anscheinend hatte niemand Kummer ... na ja, so wirkte es zumindest. Ich kann mich an keinen Fall erinnern, wo wir zusammen irgendwelche tiefergehende Gespräche geführt hatten, wo irgendein Problem zur Sprache kam ... nein, unser Freundeskreis war ein Unterhaltungskreis, Sinn und Zweck des Ganzen war, in der Schule jemanden zum quatschen zu haben, Freitag Abend zusammen auf Party zu gehen, ab und zu die eine oder andere Aktivität dazwischen, z.B. mal eine Runde im Café. Dazwischen ist dann doch wieder jeder für sich und muss halt sehen, wie er seine Sachen gerichtet bekommt. Und alle schienen sich damit abzufinden, so war's nunmal. Ja, wirklich, so ist es anscheinend.

Ich erinnere mich noch an die Zeiten von früher, da gehörte man zusammen wie eine Familie, ich weiß noch von den Abenteuerspielen, die wir damals gemacht hatten, wir teilten uns in zwei Gruppen auf und verschwanden im Wald, Ziel des Ganzen war, der anderen Gruppe heimlich aufzulauern und Angst einzujagen, und oftmals war es so, dass Keiner wirklich wusste, wer der Gejagte ist ... eigentlich ein dummes Spiel, aber es hat Spaß gemacht, und man konnte sich so richtig dazugehörig fühlen.

Damals gehörte es einfach dazu, dass man zusammengehalten hat, es war einfach eine richtige Freundschaft - damals war man auch zu jung, um von dem ganzen Mist da draußen angesteckt zu werden, wir waren eben noch Menschen, Kinder, keine Medienzombies oder Wirtschaftsroboter. Ja, die Zeiten liegen lange zurück, irgendwann ging's los mit Fernsehen und Zeitschriften, bald wurde nur noch über Fernsehen gesprochen, dann kamen Computer dazu, dann musste man auf einmal cool sein, versuchte alle Freunde loszuwerden, die es nicht sind, um sich stattdessen coole Freunde zu suchen ... ich gehörte damals zu den Ersten, die unbeliebt wurden, die keine Einladungen mehr erhielten, weil nicht cool genug. Ich sehnte mich schon damals mehr nach den alten Spielen, dem Zusammensein, man warf mir vor, nicht erwachsen zu werden und irgendwann identifizierte ich mich damit. Die alten Freundschaften, die Zusammengehörigkeit, alles dahin, dafür griffen nun die Gesellschaftszwänge um sich ... um cool zu sein, musste man coole Fernsehsendungen gesehen haben, solche die meist bei RTL und SAT1 liefen, um anschließend die ganzen Pausen hindurch davon zu reden, man musste natürlich als Junge auf Mädchenfang gehen, wobei es keinesfalls darauf hinauslaufen sollte, sich richtig zu verlieben, nein, es gehörte einfach dazu, eine zu haben, möglichst hübsch sollte sie sein und auf Partys ein gutes Bild geben. Nun ja, man wurde dann ja so erwachsen und dieser Jugendkult nahm ein Ende, stattdessen ging es nun darum, sich eine berufliche Basis zu sichern, und so kamen sie alle mit ihren Studienführern, Börsenkursen ... nun musste man nicht mehr cool sein, sondern ein gutes Bild machen. Bloß keine Flieger im Unterricht, vielleicht erzählt es der Lehrer ja dem späteren Chef ... bloß nicht auffallen, wer auffällt wird arbeitslos ... ja, das hab ich mir so ausgelegt, warum auffallen oder rausfallen so verpönt war, wusste ich nicht und weiß ich heute noch nicht, mir fiel nur auf, dass auf einmal niemand mehr von den früheren Interessen sprach, es begann schon in Zeiten des Jugendkultes und wurde später nur noch schlimmer. Wer nicht ist wie alle anderen, ist schon mal einmal raus, wer zu allem Überfluss auch noch die endlose Unterhaltung und Belustigung durch ernsthafte Themen unterbricht, ist doppelt raus. Ja, Letzteres war das Allerschlimmste ... bloss nicht einmal einen Tag lang ohne Lachen zur Schule kommen, sonst biste bei der nächsten Einladung sicher nicht mehr dabei.

Und mir war irgendwann das Lachen vergangen, ein paar Jahre ist es wohl schon her, als ich begann, mich irgendwie fremd, nicht mehr zugehörig zu fühlen. Ich konnte irgendwie nicht mehr verstehen, warum die anderen ihr Leben nun so lebten, warum die Dinge, die früher von Interesse waren, auf einmal nichts mehr zählten. Warum Freundschaft nicht mehr wirklich Freundschaft bedeutete. Irgendwie hatte ich keine Lust mehr, mich daran zu beteiligen, sagte immer häufiger ab, wenn ich eingeladen wurde, es bedeutete mir einfach nichts mehr.

So stand ich eben jeden Tag dabei, laberte ein bisschen mit, ab und zu kam ich mit zu den Aktivitäten, immer schön grinsen. Und dabei gab es nicht wenige Tage, da hätte ich mit allem, was greifbar war, um mich werfen können. »Hey, wollen wir nicht mal nach Hamburg fahren, zum shoppen« ... meine Antwort war dann so was wie »Nein, muss noch lernen« und meine Gedanken waren - was verdammt nochmal soll ich in Hamburg shoppen, ich scheiß auf den Konsum und brauch kein Geld auszugeben, um glücklich zu sein ... dachte zugleich, wie es doch wäre, wenn man mal zusammen ein Abenteuerurlaub planen würde ... nein, ich sagte kein Wort ... ich wäre sonst unten durch gewesen. So suchte ich mir die Dinge raus, die ja noch ganz erträglich waren, ein Besuch im Kino z.B., um nicht ganz außen vor zu sein. Und in mir stieg der Frust hoch, ich fuhr durch die Stadt, und jeder dumm lachende Mensch in meinem Alter, der mir begegnete, machte es nur noch schlimmer, denn ich wusste, welche Fassade hinter diesem Lachen stand ... es war ja kein Lachen aus dem Herzen.

Ich sah die ganzen verfluchten Betonblöcke, in denen ich später arbeiten würde, wenn ich z.B. 'Marketing-Assistant' wäre - ich wusste nicht mal, was das bedeutet, stand vorne dran, und ich wollte gar nicht wissen, was es heißt. Es war mir alles egal ... und es ist nicht lange her, im letzten Sommer begann ich das Bedürfnis zu haben, die Stadt einfach mal zu verlassen, und so fuhr ich mit dem Fahrrad einfach raus, immer weiter, in den Wald, keine 'Marketing-Assistants' mehr, kein dummes Lachen, keine Betonblöcke, fernab davon fühlte ich mich auf einmal wieder richtig gut, ja, an warmen Tagen im Sommer genoss ich es, einfach in den Wald hineinzufahren, eine Lichtung zu suchen, mich in die Sonne zu legen und die Wärme zu genießen ... kein Mensch weit und breit, und ich fand's gut so. Manchmal lag ich Stunden dort und genoss die sommerliche Wärme. Und während ich dort saß, träumte ich davon, wie es früher war, träumte von guten Freunden, mit denen ich zusammen am Fluss sitze, wir gemeinsam die Stromschnellen runterschwimmen, wie wir abends zusammen am Lagerfeuer sitzen, über die Menschen "dort draußen" herziehen, dichter zusammenrücken, und wissen, wir gehören zusammen. Nur wir, der Fluss, und unsere Zelte.

Vergessen all die immer gleichen Saufpartys, bei denen galt, je mehr Frust desto mehr Sauf, bis man genug gesoffen hat, um den Frust zu vergessen. Vergessen die ganzen Idioten, die mit Anzug zur Schule kamen, um sich schon mal ihren Platz im nächst größten Büroblock zu sichern, vergessen die ganzen RTL-Nachmittagsendungen, bei denen Mensch und Puppe nur anhand ihrer Bewegungen zu unterscheiden waren ... ja, und das ganze nur ein Traum. Ein Traum, von dem ich wusste, dass er nicht zu verwirklichen war, mag sein, dass ich jemanden gefunden hätte, der ähnliche Träume hat, aber wenn es dann ums Umsetzen geht, steht das Abitur im Weg, nach dem Abitur das Studium, nach dem Studium die Suche nach dem Arbeitsplatz, und zu guter letzte die Familie ... Familie, die Institution, bei der alljährlich zu Weihnachten auf heile Welt gemacht wird, um kurz darauf wieder den Alltag einkehren zu lassen, der ja allzu oft eben keine heile Welt ist.

Ja, es war ein Selbstbetrug auf aller Breite, der um mich ständig vollzogen wollte, und ich hatte keine Lust mehr, mitzuflunkern. Ich wollte mich endlich wieder lebendig fühlen, und das größte Gefühl lebendig zu sein, Mensch zu sein, hatte ich noch hier draußen ... und es zog mich immer dorthin, wo mir »die Anderen«, die die Stimmung hier gar nicht zu würdigen wussten, nicht begegneten. Aber im gleichen Moment hoffte ich darauf, hier einem Menschen zu begegnen, der nicht zu den anderen gehört, jemand, der genauso auf der Flucht ist wie ich ... ja, ich sehnte mich geradezu nach diesem Menschen, stellte ihn mir vor, und genoss die Vorstellung, diesen Menschen gefunden zu haben.

Und irgendwie bereitete mir diese Sehnsucht auch Schwierigkeiten, denn es war mehr als die Sehnsucht nach einem guten Freund, nein, es war auch Sehnsucht nach einem Menschen, den ich in meine Arme schließen konnte, eine Sehnsucht nach Geborgenheit, und immer dachte ich dabei an einen Jungen, träumte davon, diesen Jungen in meinen Armen zu halten und seine Nähe genießen zu dürfen ... war ich deswegen schwul? Ich konnte es nicht verneinen, es war ja nun mal so, dass ich mich zu Jungen hingezogen fühlte, ja, auch in der Schule begegnete mir manchmal der eine oder andere, dessen Blick wie ein Rausch auf mich einwirkte, wie ein Rausch, da es mir auf der einen Seite sehr gefiel, diesem Menschen unauffällig in die Augen zu blicken, auf der anderen Seite fühlte ich mich dadurch noch mehr als nicht dazugehörig, noch verlorener unter den anderen. Wäre ich wie alle anderen, die gleichen Ziele vor Augen, nur mit dem Unterschied, Jungs statt Mädchen zugeneigt zu sein, stünde ich vielleicht vor einem Hindernis, aber ich könnte es überwinden. Nur bin ich nicht einer von den anderen, ich kann mich da irgendwie nicht hineinfinden, und ich will es auch nicht. Ich wollte es zumindest nie, aber seitdem ich das erste Mal vor gut einem Jahr eindeutig spürte, dass ich mich zu einem Jungen hingezogen fühlte, seitdem wünsche ich mir irgendwie, doch einfach wie die anderen zu sein, dazuzugehören, weil es das Leben einfach leichter machen würde ... aber ich weiß, das wäre nur ein Selbstbetrug.

"Schwul" - damit konnte ich mich nicht identifizieren, denn dieser Begriff stand einfach für mehr als Liebe zum selben Geschlecht, eine ganze Art zu Leben war damit verknüpft. Und es war eben genau die Welt, von der ich mich eigentlich lösen wollte, eine Welt von Oberflächlichkeit, Anpassung, Beziehungen ohne wirkliche Zusammengehörigkeit, Liebe ... so nahm ich es wahr, es mögen Vorurteile sein und waren wahrscheinlich auch solche, aber das war alles, was ich erfahren konnte, ich kannte keine Schwulen in meinem Umkreis. Ja, ich las Geschichten, Coming-Out-Berichte, Anzeigen, alles was ich im Internet finden konnte, und nie erkannte ich wirklich meine Gefühle wieder, nein, es gab die eine oder andere Ausnahme, einzelne Abschnitte einer Story, die mir doch gefallen hatten. Wo die Liebe auch gleich eine tiefe Freundschaft war, wo das Gefühl von Zusammengehörigkeit richtig rübergebracht wurde, ja, danach sehnte ich mich, einfach jemanden zu haben, den ich gernhaben konnte, mit dem ich alles teilen konnte. Ja, und diese Gefühle waren nur ein Teil von mir, nicht mein ganzes Leben, ich musste deswegen nicht gleich das widerspiegeln, was Mensch unter "Schwulsein" verstand - nein, ich war nicht schwul, vielleicht vom anderen Ufer, kam mir eines Tages in den Sinn, als ich gerade die Brücke eines breiten Flusses überquerte, die zwei Seen miteinander verband.

Ja, es waren viele Tage, die ich im letzten Sommer draußen in der Einsamkeit verbrachte und darüber nachdachte, und irgendwie verlor ich dadurch noch mehr Anschluss an unseren alten, längst nur noch im Sprachgebrauch existierenden Freundeskreis. Und es waren diese Zweifeleien, die mir da draußen, wo ich alles, was mich so aufregte, zurückließ, mitunter das Gefühl der Freiheit nahmen. Wenn ich wüsste, dass ich die Menschen, die ich suchte, finden könnte, wären diese Wolken sicher rasch verzogen, aber wie sollte es mir gelingen?

Der heutige Tag wurde, nach dem langen Winter, ungewohnt warm und der Kiefernwald begann nach aufsteigenden ätherischen Ölen und erwärmter sandiger Erde zu riechen, ich genoss diese Wärme, den Geruch und das Licht, hier, weitab von der Stadt, fühlte mich befreit und in die alten, unbeschwerten Zeiten zurückversetzt, als wir noch Krieger im Wald gespielt hatten ... ja, ich wünschte mir, ich könnte alles wieder aus den Augen von damals sehen, ganz ohne die ewigen Fragen, ob und wie meine Träume überhaupt zu verwirklichen sind.

Ich war unzählige Male diese Strecke gefahren, jedes Mal steuerte ich den gleichen, gewohnten Platz an, unten am See, aber heute war es ein kleiner Seitenweg, der es mir angetan hatte, ich bog ab und wollte einfach mal sehen, wohin er führen mag, ganz in Erwartung, dass ich ohnehin wieder umkehren müßte. Der Wald wurde recht dicht und der Weg schien immer oben auf diesem sandigen Höhenrücken zu verlaufen, zumindest gab's kein auf- und ab mehr.

Irgendwann wurde der Boden so sandig, dass die Räder durchdrehten und mir nichts anderes übrig blieb, als zu Fuß weiterzugehen, kehrt machen wollte ich nicht mehr, zu lang das bereits gefahrene Stück. Und so wurde es bereits später Nachmittag, als der Weg auf einmal steil hangabwärts führte, so steile Hänge kannte ich von hier gar nicht, nun ja, es muss ja ein Grund haben, dass man diese Landschaft mit der Schweiz in Verbindung brachte. Vor mir eröffnete sich ein von den Bäumen zu beiden Seiten begrenzter Blick in ein breites, dicht bewaldetes Tal, in dem sich ein kleiner See verbarg.

Ich rutschte mehr oder weniger den zertrampelten steilen Sandweg herab und fand mich rasch unten in einem ziemlich dichten, feuchten und auch recht kühlen Wald. Von hier aus hatte ich nur die Wahl, am Rand des Talbodens in beide Richtungen weiterzufahren, ja, fahren konnte man mit etwas Mühe noch gerade, und so steuerte ich auf den See zu und war relativ verblüfft, dort einen Steg und einen schmalen, an der Hangseite verlaufenden Sandstrand vorzufinden. An dem Steg lag ein hölzernes Paddelboot, das noch gänzlich nutzbar erschien, und zu allem Überfluss stand hier auch noch ein kleiner, selbst gezimmerter Holzschuppen. Das Ganze verblüffte mich ein wenig, denn mein gewohnter Platz am See war sicher nicht so abgelegen wie dieser, und der ganze See war auch ein Stückchen größer, und dort war nicht ein einziger Steg und nicht ein einziges Boot vorzufinden. Ein wenig unheimlich erschien mir das Ganze, so weit ab vom Schuss und doch zu interessant um weiterzufahren.

Der Holzschuppen war natürlich erstes Ziel meiner Neugierde, ich schaute durch das Schlüsselloch, dunkel, rüttelte an der Tür, verschlossen. Fenster hatte das Ding auch nicht, hätte sich auch kaum gelohnt ... es wäre sicher nicht schwierig gewesen, den Schuppen aufzubrechen, aber ich wusste nicht, warum er hier stand, ob er jemandem gehörte, und ließ es bleiben. Ja, der Hunger bewegte mich schließlich dazu, an den Steg zu gehen und genüsslich Brot und Kakao zu verzehren, mit Vogelgezwitscher und Froschquaken als Begleitkonzert. Die Abgelegenheit zeigte Wirkung, kein Mensch nutzte den Weg am Tal entlang, eine richtige Idylle am See.

Ich ließ die Füße unter dem Steg pendeln, fragte mich, ob dieser Platz nicht viel besser als der bisherige ist, ja, vielleicht würde ich künftig immer hierherkommen, im Sommer mit dem Boot auf dem See rumpaddeln ... viel leichter, da mal einfach alles zu vergessen und das Leben mal locker zu nehmen. Ja, vielleicht würde ich den Schuppen auch noch öffnen, sicher liegen dort die Paddel und wenn's gewittert, wüsste ich wohin. Der Hang würde sich perfekt zum Sandbrettfahren eignen, da nimmt man ein flexibles Brett mit glatter Oberfläche, vorne zwei Seile befestigen, glatte Oberfläche auf den Sand, Seile anziehen und ab geht die Post. Na ja, eigentlich müßte ich fürs Abi lernen ... es steht kurz vor mir, und ich hab doch mehr oder weniger nichts getan, meine Eltern fragten mitunter schon aufdringlich, jaja ...

Fast wäre mein Herz stehengeblieben, der Schock saß mir in allen Knochen ... ich fühlte etwas auf meiner Schulter, sicher in einem Anblick puren Schreckens drehte ich mich um, jemand schreckte zurück - vor lauter Schreck konnte ich erst gar nicht wahrnehmen, wer oder was dort stand, nur dass es sich bewegte, und nach ein paar Sekunden verflog der Schrecken ganz und ging in nervöse Zittrigkeit über, und dann sah ich dort einen jungen Mann, vielleicht 2 oder 3 Jahre älter als ich, stehen, er war sicher einen halben Kopf größer als ich, hatte mittellange dunkelbraune Haare und schaute mit erstarrten braunen Augen in meine Richtung.

Der Schrecken saß doch noch zu tief in mir, kein Wort brachte ich raus, er auch nicht ... dann, nach einer Zeit, die mir wie ewig vorkam, fragte er mich, wer ich denn bin, was ich hier den machen würde. Nun gut, mit sicher noch immer etwas verschrecktem Blick am Steg sitzend und ohne ihm auch nur einmal in die Augen zu schauen, schilderte ich, wie es kam, dass ich mich hierher verirrte, und nutzte natürlich die Gelegenheit, um ihn zu diesem Plätzchen auszufragen. Ja, meine Vermutung hatte sich bestätigt, er, mit Namen Manuel, hatte diesen Platz hier als Jugendlicher gefunden und kam seitdem immer wieder hierher, mittlerweile längst aus der Schule heraus, tätig als Gärtner in den Grünanlagen der Stadt.

Als wir uns so ausfragten, merkten wir, dass es Dinge gab, die uns verbanden, auch er hatte in der Schule immer Schwierigkeiten, dazuzugehören, aber nicht nur das ... er wurde regelrecht abgelehnt in der Schule, beschimpft, erzählte er. Ich konnte nie behaupten, dass ich abgelehnt wurde, nein, ich war im Grunde Schüler wie jeder andere, bin nie wirklich aufgefallen, ich behielt alles, was ich über die Anderen dachte für mich und tat nach außen so als gehörte ich ganz dazu ... Ja, ich hatte mir im Laufe der Zeit richtig angelernt, meine Gedanken für mich zu behalten, und bloß nicht aufzufallen, denn als ich dieses Spiel noch nicht beherrschte, stand ich mit jeder kritischen Äußerungen gleich ein Schritt weiter außen vor, und das wollte ich vermeiden ... so spielte ich nach außen alles mit, und war auch einigermaßen wieder in unserem sogenannten Freundeskreis - es war ja mal wirklich einer - drin.

Er hingegen war anscheinend ein regelrechter Außenseiter, schlecht in der Schule, abgelehnt von allen ... auf die Frage warum, nannte er mir immer wieder seine schlechten Leistungen, sein oftmals peinliches Auftreten in der Schule ... ich wollte das nicht als Grund akzeptieren, es musste doch mehr geben, um so außen vor zu stehen, wie er es mir beschrieb. Ja, während ich mit aller Mühe versuchte, immer mehr über ihn zu erfahren, nahm ich erst richtig wahr, dass er sich zu mir gesetzt hatte, an den Steg. Ja, ich begriff eigentlich erst, was passiert war ... hier, an einem Ort fernab meines üblichen Frustes begegnete mir ein Mensch, mit dem ich reden konnte, reden über die Dinge, über die ich schon immer reden wollte, aber nie konnte. Ein einsamer Mensch, der sich genauso nach einem anderen Menschen sehnt wie ich ... und dieser Mensch saß nun neben mir, und ich spürte ein unheimlich schönes Gefühl von Geborgenheit in mir aufkommen, zum ersten Mal ohne Gewissensbisse, nein, ein reines, befreiendes Gefühl, ich schaute zaghaft zu ihm rüber, wie er neben mir saß, mich um fast eine Kopfhöhe im Sitzen überragte, auf seine raue, sicher nicht makellose Gesichtshaut, bis ich sein ganzes Gesicht von der Seite erfasst hatte ... was ich von vorne erblickt hatte, war ein eher schmales Gesicht und einen unheimlich angenehmen Blick, ganz ohne dieses aufgesetzte Lachen, so herrlich echt und tief, aber auch ein wenig traurig oder bedrückt. Und ich fühlte mich so geborgen, als ich da an seiner Seite saß, er neben mir auf dem Steg ... ich hätte dort ewig sitzen können, ganz egal, welches Wetter kommen möge.

Es wurde Abend, die Sonne stand tief, traf nicht mehr auf den See, es würde kühler, aber es war mir in dem Moment völlig egal. Er wurde immer stiller, als ich ihn fragte, warum er denn wirklich so verstoßen wurde in der Schule, wie ich es nie erlebt hatte ... es müsse doch irgendwas gegeben haben. Und dann platzte es aus ihm heraus ... Es war sein Elternhaus, ja, seine Mutter ging fremd und zog aus, sein Vater wurde alkoholabhängig und prügelte nur zu gerne auf ihn ein, und davon hatte man offensichtlich in der Schule gehört, ja, man wollte wegen seines Elternhauses nichts mit ihm zu tun haben, er galt vermutlich als uncool, fiel mir dazu ein. Und Geld zum Shoppengehen in Hamburg hatte er vermutlich auch nicht.

Er war bereits ausgezogen, hatte die Lehre gemacht und seinen Job in der Stadt begonnen, als sein Vater schließlich wegen Trunkenheit am Steuer verknackt wurde und derzeit noch immer eine Entziehungskur macht. Ja, ein übliches Familiendrama, wie es in jeder SAT1-oder RTL Nachmittagsendung publikumswirksam verkauft wird, aber nie war mir so was in der Realität begegnet, so was gehörte für mich in die Fernsehwelt, aber ganz sicher nicht zu meinem Leben oder meiner Umwelt. Ich war froh, dass er sich mir gegenüber ausgesprochen hatte, aber er sprach kein Wort mehr, schaute nur starr auf den See, sicher eine Minute lang, bis mich einfach der Mut packte, ich meinen Arm um seinen Hals legte und ihn zu mir rüberzog, bis er sich ganz auf meinen Schoß gelehnt hatte, umfasste ihn mit beiden Armen und drückte seinen Rücken an mich, und als er noch kein Ton rausbrachte, drückte ich ihn nur fester an mich - bis er in Tränen ausbrach. Ja, ich hielt ihn in meinen Armen und ließ ihn nicht los, fühlte ein unglaubliches Gefühl von Geborgenheit und Wärme in mir aufkommen, legte mein Kopf auf seine Seite, streichelte über seinen Bauch und vergaß einfach alles, was mich bisher beschäftigt hatte. Ich fühlte nur noch ihn, wie er sich von mir drücken ließ und merkte, was für eine Zuneigung in mir entstanden war, ich wusste, ich würde ihn so schnell nicht wieder loslassen, er gehörte nun zu mir und ich zu ihm.

Ich drückte mein Gesicht an seines, spürte seine raue Haut, streichelte durch sein weiches dunkelbraunes Haar, fühlte seine Wärme ... ich hatte ihn nie gefragt, ob er sich zu Jungs hingezogen fühlte, aber was spielte es schon für eine Rolle ... ich wollte ihn einfach gern haben, einfach diese Nähe, diese Geborgenheit fühlen. Plötzlich richtete er sich auf, griff mich unter den Arm und zog mich geradezu herab zum Strand, legte sich dorthin, ich legte mich neben ihn und wir legten die Arme umeinander, umschlungen unsere Beine und blieben dort einfach so liegen, Gesicht an Gesicht, ich schaute in seine tiefen braunen Augen, wie er mich anblickte, ein leichtes Stechen im Herzen, so sehr trafen mich seine Augen, ein Kribbeln in meinem ganzen Körper, als ich ihn ganz fest an mich drückte, und er mich dann auch, ich fühlte seine Arme am Rücken, umfasste fest seinen Körper, erfühlte seinen Körperbau durch das Holzfällerhemd, was er trug, die Wärme seines Atems im Gesicht, sah sein liebevolles Lächeln, ein Lächeln, von dem ich wusste, dass es ganz von innen kam. Eine solche Geborgenheit, ein solches Gefühl von Zuneigung, so tief in mir drin, niemals hatte ich mich so wohlgefühlt, das Kribbeln tief im Bauch ließ nicht nach, es war wie ein Traum, wir lagen dort einfach, die Dunkelheit brach über uns herein, mit ihr die Kälte, aber es war uns vollkommen egal. Irgendwie stand ich neben mir, denn ich konnte gar nicht begreifen, was dieser Tag für mich bedeuten würde.

Nachwort

Gefühle dem gleichen Geschlecht gegenüber müssen nicht immer das größte Problem eines schwulen Jugendlichen sein, nein, ein wirklich großes Hindernis baut sich erst dann auf, wenn es schon lange an anderen Dingen scheitert, bevor diese Gefühle überhaupt zur Sprache kommen. In dieser Geschichte nahm die Sache ein glückliches Ende, doch in der Realität wird die Einsamkeit oftmals stärker sein. Ich hoffe, die Geschichte hat euch dennoch gefallen, wenn ja, oder wenn nicht, lasst es mich wissen.

Euer Nordl

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