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Stumme Schreie

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Marc rührt unruhig in seinem Kaffee und sieht mich musternd an. Es ist nicht schwer seine Gedanken zu lesen: »Ist das wirklich der Typ, mit dem ich schon seit ein paar Wochen E-Mails tausche?«. Ich frage ihn, wie es in seiner Ausbildung läuft und schon nach den ersten Sätzen habe ich sein Vertrauen wohl wieder gewonnen, dass er mir auch in seinen Mails entgegen bringt. Marc macht einen ruhigen und zurückhaltenden Eindruck. Er ist 18 Jahre alt und wohnt zwei Eisenbahnstunden von mir entfernt. Nach einigen belanglosen Mails am Anfang wurde mir irgendwann klar, dass er mehr möchte, als nur von den täglichen Problemen seiner Ausbildung erzählen, sondern das er jemanden sucht, mit dem er über ganz andere Dinge sprechen konnte. Seine Mails gehörten nach kurzer Zeit irgendwie zum normalen Tagesablauf und ich machte mir Sorgen, wenn ich an einem Abend mal keine Nachricht von ihm im Postfach fand.

Er sagt mir, dass alles vor vier Jahren begann. Sein Vater hatte seinen Job verloren und seit dem wurde es immer schlimmer zu Hause. Erst kam sein Dad nur ein, zwei Mal die Woche betrunken nach Hause, aber es wurde immer mehr, bis es keinen Tag mehr gab, an dem er nüchtern war. Die erste Zeit trank er nur abends, dann schon zu Mittag und heute schon am Morgen.

Marc sagt er ist froh, wenn er von zu Hause weg kann, wenn er zur Berufsschule muss oder irgendwo eingeladen ist. Er hat Angst nach Hause zu kommen. Angst vor dem, was ihn dort erwartet. Der Streit seiner Eltern, das Schreien von seinem Vater, das Jammern seiner Mutter und das Weinen von seinem kleinen Bruder, den er über alles liebt. Jeden Abend das selbe, bis sein Vater so viel getrunken hat, dass er regungslos im Wohnzimmer liegt. Den nächsten Tag, das gleich von vorn.

Marc ist schwul und kann sich nie vorstellen, sich bei seinem Vater zu outen. »Er würde mich totschlagen.«, sagt er. Er schlägt oft. Nicht nur ihn, sondern auch seinen kleinen Bruder. Prügel gehören zum Alltag. Das war nicht immer so. Vor ein paar Jahren war es eine ganz normale Familie. Ein Vater der sich um seine Kinder und um seine Frau kümmerte und der sie liebte und ihnen das so oft wie es ging auch zeigte. Heute ist alles anders.

Wenn er von den Dingen spricht, die sein Vater tut, verändert sich Marc sein Blick. Er wird düster, traurig und hoffnungslos. Ich sehe in seine süßes Gesicht. Zwei funkelnde Augen blinzeln mir zu. Wie kann man nur so einen lieben Jungen schlagen? Wie kann man ihm weh tun?

Oft waren mir sein Mails nahe gegangen. Ich versuchte mir vorzustellen, was er zu Hause erleiden musste. Weggehen kommt für ihn nicht in Frage. Er würde seine Mutter und vor allem seinen kleinen Bruder nie im Stich lassen.

Wir reden über Weihnachten und ich möchte wissen, was er sich wünscht. »Eine richtige Familie, so wie früher.«, sagt er lächelnd, »Freunde mit denen ich über alles reden kann, so wie mit dir und das mein kleiner Bruder nicht mehr weint.«

Ich fühle mich hilflos. Wie gern hätte ich irgend etwas für ihn getan, aber was kann ich tun? Wie hält er das nur aus? Jeden Tag. Ich denke an meine Eltern. Wie viel sie mir geben. Das sie immer für mich da waren und es auch noch sind.

Er sagt, dass er für seinen Vater ein Geschenk gekauft hat und er freut sich darauf, ihn damit zu überraschen. Mir fällt es schwer das zu verstehen, aber er liebt seinen Vater und es tut ihm weh, was mit ihm passiert. »Das ist viel schlimmer als die Schläge«, meint Marc. Zu hören wie die Nachbarn lachen und abfällig über ihn und die Familie reden, dass tut viel mehr weh.

Viel Geld bleibt ihm nicht. Das meiste gibt er zu Hause ab, damit es für die Miete und das nötigste reicht, sonst droht der Umzug in eine Sozialwohnung. Marc spart aber trotzdem. »Wenn ich mal einen Freund habe, dann will ich unbedingt mit ihm nach Paris fahren.«, sagt er.

Marc hofft, dass es irgendwann mal wieder besser wird. Das er wieder Freunde mit nach Hause nehmen kann, ohne sich für seinen Vater schämen zu müssen.

Wir reden noch lange. Es tut gut ihn lachen zu sehen. Beim Abschied am Bahnhof hat er ein kleine Träne im Auge und mir geht es nicht viel anders.

Ich gehe nach Hause und denke an Marc - er fährt zurück in die Hölle.

In Gedanken bin ich immer bei Dir!

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