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Kopfgeister

Band 8 - Heiligabend

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkungen

1. Dies ist er also, der letzte Band von Kopfgeister. Tja, was soll ich sagen. Jetzt wo ich fertig bin ... Irgendwie fühlt man sich leer, als hätte man etwas verloren.

2. Orte, Personen, Handlungen und der ganze restliche Kram sind natürlich frei erfunden. Mancher Markenname mag geschützt sein. Ich empfehle jedem Juristen, der sich darüber aufregt: Schlaf mit deinem Freund (oder wenn es sich nicht vermeiden lässt, mit deiner Freundin) und vergiss es!

3. Rechtschreibung -- Na und?

4. Dieser Text ist exklusiv für Nickstories geschrieben.

5. Sex - Sicher! Meine Jungs machens unsafe, was schlecht ist. Aber es ist halt reine Fiktion. Da darf man dann auch mal davon träumen, dass es eine Zeit und ein Ort gibt, an dem der nächste Mensch, der einen liebt, nicht auch gleichzeitig derjenige sein könnte, der einen umbringt. Also Lümmeltüten benutzen!

8.1. Metallische Abführmittel

Berlin

André sah Tim emotionslos an. Unser Referat hatte mit Tims direkter Frage an Rolf, André & Co geendet. Die gesamte Klasse starrte in ihre Richtung und erwartete eine Antwort, die nicht gegeben wurde.

»Warum habt ihr das getan? André, warum hast du Sven totgeprügelt?«

Die Worte schwebten noch im Raum. Ein Nachecho, das die Vergangenheit schmerzhaft in Erinnerung brachte. Wenn ich bisher nicht wusste, was Totenstille war, jetzt wusste ich es.

Es war eine bedrückende Stille. Dumpf, zäh und beklemmend hing sie im Raum. Selbst der von der Hauptstraße hereinquellende Straßenlärm schien wie durch dicke Watte gefiltert zu werden.

Während unseres Referats hatte ich beobachtet, dass Rolf, André und die anderen vor Wut und Furcht kochten. Auf Rolf und den anderen Idioten traf dies immer noch zu, sie warfen uns giftige und vernichtende Blicke zu, doch André war inzwischen die Ruhe selbst.

Er wirkte entspannt und gelöst. Als ob ihn die ganze Geschichte überhaupt nicht betreffen würde, gönnte er sich sogar ein feistes Lächeln. Mit ausgesuchter Gelassenheit spreizte er seine Finger und bedachte uns mit einem gönnerhaften Blick. Und dann hob er seine Hände. Demonstrativ langsam applaudierte er uns zu unserem Referat.

»Bravo! Bravo! Das habt ihr Hübschen aber ganz, ganz toll gemacht ...«, André strich sich übers Kinn, bevor er fortfuhr. »Dafür bekommt ihr bestimmt 'ne Eins, vielleicht sogar eine Eins Plus! Es war so emotional! So herzergreifend und so authentisch!«

André setzte sich gerade auf: »Du willst wissen, warum ich es getan habe? Weil es nötig war! Ihr Arschficker seid der letzte Dreck! Weinerliches, gefühlsduselndes Pack!«

»Sven war nicht schwul!«

»Nein, aber so gut wie. Den habt ihr auf dem Gewissen. Ihr habt ihn mit eurer Krankheit verseucht. Der war genauso jämmerlich wie ihr! ,Uhh, Tim mag mich nicht mehr. Tim ist nur noch mit diesem Neuen zusammen.` Widerlich, dieser Seelenstriptease.«

»Es reicht!«, ich musste einfach dazwischenplatzen. Andrés Selbstgefälligkeit hatte die Grenze des Erträglichen überschritten. »Du bist ein Mörder! Nicht mehr und nicht weniger. Weder Tim noch Sven hat dir je etwas getan.«

»Nein? Haben sie nicht? Natürlich haben sie es. Was ihr miteinander treibt, ist pervers. Es ist gegen die Natur. Es ist krank, ein Geschwür, das man wegschneiden muss!«

»Ach so. Dann ist mir ja alles klar. Homosexualität ist also gegen die Natur? Natürlich! Dann lässt du dir auch nie einen blasen? Ist ja gegen die Natur. Sowas machst du mit deiner Freundin natürlich nicht. Oh ... entschuldige ... du hast ja gar keine Freundin!«

Auf meinen letzten Satz war ich zwar nicht stolz - Niveau ist etwas anderes - aber er kam von Herzen.

»Oh ihr kleinen Schwuchteln, glaubt ja nicht, dass man euch akzeptiert, nur weil keiner was gegen euch sagt. Die Mehrheit findet euch abartig. Nur darf man das nicht laut sagen. Dann ist man gleich ein Nazi. Scheiße! Und wenn schon! Die wussten wenigstens, wie man mit Volksschädlingen umgeht.«

»Ja, ja, wie mit allem unwerten Leben: Einfach vergasen! André du bist echt eine Zierde für diese Schule! Dir hat man ins Gehirn gekackt und vergessen umzurühren!«, ich geb' es zu, dieser Satz war keine Glanzleistung, eher ein Totalausfall, aber André war brechreizerregend. Wenn mir übel ist, achte ich nicht sonderlich auf sprachlichen Feinschliff. Dann gibt's Grobschnitt!

Neben meinem intellektuellen Ausfall gab es noch einen zweiten Ausfall, aber nicht von mir. Unser Lehrerchen, der Philologe und Germanist Dr. Volker Rüdiger hatte der gesamten Auseinandersetzung sprachlos zugesehen.

So lieb er als Lehrer auch sein konnte, er schien die Ahnungslosigkeit in Person zu sein. Er hatte bis zu unserem Referat niemals bemerkt, geschweige geahnt, dass Tim, Kuki und ich schwul waren, noch schien er etwas von den kruden Ansichten der Gruppe um Rolf gewusst zu haben. Das mit der Vorbildfunktion üben wir dann aber noch, oder?

Doc Rüdiger war vorübergehend in eine katatonische Starre gefallen und glotzte autistisch in die Runde, während wir uns mit André verbal prügelten.

»Ins Gehirn gekackt ... stehst du auf solche Sachen? Ihr Tucken mögt ja gerne ausgefallene Spielarten. Komm Timmilein, erzähl mal, lässt dich Kuki an seinen Metallteilen spielen ... oh, antworte nicht! Ich will gar nicht wissen, wo sich dieses Psychowrack überall hat verstümmeln lassen!«

Tim verdrehte nur die Augen und ließ die Schmähungen an sich abperlen, wie Wasser von einem Ostfriesennerz. Kuki hingegen fühlte sich beleidigt, kochte vor Wut und wollte auf André zuspringen. Was ihm aber nicht gelang, da wir ihn festhielten.

»Lass es! Die sind es nicht wert!«, versuchte Tim ihn zu beruhigen.

»Oh, wie edel«, höhnte André. »Schaut euch diese prachtvollen Jungs an. Eine gestelzt brabbelnde Surferschwuchtel, eine eitle Schwimmtucke und ein Ultramaso. Hey, Kuki, geht dir eigentlich einer ab, wenn ich dir 'ne Stopfnadel meiner Oma durch deinen Schwanz steche?«

Für diese Provokation reichten Tims Kräfte nicht aus. Kuki riss sich los und sprang auf André zu. Wie die Urgewalt eines Tornados brach er über seinen Widersacher herein. Hatte André darauf kalkuliert, dass ihm Rolf und seine anderen Freunde zu Hilfe sprangen, so musste er entsetzt feststellen, dass dem nicht so war. Rolf hatte die ganze Zeit kreidebleich neben André gesessen. Ihm war klar, dass ihr Alibi geplatzt war und dass sie alle unweigerlich vor dem Jugendrichter landen würden. Ihm war das klar, was André noch lange nicht klar war: Das Spiel war aus!

Ganz ohne Deckung reagierte André wie ein verfolgtes Tier: instinktiv fluchthaft. Doch Kuki war schneller und erlegte seine Beute. Es gab ein dumpfes und ein knacksendes Geräusch und schon blutete Andrés Nase.

»Aufhören! Sofort!«, Gewitterdonner in der Klasse 10c?

Nicht ganz. Doc Rüdiger war aus seiner Erstarrung aufgewacht und mit ihm ein neuer Wesenszug unseres Lehrers. Das softe und schmusige Alt-68iger-Getue war verschwunden. Der Doc wirkte kalt, aufgeräumt und machtbewusst. Attribute, mit denen ich ihn niemals in Verbindung gebracht hätte. Es war, als wenn er kurzerhand sämtliche Weisheiten der antiautoritären Erziehung über Bord geworfen hätte. Gemessenen Schrittes trat er auf die beiden Kampfhähne zu und trennte sie mit einer Gewalt, die ich bei einem pazifistischen Kriegsdienstverweigerer niemals für möglich gehalten hätte.

»Das Schwein hat mir die Nase gebrochen!«, wimmerte André.

»Halt die Klappe, oder ich brech' sie dir nochmal!«, fauchte Rüdiger ihn an.

»Das Stück Scheiße hat mir die Nase gebrochen!«, zischte es erneut.

Doc Rüdiger platzte der Kragen. Er packte André an seinen Schultern, richtete ihn auf und brüllte: »Was soll Kuki sein? Sag' das nochmal! Ein Stück Scheiße? Weißt du, was Scheiße ist? Braun! Und das einzig braune, was ich hier sehe, bist du! Also, wer ist hier das Stück Scheiße?«

Ein paar Stufen moderater ging es weiter: »Junge, ich versteh dich nicht. Wo hast du diese kranken Ideen her? Wie kommst du auf solche Gedanken? Ist dir eigentlich überhaupt klar, was du getan hast? Du hast einen Menschen umgebracht! Das war Mord! Mord, hörst du? Geht das in deinen Schädel rein?«

In Andrés Augen funkelte der Wahnsinn: »Mord? Wieso Mord? Ich habe der Gesellschaft einen Dienst erwiesen. Manche Krankheiten erfordern harte Maßnahmen.«

Doktor Volker Rüdiger gab auf: »Der ist ja völlig gaga. Ich glaube, es sollte jemand die Kripo anrufen. Wir haben Svens Mörder.«

»Schon passiert!«, meinte ich. Ich hatte gegen das Handyverbot verstoßen und den zuständigen Ermittler in Svens und Tims Fall informiert. Wir hatten ihn vorher in die Planung unseres Referates soweit eingeweiht, dass er wusste, dass wir die Sache mit Sven thematisieren würden. Was wir nicht erzählt hatten, war, dass Tim sein Gedächtnis wiedererlangt hatte. Der zuständige Kommissar maulte rum und war alles andere als begeistert. Er wollte uns die Sache unbedingt ausreden. Als er merkte, dass er damit bei uns auf Granit biss, willigte er dann notgedrungen doch noch ein, gegebenenfalls vorbei zu kommen, für den Fall, dass etwas passieren würde.

Er war vorbereitet. Man teilte uns mit, dass er in wenigen Minuten mit ein paar Beamten auftauchen würde. Haftprüfungstermin und Anklageerhebung würden noch am selben Tag erfolgen. Dass alle Beteiligten erstmal in U-Haft kommen würden, war sicher. Schließlich handelte es sich um ein Kapitalverbrechen.

Zwanzig Minuten später waren die Beamten da und die Handschellen klickten. Als man Rolf die Edelstahlarmbänder anlegte, brach dieser in Tränen aus.

»Ich hab das nicht gewollt! Verdammt, ich hab das alles nicht gewollt!«

Für diese Schwäche erntete er von André nur ein hasserfülltes und verächtliches Schnauben.

Ich sah Tim an: »Also war es hauptsächlich André?«

»Ja und nein. Die anderen haben mitgemacht, sich aber auch nicht sonderlich zurückgehalten, allerdings war da auch 'ne Menge Gruppenzwang im Spiel. Schwule ticken, muss ja sowas von cool sein. André war die treibende Kraft. Er stachelte sie auf, er trat am brutalsten zu und er war es, der Sven den Kiefer brach.«

Tims Stimme stockte. Sein Mund schien trocken zu sein, denn er musste mehrfach Schlucken. Seine Augen wurden erst glasig, dann deutlich feucht. Er hielt seine Tränen zurück, aber ich sah, wie es in ihm arbeitete. Tim bewegte ein paar Mal seinen Unterkiefer, ohne ein Wort zu sagen.

»Als ich die Geschichte vorhin erzählte ...«, Tim schluckte erneut und wischte sich über seine Augen. Sein Handrücken glänzte feucht. »Es lief alles nochmal vor meinem Auge ab ... Svenni, die ganze Szene!«

Mit gesenktem Haupt stand Tim neben mir. Ihn schien gar nicht zu interessieren, dass die ganze Klasse noch anwesend war und totenstill seinen Worten lauschte. Ich sah in ihre Gesichter und war sprachlos. Da war keine geifernde Neugierde zu sehen. Es war Anteilnahme.

Doch Tim bemerkte von alledem nichts: »Kannst du dir das Geräusch vorstellen, wenn ein Kiefer bricht? Wenn Rippen zersplittern? Svenni, ich kann es immer noch hören. Jede Nacht sehe ich Svens Gesicht!«

Tim blickte auf und sah mir in die Augen. Ich kann mich nicht erinnern, welchen Gesichtsausdruck ich drauf hatte. Hätte ich ihm sagen sollen, dass es mir nicht anders erging? Dass ich regelmäßig mit Albträumen aufwachte, in denen ich Svens Kopf sanft hielt und sah, wie das Leben aus ihm wich? Ich glaubte, ich brauchte ihm das nicht zu sagen. Er schien es zu wissen. Oder konnte er es in meinem Gesicht lesen? Denn Tims Mine hellte sich etwas auf. Ein klein wenig nur, aber immerhin war dies viel mehr als nichts.

Nach ein paar Minuten, in denen niemand ein Wort sprach, lächelte er mich sogar matt an.

Tim nickte mir zu: Ich komm darüber hinweg! Mach dir keine Sorgen um mich!

8.2. Aderlass

Kennybunck Port, St. James School for Boys

Mit der Rechthaberei ist das so eine Sache. Sie nützt einem im Allgemeinen recht wenig. Genau wie in dem Moment, als Brandon mit seinem Bowiemesser auf mich zu kam. Seit geraumer Zeit hegte ich die Vermutung, dass Brandon total durchgeknallt war. Jetzt hatte ich die Gewissheit. Nur nützen tat mir diese Erkenntnis rein gar nichts. Geknebelt und an einen Stuhl gebunden, waren meine Aktionsmöglichkeiten gewissermaßen etwas eingeschränkt.

Was soll ich sagen? Dass ich in Panik war? Dass ich mit meinen Augen Brandon anflehte, mich nicht wie ein Schwein abzustechen?

Natürlich.

Brandon blinzelte mich provozierend an, als er mir seinem Messer an die Schläfe hielt. Ich spürte den kalten Stahl der Klinge und musste schlucken. Panisch verdrehte ich meine Augen, um mehr von dem fiesen Gerät zu erkennen.

»Du hast Angst!«, Brandon wirkte befriedigt.

Was für eine dämliche Frage? Natürlich hatte ich Angst. Wer hätte die nicht? Ich hätte Brandon auch meine Meinung dazu gesagt, wenn er mir nicht den Mund verstopft hätte.

»Wusste ich es doch! Ihr Tucken seid alles rückgratlose Weicheier. Kaum wird's ernst, scheißt ihr euch ein vor Angst.«

Wer scheißt sich ein? Ich hatte zwar Angst, aber die Kontrolle über meine Verdauungsfunktionen hatte ich nicht verloren. Sollte ich sie doch noch verlieren, dann bestenfalls, indem ich mich übergeben hätte. Brandons Geseiere war brechreizerregend.

»Weißt du, Alex, eigentlich mochte ich dich«, mein Peiniger holte zur großen Ansprache aus. Ich musste würgen.

»Dein Start hier schien vielversprechend. Man hielt große Stücke auf dich. Aber du ... du hättest das mit deiner tragischen Veranlagung nicht öffentlich machen sollen. Eine Gemeinschaft wie unsere kann nur funktionieren, wenn alle am gleichen Strang ziehen. Ehre, Disziplin, Chorgeist. Die Ideale, für die die St. James steht. Du hättest sie nicht verraten sollen.«

Ich musste würgen. Nicht einfach, wenn man geknebelt ist. Ich ertappte mich bei dem Wunsch, dass Brandon endlich mit seinem Messer zustieß. Dann wäre endlich Schluss und ich müsste nicht mehr sein pathetisches Gesülze anhören.

»Wie auch immer ...«, mein Peiniger hielt plötzlich inne. »Kommen wir zu deiner Party!«

Brandon rückte dicht an mich heran. Der Dachboden, auf dem wir uns befanden, wurde offensichtlich als Lagerraum für alles Mögliche verwendet. Brandon schnappte sich einen von unzähligen alten Holzstühlen und stellte ihn, die Rückenlehne nach vorn, direkt vor mich hin. Er setzte sich und kam mit seinem Gesicht immer näher. Ich konnte nicht zurückweichen. Die Fesseln waren fest geknüpft und ließen mir nur einen sehr geringen Spielraum, meinen Kopf und Oberkörper zu bewegen.

Brandons Kopf befand sich wenige Zentimeter von meinem entfernt. Seine Augen schauten direkt in meine Augen. Nasskalter Angstschweiß tropfte von meiner Stirn: »Mmmmmmhhhmmmhmmhmmmm!«

»Ssssccchhhhh...«, Brandon flüsterte und schloss dabei seine Augen. Aus welchem Film hatte er diese Szene geklaut?

»Sssccchhhhh... Alex, ich bin dein Freund. Ich werde dir deinen Weg aus dem Leben leicht machen. Alle Welt weiß, dass Homosexuelle seelisch instabil sind und zum Selbstmord neigen. Ich werde dir einfach die Pulsadern aufschneiden. Du wirst müde werden, einschlafen und ...«

»Hmmmmmmmmmhmmmmhmmm«, meine Panik hatte ihr absolutes Maximum erreicht. Der Typ meinte es ernst! Todernst! Diese scheiß Psychopath wollte mich allen Ernstes umbringen und ich konnte nichts dagegen tun. Ich konnte nur da sitzen und zusehen, wie er es tat.

Ich heulte los. Verdammt mir schossen die Tränen wie Wasserfälle aus den Augen. Ich hätte alles für Brandon getan, wenn er mich nur am Leben lassen würde. Aber der interpretierte meine Tränen völlig anders: »Du brauchst nicht zu weinen. Gleich ist alles vorbei ...«

Und dann tat er etwas völlig Widerliches. Er gab mir einen Kuss auf die Stirn. Brandons Todeskuss. Schließlich packte er mein rechtes Handgelenk. Seine Hand war wie eine Schraubzwinge. Seine andere führte das Messer. Ich spürte den heißen Schnitt der Klinge, wie sie meine Haut durchtrennte. Starr und entsetzt sah ich, wie mein Blut begann, stoßweise herauszuspritzen.

»Mein lieber Alex. Ich möchte mich von dir verabschieden. Für immer. Ich glaube, dass du jetzt lieber allein sein möchtest.«

Sprach's und verschwand. Brandon war weg. Das Letzte, was ich von ihm hörte, war ein Klick, mit dem er das funzelige Licht auf dem Dachboden ausschaltete. Ich war allein und war am verbluten. Ich spürte, dass ich schwächer wurde. Brandon hatte die Pulsader nicht ganz geöffnet, sodass es noch etwas länger dauern würde.

Ich war allein.

Oder doch nicht? In jenem Moment war ich mir nicht sicher, ob mir mein verblutender Körper einen Streich mit meinen Sinnen spielte, oder ob ich doch so etwas wie einen Schatten an mir vorbeihuschen sah. Sekunden später war ich mir sicher.

»Keine Angst! Ich rette dich!«

Fünf geflüsterte Worte. Ich verlor die Besinnung.

»Und wie ging es weiter?«, Marcel durchbrach als Erster die Stille. Er, Thimo und Miguel hatten Alex’ Schilderung gebannt gelauscht. Als seine Erzählung endete, wagte zuerst niemand ein Wort zu sagen.

Alex trank einen Schluck Cola, massierte seinen Hals und ließ seinen Kopf ein wenig umherrollen, um leichte Verspannungen zu lösen.

»Man fand mich auf dem Dachboden. Man fand mich ungefesselt und ungeknebelt. Jemand hatte meinen Arm abgebunden und anonym die Internatsleitung informiert. Ich wurde sofort in ein Krankenhaus gebracht und landete erstmal auf der Intensivstation. Mein Blutverlust war sehr hoch gewesen, sodass anfangs gar nicht feststand, ob ich überhaupt überlebe und ob ich nicht bleibende Schäden davontragen würde.«

»Das ist alles?«, unterbrach Thimo.

»Nicht ganz.«

Alex fuhr mit seinem Bericht fort.

Natürlich wurde der Vorfall untersucht. Natürlich wollte die Schule keinen Skandal. Natürlich fand man heraus, dass ich schwul war. Und selbstverständlich musste man dieses nette Detail meinen Eltern erzählen.

Könnt ihr euch vorstellen, wie alttestamentarisch geprägte Kirchgänger auf sowas reagieren? Die »Schande«, die ich über die Familie gebracht hatte, wog bei meinen lieben Eltern schwerer, als Brandons Mordversuch. Sie haben es nie direkt gesagt, aber ich hatte immer das Gefühl, dass sie es lieber gesehen hätten, wenn Brandon erfolgreich gewesen wäre. Schizophränerweise waren sie eigentlich felsenfest davon überzeugt, dass ich Brandon nur beschuldigte, um von meiner eigenen psychischen Schwäche abzulenken.

Die Sache ging dann noch ein wenig weiter. Als Erstes machte das Internat kurzen Prozess mit mir, indem es natürlich überaus höflich verklausuliert meinen Eltern mitteilte, dass »meine Persönlichkeitsstruktur möglicherweise zu diesem tragischen Konflikt geführt haben könnte« und dass »zum Wohle einer gesunden Entwicklung meiner Psyche, von einem weiteren Aufenthalt an der St. James dringend abzuraten sei.« Man wolle mir einfach nicht den Druck zumuten, an einem Ort leben zu müssen, der mich fast umgebracht hätte. Wie überaus nobel gedacht!

Darauf steckten mich meine Eltern in eine Klapse. Meine lieben Eltern waren, und sind es wohl noch immer, fest der Meinung, dass es sich bei Homosexualität um eine Krankheit handelt, die man behandeln kann und muss. Die Klapse stieg erstmal auf den »Suizidversuch« ein. Als Erstes pumpte man mich mit Psychopharmaka voll, um mir später dann in endlosen Einzel- und Gruppensitzungen zu zeigen, wie ich meine Einstellung zu ändern hätte. Worin die auch immer bestanden haben mag. Sie versuchten einfach alles, um mich davon zu überzeugen, dass ich mich tatsächlich umbringen wollte.

Immerhin hatten sie auch einen perfekten Grund. Ich bin schwul. Das reichte. Schwul war gleichbedeutend mit psychisch labil. Und diese Labilität wollte man auf Teufel komm raus behandeln. Schließlich zahlten meine Eltern und sie zahlten gut. Die Privatklinik, in der sie mich untergebracht hatten, war sauteuer.

Leider war ich zu naiv, um zu begreifen, dass man gar kein Interesse daran hatte, mich zu heilen. Meine Beteuerungen, dass ich mich gar nicht umbringen wollte, bewirkten das Gegenteil von dem, was ich wollte. Man wertete es als eine schwere Form von Selbstverleugnung. Man machte mir deutlich, dass solange ich nicht akzeptieren würde, dass ich selbst Hand an mich gelegt hatte und stattdessen andere beschuldigte, keine Heilung in Sicht wäre.

Und so begann die Gehirnwäsche. Ich lernte zu glauben, dass ich mich umbringen wollte. Doch je mehr ich auf die »Therapie« ansprach, desto stärker baute ich seelisch ab. Mir wurde alles egal. Sogar mein Leben. Am Ende war ich wirklich kurz davor, mich umzubringen.

Ihr müsst das verstehen. Um als »geheilt« zu gelten, musste ich die Wahrheit verleugnen und die Lüge als Wahrheit akzeptieren. Ich musste quasi Brandons Wahrheit annehmen.

Alex' Stimme stockte. Seine Schilderung war emotional und nahm ihn körperlich mit. Mig schmiegte sich an ihn und stützte ihn. Als Alex, den Thimo und Marcel bisher nur als selbstsichere Persönlichkeit erlebt hatten, Tränen in den Augen standen, begannen sie zu ahnen, was Jan meinte, als er sagte: »Ihr werdet Alex nicht wehtun, oder?«

»Wie bist du aus der Klapse rausgekommen?«, Marcel war neugierig.

»Durch den Druck der Wahrheit«, Alex kuschelte sich enger an Mig. »Scheinbar sind nicht alle Menschen auf der St. James schlecht. Insbesondere Vincent nicht. Ihm ist es zu verdanken, dass man den Fall weiter verfolgte. Er ließ nicht locker. Er machte den Leuten klar, dass ich mich niemals umbringen würde. Als man dann auch noch blutige Stricke fand, ahnte man, dass an meiner Version wohl doch mehr dran war. Sogar meine Seelenklempner bekamen Skrupel und schmissen mich schlicht und ergreifend raus. Ich durfte noch einen Wisch unterschreiben, in dem sie von jeglicher Haftung wegen falscher Behandlung freigesprochen wurden, und durfte gehen. Meine Eltern wollten mit einem schwulen Sohn nichts mehr zu tun haben und schoben mich ebenfalls ab. Worauf ich sie auf Unterhalt verklagte und gewann. So kann ich mir immerhin diese Wohnung leisten.«

»Und was ist mit Vincent?«

»Ich habe ihn noch einmal wiedergesehen. Er holte mich bei meiner Entlassung von der Klapsmühle ab. Wir waren noch einmal zusammen. Einen ganzen Tag und eine ganze Nacht. Dann eröffnete er mir, dass ihn seine Eltern wegschicken würden. Nach Europa. Natürlich wegen seiner »abnormalen Neigungen«. Ausgerechnet Europa, als wenn's dort keine Schwuppen geben würde. Wir schreiben uns regelmäßig E-Mails und chatten. Und obwohl ich Mig unendlich liebe, fehlt er mir.«

Thimo musste unwillkürlich an Sven denken. Eine kalte Hand griff nach seinem Herz. Ein verdrängter Schmerz brachte sich in Erinnerung, der erst wieder abklang, als Marcel Thimo sanft berührte und streichelte. Thimo warf ihm einem dankbaren Blick zu.

»Wurde Brandon nie zur Rechenschaft gezogen?«

»Ja und nein. Schließlich war es klar, dass Brandon zumindest ,involviert` war und dass an meiner Version möglicherweise doch etwas Wahres dran sein könnte. Sogar die Staatsanwaltschaft wurde aktiv. Brandon und ich wurden verhört. Aber schließlich stand Wort gegen Wort. Ich erzählte meine Geschichte und man hörte mir aufmerksam zu. Doch mit Brandons Vater als Vorsitzender des Stiftungsrates der St. James und seinen weiträumigen politischen Beziehungen, fand man schließlich einen ,angemessenen` Kompromiss. Die Ermittlungen wurden eingestellt. Ich wurde als nicht glaubwürdig, weil psychisch instabil abgestempelt. Brandon hingegen würde ,auf eigenen Wunsch` die Schule verlassen und man würde die Sache auf sich beruhen lassen. Ich wurde zu diesem Arrangement natürlich nicht gefragt.«

»Eine Frage habe ich noch. Wer hat dir den Arm abgebunden? Wem verdankst du eigentlich dein Leben?«

Alexander musterte die Bettdecke vor sich: »Ich weiß es nicht. Ich habe es niemals erfahren.«

8.3. Ein Hauch von Zen

Berlin

»Du wirkst so nachdenklich?«

Ich stand vor dem großen Panoramafenster in meinem Bungalow und schaute hinaus. Es war Winter geworden. Es war der 22. Dezember. Zwei Tage vor Weihnachten. Unser Referat und alles, was damit zusammenhing, lag zwei Tage zurück.

Ich sah in den Garten. Er wirkte kalt und unwirklich. Die letzten Blätter waren schon lange von den Bäumen verschwunden. Übrig blieben kahle, knorrige Äste und schmutzig graue Unfarben. Der Garten war ein Spiegelbild meiner Seele und ich wusste nicht warum.

Ich sah einen knorrigen Ahorn. Wie ein Gespenst stand er da. Seine wirren Äste wiegten sich im Wind. Dieser Ahorn, das war ich. Ich fühlte mich auch wie ein Gespenst. Innerlich unerfüllt. Als wenn ich eine wichtige Sache noch nicht zu Ende gebracht hätte.

Dabei sah es eigentlich ganz anders aus. André saß in U-Haft und es war fraglich, ob er da so schnell wieder raus kam. Tim hatte sein Gedächtnis wiedererlangt und war körperlich fast vollständig genesen. Wir standen uns näher denn je.

Ich hätte zufrieden sein müssen.

Eigentlich hatten wir alles erreicht. Selbst das schreiende Unrecht eines ungesühnten Mordes und einer schweren Körperverletzung war korrigiert worden.

Und trotzdem, ich fühlte mich leer, ausgelaugt, innerlich zerrissen. An mir nagte eine Unruhe und Unrastigkeit, die ich nicht deuten konnte.

Ich sah aus dem Fenster. Sah die fahle Dezembersonne und fühlte mich wie der Garten. Grau und leblos.

Tim berührte mich. Er war hinter mich getreten und umarmte mich sanft. Er schmiegte sich an mich, während er mir leise ins Ohr flüsterte: »Was hast du?«

Seine Berührung. Seinen Atem an meiner Wange zu spüren. Seiner Stimme zu lauschen. Ich schloss die Augen. Zwischen den geschlossenen Lidern quollen Tränen hindurch, die ich nicht deuten konnte, und liefen an meinem Gesicht herunter.

Ich wollte etwas sagen, aber Tim ließ mich nicht: »Schhhh...«

In diesem Moment fühlte ich mich über alles glücklich und unendlich traurig. Wie eine in sich geschlossene Einheit und trotzdem in myriaden Fragmente zersplittert. Hellwach und todmüde. Sowohl schwarz als auch weiß.

Lebendig und tot.

Die Zeit blieb stehen. Für einen flüchtigen Moment stand die Welt um uns herum still.

Frieden?

8.4. Von Berlin nach Puttgarden via Hamburg

Manche Dinge wären nicht ewig. Ich weiß nicht, ob ich nur Minuten oder gar Stunden mit Tim vor dem Fenster stand. Irgendwann packte mich die Realität und riss mich ins Leben zurück: »Pack deine Sachen! Wir fahren weg!«

»Wohin?«, Tim sah mich verdattert an.

»Nach Fehmarn!«, kurz und knapp.

»Wohin?«

»Zu meiner Oma nach Fehmarn. Das ist eine Insel in der Ostsee.«

»Ich weiß was, Fehmarn ist. Hast du mal auf den Kalender geschaut? Es sind nur noch zwei Tage bis Weihnachten!«

»Feiern wir dort!«

»Spinnst du jetzt?«, Tim schien von meiner Idee nicht sonderlich angetan zu sein.

»Nein!«, ich stand immer noch vor dem Fenster uns sah hinaus. Tim stand hinter mir, hatte sich aber inzwischen von mir gelöst.

Ich wusste, was mir fehlte. Das Meer! Der Wind! Meine Wurzeln.

Berlin war und ist eine tolle Stadt, aber kein Ort um Abstand zu gewinnen. Und genau das war es, was wir brauchten. Abstand. Wir brauchten Abstand zu dem, was geschehen war. Nur so konnten wir wieder zu uns selbst finden, oder genaugenommen, ich zu mir selbst.

Ich drehte mich zu Tim um und erklärte es ihm. Er hörte zu, sagte aber kein Wort.

»Und was denkst du?«, fragte ich ihn schließlich.

»Was werden deine Eltern sagen?«

»Sie werden es verstehen.« Ich war mir sicher, dass sie es tun würden.

Bei meiner nächsten Frage konnte ich Tim nicht in die Augen sehen: »Kommst du mit?«

»Das fragst du? Natürlich komme ich mit. Wo du hingehst, geh' ich auch hin.«

»Und deine Mutter? Was ist mit Nico?«

»Wie bei dir. Sie werden es verstehen. Nur ...«, Tim zögerte, »ich habe eine Bedingung.«

»Und die wäre?«

»Kuki!«

Ich grinste - natürlich.


Fehmarn und auf dem Weg dahin

Weder bei meinen Eltern noch bei Tims Mutter gab es Schwierigkeiten. Ganz im Gegenteil, die versammelte Elternschaft war sehr von unserer Idee angetan. »Gute Idee, so kommt ihr mal auf andere Gedanken!«, war der einhellige Tenor.

Nico hingegen war sauer. Weniger, dass wir Weihnachten nicht da waren, sondern viel mehr, dass wir ihn nicht mitnahmen. Kuki sagte nix, sondern nickte nur mit seinem Kopf, klimperte mit seinen Piercings und packte sofort seinen Rucksack.

Und so geschah es: drei Jungs im Intercity auf dem Weg nach Hamburg. Am 23.12., einem Tag vor Weihnachten, war der Zug voller als voll. Viele Omis und Studenten. Die einen, um zu ihren Enkeln zu fahren, die anderen auf dem entgegengesetzten Weg zu Eltern und Omi. Mit etwas Glück hatte mein Vater noch eine Reservierung in einem Abteil durchgeboxt bekommen. Wenn nicht, hätten wir auf den Gängen sitzen dürfen. Der Zug platzte geradezu aus allen Nähten.

Bis Ludwigslust teilten wir uns das Abteil mit einem älteren Ehepaar und einer Glatze. Das Ehepaar schien recht freundlich zu sein, doch fühlten sie sich von dem Typen mit der nicht vorhandenen Kopfbehaarung offenbar eingeschüchtert. Im ersten Moment musste ich auch schlucken, als der Skin das Abteil betrat, seinen Seesack kurzentschlossen in ein freies Gepäcknetz warf und seine Alpha-Team-Jacke neben sich an einen Haken hängte. Von schwulenfeindlichen Dumpfbacken hatte ich eigentlich genug.

Der Typ schien so um die 25 zu sein und erfüllte alle Klischees: Neben der Jacke gab es da noch die unvermeidlichen DocMartens, die Jeans mit Hosenträgern, das Hemd ... shit, es passte alles.

Kuki grinste.

Als er mein besorgtes Gesicht sah, grinste er sogar noch breiter. Typisch, musste sich dieses Kerlchen mal wieder auf meine Kosten amüsieren. Ich wollte eigentlich Tim ansprechen, traute mich aber nicht. Der Skin saß schließlich direkt neben mir.

Von Seiten des Ehepaars war auch keine Hilfe zu erwarten. Die beiden waren gerade umständlich damit beschäftigt, ihre Plastikdosen mit Butterbroten auszupacken.

So ging die erste halbe Stunde dahin. Ich hatte ein mulmiges Gefühl und starrte aus dem Fenster, Tim schlief, das Ehepaar las und Kuki grinste mich blöde an. Was der Skin tat, wusste ich nicht. Ich traute mich einfach nicht, einen Blick zur Seite zu wagen.

»Fährst du zu deinen Eltern?«

Panik! Kuki sprach den Typen an. Kuki, bist du wahnsinnig? Wenn der rausbekommt, dass wir schwul sind!

»Yo! Und ihr?«

»Zu seiner Oma«, Kuki zeigte mit dem Finger auf mich.

»Wie weit müsst ihr?«, die Stimme des Skins klang überraschend ... menschlich.

»Bis Fehmarn. Wir fahren nach Hamburg und steigen dort um. Und selbst?«

»Zarenthien. Bis Ludwigslust und dann mit dem Regionalzug weiter.«

»Uni?«

»HU!«

Der Typ studierte? Ich hätte ihm nicht mal einen Hauptschulabschluss zugetraut. Er war doch ein Skin, oder? Das sind Nazis und Schwulenklatscher! Sowas studiert doch nicht.

»Freund?«

Der Skin schüttelte seinen kahlen Kopf: »Falsches Thema. Der Arsch hat vor 'ner Woche Schluss gemacht. Männer sind doch alle Scheiße.«

»Sorry!«

»Ist schon ok. Sag` mal ...«, meinte der Skin gedehnt, »Kann es sein, dass dein Freund hier neben mir Angst vor mir hat?«

Er meinte mich! Hilfe, der Typ meinte mich.

Kuki grinste breit: »Bestimmt! Der liebe Sven kann sich offensichtlich nicht vorstellen, dass es auch linke, schwule, antifaschistische Skins gibt. Er scheint ein wenig in Vorurteilen verfangen zu sein. Er ist halt ein Landei!«

Ich lief rot an. Kuki hatte mich voll auflaufen lassen. Vorsichtig drehte ich meinen Kopf in Richtung des Skins. Der lächelte und wirkte erschreckend freundlich. Nicht nur, dass er ganz normal wirkte, ich entdeckte auch diverse eindeutige Aufnäher auf seiner Jacke, die nur einen Schluss zuließen: der Typ war schwul und antifaschistisch.

»Hey, dein Freund ist ja ein richtiger Schnuckel!«, meinte der Haarlose.

»Wem sagst du das ...«, seufzte Kuki.

Tim, durch die Unterhaltung aufgewacht, brach in schallendes Gelächter aus und ich lief jetzt knallrot an.

Im Schlusssprung ins Fettnäpfchen.

Die restliche Fahrt wurde dann recht lustig. Das Ehepaar wurde noch unsicherer, als es vorher war. Wobei sich aber der Grund für ihre Unsicherheit geändert hatte.

Vier Schwuppen in einem Abteil kann schon für zwei einsame Heten recht prüfend sein. Achim, so hieß der Skin, war lustig, hochintelligent, hintersinnig und gerissen. Sein Ex muss ein Idiot gewesen sein, ihn zu verlassen.

Wir unterhielten uns über alles Mögliche. Wir erzählten ansatzweise sogar ein wenig von unserer Geschichte. An dieser Stelle wurde Achim wütend und zornig.

»Die Typen können froh sein, dass ich sie nicht kenne.«

Kaum hatten wir uns warmgequatscht, hatte Achim leider auch schon sein Ziel erreicht - Ludwigslust. Wir tauschten noch unsere Telefonnummern aus und versprachen, in Kontakt zu bleiben. Mit dem Ehepaar tauschten wir keine Nummern.

In Ludwigslust stieg niemand zu, sodass wir das Abteil bis Hamburg für uns alleine hatten.

Kuki grinste immer noch: »Du bist mir doch nicht sauer, oder?«

»Warum? Dass du mich wie einen Idioten vorgeführt hast?«, inzwischen musste ich über mich selbst lachen. »Nein, das würde mir nie einfallen.«

»Es sah einfach urkomisch aus, wie du dich panisch in deine Sitzecke verkrochen hattest.«

Das war genug. Ich sprang auf und kitzelte Kuki kräftig durch. Nach wenigen Minuten japste er und flehte um Gnade: »Bitte, Svenni, hör auf!«

»Nur wenn du dich entschuldigst!«

»Niemals!«

Was kann man bei solch einer Antwort anderes tun, als hemmungslos weiter zu kitzeln?

Stunden später erreichten wir Puttgarden. Hier werden die Züge in die Schiffe nach Dänemark verladen. Es war unsere Endstation. Ich trat aus dem Zug, atmete durch und ...

Die Ostseeluft!

Wann war ich das letzte Mal hier?

Ein halbes Jahr war es her. Thimo! Ich hatte ihn genau hier das letzte Mal gesehen. Er war in den Zug nach Hamburg gestiegen und ...

»Hallo, Svenni!«

Diese Stimmen! Ich kannte sie. Ich kannte sie alle: Kai, Maike, Felix, Maik, Jan, Sören, Stefan und Anne. Sie waren alle gekommen! Wow, das war großartig! Es war ... mir wurde fast schwindelig vor Freude.

»Woher wusstet ihr?«

»Deine Oma!«

Ich sprang auf die Meute zu und umarmte erstmal alle. Mir kamen die Freudentränen, als ich meine ältesten, besten und interessantesten Freunde wiedersah.

Plötzlich fielen mir Kuki und Tim ein, die ich ziemlich unhöflich einfach am Zug stehen gelassen hatte. Kein Wunder also, dass die beiden wie Falschbier am Rand standen und schweigend meiner Mikrominiwiedersehensfeier zusahen.

»Moment!«, bremste ich den Enthusiasmus meiner Inselgang aus, »Darf ich euch zwei sehr, sehr gute Freunde von mir vorstellen: Tim und Kuki!«

»Sehr, sehr gute Freunde? Fickt ihr miteinander?«, wie hatte ich doch Maiks subtilen Charakter vermisst.

»Selbstverständlich!«, wie sehr hatte ich vermisst, Maik auflaufen zu lassen. Es war zwar nicht ganz die Wahrheit, denn mit Kuki hatten ich ja bekanntermaßen noch nichts gehabt. Die Poolsache mochte ich nicht wirklich mitzählen. Außerdem war es dabei ja gar nicht zum Äußersten gekommen.

Maik jedenfalls wurde rot und schwieg. Maike freute sich diebisch. Es war alles beim Alten geblieben.

8.5. Kundenbetreuung

Portland

»Hmmm«, Marcel grübelte, »Bringt uns die Geschichte jetzt irgendwie weiter?«

Drei Augenpaare sahen ihn fragend an.

Marcel zuckte mit seinen Schultern: »Na bei deinem Prozess! Ok, Brandon ist ein Psychopath, der Schwule hasst. Das wussten wir auch vorher.«

»Ja, aber wir wussten bisher nicht, dass er Schwule auch absticht.«, entgegnete Thimo.

»Zugegeben, nur hat deine Überlegung einen kleinen Denkfehler. Scott war nicht schwul!«

»Shit, du hast Recht!«

»Scott? Anklage? Ihr habt davon schon mal was erwähnt. Wie wärs, wenn ihr mal die ganze Sache von Anfang bis Ende erzählt?«, Alex sah fragend in die Runde.

»Ähm, vielleicht sollten wir das wirklich tun.«

Was Marcel und Thimo auch prompt taten. Zu Thimos totaler Verblüffung ließ Marcel kein Detail aus. Weder die wiederholten Vergewaltigungen durch Scott, noch seine Suizidversuche waren tabu. Nicht nur Miguel und Alexander waren von Marcels Offenheit beeindruckt, auch Thimo verschlug es die Sprache.

»Jedenfalls stehen die Dinge im Moment so, dass die Staatsanwaltschaft Thimo für den Mörder von Scott hält. Das ist völliger Unsinn! Scott hat mich regelrecht um Verzeihung angebettelt. Thimo hätte nie ...«

»Und wenn er dich schützen wollte?«, Alex warf einen Punkt ein, der auch Thimo seit langem beunruhigte. Es war genau die Strategie, die er bei Tanner, dem Oberstaatsanwalt vermutete: Thimo tötete Scott, damit er Marcel in Ruhe ließ. Thimo verfluchte seine Dummheit. Mit seinem blöden Geständnis hatte er Tanners Hypothese sogar noch untermauert. Er hatte vorgeführt, dass er sich für seinen Freund sogar opfern würde. Wäre so jemand nicht auch zu einem Mord fähig?

»Super, Tanner wird mich hängen!«, Thimos Laune war auf den Nullpunkt gesunken. Das Treffen mit Alex war zwar interessant, aber für seinen Fall bisher wenig hilfreich gewesen.

»Tanner?«, Alex sah überrascht auf.

»Ja, so heißt der Oberstaatsanwalt, der meinen Fall für den Staat Maine vertritt.«

»Den kenn ich. Einen Staatsanwalt Tanner gab es damals auch. Er befragte mich und stellte später die Ermittlungen ein. Wenn er der gleiche Tanner ist wie bei mir, dann kennt er Brandon und er kennt auch Scott.«

»Er kennt auch Scott?«

»Oh ja! Meine Geschichte ist noch nicht ganz zu Ende«, Alex kuschelte sich an Mig und erzählte.

Nach meiner »Behandlung« in der Psychiatrie und meiner Klage gegen meine Eltern, sowie der Einstellung der Ermittlungen gegen Brandon, brach ich dann wirklich zusammen.

Wie man es auch drehte, ich stand als suizidgefährdete Schwuchtel da. Niemand glaubte mir. Ich hatte kein Heim, keine Eltern und keine Freunde. Ich hatte faktisch nichts. Davon aber massenweise. Vincent war weg. Mehr aus Gewohnheit, irgendwas zu tun zu müssen, raffte ich mich dann doch auf und ging auf die JFK. An Privatschulen war nicht mehr zu denken. Es blieb nur das marode staatliche Bildungssystem. Denn meine Kohle ist mehr als knapp.

Ihr habt sicherlich Jans Meinung über mich gehört, oder? Ich weiß, was er denkt. Dass mir mein Leben damals egal war, als ich mich in die Schusslinie zwischen Aaron und Peter gestellt hatte. Er hat Recht. Es war so. Es war noch viel schlimmer. Ich hoffte, sie würden abdrücken und mich erlösen. Zum Glück taten sie es dann doch nicht.

Den Rest der Geschichte kennt ihr sicherlich dann auch? Wie wir die Schule neu aufgebaut haben? Wie wir uns die Menschlichkeit zurückeroberten? Ich glaube, unser Laden ist inzwischen besser, als die meisten ultrateuren Privatschulen.

Zurück zum Thema: Wir waren gerade soweit, dass wir alle auf der JFK der Meinung waren, wir hätten es geschafft. Man hatte mich zum Schülersprecher gewählt! Man muss sich das mal vorstellen! Ich, die damalige Psychoschwuppe, flicke die Seele einer ganzen Schule. Es war schon krass.

Krasser war, dass nicht jeder mit unserem Erfolg einverstanden war. Ein paar Wochen, nachdem wir an der JFK miteinander Frieden geschlossen hatten, kreuzte Brandon mit ein paar seiner Jungs hier auf. Euer Scott muss auch dabei gewesen sein.

»Brandon? Hier?«, Thimo war verblüfft. »Wieso das?«

»Die arische Bruderschaft!«

Alex erzählte weiter.

Es gibt eine immer weiter um sich greifende Pest an den amerikanischen Schulen: Nazis. Typen, die von der genetischen Überlegenheit der weißen Rasse überzeugt sind. Und Hitler einen coolen Typen fanden. Die Nazitypen haben etwas, was sie sehr bedrohlich macht: Geld und Waffen. Und sie versuchen, an möglichst vielen Schulen Einfluss zu bekommen. Soweit ich weiß, ist Brandon zwar keiner der Nazis, aber er unterhält gute Kontakte zur Szene.

Einer der wichtigsten Köpfe soll ein Typ namens Ray sein, der geht übrigens auf eure Schule. Wenn jemand Waffen braucht, dann geht er zu Ray. Oder zu Brandon. Und genau das ist der Punkt: Waffen waren an der JFK sehr begehrt. Jeder Gruppe wollte welche und besorgte sich welche. Die Latinos und Schwarzen gingen zu ihren Leuten. Die weißen Boys gingen zu Brandon. Brandon muss als Waffenhändler super verdient haben. Ein 45 Colt liegt bei zirka 50 Dollar legal im Laden. Die konnten wir natürlich nicht kaufen. Brandon besorgte sie illegal für 75 Dollar. Ohne Fragen. Sollte man hingegen ein offenes Ohr für Rays Ideen habe, eine weiße Hautfarbe besitzen und zusätzlich der Meinung sein, dass Schwarze, Latinos, Juden und Schwule eh keine Lebensberechtigung besitzen, dann bekam man auch schon mal Rabatt. 40 Dollar, also unter dem Einkaufspreis.

Brandons kleiner Waffenhandel florierte gut. Wenn es ums Geschäft geht, kennt er keine Vorurteile. Kunde ist Kunde. Und jeder zahlende Kunde wird bedient. Manche zahlten halt etwas mehr.

Und plötzlich blieb die Nachfrage aus. Da fragte sich unser lieber Brandon, wieso sein Absatzmarkt zusammengebrochen war und stattete seinen ehemals besten Kunden einen Besuch ab. Stattdessen traf er auf mich.

Brandon kam mit vier Leuten an und ging sofort auf seine Kundschaft zu. Ihr kennt sie. Es waren so ziemlich die gleichen Leute, die euch in Empfang genommen hatten. Wir standen gemütlich zusammen und plötzlich platzte Brandon in unsere Mitte.

Als er mich sah, entglitten ihm sämtliche Gesichtszüge: »Du?«

»Hallo Brandon, unschön dich zu sehen.«

»Alexander Vandenberg. Ich fass es nicht. So sieht man sich wieder«, nachdem er seine erste Überraschung überwunden hatte, wurde Brandon angriffslustig.

»Brandon, was willst du?«, ich war eher ungehalten.

»Von dir? Nichts! Aber mit den Typen hier hab ich ein paar geschäftliche Sachen zu erledigen. Also Kleiner, geh' schön in der Sandkiste spielen«, der Arsch nahm mich natürlich nicht für voll.

»Ich glaube, du verschwendest deine Zeit.«

Brandon knurrte und zog mich zu sich ran, um mir leise in Ohr zu zischen: »Verpiss dich Alex! Hier reden Erwachsene miteinander. Oder möchtest du, dass deine neuen Freunde erfahren, was für ein enger Freund du sein kannst?«

Ich grinste Brandon nachsichtig an und schüttelte nur den Kopf: »Mein lieber Brandon, tu, was du nicht lassen kannst. Nur um eine Sache bitten wir dich, verschon uns mit deinen Knarren. Die JFK meldet keinen weiteren Bedarf an.«

Brandon war verunsichert. Irritiert zog er seine Stirn kraus und schaute in die Runde. Er versuchte, in unseren Gesichtern zu lesen. Ihm war einfach nicht klar, was an der JFK passiert war. Woher sollte er das auch wissen? Für ihn machte die Situation einfach keinen Sinn. Er stand inmitten seiner ehemaligen Kunden, aber die sprachen kein Wort mit ihm. Stattdessen sah er sich mit einem Schatten seiner Vergangenheit konfrontiert. Mit mir.

Ausgerechnet mit mir, seinem absoluten Albtraum.

Man konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Was macht Alex hier? Wieso spricht er für die anderen? Was geht hier für ein scheiß Film ab?

»So, ihr braucht also nix mehr?«

»Nö!«

»Ihr wollt also den Bimbos hilflos ausgeliefert sein? Ich mein ja nur, wenn da so ein 2 Meter schwarzer Motherfucker auf mich zu kommt ... ich fände da 'ne kleine handliche Halbautomatische echt beruhigend ...«

»Meinst du?«, ich lächelte Brandon an. Offensichtlich war ihm sein Geschäft im Moment wichtiger, als sein Hass auf mich.

»Aber sicher ...«, er strahlte mich maliziös an, »Gerade du, mein lieber Alex, für dich hätte ich das absolut Richtige dabei!«

Brandon hielt mir eine süße kleine Knarre hin. Perfekt für die Damenhandtasche! Ich konnte nicht anders und musste über seine niedlichen Provokationsversuche einfach lachen.

Warts ab Brandon! Dich krieg ich auch noch klein.

Ich nahm die Waffe in die Hand und blickte zur Seite. Jan und Patrick, die neben mir standen, verstanden sofort und gaben den Blick auf eine andere Schülergruppe frei. 10 Meter von uns entfernt stand eine Gruppe unserer Basketballspieler.

»Hey, ich bräuchte mal einen 2 Meter Bimbo!«, rief ich den Jungs zu.

Es kamen gleich drei: Jermain, Evan und Dennis.

»Yo, was liegt an Bruder?«

»Würdet ihr euch hiervon bedroht fühlen?«, ich richtete die süße, kleine Handfeuerwaffe auf Jermain. Vorher hatte ich mich natürlich vergewissert, dass sie gesichert war.

»Damit?«, Jermain kicherte. »Wen willst du denn damit erschrecken?«

»Unser lieber Brandon hier meinte, sie würde zu meinem Typ passen. Er meinte, ich könnte mich damit verteidigen, wenn - ich zitiere wörtlich - ,wenn so ein 2 Meter Motherfucker auf dich zukommt`. Du, ich glaube, er meint euch damit!«, mit diesen Worten gab ich Brandon das Teil zurück, der sie nervös entgegennahm.

»Hey, du Weißbrot! Nur Freunde nennen mich Motherfucker! Und du bist kein Freund!«, Patrick, 2 Meter 10, 112kg, trat Brandon fast auf die Füße.

»Peace, Alter, Peace!«, Brandon wich geschmeidig zurück. Völlig irritiert schaute er von Patrick zu mir, zu Jermain und wieder zu mir. Seine Augen zogen sich zu engen Schlitzen zusammen: »Was geht hier Krankes ab?«

»Er meint, hier würde was abgehen!«, Dennis flunschte mit seinen Lippen.

»Das Weißbrot hat was gemerkt!«, Jermain kicherte.

»Meinst du?«, Patrick tat ungläubig.

»Scheint so!«

»Stop!«, Brandon verlor die Nerven. »Wisst ihr eigentlich, mit was ihr euch da abgebt?«

Er zeigte auf mich. Ich verschränkte meine Arme vor meiner Brust und spitzte schmunzelnd die Lippen.

»Der Typ ist ne' Schwuchtel! Ein Arschficker!«, bellte Brandon.

Ultra theatralisch drehte sich Jermain zu mir um, und fragte mit gestelzter Stimme und Sprachduktus: »Ist das wahr?« - Pause - »Bist du wirklich ein Ho-mo-sex-u-el-ler?« - jede Silbe fein säuberlich und dezent tuckig betont.

Ich stieg drauf ein und mimte den Ertappten: »Ja, Brandon hat Recht. Ich bin einer von denen, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben!«

»Ich bin ... überrascht!«, an Jermain war eine Schwester verloren gegangen. Die 100 kg schwarze Muskelmasse fuchtelte dermaßen verschwuppt umher, dass ich mir auf die Lippen beißen musste, um nicht laut loszubrüllen vor Lachen. Man muss bedenken, Jermain ist alles andere als schwul.

Ungläubig und entgeistert verfolgte Brandon die Darbietung: »Verarscht ihr mich, oder was?«

»Ja, wir verarschen dich! Da hast du absolut Recht«, meinte ich trocken und setzte gleich nach: »Hör' mir genau zu! Denn ich sag' dir das nur einmal. Diese Schule braucht keine Waffen mehr! Weder von dir noch von jemand anderem. Es mag dich überraschen und dir wahrscheinlich auch nicht sonderlich gefallen, aber diese Schule hat ihre Probleme in den Griff bekommen. Gewalt ist ein Ding, das bei uns inzwischen mehr als tot ist.«

»Wer sagt das?«, Brandon taxierte mich abschätzig.

»Ich natürlich ...«, kokettierte ich mit seinem Unglauben, »Reicht dir das etwa nicht?«

»Vandenberg, treib es nicht zu weit!«

»Soll das vielleicht eine Drohung sein?«

»Denk was du willst! Nur bild dir nicht ein, für deine verfuckte Schule zu sprechen. Ich kenne meine Kunden und die werden es gar nicht witzig finden, dass du hier den King markierst.«

Ich wollte gerade etwas entgegnen, doch Patrick hielt mich zurück. Der 2,12 Meter Typ baute sich unmittelbar vor Brandon auf.

»Hör mal Schätzchen. Wenn Alex dir sagt, dass an dieser Schule für dich nichts mehr läuft, dann ist das Gesetz! Kapiert?«

»Träum weiter, du Pavian!«

Fehler Nummer 1. Niemand beleidigt Patrick ungeschoren. Als wenn Brandon ein federleichtes Postpaket wäre, packte ihn Patrick links und rechts und hob ihn zu sich empor, um ihn in Augenhöhe zutexten zu können.

»Hör zu du Wurst! Alex ist hier der Boss. Oder damit es in dein Mikrohirn reinpasst, er ist unser Schülersprecher. Wenn er dir sagt: ,Du machst hier keine Geschäfte!`, dann machst du hier auch keine Geschäfte. Und jetzt verpiss dich. Wir wollen dich und deine Kofferträger hier nie wieder sehen. Klar?«

Brandon kochte. Kaum hatte er festen Boden unter den Füßen, ging er auf mich los. Fehler Nummer 2.

Eine Faust, die aus dem Nichts zu kommen schien, stoppte abrupt seine Vorwärtsbewegung. Brandon machte »Umpf!« und Jermain zog seinen rechten Arm zurück. Absolut lässig und durch jahrelange Gangmitgliedschaft erprobt, verschränkten die Jungs ihre Arme vor ihren Oberkörpern und sahen Brandon provozierend an. Komm nur, du Wichser!

Brandon hielt sich die Nase, wobei massenweise Blut zwischen seinen Fingern herausquoll. Patrick sah mich entschuldigend an und meinte ganz harmlos: »Was kann ich denn dafür, wenn er gegen meine Hand rennt?«

»Das ...«, fauchte der Blutende, »... werdet ihr mir büßen! Die Sache ist noch nicht ausgestanden.«

Brandon zog ab. Vorerst. Denn in den nächsten Wochen bereiteten er oder einige seiner Leute immer wieder Schwierigkeiten. Nun ja, wir haben zwar an unserer Schule das Kriegsbeil begraben, aber wie man sich verteidigt, wissen wir dann schon noch.

»Jetzt weiß ich, warum ihr uns so herzlich empfangen habt.« Marcel massierte sein Kinn, das immer noch etwas von der Prügelei vom Vormittag schmerzte.

»Ey, komm, wir haben uns entschuldigt.« Mig war die Sache inzwischen mächtig unangenehm geworden. Manchmal ärgerte ihn sein temperamentvoller Charakter selbst - etwas zumindest ...

»Ist schon ok. Aber was hat das mit Tanner zu tun?«

»Ach ja.«, Alexander schlug sich gegen seine Stirn. »Das Wichtigste hab ich vergessen zu erzählen. Ich sagte schon, dass es nach Brandons Besuch an der JFK zu Stress kam. In einem Fall wurde ein Mitschüler mit einem Messer niedergestochen. Er wurde nicht schwer verletzt, doch konnte er seinen Angreifer nicht erkennen. Immerhin, durch gewisse Indizien fiel der Verdacht auf Brandon und Scott. Die Staatsanwaltschaft ermittelte und wollte, soweit ich weiß, gegen Brandon einen Haftbefehl erwirken, als ein gewisser Oberstaatsanwalt namens Tanner die Sache erst an sich zog und dann einstellte. Tanner kennt Brandon also aus zwei Fällen und in beiden wurde jemand niedergestochen.«

»Aus drei Fällen, mit Scott!«, fügte Thimo hinzu.

»Aus drei Fällen«, korrigierte sich Alex.

8.6. Kaffee, Kuchen und Omi

Fehmarn

»Was habt ihr heute Abend vor?«, Felix fragte in die Runde.

Wir standen seit einer viertel Stunde auf dem Bahnhof Puttgarden Fährhafen, ignorierten als gute Inselbewohner den feuchten, fieskalten Seewind und feierten unser Wiedersehen.

Felix war der Erste, der einen konstruktiven Beitrag beisteuerte: »Ich frag' nur, weil deine zwei Festlandbewohner in deinem Schlepptau so aussehen, als wenn sie sich den Arsch abfrieren würden. Bei uns gibts heute Abend Glyk, dann könnte man weiterquatschen. Wie ist? Kommt ihr?«

Ich schaute zu Tim und Kuki und erntete nur ein synchrones: »Glück?«

»Glyk! Wir kommen! Wo?«

»In der Scheune!«

»In der Scheune?«

»Klar, Thimo hatte das mit seiner Oma klar gemacht. Wir haben unseren Treff behalten können. Nebenbei ist Oma ganz happy, dass sie uns hat. Wir halten ihren Hof in Ordnung – halbwegs ...«

»Wann?«

»Halb acht.«

»Sollen wir was mitbringen?«

»Nudelsalat?«

Ich lächelte. Brachte dieser Wunsch doch schöne Erinnerungen zurück. Meine Oma zauberte den besten Nudelsalat der Insel. Womit wir thematisch bei meiner Oma angelangt waren. Die Gute war in unser altes Haus gezogen, das meine Eltern nach unserem Wegzug zu einer Pension umbauen ließen. Meine Oma hatte die Verwaltung übernommen und würde uns drei, Kuki, Tim und mich über die Feiertage traumhaft umsorgen. Ich hatte sie gleich nach meinem Entschluss angerufen und ihr mein Kommen mitgeteilt. Wie Omas so sind, war sie vor Freude völlig aus dem Häuschen. Zwar meinte sie, dass das Haus ziemlich ausgebucht sei, viele Städter würden die Feiertage auf Fehmarn verbringen, doch stände mein Zimmer selbstverständlich für mich bereit.

»Wie kommen wir eigentlich zu deiner Oma?«, Kuki warf da eine interessante Frage auf.

»Per Horrortrip!«, zischte Maik. »Meine liebe Schwester hat seit einem Monat eine Fahrerlaubnis. Schwesterherz, wie oft musstest du den Prüfer ranlassen, dass er dir den Lappen gab?«

»Bruderherz, der Typ ist nicht mal in die Nähe meines Körpers gekommen. Der saß friedlich auf der Rückbank. So wie du. Näher bist und wirst du einer Frau auch nie kommen!«

»Sind die beiden immer so?«, Tim sah mich fragend an.

»Nein, die sind heute erschreckend freundlich zueinander.«

Tim machte große Augen und blickte verunsichert von Maik zu Maike. Trotz Maiks konstanten Nörgeleien über Frauen im Allgemeinen am Steuer und seiner Schwester im Besonderen erreichten wir wohlbehalten mein altes Zuhause.

Oma wartete bereits. Als wir ausstiegen, kam sie uns bereits entgegengestiefelt und begrüßte mich überschwänglich: »Hallo Sven!«

»Hallo Oma!«

»Kommt rein!«

Vier fulminante Worte und Oma stiefelt zurück in die warme Stube. Kuki wurde soweit unbehaglich, dass er sein Unbehagen verbal zum Ausdruck brachte: »Deine Oma scheint nicht gerade begeistert zu sein, dass wir bei ihr gleich zu dritt reinschneien, oder?«

»Wie kommst du darauf?«, was hatte Kuki denn erwartet.

»Sie scheint mir etwas einsilbig.«

»Und das sagst du?«

»Ich?«

»Ja!«

»Warum?«

»Na rate mal!«

»Och nö!«

»Doch!«

»Wegen damals?«, das erste Zusammentreffen mit Kuki verlief bekannterweise ebenfalls ausschließlich im Telegramstil.

»Genau!«

»Hm ...«

Maik und Maike verabschiedeten sich mit einem »Bis nachher!« und fuhren fort. Von den anderen hatten wir uns bereits am Bahnhof getrennt.

»Leute, nicht anfrieren! Geht rein!«

Wir packten unsere Taschen und Rucksäcke und gingen ins Haus. Oma war keine Plaudertasche. Das lag ihr nicht im Blut. Sie war eine gebürtige Fehmarnerin und die redeten nicht viel. Sie hörten lieber zu. Dass meine Oma eine sehr herzliche und absolute Superomi war, zeigte sie auf andere Weise.

Kaum hatten Kuki und Tim mein altes Heim betreten, schlug ihnen auch schon eine urig-warme Gastlichkeit entgegen. Oma hatte bereits den Küchentisch gedeckt. Es duftete nach heißem Kaffee, Zimtgebäck und aromatisiertem Tee. Ein Geruch, der mich in meine frühste Kindheit zurückkatapultierte. Da obendrein Weihnachten vor der Tür stand, hatte meine Oma das Haus feierlich herausgeputzt. Keine billigen Tannenkränze, sondern kunstvoll arrangierte, selbstgebaute Gestecke zierten die Räume. Hier und da hingen Weihnachtssterne aus Stroh, kleine dänische Nissefiguren lagen herum. Kerzenlicht tauchte alles in einen warmen Goldton. Oma kannte die Grenze zwischen Gemütlichkeit und Kitsch genau. Alles war genau richtig dekoriert, nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig.

Die Wirkung auf Tim und Kuki war beeindruckend. Beide Jungs standen sprachlos im Raum. Das Kerzenlicht flackerte in ihren großen Augen und Kukis Metallteilen. Vor Staunen hatten sie ihre Münder weit aufgerissen und sahen aus, als wenn sie bestenfalls 12 Jahre alt waren.

»Kuchen?«, Oma packte alles in ein Wort. Mit Kucken bot sie uns sowohl einen Sitzplatz als auch Kaffe und Tee, natürlich auch Kuchen, aber auch ihre Freundschaft an. Es war ihre Form von Willkommensgruß.

Tim und Kuki reagierten nicht.

»Kommt, setzt euch und langt zu. Der Kaffee wird sonst kalt. Und bei dem Kaffee würde euch etwas entgehen.«

Meine Oma und der Kaffee. Omi hielt rein gar nichts von Kaffeemaschinen. Sie war felsenfest davon überzeugt, dass Kaffee nur von Hand aufgebrüht vernünftig schmecken würde. Ihr einziger Tribut an den Komfort beim Kaffeekochen bestand in einer elektrischen Kaffeemühle, denn Oma verwendete nur frisch gemahlenen Kaffee. Der kam in einen Papierfilter und wurde dann schwallweise mit gerade nicht mehr kochendem Wasser überbrüht. Eine winzige Prise Salz und ein paar Gewürze, deren Zusammensetzung sie nicht verriet, rundeten den braunen, heißen Saft ab.

Wer jetzt denkt, dass Oma in der Steinzeit lebt, der irrt. Ihr Webshop mit selbstgezogenen Kerzen und Keramikartikeln war nicht nur eine der meistbesuchten auf unserer Insel, er war von Oma auch selbst auf ihrem Mac entworfen worden.

Tim und Kuki lösten sich aus ihrer Erstarrung und setzten sich an den Kaffeetisch. Wir saßen in einem gemütlichen Raum, der früher einmal unser Wohnzimmer war, jetzt aber als Gemeinschaftsraum des zur Pension umgebauten Hauses diente.

»Nu vertell mal, mien Schitter!«, Oma fiel ins Plattdeutsche.

»Was hat deine Oma gesagt?«, Kuki blieb sich treu und fragte direkt drauf los.

»Ich sagte ihm in etwa: ,Erähl mal was von dir, mein kleiner Scheißer!`«, meinte Oma.

Ich musste grinsen. Man sollte nie die Mutter meiner Mutter unterschätzen.

»Ick soll dür Gröse von Muddern und Vadda bestöllen. De häv bannig fehl to don. De blev to hus. Dat tut denen och Led ...«

»Svenni?«, Tim sah mich entsetzt an, »Was redest du da?«

Oma und ich lächelten meine Freunde freundlich an: »Was denn, Timmy?«

»Du kannst diesen Dialekt? Plattdeutsch?«

»Erstens, ja, mein Enkel kann plattdeutsch. Eigentlich sollte er es besser können, aber immerhin ... und zweitens, Plattdütsch ist eine Sprache, kein Dialekt.«

»Deine Oma kann ja doch reden!«

»Oh, sie kann.«

»Aber sagtest du nicht, dass deine Mutter dänische Wurzeln hat?«

»Hat sie auch«, ging Omi auf die Frage ein. »Mein Mann, Palle Jensen, war Däne. Und auch meine Mutter war Dänin. So ist Svens Mutter zu Dreivierteln Dänisch. So, denn erzähl mal, mein Junge, welcher von den beiden ist denn dein Herzblatt?«

Ich sagte ja bereits: »Oma darf man nicht unterschätzen!« Dass Tim und Kuki es doch taten, führte zwangsläufig dazu, dass beiden der Unterkiefer herunterklappte.

Leicht benommen murmelte Tim: »Ich glaube, das sollte ich wohl sein.«

Ich konnte mir nicht verkneifen, albern vor mich hinzukichern, was meine Großmutter nutzte, um meine beiden Freunde weiter zu verunsichern.

»Na, hab' ich's mir doch gedacht. Ich kenn doch meinen kleinen Svenni. Dann musst du wohl Kuki sein. Also weißt du Svenni, soooo viel Metallstecker hat dein Freund doch gar nicht. Was du mir am Telefon erzählt hast, klang nach viel mehr.«

»Du hast nicht alles gesehen.«

»Ach so ...«, Oma schmunzelte. »Wie bei dem kleinen Punk aus Hamburg, den wir mit seinen Eltern und seiner Schwester vor zwei Jahren im Sommer als Pensionsgast hatten?« Damals hatte Oma noch ihre eigenen Fremdenzimmer.

»So ungefähr ...«

»Komische Welt. Ich hab mir schon vor Jahren alle Ohrringe rausgenommen und ihr Jungen fangt damit jetzt an. Nun Jungs, langt zu. Ihr braucht keine Angst vor mir haben. Hat euch Sven denn nicht vor seiner verrückten Oma gewarnt?«

Zwei verschüchterte Jungs saßen auf der Bank und starrten uns ungläubig an. Süß die zwei, man musste sie einfach gern haben.

Mit der Zeit tauten Kuki und Tim dann doch noch auf. Spätestens als sie merkten, dass meine Oma einfach ein lieber, netter Mensch war. Das war sie schon immer gewesen, doch muss ich gestehen, dass ich es bisher nie so intensiv wahrgenommen hatte, wie bei diesem Besuch. Das halbe Jahr in Berlin hatte schon einiges an und in mir verändert.

Nach knapp zwei Stunden stand Oma auf: »So, ihr wollt euch sicherlich nicht nur mit alten Leuten unterhalten. Ich werd' mal den Nudelsalat machen. Ihr geht doch noch zu Thimos Hof?«

Ich hatte nichts von dem Treffen erzählt. Das brauchte ich auch nicht. Meine Oma kannte mich auch so: »Ja, es gibt Glyk!«

»Na, alt genug seid ihr ja. Dann wünsch ich euch für nachher viel Spaß. Ich muss mich jetzt wieder ums Haus kümmern. Du zeigst deinen Freunden alles?«

»Klar, Omi!«

Gesagt, getan. Meine Omi ging in die Küche und ich mit Tim und Kuki auf mein Zimmer. Ich hatte im Verhältnis zu den anderen Gästezimmern ein recht großes Zimmer, was aber mehr daran lag, dass beim Umbau große Räume geteilt worden waren. Mein altes Reich lag direkt unterm Dach, von daher war es als Gästezimmer eh weniger gut geeignet. Meine Eltern hatten mir erzählt, dass wir in dieses Haus gezogen sind, als ich drei Jahre alt war. Damals hatte mein surfbegeisterter Vater das Haus direkt ans Wasser bauen lassen. Eigentlich war es sogar ein großes Zweifamilienhaus, denn schon damals träumte mein Paps davon, aus dem Haus eine Surferpension zu machen. Als ich sieben Jahre alt war, wurde nochmals ausgebaut und ich war nach oben unters Dach gezogen.

»Tolles Zimmer ...«, Kuki schmiss seinen Rucksack in die Ecke.

»Im Sommer kann's hier ziemlich warm werden.«

Timmy sagte nichts. Er sah sich in meinem alten Zimmer, das so geblieben war, wie ich es vor einem halben Jahr verlassen hatte, schweigend um. Er ging umher, berührte hier und da eine Wand oder einen Schrank, strich über einen der Stühle.

»Merkwürdig ...«, fing er nach ein paar Minuten an, »Dieser Raum ... er passt zu dir. Es ist eindeutig dein Zimmer. Aber auch wieder nicht ...«

Ich sah mich um und überlegte, was Tim damit gemeint haben könnte.

»Es zeigt einen anderen Sven ...«, Tim legte sich aufs Bett und starrte an die Decke, »... einen, den du hier zurückgelassen hast.«

Zosch! Tim hatte Recht. Es traf mich wie ein Flashback. Ich sah mich in meinem Zimmer um. Meinem ehemaligen Zimmer! Das war der Punkt. Das Zimmer erzählte von einem Sven, der ich einmal gewesen war. Der in der Form aber nicht mehr existierte. Mit dem Umzug nach Berlin und mit der Trennung von Thimo hatte ich diesen Teil meines Lebens hinter mir gelassen.

Oder verdrängt ...

Es war mir bisher nur nie so deutlich aufgefallen, aber als ich jetzt mein Zimmer sah ... ich hatte fast meine gesamte Habe auf Fehmarn gelassen. Mein Computer und ein paar persönliche Sachen waren alles, was ich nach Berlin mitgenommen hatte.

»Du hast Recht!«, ich legte mich zu Tim aufs Bett, kuschelte mich an ihn und betrachtete ebenfalls die Zimmerdecke. Für einen Moment schien mir die Decke eine Leinwand zu sein, auf der Bilder meines Insellebens vorbeieilten. Flüchtige Momente des Glücks, Enttäuschungen, Hoffnungen, Entbehrung, Erfüllung und Liebe.

Mein Inselleben schien mir so unschuldig gewesen zu sein. Auf jeden Fall war Berlin ein krasser Kontrast zu Fehmarn. Fehmarn war ein sicheres, behütetes Leben, frei von äußeren Ängsten. Oder war dies bereits eine Verklärung meiner Erinnerung. Romantische Bilder einer scheinbar glücklichen Kindheit?

Kindheit? Die hatte ich auf jeden Fall verloren. Berlin erlaubte mir nicht, weiterhin Kind sein. Dafür war die berliner Realität zu direkt und zu brutal. Was Tim und Sven widerfahren war, hier wäre es undenkbar gewesen. Oder täuschte ich mich selbst mit einer romantischen Verklärung meiner Inselkindheit?

Ich war gute 16, in weniger als zwei Jahren würde ich volljährig sein. Mit 16 ist man kein wirkliches Kind mehr. Mit 15? Gerade eben noch oder schon nicht mehr. War die Wahrheit viel banaler? Koinzidierte mein Wegzug einfach nur mit meiner biologischen Uhr? War das letzte halbe Jahr nur Produkt einer zwangsläufigen Entwicklung?

Wie glücklich war ich hier wirklich gewesen? Freunde? Maik, Kai, Maike, Sören. .. letztlich die ganze Gang. Ja, es waren Freunde, doch unterschied sich die Freundschaft zu Kuki und insbesondere zu Tim ganz essentiell von der zu Kai oder Sören.

In weniger als zwei Stunden würden wir zum Glyk aufbrechen und mich packte plötzlich eine depressive Stimmung.

»Scheiß Weihnachten!«, entfuhr es mir.

»Meine Eltern wollen sich scheiden lassen!«, ich hatte Kuki völlig vergessen. Tim und ich lagen nebeneinander auf dem Bett und starrten die Decke an, als Kuki, der nach wie vor mitten im Raum stand, total nüchtern sagte: »Meine Eltern wollen sich scheiden lassen.«

Synchron richteten wir uns auf.

»Was?«

»Nach Jahren haben sie endlich begriffen, dass ihre Egos keinen Platz für einen Partner zulassen.«

Kuki stand ganz ruhig im Raum, doch trotzdem schien er innerlich zu vibrieren: »Es sollte mir egal sein. Ich war ihnen jahrelang scheißegal. Aber ...«

War es, weil Weihnachten war, oder weil dieses Haus eine Aura besaß, die einen emotional zermürbte. So wie Kuki im Raum stand, sah er aus wie ein verlorenes Kind. Eine Träne kullerte seine Wange entlang: »Verdammt! Sie sollten mir auch scheißegal sein. Ich hab sie nie wirklich interessiert. Und trotzdem ... ich fühl mich so verdammt allein.«

Man sollte einen Warnhinweis an dieses Haus nageln: »Vorsicht! Dieses Haus reißt seelische Wunden auf!«

Kuki ... dieser seltsame kleine Kerl. All seine Edelstahlteile können nicht darüber hinwegtäuschen, was für ein sensibles Teilchen er doch in Wirklichkeit war. Tim dachte dasselbe wie ich. Wieder einmal. Wir reichten ihm jeder einen Arm, Kuki griff zu, wurde von uns mit aufs Bett gezogen und schützend zwischen uns beiden eingeklemmt.

»Du bist nicht allein«, Tim sprach mit einer Stimme, die mir unheimlich war, und fuhr Kuki zärtlich durch seine Haare. Tim enthielt so viel Energie, man fühlte sich fast elektrifiziert.

»Du bist hier bei zwei Typen, die dich nie hängen lassen werden ...«, manchmal braucht es etwas länger, bis man eine Lösung findet.

»Aber ...«, wollte Kuki einwenden, doch wir ließen keine Einwände zu, »Du gehörst zu uns!«

»Aber ihr beiden seid ...«

»Wo steht geschrieben, dass Liebe ausschließlich eine Zweierkiste ist?«

8.7. Der Staat Maine gegen Camron-Bach

Portland

»Erheben Sie sich. Es kommt zum Aufruf der Fall Maine gegen Camron-Bach. Den Vorsitz führt die ehrenwerte Richterin Felicitas Cunningham.«

Die Cunningham schneite herein, ließ sich in ihren Ledersessel und ihren Hammer auf den Richtertisch fallen: »Nehmen Sie bitte Platz.«

Es war Montagmorgen 10:00 Uhr. Die Verhandlung wurde fortgesetzt.

Viel Zeit war Jimmy Reynolds nicht geblieben, anhand der neu erlangten Informationen seine Verteidigungsstrategie zu ändern. Die Zeit war unter anderem deswegen so knapp, weil sich Thimo und Marcel mit ihrer Rückkehr vom anderen Ende der Stadt sehr viel Zeit gelassen hatten.

Nachdem man alle Informationen mit Alex ausgetauscht hatte, stellte man plötzlich fest, dass es bereits nach 1 Uhr nachts war. Zu spät, um noch nach Hause zu fahren. Thimo und Marcel schliefen bei Alex und Wollmütze Miguel. Oder besser, sie schliefen mit ihnen.

Außer Alex' Bett gab es keine weitere Schlafgelegenheit in seiner Wohnung. Man musste es sich also zu viert bequem machen, was nur ging, indem man recht dicht aneinander rückte. Alle Mann blieben züchtig, doch konnte eine gewisse Unruhe nicht verleugnet werden.

Als Thimo aufwachte, roch er bereits frisch gebrühten Kaffee in der Luft und spürte außerdem einen samtweichen, flauschigen Körper an sich gekuschelt. Das musste Marcel sein. Thimo rückte noch ein wenig näher und umarmte den Körper liebevoll.

»Was macht eigentlich dein Freund mit meinem Freund?«

Das war Alex’ Stimme, die hörbar amüsiert aus einer entfernten Ecke herüberschallte.

»Das Gleiche, was dein Freund mit meinem macht.«

Das war Marcels Stimme. Thimo, halbwach wir er war, brauchte lange, bis ihm die Unmöglichkeit der ihm bekannten Informationen auffiel. Wie konnte Marcels Stimme aus einer anderen Zimmerecke zu ihm herüberschallen, wenn Marcel neben ihm lag?

Moment mal, dann ...

Vorsichtig öffnete Thimo seine Augen und sah in das bronzefarbene Gesicht Miguels dessen Augen sich ebenfalls gerade öffneten.

»Irgendwie sehen die beiden süß aus!«, meinte Alex.

Zu müde, um vor Schreck aus dem Bett zu springen, grinste Thimo Mig frech an. Der verstand diesen Fingerzeig und grinste zurück.

»Morgen, mein Schatz!«, flötete Mig und gab Thimo einen langen, intensiven Kuss. Einen geilen Kuss, wie Thimo zugeben musste.

»Hey!«, kam es zweistimmig aus der anderen Zimmerecke.

Der folgende Samstagmorgen wurde lustig, fröhlich und überschwänglich. Alex, Thimo, Mig und Marcel hatten die ernsten Themen vom Vortag beiseitegeschoben und feierten den möglichen Anfang einer neuen Freundschaft. Alex und Mig waren nett, richtig cool. Dass man sich wiedersehen wollte, stand somit außer Frage.

Gegen frühen Nachmittag brachen Marcel und Thimo widerwillig auf. Kaum in Thimos Heim angekommen, klingelte auch bereits das Telefon. Jimmy Reynolds wollte wissen, ob die beiden endlich zurück seien und ob sie interessante Informationen mitgebracht hätten.

Thimo begann, Jimmy die ganz Geschichte am Telefon zu erzählen. Nach wenigen Sätzen brach Jimmy das Gespräch mit der Bemerkung ab, er würde sofort vorbeikommen.

Eine halbe Stunde später war es soweit. Thimo, seine Mutter, Marcel und Jimmy Reynolds saßen im Wohnzimmer. Wechselweise erzählten Marcel und Thimo die Geschichte, die ihnen Alex erzählt hatte. Jimmy machte sich Notizen, fragte gelegentlich nach und fuhr sich permanent durch seine dünnen Haare.

Am Ende klappte er seine Mappe zusammen und murmelte: »Das wird wild!«

Von da an ging alles sehr schnell. Jimmy Reynolds ließ den Profi raushängen, mit einer Reihe Telefonaten, ein paar präzise formulierten Anweisungen und einer Checkliste in seiner Hand, ordnete er den Fall neu. Thimo wurde gebeten, bei Alex anzurufen und ihn zu fragen, ob er aussagen würde. Wie nicht anders zu erwarten, stimmte Alex ohne Einschränkungen zu. Marcels Vater knurrte noch, dass sich Alex nicht wundern sollte, aber er würde im Verlauf des Abends deswegen noch eine gerichtliche Vorladung erhalten.

Womit Jimmy Reynolds schon beim nächsten Telefongespräch angelangt war. Er lief zur Hochform auf. Man konnte sehen, wie er Taktiken und Strategien plante und wieder verwarf. Dabei kaute er auf einem Bleistift und zottelte unentwegt an seinen Haaren herum.

»Perfekt!«, Jimmy Reynolds wirkte zufrieden. »Zwei Telefongespräche noch und dann haben wir die Sache im Kasten. Für diese Gespräche muss ich aber allein sein.«

Freundlich, aber nachdrücklich wurden sowohl Marcel und Thimo als auch dessen Mutter aus ihrem eigenen Wohnzimmer herauskomplimentiert. Die folgenden Gespräche schienen sehr konspirativ zu sein.

Eine halbe Stunde später öffnete sich die Tür. Jimmy Reynolds strahlte: »Wenn mich nicht alles täuscht, haben wir Thimo vom Haken! Montag kann die Bombe platzen.«

Nachdem sich im Gerichtssaal alles wieder gesetzt hatte, ergriff die Cunningham das Wort: »Mr. Tanner, Ihren nächsten Zeugen bitte.«

»Die Anklage verzichtet«, antwortete Tanner selbstzufrieden. »Wir denken, unsere Sicht der Dinge deutlich klar gemacht zu haben. Wir haben bewiesen, dass Thimo Camron-Bach ein Motiv und die Gelegenheit hatte. Thimo Camron-Bach ist der Mörder von Scott Michael Richardson. Wir ...«

»Bitte, Mr. Tanner, für Ihr Schlussplädoyer werden sie noch genug Zeit haben«, Felicitas Cunningham wandete sich Jimmy zu: »Rufen Sie ihren ersten Zeugen.«

»Ich rufe: Thimo Camron-Bach.«

Ein Raunen ging durch den Gerichtssaal. Die Richterin zog überrascht ihre Augenbrauen hoch und schüttelte ihren Kopf. In ihren Augen musste Jimmy Reynolds wahnsinnig geworden sein. Tanner würde im Kreuzverhör aus Thimo Kleinholz machen.

»Bitte sprich mir nach: Ich schwöre ...«

Thimo hatte im Zeugenstuhl Platz genommen und leistete den Schwur.

»Wie ist dein Name?«, Jimmy begann seine Befragung.

»Thimo Camron-Bach.«

»Hast du, Thimo Camron-Bach, Scott Michael Richardson mit einem Messer erstochen? Ja oder Nein?«

»Nein!«

»Ich danke dir«, zur Verblüffung aller setzte sich Jimmy Reynolds. Seine Befragung war offensichtlich zu Ende.

»War das alles?«, fragte die Richterin nach.

»Euer Ehren. Mein Mandant hat hier und jetzt unter Eid die entscheidende Frage dieses Prozesses beantwortet. Ich sehe keinen Nutzen darin, ihn weiter zu befragen, wo doch der werte Herr Staatsanwalt bereits seine Messer wetzt.«

»Wie sie meinen ... Mr. Tanner, bitte!«

Tanner war ein Arsch. Er war hinterhältig, gerissen, bösartig, aber eben auch schlau. Verwundert und mit gekräuselter Stirn massierte er seine Lippen und studierte dabei Jimmy Reynolds Gesichtsausdruck. Was hatte Reynolds vor, dass er ihm, Tanner, den Camron-Bach zum Fraß vorwarf? Gab er den Fall bereits verloren und spekulierte auf die Revision?

Weiterhin grübelnd erhob sich der Staatsanwalt, setzte sein freundlichstes und verbindlichstes Lächeln auf - ein Lächeln, das jeden Großinquisitor des Mittelalters vor Neid hätte erblassen lassen - und postierte sich sportlich, mit domestizierter Juviniliät, neben der Zeugenschranke.

»Thimo ... ich darf dich doch Thimo nennen? Hab' ich deinen Namen auch richtig ausgesprochen? Marcel Reynolds sagte hier im Zeugenstand, dass ihr Freunde seid.«

»Ist das eine Frage?«, Thimo war unsicher, ob Tanner an das Ende seines Satzes ein Fragezeichen gesetzt hatte oder nicht.

»Ja, das war eine Frage. Seid ihr Freunde?«

»Ja.«

Tanner wackelte mit dem Kopf und schmunzelte: »Na, ihr seid doch etwas mehr als Freunde, oder?«

»Wir sind sehr enge Freunde, ja«, wenn Tanner so dumm fragt.

»Also bitte?«, der Staatsanwalt schlüpfte in die Rolle des jovialen Onkels, der geduldig und mit Nachsicht einen störrischen Jungen befragte.

»Also bitte was? Sie wollen wissen, ob wir, Marcel und ich, homosexuell sind? Ja, sind wir! Sie wollen wissen, ob wir ein Liebespaar sind. Ja, auch das sind wir.«

Eine kleine Zornesfalte flackerte auf Staatsanwalt Tanners Stirn auf. Dieser kleine Wichser hatte ihm doch tatsächlich die Show gestohlen. Tanner hatte felsenfest damit gerechnet, dass Thimo sich winden würde und nur nach mehrfachem intensivem Nachfragen mit der Wahrheit rausgekommen wäre. Dass Marcel und Thimo schwul waren, war dem Staatsanwalt inhaltlich völlig egal. Man konnte damit Emotionen bei den Geschworenen wecken - Sex and Crime - das war, was zählte. Doch da schien Thimo nicht mitzuspielen. Fast unmerklich zuckte Tanner mit den Schultern. »Versuchen wir etwas anderes«, dachte er zu sich selbst.

»Du kanntest das Opfer?«

»Ja. Scott war der Quarterback unserer Footballmannschaft. Er wurde mit Recht von der ganzen Mannschaft gewählt.«

»Von dir etwa auch?«, höhnte Tanner.

»Sicher. Scott war sehr gut. Dass er ermordet wurde, ist ein schrecklicher Verlust für die Mannschaft. Er war einer unser besten Spieler, wenn nicht sogar der beste.«

»Die Position des Quarterback ist begehrt, oder?«

»Sicher. Man ist der Kapitän der Mannschaft. Man gibt die Spielzüge an die Spieler durch und macht die eigentlichen Spielzüge.«

»Wer wird jetzt nach Scotts Tod der neue Quarterback.«

»Ich weiß es nicht. Das hängt davon ab, wie die Mannschaft und vor allem der Coach entscheidet.«

»Viele Menschen haben euer letztes Spiel gesehen, ich selbst auch. Du bist auch ein Spitzenspieler ...«

»Sie wollen andeuten, dass ich Scott umgebracht habe, um Quarterback zu werden?«

»Nicht als Hauptgrund, aber es wäre ein netter Seiteneffekt, der die Entscheidung für deine Tat leichter gemacht haben könnte.«

»Haben Sie mal Football gespielt? Ein Wide Receiver wie ich ist maximal so gut wie sein QB. Wirft der schei... ähm, schlechte Pässe, kommt man auch nicht weiter. Sollte ich wirklich gut sein, dann deswegen, weil Scott es auch war. Ich wusste, wie er wirft. Ich wusste, wie ich seine Bälle fangen muss. Glauben Sie, ich schneide mir selbst ins Fleisch und bringe denjenigen um, dem ich die Saison meines Lebens verdanke?«

»Na das hört sich ja an, wie ein Herz und eine Seele. Wir war denn dein persönliches Verhältnis zu Scott?«

»Neutral.«

»Du stehst unter Eid! Es gibt Zeugen, dass ihr euch geschlagen habt ...«

»Ja, stimmt!«

»Und sowas nennst du neutral? Ich möchte nicht wissen, wie dann ein schlechtes Verhältnis bei dir aussieht ... oder, haben wir das etwa schon gesehen ...«, Tanner machte so, dass es die Geschworenen nicht, dafür aber Thimo umso besser sehen konnte, eine Faust. Got'cha!

Thimo blieb gelassen: »Wenn Sie Zeugen für den Vorfall haben, dann wissen Sie auch, wann der Vorfall war. Nach meinem ersten Training mit der Mannschaft. Scott wollte mir seine und meine Position in der Mannschaftshierarchie klar machen und ich habe ihm klargemacht, wie ich die Sache sah. Es war für beide Seiten eine schmerzhafte Erfahrung. Aber danach waren die Fronten geklärt und ich wurde als Spieler von Scott akzeptiert. Wäre es nicht so gewesen, hätten wir nicht das Endspiel gewonnen!«

»Und das war deine einzige Auseinandersetzung mit Scott?«, Tanner stellte Fallen, wo er nur konnte. Offensichtlich wusste er von der Sache am See.

»Nein, es gab noch einen zweiten Vorfall.« Jimmy Reynolds hatte Thimo haarklein erklärt, wie er auf Tanners Fragen antworten sollte: gelassen und mit der vollen Wahrheit. Diese Strategie schien aufzugehen. Tanner wurde etwas nervös, denn er wollte nicht glauben, dass sich sein Angeklagter so offen auf dem Silbertablett präsentierte. Irgendwo vermutete Tanner eine Falle. Nur wusste er nicht, wo diese Falle liegen würde.

»Was ist passiert.«

»Ich wollte Scott klarmachen, dass er Marcel in Frieden lassen sollte.«

»Klarmachen?«

»Verbal, und wenn das nicht helfen sollte, auch körperlich.«

»Weswegen?«, Tanner wurde gierig. Offenbar wusste er, woher auch immer, dass Scott Marcel systematisch vergewaltigt hatte. Thimo war mit Marcel zusammen. Sie liebten sich. Perfekt! Das beste Mordmotiv aller Zeiten: Mord aus Liebe und Leidenschaft.

»Scott hatte Marcel jahrelang sexuell missbraucht. Ich wollte dem ein Ende machen.«

»Und deswegen hast du Scott umgebracht?«

»Nein, ich habe mich mit ihm vor seinen Leuten - Brandon und Espen waren zum Beispiel dabei - geschlagen und habe gewonnen. Scott ging zu Boden und ich wurde von einem der anderen mit einem Messer niedergestochen. Aber das wissen Sie ja bereits, da Sie ja damals die Ermittlungen geleitet und später einfach eingestellt haben!«

Sieg! Tanner machte innerlich Luftsprünge. Jetzt hab' ich dich mein Bürschchen: »Und dafür hast du dich dann später gerächt und Scott für diese Demütigung ebenfalls niedergestochen! Aus Liebe zu deinem Freund und als Rache für deine Verletzung! Ich habe keine weiteren Fragen!«

Oberstaatsanwalt Tanner triumphierte. Dieser Fall war unverlierbar. Doch dann sah er Thimos Gesicht und sah, dass dieser ihn frech angrinste. Ein böse Vorahnung beschlich Tanner. Die Sache war zu glatt und zu einfach abgelaufen.

»Mr. Reynolds, ist ihr nächster Zeuge soweit?«

»Euer Ehren. Abweichend von unserer Liste möchte ich einen anderen Zeugen befragen.«

»Einspruch! Der Verteidiger hatte alle Zeit der Welt, seine Zeugen zu benennen.«

»Die letzte Aussage hat einen neuen Aspekt aufgeworfen, der möglicherweise zur Klärung des ganzen Falls beitragen könnte.«

»Einspruch abgelehnt. Ich will den Zeugen auch hören. Ist er anwesend?«,

»Ja, Euer Ehren!«

»Gut, dann rufen Sie ihn auf!«

»Ich rufe Oberstaatsanwalt Tanner in den Zeugenstand!«

»Einspruch!«

8.8. Glyk

Fehmarn

Friedlich, vollständig bekleidet und ziemlich glücklich, wenn auch mit weihnachtlich-melancholischer Grundstimmung, lagen wir drei aneinandergekuschelt auf meinem alten Bett. Ich links, Tim rechts und Kuki in der Mitte.

»Ihr wollt diesen Wahnsinn tatsächlich durchziehen?«, Kuki blieb skeptisch.

»Sicher!«, meinte Tim ganz forsch und ganz nachdrücklich. »Wir wissen doch alle, dass dir Sven nicht aus dem Kopf geht. Du bist und bleibst in ihn verknallt!«

»Grompf ...«, der Angesprochene schien es nicht sonderlich zu schätzen, dass man seine Psyche vor ihm ausbreitete.

»Und dass du für mich mehr als nur Freundschaft empfindest, ist ja auch kein Geheimnis. Sven, mein alter Softie kann eh zu nix nein sagen und ich ... ähm, nun ja ...«

Erst einen Sprint hinlegen und dann am Ziel schwächeln? Tim versagte der Mut und wurde lieber rot im Gesicht.

»... ähm, ja ...«, räusperte er sich und hüstelte vor sich hin. »Ich ... ich bin schon 'ne ganze Weile scharf auf dich.«

»Du?«, Kuki setzte sich überrascht auf. »Ich denk, dich törnt das da - das alles - ab?«, Kuki zeigte auf sein Metall. »Ich dachte, ich wär überhaupt nicht dein Typ?«

»Ja, genau, jetzt bekenn mal Farbe!«, stichelte ich. Es ist einfach nett zu sehen, wie sich mein lieber Timmy in seinen eigenen Fanggarnen verhedderte.

»Danke Svenni, sehr hilfreich! Aber Kuki, mal ganz im Ernst, wie lange weiß ich, dass ich auf Jungs stehe? Kein halbes Jahr. Wie lange weiß ich, dass du schwul bist? Weniger als ein halbes Jahr. Und was war das für ein halbes Jahr?«, Timmy seufzte. »Wir waren immer Freunde. Gut, wir waren vielleicht nicht so dick wie Svenni I und ich ...«

Tim stocke. Man konnte den Kloß deutlich hören. Und man konnte ihn spüren. Wir spürten den Kloß in unseren Hälsen. Sven war nicht vergessen. Insbesondere nicht bei Tim. Ich hörte, ich spürte, dass er gegen Tränen ankämpfte.

»Es ist ok!«, tröstete Kuki. »Wir wissen, wie eng ihr zueinander gestanden habt. Und jetzt hast du Svenni II. Ich will nicht, dass du dich mir gegenüber verpflichtet fühlst, so eine Dreierbeziehung anzufangen, nur weil ich eben in deinen Svenni verliebt bin.«

»Denkst du das?«, fragten wir gleichzeitig.

»Ja ...« meinte der Kleine und zögerte.

»Ja, aber?«, fragte ich nach.

»Darf ich offen sein?«, Kuki wurde ernst.

»Auf jeden Fall. Es soll nichts unausgesprochen bleiben. Sonst ist die Sache eh zum Scheitern verurteilt«, sagte Sven mit der gleichen Ernsthaftigkeit.

»Ok, du hast es nicht anders gewollt. Sven, nimm mir das bitte nicht übel ...«, Kuki zögerte erneut.

»Nein, werd ich nicht. Nur leg endlich los!«

»Ich glaube, du willst es nur, weil du Angst hast, Sven zu verlieren.«

Tim wollte etwas sagen, doch Kuki unterbrach ihn und fuhr fort: »Nein, keine Angst, ich bin sicherlich keine Konkurrenz gegen dich. Aber wir drei wissen, dass ich in Svenni verliebt bin ...«

»Aber in mich nicht ...«, fiel Tim ihm ins Wort.

»Nein! Erstens stimmt das so nicht und zweitens ist das nicht der Punkt. Wir beide kennen uns schon eine halbe Ewigkeit. Es gibt nur einen, den du länger kanntest und das war Sven I. Der Punkt ist ein ganz anderer. Du hast es eben selbst gesagt. Vor einem halben Jahr warst du noch ne Hete. Ich kenn dich nur so. Bloß als Hete warst du einfach als Objekt meiner Liebe völlig uninteressant.«

»Danke aber auch ...«

»Das hat sich natürlich grundlegend geändert ...«, Kuki ließ den letzten Satz im Raum stehen. Ich verstand sofort, was der Kleine recht verklausuliert gesagt hatte. Tim brauchte schon etwas länger: »Du meinst, du bist auch in mich ...?«

»Ja, bin ich! Ich könnte mich zwischen euch nicht entscheiden. Ich weiß nur, irgendwann hätte ich einen von euch beiden rumbekommen und hätte den anderen damit verletzt. Deswegen zieh ich mich lieber von euch zurück, als dass ich einem von euch weh tue.«

Ein Wechselbad der Gefühle. Kukis Schlusssatz klang so traurig, dass es schmerzte. Wir schwiegen und dachten nach. Ein blöde Situation.

»Eigentlich«, fing ich nach einer Weile an, »hast du das wichtigste Argument für eine Dreierbeziehung zwischen uns geliefert.«

»Ach ja, hab' ich?«

»Ja, hast du!«, ich zuckte mit den Schultern: »Liebe ist zwar eigentlich nix, an das man rational rangehen sollte, aber ich denk schon, dass so ein Ding zu dritt die einzige Lösung für uns ist. Ich meine, machen wir uns nix vor. Du hast vorhin nicht ganz zugehört, was Tim sagte. Mein Liebling ist nämlich in dich mindestens genauso verliebt, wie in mich. Tim hätte dich irgendwann eh angegraben. Mit oder ohne mein Wissen und Einverständnis. Und zwischen uns beiden ... du weißt, dass da irgendwann auch was gelaufen wäre. Ja was solls dann? Wir sind doch eh Freunde. Wesentlich enger als es zwischen mir und Timmy ist, kann es zwischen dir und uns eh nicht mehr werden. Ähm ... oh ...«

Kuki nahm meine Doppeldeutigkeit natürlich sofort auf: »Schwanzlängeneng?«

»Grrr, ja auch das. Warum sollen wir uns was vormachen? Dass wir mit dir und du mit uns ins Bett steigen wollen, ist wohl ein Fakt, oder?«

»Yap!«, Tim nickte.

»Yo!«, Kuki zuckte mit den Schultern.

»Ok, wenn dem so ist, was spricht dann dagegen, es ganz offiziell in einer Beziehung zu tun? Mal im Ernst, was unterscheidet unsere Freundschaft von der zwischen mir und Timmy? Wir verbringen fast genauso viel Zeit miteinander. Ich rede mit dir über die gleichen Dinge wie mit Tim und ihr zwei tut das gleiche untereinander. Also, wo ist der Unterschied zwischen meiner Beziehung zu Tim, der zwischen euch und meiner zu dir? Nur noch der Sex.«

»Hm ... so hab' ich das nie gesehen«, Kuki grübelte.

»Aber es ist doch so, oder?«

»Und was ist mit Eifersucht? Wie verhindern wir, dass sich einer wie das fünfte Rad am Wagen fühlt?«

»Eher wie das dritte Rad ... ich habe keine Ahnung!«, meinte Tim. »Ich habe mit Sven schon mal darüber gesprochen. Theoretisch kann man viel sagen und planen. Wir wissen nicht, ob es gut geht! So einfach ist das. Vielleicht reden wir alle drei in zwei Wochen kein Wort mehr miteinander. Nur, das würde auch passieren, wenn zwei es heimlich hinter dem Rücken des Dritten treiben.«

»Und nur wegen dem Sex?«, Kuki blieb skeptisch.

»Nur? Macht dir Sex keinen Spaß?«

»Doch schon ...«

»Hör auf. Ich kenn' dieses Gesülze: ,Sex ist nicht alles in einer Beziehung!` Natürlich nicht, aber ohne ist doch auch öde.«

»Das heißt, ich könnte jetzt einem von euch die Hose vom Leib reißen und ihm zeigen, wozu ein talentierter Mund fähig ist, während der andere mir netterweise zeigt, wie tief seine Liebe zu mir wirklich ist?«

»Nö!«, meinte ich trocken.

»Na also!«, Kuki fühlte sich in seiner Skepsis bestätigt. »Alles nur theoretisches Geschwafel!«

»Irrtum, mein kleiner Metall-Boy. Ich hätte ü-ber-haupt-nix-da-ge-gen, wenn wir uns unserer Klamotten entledigen würden und das tun, was verliebte Jungs miteinander tun sollten. Nur, wir haben keine Zeit mehr dafür. In einer halben Stunde müssen wir beim Glyktreffen sein«, mit einem süffisanten Grinsen fügte ich hinzu: »Aber ansonsten sollten wir auf deine Idee durchaus später nochmal zurückkommen.«

»Du Arsch!«, hörte ich noch, bevor mir ein Kissen ins Gesicht geschlagen wurde.

»Na warte!«, entgegnete ich, nachdem ich mich von dem Wurfprojektil befreit hatte und begann Kuki zu packen und durchzukitzeln. Kuki quiekte.

»Timmy, hilfst du mir, diesem Blechheini ein paar Manieren beizubringen?«

»Aber immer doch!«, grinste Tim.

Die nachfolgende Bettenschlacht führte dazu, dass wir eine halbe Stunde später beim Treffpunkt in der Scheune eintrafen. Dafür waren wir aber super gelaunt.

»Was ist denn jetzt eigentlich dieser Glyk?«

»Dänischer Glühwein!«, dozierte Maik, der die Zubereitung übernommen hatte: »Neben den üblichen Gewürzen kommen auch Orangenschiffchen und Mandelstifte mit in den Wein. Man hat also nicht nur was zu trinken, sondern auch zu essen.«

Mit diesen Worten reichte uns Maik jeweils ein Glas mit dampfendem, aromatisch riechendem Glyk.

Wir saßen in der Scheune von Thimos Omi. Genaugenommen in unserem kleinen Raum, den wir vom Rest des Gebäudes abgetrennt hatten. Es war urgemütlich. Das Licht bestand hauptsächlich aus unendlich vielen Teelichtern, deren Schein sich in der liebevoll verteilten Weihnachtsdeko brach. Inzwischen hatte der Winter Einzug gehalten und es war kalt geworden. Das Außenthermometer zeigte -1 Grad, doch unser Raum war warm. Als wir ihn vor dreieinhalb Jahren bauten, hatte Thimos Vater uns bei der Planung geholfen. Wir hatten einen Holzfußboden eingebaut, den wir zum Betonboden der Scheune noch mit Dämmmatten isoliert hatten. Man konnte auf dem Boden sitzen, ohne sich zu erkälten. Und das taten wir auch. Einen Teil des Bodens hatten wir mit Matratzen ausgelegt. Ein paar niedrige Sessel standen rum, sogar einen dieser 70iger Jahre Sitzsäcke hatten wir.

Es war ein gemütlicher Raum. Eine Zufluchtstätte vor dem Wetter, aber auch ein Ort, den jeder von uns nutzte, wenn er oder sie mal allein sein wollte.

Der CD-Player dudelte leise Weihnachtslieder der Toten Hosen, genaugenommen der Roten Rosen. Kuki, Tim und ich hatten uns in eine Ecke auf die Matratzen gekuschelt, Maik hatte sich in den Sitzsack gefläzt, Felix und Jan kuschelten auch miteinander. Maike, die im Schneidersitz auf dem Boden hockte, wollte von uns alles über Berlin erfahren. Anne flirtete auf Teufel komm raus mit Kuki, der darauf mit zunehmender Nervosität reagierte. Ich geb's ungerne zu, aber es kam keine richtige Stimmung auf, obwohl das ganze Ambiente recht gemütlich war. Aber die meisten Gespräche verstummten bald wieder, sodass wir mehr schwiegen als redeten und der Musik lauschten.

Maike nahm einen erneuten Anlauf, das Eis zu brechen und eine Unterhaltung anzufangen, indem sie Tim, Kuki und mich zu unserer Beziehung zueinander fragte.

»Typisch Frauen. Wollen immer nur Romantik, bäh!«, lästerte Maik. »Erzähl mal lieber, ob ihr ein paar brauchbare Bräute auf eurer Schule habt.«

Das brachte natürlich Anne auf den Plan: »Alter Wichser, red' nicht immer so über Frauen.«

»Wie red' ich denn? Respektvoll, freundlich, nett. ..«

»Ma-ik«, kam es ermahnend von Sören.

»Ok, ok, ok ... ich seh' schon, keiner will mich verstehen!«

»Leute, seht mal raus ...«, Felix hatte ganz glänzende Augen »Es schneit!«

8.9. Staatsanwälte und Verteidiger

Portland

»So ihr Herzchen!«, begann Richterin Felicitas Cunningham auf beide Anwälte einzureden. »Wer erklärt mir diese billige Komödie?«

Die Cunningham war alles andere als amüsiert. Nachdem Jimmy Reynolds den Staatsanwalt als Zeugen aufgerufen hatte und dieser dieses Ansinnen mit einem scharfen »Einspruch« parierte, zitierte die Richterin beide Parteien an ihre Richterbank.

Offenbar kochend vor Wut wartete sie auf eine Antwort.

»Ich protestiere gegen die billigen Tricks der Verteidigung und bitte das ehrenwerte Gericht, eine Verwarnung auszusprechen, die auch ins Protokoll aufgenommen werden sollte. Die Verteidigung hält sich nicht an die Regeln des Kreuzverhörs und gibt mit dieser Posse das Gericht der Lächerlichkeit preis.«

»Halt! Die Anklagevertretung hat sich mit der Befragung des letzten Zeugen selbst ins Spiel gebracht.«

»Das ist doch lächerlich!«, giftete Tanner.

»Nein, Sie haben, wie wir eben erfahren haben, in einem ähnlichen Fall ermittelt. Dabei handelte es sich, wie wir ja eben ebenfalls erfahren haben, um den gleichen Personenkreis, wie in diesem Fall.«

»Mag sein. Aber der vergangene Fall wird hier nicht verhandelt ...«

»Sie haben eben selbst den Zusammenhang hergestellt.«, unterbrach Jimmy. »Sie haben den alten Fall eingebracht, er ist damit Bestandteil des Verfahrens geworden.«

»Das ist ein ...«, Tanner brauste auf.

»Genug!«, unterbrach Richterin Cunningham. »Ich habe genug gehört. Gehen Sie wieder zurück auf ihre Plätze.«

Tanner wollte noch etwas erwidern, doch das grimmige Gesicht der Richterin stimmte ihn um.

»Ich werde über den Einspruch der Anklage nachdenken müssen. Fünf Minuten Pause!«

Die Cunningham ließ den Hammer niedersausen und verschwand in ihr Richterzimmer. Unruhe machte sich im Gerichtssaal breit. Jimmy Reynolds und Thimo hatten sich zur Schranke umgedreht, die den Prozessbereich von den Zuschauerbänken trennte. Marcel und Thimos Mutter saßen in der ersten Bankreihe, gleich hinter dem Tisch der Verteidigung.

»Ist das ein gutes Zeichen?«, Thimos Mutter war besorgt.

Jimmy schaute nachdenklich in Richtung Richterzimmer und meinte: »Man ruft den Staatsanwalt nicht einfach als Zeugen auf. Es war klar, dass Tanner Einspruch einlegen würde. Jetzt hängt alles von der Richterin ab.«

»Und?«, fragte Marcel.

»Ich weiß es nicht. Felicitas mag keine Überraschungen in der Verhandlung. Auf der anderen Seite war sie immer sehr an der Wahrheit interessiert.«

In diesem Moment tippte Tanner Jimmy Reynolds an die Schulter: »Minderschwerer Fall von Todschlag, 15 Jahre mit der Möglichkeit auf vorzeitige Entlassung, wenn sich Ihr Mandant schuldig bekennt. Erörtern Sie es mit Ihrem Mandanten, das Angebot steht, bis die Cunningham zurückkommt.«

Noch bevor Jimmy etwas sagen konnte, war Tanner auch schon wieder an seinen Platz zurückgekehrt und diskutierte mit seinen Gehilfen.

»Von Mord auf minderschweren Totschlag? Tanner bekommt kalte Füße. Egal, du hast das Angebot gehört?«

»Ja, aber ich bin doch unschuldig!«

»Darum geht es hier aber nicht, es geht um das, was die Geschworenen nachher glauben.«

»Was meinst du? Ich will nicht ins Gefängnis!«

»Na also, kein Deal. Ich hätte dir auch dringend abgeraten.«

Jimmy Reynolds sah zu Tanner rüber, der diesen Blick sofort bemerkte und nun seinerseits mit den Augen fragte: »Und?«

Jimmy Reynolds schüttelte seinen Kopf: »Nein! Kein Deal!«

Als wenn es ihm gleichgültig sei, zog Tanner nur eine Mine, die sagen wollte: »Dann eben nicht. Selbst Schuld!«

In diesem Moment kehrte die Richterin in den Saal zurück und verkündete ihre Entscheidung: »Der Einspruch der Anklage wird abgewiesen. Ich lasse die Befragung des Staatsanwalts als Zeugen zu. Mr. Tanner, mir blieb keine andere Möglichkeit, denn wie die Verteidigung richtig bemerkte, haben Sie durch Ihre Befragung sich selbst als Zeugen eingebracht.«

»Ich bitte, dass mein Protest ins Protokoll aufgenommen wird.«

»Ist hiermit geschehen.«

Oberstaatsanwalt Tanner saß auf dem Zeugenstuhl neben Richterin Cunningham, einem Ort, der für ihn eher ungewöhnlich war und den er meistens nur von der anderen Seite kannte. Jene Seite zierte nun seinerseits Jimmy Reynolds, der quasi zum Aufwärmen bisher nur ein paar belanglose Fragen gestellt hatte.

»Einspruch!«, kam es von der Anklagebank. Der zweite stellvertretende Staatsanwalt Miller hatte die Rolle Tanners übernommen. »Kommt der werte Verteidiger langsam mal zu substantiellen Fragen?«

»Sicher!«, Jimmy lächelte, die Anklage war nervös. Gut so.

»Mr. Tanner, wie der letzte Zeuge vorhin darlegte, ist unser Fall nicht der erste, in den der Angeklagte und das Opfer verwickelt sind?«

»Das ist richtig.«

»Welche Fälle gab es denn sonst noch und wie sahen die aus?«

»Thimo Camron-Bach, der Angeklagte, wurde mit einem Messer niedergestochen. Es bestand der Verdacht, dass eine Gruppe im Umfeld des jetzigen Opfers damit in Verbindung stehen könnte.«

»Sie meinen Brandon Michael McCarthy?«

»Da es sich um Jugendstrafrecht handelt, kann ich dazu nichts sagen.«

»Es gab keinen Prozess, die Akten dürften nicht verschlossen sein.«

»Ich werde nichts sagen.«

Jimmy blickte hilfesuchend zu Richterin Cunningham.

»Der Zeuge möge antworten!«

»Es war Brandon McCarthy.«, Tanner wurde der Stuhl heiß, auf dem er saß. Seine Befragung nahm eine Richtung auf, die ihn beunruhigte.

»Wie sind Sie eigentlich auf meinen Mandanten als Täter gekommen?«

»Wir erhielten einen anonymen Hinweis.«

Tanner entspannte sich wieder. Jimmy Reynolds schien einen anderen Weg beschreiten zu wollen, einen, der weit weniger gefährlich war, doch da täuschte sich der Staatsanwalt.

»Das heißt, die Staatsanwaltschaft erhielt einen Hinweis?«

»Ja«, Tanner verstand nicht, was die Frage sollte.

»Telefonisch?«

»Ja.«

»Wer wurde angerufen?«

»Ich ...«, worauf wollte Reynolds raus?

»Das ist aber merkwürdig. Wenn ich eine Gewalttat beobachte, dann wähle ich die 911, die Polizei, aber nicht die Staatsanwaltschaft. Und vor allem nicht die Durchwahl des Oberstaatsanwalts.«

»Soll das eine Frage sein?«, Tanner spürte wieder diese Nervosität. Immer deutlicher wurde ihm klar, dass sein alter Intimfeind Reynolds etwas wusste. Nur wie viel wusste er?

»Ich habe heute Morgen per richterlicher Verfügung die Anrufnummernlisten der Staatsanwaltschaft für ihren Anschluss für den fraglichen Zeitraum beschlagnahmen lassen. Um den Datenschutz zu wahren, wurde mir nur mitgeteilt, ob der Anruf von einem Anschluss kam, den ich benannt hatte. Können Sie sich denken, welcher Anschluss dies war?«

Der stellvertretende Staatsanwalt Miller wollte gerade aufspringen und Einspruch erheben, als ihn Tanner mit einer Bewegung stoppte: »Ich habe keine Ahnung.«

»Der Anruf wurde vom Handy Brandon McCarthys geführt.«

»Und wenn schon. Ich erhalte so viele Anrufe, da kann ich mir unmöglich merken, von wem jeder einzelne kam. Wenn Sie sagen, dass McCarthy bei mir angerufen hat, dann wird das wohl so gewesen sein«, mit aller Macht versuchte Tanner, sich seine Panik nicht anmerken zu lassen. Angriff ist immer noch die beste Verteidigung. Tanners Strategie bestand also darin, Jimmy Reynolds Fragen als lächerlich und unwichtig dastehen zu lassen. Das Dumme daran war, dass die Fragen alles andere als dumm waren. Sie trafen ganz genau ihr Ziel. Wie Hyänen kreisten Tanner die Fragen des Verteidigers ein.

»Es wundert Sie nicht, dass Brandon McCarthy ausgerechnet Sie angerufen hat?«

»Einspruch! Spekulativ! Der Zeuge soll vermuten, was ihm Kopf eines anderen ...«

»Schon gut. Ich ziehe die Frage zurück. Aber vielleicht können Sie mir eine andere Frage beantworten?«, Jimmy war cool.

»Ich werde es versuchen«, Tanner war cooler.

Beide Anwälte belauerten sich wie zwei Raubkatzen. Es war ein Gefecht. Die Waffen waren aber weder Klauen und Krallen noch Säbel, Florett oder Pistole. Simple, einfache Worte waren die Waffen dieses Gefechts. Doch obwohl es nur Worte waren, waren sie deswegen nicht weniger gefährlich. Möglicherweise waren diese Worte sogar effektiver, einschneidender und verletzender als alle anderen Waffen der Welt.

»Haben Sie, außer meinen Mandanten, auch noch andere Täter in Erwägung gezogen?«

»Nein!«, Tanner antwortete souverän und ohne jegliches Zögern in der Stimme.

»Warum nicht?«, doch Jimmy Reynolds konnte mindestens genauso gut pokern.

»Wir hatten unseren Täter. Er hatte ein plausibles Motiv. Er hatte die Möglichkeit. Wozu jemand anderen suchen?«

»Möglicherweise, weil der gewaltsame Tod von Scott in ein Schema ähnlicher Fälle passt?«

»Ist das Ihre Frage?«

»Ja!«

»Ich wüsste nicht, zu welchen ähnlichen Fällen dieser Fall passen sollte.«

»Zum Beispiel dem Messerangriff auf den Angeklagten. Eine forensische Untersuchung hat ergeben, dass es sich in beiden Fällen um den gleichen Messertyp, ein Bowiemesser, gehandelt haben muss.«

»Ich bitte Sie, der Fall liefert doch gerade das Motiv«, Tanner lehnte sich befriedigt zurück, offensichtlich hatte Jimmy Reynolds doch kein Royal-Flash auf der Hand und bluffte nur.

»Moment, das kann nicht sein. Scott hatte den Kampf mit meinem Mandanten bereits verloren und konnte ihn daher nicht verletzen. Der Fall ist bei Ihnen aktenkundig. Sie haben ermittelt. Warum sollte also mein Mandant sich an jemandem rächen, gegen den er gesiegt hatte?«

Tanner machte innerliche Luftsprünge. Jimmy Reynolds hatte in seinen Augen nichts in der Hand: »Wenn Sie die Akten kennen, dann wissen Sie auch, dass diese Version nur von Ihrem Mandanten so erzählt wird. Wer sagt denn, dass er damals die Wahrheit gesagt hat?«

Jimmy Reynolds lächelte: »Gab es Hinweise darauf, dass er log?«

»Nein, aber ...«

»Danke, ein einfaches Nein reicht. Sagt Ihnen der Name Alex Vandenberg etwas?«

8.10. Schneeflocken

Fehmarn

Wir waren vor die Scheune gegangen. Es schneite wirklich. Die Schneeflocken leuchteten hell auf, wenn sie in die gelb-orangen Strahlen der Natriumdampflampen gerieten, die den Hof von Thimos Oma erhellten.

Wie standen draußen und ließen uns den Schnee auf die Nasen fallen. Schnee auf Fehmarn war selten. Die Ostsee konnte viel Wärme speichern. Auf Fehmarn war es deswegen im Sommer nie so heiß wie auf dem Festland, dafür aber im Winter auch nie ganz so kalt. Deswegen war Schnee immer etwas Besonderes.

Insbesondere, wenn er liegen blieb.

So wie dieser. Es schneite nicht nur, der Schneefall nahm auch noch konstant zu. Statt sofort auf dem Boden zu tauen, blieben die Flocken liegen. Filigrane Eiskristalle verhakten sich mit anderen und bildeten dicke, fette, große Schneeflocken. Wenige Minuten nach Beginn des Schneefalls war die Umgebung mit einer weißen Schicht dieser lockeren Flockenpracht bedeckt. Je dicker die Schneeschicht wurde, desto leiser wurde die Welt. Der gefrorene Niederschlag schluckte den Schall. Eine weihnachtliche Friedlichkeit breitete sich aus.

Schweigend und verzaubert standen wir da und schneiten ein. Um mich herum sah ich nur noch glückliche, verzückte Wesen, die wie ich mit glänzenden Augen dem Flug der eisigen Minikunstwerke folgten.

Der Schneefall wurde immer stärker und die Flocken dicker und fetter. Nach einer halben Stunde hatte sich eine zentimeterdicke Schneeschicht über die gesamte Insel ausgebreitet. Die weiße Pracht knirschte unter unseren Stiefeln. Es war ein dumpfes, sattes Geräusch und es brachte uns auf Gedanken.

Schneeballschlacht.

Maik, Sören und Tim. Die drei Jungs müssen wirklich gleichzeitig auf dieselbe Idee gekommen sein, denn plötzlich flogen gleichzeitig drei Schneebälle durch die Luft. Einer traf mich, einer Kuki und einer Felix. Die Getroffenen ließen sich nicht lange bitten und Sekunden später flogen bereits 6 Schneebälle durch die Luft. Da mich von diesen 6 Bällen zwei trafen, bin ich heute nicht mehr in der Lage, den weiteren Verlauf statistisch korrekt wiederzugeben, da ich von jenem Moment selbst mit der Konstruktion von Wurfgeschossen beschäftigt war.

Die Schlacht war cool. Sollte jemand ernsthaft behaupten, Frauen seien von Natur aus pazifistische, friedensstiftende Wesen, dann hat dieser Jemand keine Ahnung. Weder Maike noch Anne waren friedensstiftend oder deeskalierend. Das Gegenteil war der Fall. Harte, präzise Würfe, die immer ihr Ziel fanden, das waren beider Markenzeichen.

Klein Felix versuchte, einen Waffenstillstand auszuhandeln. Ein Fehler. 12 Einschläge in 2 Sekunden. Felix’ Kopf war weiß vor Schnee. Stefan versuchte sich als Heckenschütze, indem er gezielt Deckung suchte, wartete, genau zielte und sein Opfer exakt traf.

Jan hingegen machte einen anderen dummen Fehler. Auf der Suche nach frischem Schnee geriet er in den Einzugsbereich von Kuki, Kai und Sören. 3 Augenpaare checkten ab, verständigten sich ohne Worte und Jan landete im Schnee und wurde eingeseift.

Das wiederum konnten Maik und ich nicht auf uns sitzen lassen. Es gab zwar keine Regeln, aber während der Schlacht hatten sich drei oder vier Seiten rausgebildet. Jan gehörte zu unserer Seite und musste natürlich gerächt werden.

Die Lage wurde unübersichtlich. Wir fielen einfach alle übereinander her und versuchten uns gegenseitig mit Schnee einzuseifen. Alles quiekte, schrie, kicherte oder japste hilflos vor Lachen. Es war der totale Wahnsinn.

Etliche Zeit später, wie viel könnte ich nicht sagen, lagen wir alle nebeneinander im Schnee und kicherten völlig erschöpft vor uns hin.

»He, Timmy-Baby ...«, Maik erhob sich müde, »Was hast du aus unserem Sven gemacht?«

»Wieso?«, Tim war zu müde, um sich zu erheben.

»Na, ich kenn ihn eigentlich nur als unseren Alibipazifisten. Aber in ihm scheint ja ein echter Killer zu stecken!«

Ich grinste nur: »Leute, lasst uns wieder reingehen!«

Mein Vorschlag wurde allgemein akzeptiert. Mühsam erhoben wir uns, klopften uns so gut es ging den Schnee aus den Klamotten und schleppten uns wieder zurück in unsere warme, gemütliche Scheune.

»Wisst ihr was?«, Anne sah an sich und uns herunter. »Wir müssen unsere Sachen zum Trocknen ausziehen. Die meisten sind völlig nass vom Schnee.«

Die Gute hatte Recht. Als Felix sagte, dass es schneien würde, waren wir rausgerannt, ohne vorher Jacken oder Mäntel anzuziehen. Die hingen und lagen trocken und unbenutzt in der Scheune. Dafür waren unsere Hosen, Hemden, Sweat-Shirts und T-Shirts jetzt klitschnass.

»Wie? Ausziehen? So mit ohne Kleidung?«, Sören sah sich schüchtern um.

Ich schmunzelte: »Hast du Angst vor mir?«

»Naja, fünf Schwuppen auf einem Haufen. Wer weiß, nachher färbt noch was ab ...«

»Ach was, du hast Maik auf deiner Seite, der geht für drei Heten durch!«

»Pah!«, knurrte Maik, während sich Sören schmunzelnd seiner feuchten Klamotten entledigte.

Wenig später lag die ganze Horde, Maik, Maike, Sören, Felix, Anne, Jan, Stefan, Kuki, Tim und ich, gemütlich unter drei großen Wolldecken. Unsere Klamotten hatten wir zum Trocknen in unseren selbstgebauten Trockenschrank für unsere Surfanzüge gehängt. Die Scheune diente uns, wie früher schon mal erwähnt, nebenbei auch als Lager für unser Surfmaterial.

So unter die Decken gekuschelt, brach plötzlich das Eis. Es begann ganz zaghaft damit, dass Stefan albern kicherte. Dieses Kichern hatte eine ansteckende Wirkung. Über Felix und Jan, Anne, Kuki und mich, wurden auch Sören und Timmy infiziert.

»Ihr seid ja alle blöd!«, brummelte Maik, um, obwohl er es mit aller Gewalt zu unterdrücken versuchte, selbst kieksend loszugackern.

Und plötzlich war sie da. Die gute Stimmung.

»Warum lachen wir eigentlich?«, fragte Jan.

»Keine Ahnung!«, meinte ich.

»Ich fass es nicht ...«, Maik schüttelte seinen Kopf. »Ich stecke tatsächlich mit fünf Schwuppen unter einer Decke ... wenn ich ab Morgen auch Männern hinterher renne, dann erschießt ihr mich aber bitte!«

»Wenn du darauf bestehst ...«, ich kannte Maik. Neben Thimo war er einer meiner ältesten Freunde. Ich wusste, wie seine Sprüche zu verstehen waren.

»Hast du eigentlich keinen Freund?«, Felix saß natürlich neben Jan - seinem Jan. Mir fiel aber auf, dass er schon den ganzen Abend über verstohlene Blicke zu Kuki geschickt hatte. So unter die Decke verkrochen, fasste er sich ein Herz und traute sich, Kuki endlich anzusprechen.

Mit einer Mischung aus Melancholie und Glück sah Kuki strahlend zu Tim und mir herüber, als er Felix antwortete: »Doch, sogar zwei.«

»Nein, das meinte ich nicht ... Ich meinte, ob du einen Freund hast?«

Kuki drehte sich zu Felix: »Ich habe deine Frage schon richtig verstanden. Wir sind drei Freunde ... nenne es ein gewagtes Experiment oder auch den totalen Wahnsinn. Doch ich glaube ... nein, ich bin davon überzeugt: mit jenen beiden, wird die Sache schon klappen.«

»Was meinst du? Sollen wir uns auch einen Kerl teilen?«, Maike sah provozierend zu Anne. Die zuckte nur mit den Schultern und entgegnete: »Immer! Gerne! Sofort! Wenn du mir verrätst, wo wir einen echten Kerl herbekommen?«

Auf diese Provokation mussten die männlichen Anwesenden natürlich lautstark protestieren: »Was soll denn das heißen?«

»Na was denn? Ich seh' nur fünf an Frauen desinteressierte Schwestern, zwei Milchbubis und einen notgeilen Tittenfetischisten, aber keinen Kerl!«

»Schätzchen, du kannst ja immer noch lesbisch werden«, stichelte Felix.

»Was meinst du?«, grinste daraufhin Maike Anne an: »Hätte ich Chancen bei dir?«

»Du? Immer! Wenn ich mir die Alternativen so ansehe...«

»Dürfen die so über uns reden?«, Tim mischte sich ein.

»Natürlich nicht ...«, kam es von Stefan. »Aber sowas kommt halt bei der Emanzipation raus. Aufmüpfige Girlies!«

Während der Rest der Mannschaft sich über die Rolle der Frau in der Gesellschaft und über die Rollen von Anne und Maike im Besonderen die Mäuler zerbrach, beobachtete ich, dass Felix recht still war. Er hatte seinen Körper zwar an Jan gekuschelt, sein Geist war aber nicht bei Jan. Ständig schaute Felix zu Kuki hinüber. Drohte dieser, dies zu bemerken, wandte Felix sich blitzartig ab und schaute in eine unverfängliche Richtung.

Mir wurde leicht mulmig. Beziehungsstress einen Tag vor Weihnachten? Kein sehr erstrebenswertes Ziel, doch was sollte ich tun? Ich war ausschließlich indirekt involviert. Wenn Felix sich Hals über Kopf in Kuki verguckt haben sollte, dann war das weder eine rationale noch bewusste Geschichte. Es tat mir nur um Jan leid. Er wäre der Leidtragende und in letzter Konsequenz Felix sogar auch. In vier Tagen würde Kuki mit uns wieder zurück nach Berlin fahren und Felix und Jan? Würde ihre Beziehung vor einem Scherbenhaufen stehen?

Oder machte ich mir nur zu viele Gedanken? Planspiele eines norddeutschen Geistes? Jede Option und Möglichkeit durchspielend und dabei die Realität aus dem Auge verlierend.

Nur ... die Realität nahm konkretere Formen an. Jan hatte - unbewusst - bemerkt, dass mit Felix etwas nicht stimmte und ihn relativ unwirsch weggeschoben. Der Weggeschobene wiederum sah irritiert und verunsichert zu Jan, zuckte mit den Schultern und rückte demonstrativ noch ein Stück weiter weg.

Krise?

»Was hast du?«, flüsterte Tim mir ins Ohr.

»Felix!«

Tim nickte: »Ich hab's bemerkt. Dumme Situation.«

8.11. Innenansichten eines Staatsanwalts

Portland

Oberstaatsanwalt Tanner war eine wahre Zierde der Gesellschaft - der konservativen Gesellschaft. Als einhundertprozentiger Republikaner wusste er, wie seine Klientel zu bedienen war. Er wusste genau, welche Urteile man von ihm erwartete. Schuldsprüche mit hohen und harten Strafen. Das gefiel der Masse, die nach Rache und Vergeltung gierte. Mit sowas konnte man Karriere machen, kam groß raus, stand im Rampenlicht, als einer »der etwas gegen die Kriminalität tut« oder als jemand »der dem asozialen Pack, das sich auf Kosten des Staates ein ruhiges Leben machte, zeigt, wo der Hammer hängt!«. Ja, der Oberstaatsanwalt war ein Mann, ein Profi seines Faches, der unzweifelhaft den Nerv der tumben Masse traf, der wusste, wie man mit Verbrechern umzugehen hatte. Gnade war etwas für Weicheier.

Im Gegensatz zur Mehrheit seiner Anhängerschaft, deren IQ allgemein knapp über der Raumtemperatur lag, war Tanner ein gebildeter und ziemlich intelligenter Mensch. Er schaffte locker den schizophrenen Spagat, der zwischen einer Forderung von Todesstrafe und Lebenslänglich auf der einen Seite und dem Wissen um die Sinnlosigkeit solcher Forderungen bestand. Nicht dass sich Tanner selbst als einen unmoralischen Menschen verstand, ganz im Gegenteil. Die Leute, die er anklagte, hatten eine Anklage im Allgemeinen auch verdient - mehr oder weniger.

Nein, Tanner verstand sich selbst als Werkzeug eines höheren Ziels. Der Rückeroberung Amerikas aus den Klauen amoralischer, liberaler Demokraten, den gottlosen Verrätern all dessen, wofür Tanner stand: Moral, Anstand, Sitte, Kirche, Familie, Religion. Amerika, genaugenommen die U.S.A., waren für ihn »Gods own Country«, doch dieses demokratische, linke Pack war dabei, all dies an den Teufel zu verkaufen. So bestand eben seine noble Aufgabe darin, zu verhindern, dass dieses Land vor die Hunde ging. Es war weniger ein Beruf, sondern eine Berufung. Staatsanwalt, Oberstaatsanwalt und vielleicht irgendwann mal Gouverneur?

Warum nicht? Es würde ihm, Tanner, dem Retter von Anstand und Moral, neue Möglichkeiten eröffnen.

Zweifel oder Gewissensbisse an seinem Tun kannte Tanner nicht. Der Vorteil, sich moralisch im Recht und vor allem überlegen zu fühlen, lag darin, dass es wie ein Schutzmantel vor Skrupeln wirkte. Wie so oft heiligte auch hier der Zweck die Mittel. Sollten die Mittel einmal nicht ganz so verhältnismäßig sein, so waren sie doch gerechtfertigt. Man musste sie nur im größeren Rahmen des ganzen Bildes betrachten, sie im Kontext »der Aufgabe« sehen, und schon war jeder Zweifel an der Richtigkeit des Handelns verschwunden. Man kann halt kein Omelette zubereiten, ohne Eier aufzuschlagen.

So war es auch im Fall »Der Staat Maine gegen Camron-Bach« gewesen. Für Tanner war der Fall ein Paradebeispiel für seine Ängste und Überzeugungen. Homosexualität! Das war so ein typisches Beispiel für das, was Tanner als »Verfall der Moral« ansah. Nein, er war kein Unmensch. Als moderner, mitfühlender Konservativer wusste er natürlich um das harte Los, das diesen armen Menschen anheimgefallen war. Aber warum musste man »diese Leute« auch noch in ihrem Irrglauben bestärken, dass diese Abnormität natürlich sei? Dass man sie ausleben müsse? Warum mussten diese »Scheißliberalen« sich mal wieder bei jeder dahergelaufenen Minderheit anbiedern, so krank diese auch immer sein mochte. Denn Homosexualität war in Tanners Augen auf jeden Fall eine Krankheit, vergleichbar einer geistigen oder körperlichen Behinderung. Und so, wie man sein behindertes Kind natürlich liebt und nicht ausgrenzt, sollte sich die Familie auch um diese Art Behinderung kümmern. Die Familie - und nicht die Gesellschaft!

Auf der anderen Seite sollte man, soweit die Betroffenen ihre fatalen Neigungen nicht unter Kontrolle hatten, sie nicht mit den »Normalen« zusammenkommen lassen. Zum Beispiel sollte man sie nicht am Schulunterricht teilnehmen lassen. Kinder und Jugendliche sind ja so leicht zu beeinflussen. Genauso würde auch niemand mit Verstand einen offen TBC-Kranken auf eine öffentliche Schule lassen.

Es war mal wieder typisch, dass dieses links-liberale Pack - eigentlich waren das ja alles nur verkappte Kommunisten - die Sache ganz anders sahen. Doch wenn man genau hinsah, mit den Augen von Oberstaatsanwalt Tanner, dann sah man die Wahrheit.

Hätte man Thimo Camron-Bach nicht auf die Liberty High gelassen, sondern ihm notwendige und angemessene religiöse, menschliche und medizinische Hilfe zukommen lassen, vielleicht hätte er dann seine Neigungen im Griff gehabt, und soviel Tragisches wäre nicht passiert.

Thimo war für die dramatische Entwicklung noch am wenigsten die Schuld zu geben. Er war einfach das Opfer seiner Veranlagung. Doch hätten seine Eltern aufgepasst und hätten frühzeitig gehandelt ... wer weiß ...

Jetzt war es Tanners Aufgabe, die Trümmer zu beseitigen. Dass dabei aus seiner Sicht Thimo die Konsequenzen für das Versagen seiner Eltern, genaugenommen seiner Mutter, tragen musste, war tragisch, aber unvermeidlich. Eine Frau sollte eben nicht unverheiratet sein und ein Sohn braucht schließlich einen Vater. Natürlich nicht so einen wie der von Marcel Reynolds.

Jimmy Reynolds entsprach genau dem Typus Mensch, den Oberstaatsanwalt Tanner verabscheute. Natürlich war Jimmy Reynolds ein Liberaler, ein Demokrat, schließlich war er Strafverteidiger. Schlimmer noch, er war ein vorzüglicher Strafverteidiger, der immer sein Optimum für seine Mandanten gab.

Nicht dass Tanner prinzipiell etwas gegen Strafverteidiger gehabt hätte. Sie waren ein notwendiges Übel, lästig zwar, aber in den meisten Fällen relativ unproblematisch. Die meisten Strafverteidiger waren einem guten Deal zugänglich. Sie kannten ihre Kundschaft und wussten, dass es sich in vielen Fällen um keine braven, gesetzesfürchtigen Mitbürger handelte. Die waren froh, wenn man ihnen überhaupt eine Absprache anbot.

Eine andere Gruppe von Strafanwälten waren die Pflichtverteidiger. Die waren Tanner sogar noch lieber. Die meisten kamen frisch vom College und erwarben sich bei der Pflichtanwaltschaft ihre ersten Prozesserfahrungen. Die hatten ungefähr so viel Interesse an ihren Fällen, wie Hamburgerverkäufer am Hamburgerverkaufen.

Jimmy Reynolds hingegen war anders. Ihn interessierten seine Fälle. Er war der Typ, der immer 100% hinter seinem Mandanten stand. Und wenn irgendetwas nicht sauber lief, schrie er gleich ganz laut »Verletzung von Bürgerrechten«. Wie pathetisch!

Oberstaatsanwalt Tanner drehte sich immer der Magen um, wenn er auf Jimmy Reynolds traf. Jimmy Reynolds war die andere Seite - der Feind.

Er war es schon seit ewigen Zeiten, seit diesem Fall mit dem asozialen Penner. Ein wasserdichter Fall. Der Verdächtige war am Tatort, er verhielt sich verdächtig, er hatte die Brieftasche des Opfers, die Öffentlichkeit forderte Resultate. Wo bestand denn da das Problem, wenn man die Beweislage der Realität anglich?

Er musste schuldig sein. Und wenn nicht? Naja, wen hätte es getroffen? Halt einen asozialen Penner. Was ist so ein Leben schon wert? Mit seiner Verurteilung hätte er sogar seinem Land einen Dienst erwiesen. Der Glaube an Sicherheit und Ordnung wäre wieder hergestellt gewesen.

Und dann nahm dieser Kommunist Reynolds den Fall auseinander. Das war Verrat. Man hätte die Sache geräuschlos regeln können. Als dann der wahre Täter entdeckt wurde, immerhin ein angesehener Chirurg, zerfetzte Reynolds nicht nur die Anklage, er schadete damit auch dem System, dem Glauben an Justiz und Staat.

Warum sahen solche Typen wie Jimmy Reynolds nicht die Welt so klar und deutlich wie er?

Gut, der Chirurg hatte fünf Frauen ermordet, aber wie viele Leben hatte er gerettet mit seiner Begabung? Man hätte eine Lösung finden können. Der Täter, der natürlich nicht für seine Tat verantwortlich zu machen war, da es in Folge psychischer Überlastung geschah, hätte sich freiwillig in Behandlung begeben können.

Wenn er, Oberstaatsanwalt Tanner, die Nützlichkeit beider Individuen verglich, war sein Urteil klar. Wenn der Penner nicht für diese Tat verantwortlich war, dann bestimmt für zahllose andere.

Genauso verhielt es sich auch bei dem jetzt vorliegenden Fall. Thimo Camron-Bach oder Brandon McCarthy?

Natürlich kannte Tanner die Fakten. Er hatte sie selbst ermittelt. Brandon hätte die Tat durchaus begangen haben können. Er war, wie schon mehrfach aktenkundig belegt recht schnell mit dem Messer zugange. Andererseits war er ein McCarthy. Ein vielversprechender Sohn von Justin Maximillian McCarthy. Ihm würde noch eine glänzende Kariere in Gesellschaft und Politik bevorstehen. Außerdem war er, wie Justin »Max« McCarthy Tanner versichert hatte, nicht der Typ, der jemanden wirklich umbringen würde. Dass so etwas grundweg falsch war, hatte er schon damals, bei der leidigen Geschichte mit Alexander Vandenberg eingesehen. Inzwischen war Brandon viel älter und daher sicherlich auch viel vernünftiger. Außerdem war dieser Vandenberg homosexuell und hatte sich Brandon unsittlich genähert. Brandon hatte sich damals nur selbst verteidigt.

Dies waren die Gedanken, die Oberstaatsanwalt Tanner durch den Kopf gingen, als er im Zeugenstand von Jimmy Reynolds befragt wurde. Dass er dabei für Jimmy Reynolds nur Verachtung übrig hatte, war nicht wirklich überraschend.

Tanner fühlte sich durch und durch im Recht. Vielleicht waren seine Handlungen nicht immer Rechtens, aber darauf kam es nicht an. Die Versuche der Verteidigung, mit billigen Tricks und Prozessmärchen zu punkten, mussten einfach zum Scheitern verurteilt sein.

»Sagt Ihnen der Name Alex Vandenberg etwas?«

8.12. Atmosphärische Turbulenzen

Fehmarn

Die Situation wurde noch dümmer. Genaugenommen wurde die Situation unangenehm. Zwischen Jan und Felix tat sich ein Graben auf. Unbewusst und ohne Worte entstand zwischen beiden eine emotionale Distanz, die deutlich breiter war, als der räumliche Abstand zwischen den beiden.

Inzwischen war es fast zwei Uhr nachts, unsere Klamotten waren wieder trocken und wir entschieden gemeinsam, für heute Schluss zu machen. Müde packten wir unsere Sache und lösten die gemütliche Runde für diesen Abend auf. Denn trotz der atmospärischen Störungen zwischen Jan und Felix war es ein gemütlicher Abend gewesen.

»Kommst du mit zu mir?«

Jan hatte diese Frage an Felix gerichtet. Es gibt so Fragen, da steckt die Antwort gleich mit drin. Dies war so eine Frage, dabei war es weniger der Inhalt, als vielmehr die Art wie Jan fragte - schüchtern und zurückhaltend - die Felix nun folgende Antwort vorwegnahm.

»Ähm, nee heute nicht, ich muss doch morgen früh mit meinen Eltern raus. Tannenbaum kaufen ...«, wand sich der angesprochene. Ihm war sichtlich unwohl in seiner Haut.

»Na, gut ...«, Jans Enttäuschung war kaum zu überhören. Er warf noch einen traurigen Blick Richtung Felix und einen skeptischen in Richtung Kuki und trottete wie ein geprügelter Hund von dannen.

Da Felix nicht mit Jan nach Hause ging, ergab sich eine interessante Paarung für die Heimwege. Jan ging mit Maike, Maik, Anne, Sören und Stefan, der Rest, sprich Felix ging mit uns. Normalerweise wäre das auch kein Problem gewesen, einfach nur eine geographische Zwangsläufigkeit, da Felix ein paar Häuser von meiner Oma wohnte, die anderen aber in zwei anderen Dörfern in entgegengesetzter Richtung. Doch so, mit Felix und Kuki in einer Gruppe ...

Entsprechend schweigend schlichen wir nebeneinander her. Kuki und Tim mehr oder weniger fremd in unserer Freundesgruppe, wagten eh kein Wort zu sagen. Und mir ...

Mir kribbelte es in den Fingern!

Ich konnte mich natürlich wieder mal nicht zurückhalten: »Ok, was ist mit dir und Jan los?«

Felix zuckte zusammen, blieb stehen und glotzte in den Schnee: »Was ist das? Svens berühmt berüchtigte Harmoniesucht?«

»Sorry, wenn du nicht willst ...«, dann eben nicht.

»Schon ok! Nix is'«

»Wie nix?«

»Es ist alles ok«, murmelte Felix. Seiner Stimme nach glaubte er selbst nicht an das, was er sagte.

»Nö ... üb-ber-haupt-nicht!«, überrascht drehte ich meinen Kopf zu Kuki. Der war nämlich stehengeblieben und hatte sich Felix in den Weg gestellt. Breitbeinig, die Hände vor seiner Brust verschränkt stand Kuki vor Felix. Jener hatte sich die Kapuze seiner Daunenjacke weit über den Kopf gezogen - es schneite immer noch - und glotzte in den Schnee. Weitergehen ging nicht, dazu hätte er Kuki umrennen müssen.

»Du hast den ganzen Abend zu mir rübergesehen ...«

Ah, Kuki war es also auch aufgefallen. Nicht schlecht der Kleine, er hatte sich das bis jetzt nicht anmerken lassen.

»Ja ...«, fiepste Felix wie eine Spitzmaus leise unter seiner Kapuze hervor.

»Also, du bist zwar ziemlich süß, aber ...«

»Das ist es nicht?«, ziemlich schwierig, eine vernuschelte Stimme von unter einer Kapuze gesprochen zu interpretieren. Ich meinte, etwas von Genervtheit gepaart mit Amüsiertheit und Verlegenheit bei Felix entdeckt zu haben, aber als gesicherte Erkenntnis hätte ich mein Urteil nicht verkaufen wollen.

»Sondern?«, Kuki ließ nicht locker. Schließlich wollte er schon mal so ungefähr wissen, warum ein Typ wegen ihm die Beziehung zu seinem eigenen Freund gefährdete. »Typ, ich kenn dich erst seit heute Nachmittag. In vier Tagen bin ich wieder weg. Ich weiß ja nicht, worum es geht, aber deswegen ’ne Krise mit deinem Freund vom Zaun brechen ...«

Ich kannte Kuki. Er klang hart und brutal, war es aber nicht. Felix, der Kuki auf gewisse Weise ähnlich war, so vor's Schienenbein zu treten, war überhaupt nicht seine Art. Aber es wirkte. Felix hob seinen Kopf und schob seine Kapuze zurück. Unter der Kopfbedeckung schaute ein merkwürdig verschmitzes Kerlchen hervor.

»Ich will dich doch nicht anbaggern ...«, Felix lavierte. Er hatte was auf dem Herzen, aber das schien ihm megapeinlich zu sein. Schließlich riss er sich zusammen und zeigte auf Kukis Kopf: »Es ist wegen dem da!«

Was will uns der Dichter damit sagen? Tim und ich folgten der Richtung von Felix Zeigefinger und sahen ... Kukis Kopf.

»Ja?«, fragende Blicke trafen Felix.

»Na, das Zeug in seinem Gesicht. Die Piercings ...«, Felix bekam richtig glänzende Augen, als er das sagte. »Oh Mann, die sehen so affengeil aus. Ich bekomm vom Ansehen schon ne Erektion!«

»Krrrrnnnnnnpfff«, Tim.

»Ummmmpfff«, Kuki.

»Ähm ... tja, also ... humpffff ...«, ich.

Es war unfair und gemein, aber wir brachen in schallendes Gelächter aus. Wir konnten es einfach nicht zurückhalten. Der arme Felix hatte sich in Kukis Körperschmuck verguckt. Klar, dass er die Blicke nicht von Kuki abwenden konnte. Der hatte reichlich davon.

»Bin ich deswegen pervers. Ich meine, das ist doch sowas wie Fetischismus, oder?«

»Danke, auch für die Blumen!«, meinte Kuki. »Was bin ich denn in deinen Augen!«

Felix lief rot an: »Ne, sorry, das hab' ich doch so nicht gemeint ... ich ...«

Kuki lächelte Felix fröhlich an: »Ist schon ok. Ich weiß selbst, dass ich nen' kleinen Dachschaden habe.«

»Ähm, ich glaube, du solltest Jan anrufen. Du hast ihn heute Abend ziemlich vor den Kopf gestoßen«, ich konnte nicht anders. Mein Harmoniebedürfnis zwang mich dazu. Ich konnte einfach keine kriselnden Beziehungen vertragen.

»Ja! Mist, ich bekomm erst heute Abend zu Weihnachten ein Handy ...«

»Kein Problem ...«, Kuki reichte ihm seines, »Meinst du, dass es auf dieser Insel überhaupt ein Netz gibt?«

»Ey!«, Protest von Felix und mir. Auf unsere Insel ließen wir nichts kommen.

Felix telefonierte. Es dauerte eine ganze Weile, in der er wie bei uns eben auch schon rumlavierte und sich nicht richtig traute, das auszusprechen, was er sagen wollte.

»Herrgott so wird das nie was!«, ich musste von einer Schneeflocke gestochen worden sein, anders kann ich mir das heute nicht mehr erklären, denn ich schnappte Felix das Handy weg.

»Jan, hörst du? Hier ist Sven! Also: Fakt a - Felix ist ein super-süßer Typ, der dich total lieb hat. Aber das solltest du ja bereits wissen. Oder? Fakt b - Er hat ein kleines Geheimnis und weiß nicht, wie er es dir beichten soll ... ja ... ja ... wärmer ... auch, das ... Treffer! Willst du Felix nochmal?«

Ich lauschte dem Handy und grinste Felix provozierend an: »Hier, er will dich nochmal sprechen!«

Während ich Felix das Handy zuwarf und dieser in ein Gespräch mit Jan versank, ging ich auf Kuki und Tim zu, die zurückhaltend wartend der weiteren Entwicklung harrten.

»Alles im grünen Bereich. Ich kenne Jan ja schon etwas länger. Er konnte sich auch nicht denken, dass Felix sich mir nichts, dir nichts einen anderen schnappt. Als ich meinte, Felix hätte ein Geheimnis ... es hat sofort Klick gemacht.«

»Mein Beileid!«, murmelte Kuki.

»Wie jetzt? So eine Bemerkung von dir?«, ich war verblüfft.

Kuki seufzte: »Wenn ihn die Sucht mit dem Piercen erstmal packt ...«

»Na, ich vermute mal, dass eher Jan das Opfer sein dürfte, oder?«, schloss Tim messerscharf.

»Fragen wir doch Felix.«

Denn der hatte gerade die Gesprächsendetaste gedrückt und strahlte wie in Honigkuchenpferd.

»Na, was strahlst du so!«

»Jan ist mir nicht böse ...«

»Und weiter?«

»Wir überlegen, ob wir uns nicht beide auch was stechen lassen könnten. Geil, was?«

Felix’ Weihnachten konnte wohl gar nicht mehr besser werden. Wir freuten uns mit ihm, dass seine kleine Beziehungskrise so leicht zu flicken war. Nur Kuki blieb ein klein wenig skeptisch. Ausgerechnet er?

»Darf ich dich zu deinem Zeug etwas fragen?«, Felix war, nachdem sein Geheimnis keins mehr war, völlig aufgedreht.

Müde lächelnd nickte Kuki: »Schieß los, was willst du wissen?«

Von da an wurde Kuki Felix nicht mehr los. Er fragte unserem armen Metallwarenlager regelrecht Löcher in den Bauch. Intellektuelles Piercing. Ab und zu konnten Tim und ich uns in die Fachunterhaltung der beiden mit einbringen, die Hauptdiskussion lief ausschließlich zwischen den beiden ab.

So verging eine ganze Weile. Ich kannte Kuki und ich konnte es an Felix Gesichtsausdruck sehen, Kuki schonte Felix nicht. Er wollte etwas übers Piercen wissen? Gut, dann sollte er auch alles darüber erfahren ... möglicherweise mehr, als ihm lieb war.

»Könntet ihr euere Fachsimpelei kurz unterbrechen?«, ich stoppte spontan und sah mich um, »Wir haben ein Problem. Ich weiß nicht mehr, wo wir sind!«

Um uns herum war es weiß - schneeweiß. Wir hatten wie immer nicht die Straße genommen, sondern waren über die Felder gelaufen. Doch normalerweise lag dort kein Schnee und normalerweise fiel auch kein Schnee. Genau das war aber jetzt der Fall.

Der Schneefall war in den letzten Stunden immer stärker geworden. Inzwischen hatte er sich zu einem Schneesturm entwickelt, der es unmöglich machte, sich zu orientieren. Die Sichtweite lag bei bestenfalls 25 Metern. Es gab keine Chance, Landmarken zu entdecken.

Wir standen mitten auf dem Acker und hatten uns verirrt. Nicht wirklich schlimm, da Fehmarn bekanntlich eine Insel ist, aber halt doch nervig.

»Und, was machen wir jetzt?«, Tim formulierte das Unbehagen des Großstädters, der ich nur sicher fühlte, wenn er Häuserschluchten neben sich wusste.

»Weitergehen. Irgendwo werden wir schon ankommen«, meinte ich trocken.

Tim und Kuki warfen mir unsichere Blicke zu, die etwas ausdrücken wollten, was in der Richtung: »Du meinst das jetzt nicht ernst, oder?« lag. Felix hingegen zwinkerte mir zu, er wusste halt, wie das auf unserer Insel lief.

Wir latschten weiter. Es ging über schneebedeckte Felder, tückische Abzugsgräben, kleine Erdwälle. Tim und Kuki maulten, während Felix und ich unseren kleinen Ausflug ganz amüsant fanden.

»Ich glaub' ich hör was!«, Felix war stehengeblieben und lauschte. »Da lang ...«

Dann hörten wir es auch: Wasser. Wir hörten das seichte Plätschern der Ostsee. Das Schneegestöber wurde etwas dünner und wir konnten sogar etwas erkennen.

»Ich weiß, wo wir sind ... da vorn ist Strukkamphuk! Ich seh das Leuchtfeuer!«, Felix war sich sicher.

»Mann, dann sind wir mindestens 5 Kilometer falsch gelaufen!«, ich kratzte mich am Kopf. »Naja, immerhin wissen wir, wie wir jetzt nach Hause kommen. Da vorne müsste ein Uferweg sein.«

Kuki und Tim sagten nichts mehr, die beiden waren einfach nur maulig. Zugegeben, es war kalt, zugig und auch etwas nass von oben. Wobei die letzte Unannehmlichkeit gerade dabei war, sich zu verabschieden. Wir hatten fast den Leuchtturm erreicht, als der Schneefall ganz aufhörte. An der Küste konnte sich das Wetter sehr schnell ändern. Wenige Minuten später brach die Wolkendecke auf und der Mond kam zum Vorschein.

Weiß! Fehmarn war mit einer weißen Decke Zuckerguss überzogen. Im Mondlicht strahlte der Schnee hell auf. Genau über der Küstenlinie lösten sich die Wolken auf und gaben den Blick auf einen sternenklaren Himmel frei.

»Leute, es ist zwar alles recht pittoresk hier, aber ich will echt ins Bett!«

Tim maulte und das nicht ohne Grund. Ich sah Felix an, welcher meine Gedankengänge erkannte und beipflichtend nickte: »Wir wissen jetzt genau, wo wir sind ...«

»Ich nicht!«, knurrte Kuki.

»Ok ...«, ich holte tief Luft, »Ihr seid nicht die Einzigen, die keine Lust mehr haben und ins Bett wollen. Es gibt genau zwei Möglichkeiten. Entweder latschen wir jetzt los und sind in gut einer Stunde zu Hause, oder ...«

»Oder was?«, fragte Tim. Seine Begeisterung über eine weitere Stunde Fußmarsch durch eine verschneite Winterlandschaft hielt sich arg in Grenzen.

»Wir klingeln jemand per Telefon aus dem Bett, dass der oder die uns abholt ...«

Ich sah Felix vorsichtig an und erntete die von mir erwartete Reaktion. Felix wehrte mit den Händen ab. Seine Körpersprache war genauso deutlich, als hätte er die Worte ausgesprochen: »Ich ruf Maike nicht an! Das kannst du selbst erledigen! Ich will schließlich noch weiterleben!«

»Ok, dann mach ich es eben selbst ...«, zuckte mit den Schultern und zog mein Handy aus der Jackentasche.

8.13. Ein Urteil, das keins ist

Portland

Die Frage stand gut 15 Sekunden im Raum. Niemand sagte etwas, insbesondere nicht der Gefragte.

»Bitte beantworten Sie meine Frage, sagt Ihnen der Name Alexander Sean Vandenberg etwas?«

Tanners Augen verengten sich zu Schlitzen. Unverhohlener Hass richtete sich gegen Jimmy Reynolds, »Nein! Wer sollte das sein?«

»Ich wiederhole meine Frage nochmal ...«

»Einspruch!«, kam es von der Anklagebank. Der zweite Staatsanwalt intervenierte: »Der Zeuge hat die Frage bereits beantwortet.«

Richterin Cunningham sah Jimmy Reynolds fragend an, welcher sofort antwortete: »Vielleicht hat der ehrenwerte Staatsanwalt den Namen nicht richtig verstanden. Er steht schließlich unter Eid. Alexander Sean Vandenberg. Denken Sie ruhig einen Moment nach.«

»Ich kann mich an den Namen nicht erinnern.«

»Sehr gut, so legen Sie sich nicht fest. Ich ...«, zischte Jimmy zynisch.

»Einspruch!«

»Schon gut! Schon gut! Ich habe keine weiteren Fragen an den Zeugen!«

Etwas verunsichert, da er mit einem wesentlich längeren Kreuzverhör gerechnet hatte, verließ Oberstaatsanwalt Tanner der Zeugenstand.

»Rufen Sie Ihren nächsten Zeugen!«, die Cunningham ging zur Routine über.

»Ich rufe Alexander Sean Vandenberg!«

Tanner hatte seinen Tisch noch nicht erreicht, als Jimmy Reynolds seinen nächsten Zeugen aufrief. Er zuckte zusammen. Tanner wusste es. Sein Fall war geplatzt. Er war geplatzt. In 1000 Metern Höhe. Die Geschworenen wussten es noch nicht, aber er wusste es. Dieser verfluchte scheiß Demokrat von einem Verteidiger hatte gegraben und war fündig geworden. Er würde alles ruinieren.

Die Tür des Gerichtssaals öffnete sich und Alex trat herein. Ein freundliches Blinzeln in Thimos Richtung und Alex setzte sich auf den Zeugenstuhl. Alex wurde vereidigt und befragt. Alex schilderte seine Kollisionen mit Brandon. Zuerst die an der St. James, später die an der JFK.

Die Anklage versuchte mehrfach, die Befragung mit Einsprüchen zu torpedieren, doch außer zwei weniger wichtigen formalen Zugeständnissen, bei denen Jimmy eine Frage umformulieren musste, waren sie nicht sonderlich erfolgreich.

»Wurden die Fälle von Messerangriffen auch von der Polizei untersucht?«

»Ja, von der Polizei und von der Staatsanwaltschaft, die einen Haftbefehl erwirken wollten, bis ein anderer Staatsanwalt die Ermittlungen an sich zog und den Fall einstellte!«

»Weißt du, wer das war?«

»Ja, er sitzt da drüben, Staatsanwalt Tanner.«

»Einspruch, Hörensagen!«, die Flucht der Verlierer zu Formalismen.

»Nicht ganz ...«, unterbrach Jimmy Reynolds die Anklagevertretung, »Mit Erlaubnis des Gerichts ...?«

Jimmy gab einem seiner Mitarbeiter, der in der letzten Reihe des Zuschauerraums saß ein Zeichen. Dieser erhob sich und verließ ganz kurz den Saal, um mit einem ganzen Trupp, darunter vier Polizisten zurückzukehren.

Angeführt wurde die Gruppe von einem seriös und gewichtig aussehenden Mann höheren Alters, dessen Erscheinen Richterin Cunningham sichtlich erstaunte: »Richter Abrahams?«

Richter Edward Archibald Abrahams war Richter des Appelationsgerichtes des Staates Maine und Vorsitzender der Richterkammer. Statt auf die Frage der Cunningham direkt zu antworten, warf er Jimmy einen bestätigenden Blick zu.

»Wenn ich erläutern darf, Euer Ehren?«

»Nur zu! Eigentlich ist mein Bedarf an Überraschungen für diesen Monat gedeckt, aber mein Wohl scheint ja niemanden zu interessieren!«

»Euer Ehren, sehr geehrte Damen und Herren Geschworenen, der Verteidigung sind vor zwei Tagen Informationen zugetragen worden, die die Vermutung aufbrachten, dass von Seiten der Staatsanwaltschaft Beweismittel und Zeugenaussagen unterdrückt und teilweise sogar vorsätzlich manipuliert worden sind. Auf meine ausdrückliche Bitte hin wurde eine Sonderkommission unter Leitung des ehrenwerten Richters Abrahams eingesetzt. In diesem Zusammenhang wurde das Büro von Oberstaatsanwalt Tanner durchsucht und eine Anzahl von Akten beschlagnahmt. Zum Ergebnis dieser Aktion bitte ich jetzt Richter Abrahams ums Wort.«

»Mit Euer Erlaubnis, Euer Ehren?«, Abrahams versicherte sich der Zustimmung der Cunningham.

»Leg los, Ed!«, frustriert warf sie ihren Richterhammer hin.

»Nach bisherigem Stand bestätigt sich der Verdacht der Verteidigung. Oberstaatsanwalt Tanner, hiermit nehme ich Sie wegen vorsätzlicher Beweismittelfälschung, Beweismittelunterdrückung, Verletzung von Dienstpflichten in Tateinheit mit Amtseidverletzung und Verdacht auf Vorteilsnahme in Haft. Tanner, Sie sind ein Schandfleck für die Justiz. Ein Staatsanwalt hat auch alle entlastenden Indizien eines Falles zu würdigen. Doch Sie haben sie unterdrückt, gefälscht oder sogar vernichtet. Officer, nehmen Sie den Mann in Haft!«

Tanner sagte nichts. Er ließ sich schweigend abführen. Für ihn war die Sache sowieso klar: Man verstand ihn einfach nicht. Er war wohl politisch unbequem. Scheiß Demokratenpack.

Nachdem Abrahams wieder gegangen war und im Gerichtssaal wieder Ruhe eingekehrt war, erhob sich Jimmy Reynolds: »Ich beantrage, das Verfahren gegen meinen Mandanten wegen schwerwiegender Verfahrensfehler mit sofortiger Wirkung einzustellen! Die Grundprinzipien eines fairen und objektiven Prozesses wurden durch die Staatsanwaltschaft negiert.«

Richterin Cunningham schüttelte nur ihren Kopf: »Ihrem Antrag wird stattgegeben. Der Fall wird wegen Verfahrensfehlern eingestellt. Das Gericht dankt den Geschworenen. Die Sitzung ist geschlossen!«

Klack! Der Richterhammer fiel, Richterin Cunningham ging. Thimo und Marcel sahen verdattert aus der Wäsche.

Thimo fand als Erster seine Sprache wieder: »Und nun?«

»Bist du frei. Das Verfahren ist zu Ende.«

»Aber es gab' kein Urteil.«

Langsam leerte sich der Saal. Jimmy, Thimo und seine Mutter, Marcel und Alex blieben zurück.

»Du hast Recht. Es gab kein Urteil. Das Verfahren wurde ohne Urteil eingestellt«, Jimmy wirkte etwas niedergeschlagen.

»Aber dann ...«, Thimo ahnte, worauf die Sache hinauslief, »Wir haben nicht bewiesen, dass ich unschuldig bin. Ich habe keinen Freispruch! Man wird zwar denken, dass Brandon der Täter war, aber trotzdem werden die Leute immer zögern und überlegen, ob ich es nicht doch getan haben könnte. Außerdem ... wird die Staatsanwaltschaft diese Niederlage auf sich sitzen lassen? Wird sie nicht ein neues Verfahren gegen mich anstreben?«

»Um deine letzte Frage zuerst zu beantworten. Ich denke nicht, dass die Staatsanwaltschaft einen neuen Prozess anstreben wird. Die Sache ist politisch tot und erledigt. Du hast denen genug schlechte Publicity eingebracht. Die dürfte für Jahre reichen. Ein neuer Anlauf der Staatsanwaltschaft würde die Presse als Schikane werten und sich wie die Aasgeier draufstürzen. Die Sache mit Tanner wird auch noch ein heftiges Nachspiel haben. Da bin ich mir sicher. Spätestens wenn rauskommt, dass Brandons Vater Tanners Wahlkampf finanziert hat, dürfte die Hölle über ihn hereinbrechen. Aber zu deiner ersten Befürchtung ...«

Jimmy sprach nicht weiter. Er sah sich im Gerichtssaal um, der inzwischen bis auf einen Justizbeamten leer war. Jimmy rief ihm zu: »Einen Moment noch. Wir gehen auch gleich!«

Der Beamte tippte an seine Dienstmütze und ging ebenfalls.

»Ich weiß, was du meinst. Es ist wie ein Freispruch zweiter Klasse. Es bleibt ein unangenehmer Nachgeschmack. Aber glaub mir, der vergeht. Denn ehrlich gesagt: Wir hätten nicht gewonnen! Wir hätten wohl verloren!«, Jimmy sah traurig zu Boden.

»Aber ... aber ...«, stotterte Marcel. »Thimo war es nicht. Niemals. Wir wissen doch, dass es Brandon gewesen sein muss!«

Jimmy Reynolds schüttelte seinen Kopf: »Ich vertraue dir und ich vertraue Thimo. Nicht nur als sein Anwalt, sondern auch als euer Freund. Ich glaube Thimo, dass er es nicht war. Aber Brandon war es auch nicht ...«

»Was?«, Marcel und Thimo schrien gleichzeitig auf.

Jimmy wurde flüsterleise: »Brandon hat für die Tatzeit ein wasserdichtes Alibi. Ein verifiziertes Alibi. Brandon kann unmöglich Scott ermordet haben. So sehr es auch nach seiner Handschrift aussah, er war nicht der Täter.«

8.14. Kap der Angst

Fehmarn

»Hat sie gesagt, wie lange sie braucht?«, Tim, Kuki und inzwischen auch Felix sahen mich bibbernd an. Es war wirklich saukalt geworden.

»Ihr meint, ob sie neben ihren Flüchen und Verwünschungen noch etwas Konstruktives von sich gegeben hat? Naja, ich glaube, sie hat was von einer halben Stunde gefaselt.«

»Erst in einer halben Stunde?«, Kuki kreischte hysterisch. »Dann bin ich ein Eiszapfen!«

»Na hoffentlich bricht dir nicht eher dein Eiszapfen ab ...«, stichelte Timmy.

Es war eine fiese Kälte. Eine leichte Brise von der See ließ die minus 4 Grad noch deutlich kälter erscheinen. Windchill war das Zauberwort. Wir rotteten uns zu einem Haufen zusammen, versuchten uns gegenseitig warmzuhalten, hopsten etwas, um in Bewegung zu bleiben und die Blutzirkulation aufrecht zu erhalten und knurrten uns gegenseitig mit blöden Sprüchen an.

Die Zeit schlich zäh und müde dahin. Minuten vergingen, in denen uns nur noch kälter wurde. Doch endlich sahen wir in weiter Ferne die Lichter eines Autos aufblitzen.

Maike?

Der Wagen fuhr den Feldweg zum Leuchtturm entlang und kam immer näher. Es war Maikes Auto und ... es war Maike! Endlich!

Langsam brachte sie den Wagen vor uns zum Stehen. Dankbar sahen wir sie an, doch diese Dankbarkeit wurde nicht erwidert. Maike musste müde sein, denn sie saß starr hinter dem Steuer und schien darauf zu warten, dass wir einstiegen. Sollte man von ihr um 4 Uhr morgens intellektuelle Höchstleistungen und einen hellwachen Verstand erwarten? Wohl nicht. Sie war mindestens so müde wie wir. Mitten in der Nacht aus dem Bett geklingelt zu werden ist auch nicht sonderlich spaßig.

Tim öffnete die Beifahrertür: »Ah, da sind ja meine Freunde. Jungs, heute ist Heilig Abend! Zeit für die Bescherung!«

Im ersten Moment verstand ich gar nichts. Ich hörte eine bekannte Stimme, konnte diese aber nicht mit Maike in Verbindung bringen. Die Stimme, die wir hörten, gehörte einem männlichen Sprecher, Maike war weiblich.

Woher kannte ich die Stimme?

Ich stutzte, denn ich sah, dass Tim nicht in den Wagen einstieg, sondern mit einem panischen Ausdruck auf seinem Gesicht drei Schritte zurück trat.

Und dann sah ich den Sprecher. Er richtete sich auf, denn er hatte sich hinter dem Armaturenbrett auf der Beifahrerseite verborgen gehalten. Es war André und er hielt eine Waffe in der Hand.

»Na, freut Ihr euch nicht, mich zu sehen?«, fragte er hämisch.

Nicht wirklich. Ich war eher paralysiert. Es war kalt, ich war müde und das Denken fiel mir schwer.

»Ihr wundert euch sicher, dass ich hier bin und nicht in Berlin in U-Haft.«, André genoss sein Spielchen.

Er hatte Recht. Wir sollten uns wundern, aber genaugenommen war es zu kalt dafür.

»Die Bullen können ja sowas von naiv sein. Wahrscheinlich warten sie immer noch vor dem Klo darauf, dass ich fertig werde. Ach, und die hier ...«, André drehte seine Waffe, dass wir sie besser bewundern konnten, »Mein Vater liebt Waffen. Er hat so viele in seinem Schrank, da wird eine fehlende kaum auffallen, zumal ich die Kombination des Schlosses kenne. Ich muss euch also enttäuschen, es wird keine Großfahndung wegen eines bewaffneten Schülers geben. Außerdem vermutet man mich wahrscheinlich sowieso in München. Ich hab' die Kreditkarte meiner Eltern geklaut und eine Zugfahrkarte mit dem ICE nach München gebucht und bin stattdessen per Mitfahrgelegenheit hierhergekommen. Schlau was?«

Bitte nicht! Jetzt bitte keinen Monolog des Bösewichts, in dem er seine mentale Überlegenheit demonstriert. Das wirkt in Filmen schon immer Scheiße und das tat es auch bei André.

»Unerträglich schlau ...«, knurrte Kuki.

»Ah' unsere Psychotucke will was sagen ...«

Kuki sagte nix. Er beschränkte sich darauf, böse zu gucken.

»Du scheinst ja keine Mühen gescheut zu haben, uns zu finden. Da stellt sich natürlich sofort die Frage, was du denn jetzt von uns willst, wo du uns ja gefunden hast?«

»Sven, altes Haus, wie machst du das eigentlich?«

»Was?«

»So schwul gestelzt zu reden, dass sich einem die Fußnägel umkrempeln?«

»André, sag was du willst!«, ich verschränkte demonstrativ meine Arme vor meiner Brust. Verarschen konnte ich mich schließlich auch allein.

»Oh, jetzt schmollt mein kleiner Schwanzlutscher!«

Ich wartete, sagte aber nichts. Stattdessen verschränkten auch Tim, Kuki und Felix ihre Arme. Keiner sagte ein Wort. Wir warteten.

André wurde nervös und fahrig. Er fuchtelte mit seiner Knarre hin und her, setzte ein paar Mal an, etwas zu sagen, brachte dann aber nichts raus. Schließlich kam er auf mich zu, mimte auf amerikanischen Gangsta-Rapper, indem er seine Knarre waagerecht gegen meine Schläfe drückte. Boah, ey! Geile Pose, Alter! Mit machomäßig coolem Ausdruck auf seiner Fresse rückte er wenige Zentimeter an mein Gesicht heran.

»Puuuhhhcchhh!«, simulierte er einen Schuss. »Eine kleine Bleikugel wandert durch dein schwules Hirn!«

»Du willst mich umbringen?«, eigentlich ein guter Zeitpunkt, um in hysterische Panik zu verfallen. Mein Hirn spielte aber nicht mit, sondern wählte stattdessen das Kombiprogramm »Zynisch rational!«

»Umbringen?«, Andrés Augen bekamen wirre Zuckungen, die sich auf einen Teil seiner Gesichtsmuskeln ausbreiteten. Er war definitiv nicht mehr ganz schussecht!

André zog sich und die Waffe zurück und kratzte sich - die nächste coole Pose - mit dem Lauf sein Kinn, während er philosophierte: »Nicht umbringen ... ich werde euch erlösen!«

»Junge, du hast nen Hackenschuss!«, kommentierte Felix sehr treffsicher.

André reagierte wie dressiert und sprang auf Felix zu. Auch er durfte den kalten Stahl des Waffenlaufs an seinem Schädel spüren: »Wer bist denn du? Hat dich irgendwer nach deiner Meinung gefragt? Hä? Bist du eigentlich auch einer von denen?«

»Du willst wissen, ob ich schwul bin?«, fragte Felix mit provokanter Schärfe in seiner Stimme.

»Ja, du Wichser! Bist du auch einer dieser kranken Typen?«

»Ich glaube nicht, dass dich das irgendwas angeht!«

»Hallo?«, André klopfte mit der Schusswaffe hart gegen Felix’ Schädel. »Ich halte eine Waffe in der Hand! Meinst du nicht, dass du ein wenig netter zu mir sein solltest?«

»Nö!«, bei diesem kurzen Wort seitens Felix stockte mir der Atem.

André kekste aus. Wie Rumpelstilzchen hopste er vor Felix rum, den Lauf der Waffe direkt auf Felix’ Stirn gerichtet. André wirkte aber auch merkwürdig hin- und hergerissen. Entweder hatte er nur bis zu dem Zeitpunkt gedacht, an dem er uns finden würde und hatte für das, was danach passieren sollte, keinen Plan, oder er hatte einen Plan, doch der lief nicht so, wie er sich das vorgestellt hatte, weil wir völlig anders reagierten. Einerlei, André schien nicht weiter zu wissen.

»Los, geht!«, einer spontanen Eingebung heraus, scheuchte uns André in Richtung der Bruchkante am Meer. Mit seiner Waffe uns, das heißt Kuki, Maike, Tim, Felix und mich in Schach haltend, trieb er uns bis an die Klippe. Wobei Klippe ein viel zu hochtrabendes Wort war, denn die Uferkante ging wenig mehr als zwei Meter abwärts.

»Und? Sollen wir uns jetzt der Reihe nach aufstellen, dass du uns einen nach dem anderen abknallen kannst?«, Kuki machte mir Angst, warum provozierte er André. Ich hatte nicht vor, vorzeitig an Bleivergiftung zu sterben.

»Halt’s Maul!«, Andrés Stimme kiekste. Wieder zappelte er vor uns rum. »Scheiße! Scheiße! Scheiße!«

»Vergiß es André, du kannst es nicht!«, schon wieder Kuki. Wenn André ihn nicht umbringen würde, ich würde es tun.

Der Angesprochene zuckte zusammen, packte seine Knarre mit beiden Händen und richtete sie auf Kuki aus: »Ich knall dich ab!«

»Nein, das tust du nicht!«, Kukis Stimme war erschreckend ruhig und abgeklärt. »Du kannst es nicht! Sven I und Tim zusammenschlagen, das kannst du. Aber Auge in Auge ... soll ich es dir leichter machen? Soll ich mich umdrehen? Dann kannst du mir in den Hinterkopf schießen und musst mir nicht in die Augen sehen ...«

Ok, Kuki hatte den Verstand verloren. Und ich? Ich war kurz davor, mich einzunässen. Mit anderen Worten: Ich hatte eine scheiß Angst vor André. Der Typ war meiner Meinung nach völlig außer Kontrolle geraten. Wer konnte wissen, was er als Nächstes vorhatte?

Er wusste es offensichtlich selbst nicht, denn er wirkte nach wie vor hin- und hergerissen. André ließ seine Waffe sinken, um sie sofort wieder hochzureißen und sie wechselweise auf Kuki, Sven, Maike, Felix und mich zu richten. Kuki hatte möglicherweise wirklich Recht: Er konnte es nicht tun. In seinen Vorstellungen muss das so einfach gewirkt haben. Wie im UT, Counterstrike oder Quake. Waffe auswählen und linke Maustaste drücken. Aber im Real Life ...

In André arbeitete es. Man konnte es an seinen Kiefermuskeln erkennen, wie angespannt er war.

»Scheiße! Scheiße! Scheiße!«, fluchend rannte er vor uns auf und ab. Dabei wirkte er vollkommen lächerlich. Trotzdem war uns nicht zum Lachen. Er hielt eine Waffe in der Hand. Wozu durchgeknallte Typen fähig sein können ... naja, wir lasen hin und wieder halt auch Zeitung und schauten in die Glotze.

André blieb vor uns stehen. Uns musternd, prüfend, abschätzend. Kuki, Maike, Tim, Felix ... mich! Er blieb unmittelbar vor mir stehen. Mein Magen krampfte sich zusammen. Mein Hals zog sich zu. Ich musste schlucken, konnte es aber nicht. Mein Blick blieb auf der Mündung seiner Waffe hängen und folgte jeder ihrer Bewegungen.

»Du!«, seine Stimme war wie das Klicken des sich spannenden Abzugs. Ich zuckte zusammen. Ich konnte nicht so cool wie Felix und Kuki sein.

»Zahltag!«

8.15. Fäden ohne Enden

Portland

In der Tat, Thimos Urteil war ein Urteil zweiter Klasse. Er war zwar frei, aber so richtig brachte ihn dieser Umstand nicht weiter. Konkret weigerte sich seine Schule, ihn wieder am Unterricht teilnehmen zu lassen.

Wie nicht anders zu erwarten, bot Alex an, sich als Schulsprecher dafür einzusetzen, dass Thimo und natürlich auch Marcel die JFK besuchen könnten. Dies war ein sicherlich gut gemeintes Angebot, doch schlug Thimo es aus gleich zwei Gründen aus. Zum einen aus rein praktischen Erwägungen, die JFK lag genau am anderen Ende der Stadt. Sie war sicherlich eine sehr gute Schule, doch eine Fahrtzeit von knapp einer Stunde war Thimo einfach zu viel. Der andere Grund war mehr prinzipieller Natur. Die Liberty High war seine Schule! Sie war hässlich und abstoßend, kalt und abweisend, hatte aber einen Haufen echter Freunde zu bieten. Menschen wie Jana, Rob, Tom oder Samuel del Ray würde er vor den Kopf stoßen, sollte er den leichten, einfachen Weg wählen und einfach die Schule wechseln.

Das nächste Ziel hieß also Back to school! Ein harter Brocken. Die erste Verteidigungslinie des Systems gegen Thimo war Prinzipal Franklin. Zwei Tage nach Prozessende fanden sich Thimo und seine Mutter in Franklins Büro wieder und erlebten das übliche Ritual: den Raum gemessenen Schrittes zu durchschreiten und höflich vor Franklins Schreibtisch zu warten, auf dass einem ein Platz angeboten werde.

Franklin war am telefonieren und ließ sich vom Erscheinen Thimos und dessen Mutter auch nicht unterbrechen. Mit seiner fleischigen Hand fuchtelte der Prinzipal umher, was wohl dem Äquivalent einer Platzanweisung gleichkam.

Ganz kurz hielt Franklin die Sprechmuschel des Telefons zu und raunzte seinen Besuchern ein »Moment noch!« entgegen, um sich sofort wieder seinem Gespräch zuzuwenden.

»Sicher ... sicher ...«, obwohl Franklins Gesprächspartner nicht zu sehen war, hinderte es den Direktor nicht, gleichzeitig mit Händen, Füßen und Gesicht zu sprechen. Sein ganzer Körper war in Wallung.

»Ich kann Ihnen versichern, dass ich das auf keinen Fall zulassen werde.«

Franklin lauschte den Worten seines Gesprächspartners ... oder war es eine Gesprächspartnerin? Eine zeternde Stimme schien am anderen Ende der Leitung zu stecken. Thimo kam sie unangenehm bekannt vor.

»Nein! Niemand wird das wollen ... ja, genau ... nein, diesen schlechten Einfluss auf unsere Schülerschaft wird es nicht noch einmal geben ... wie? Sicher! ... sicher! Sie haben völlig Recht, wir sollten das auf der nächsten Vorstandssitzung auf jeden Fall thematisieren.«

Prinzipal Franklin schien keine Anstalten zu machen, mit seinem Gespräch in nächster Zeit zum Ende kommen zu wollen. Thimo vermutete Absicht dahinter. Der Termin zu dieser Unterredung war nur unter massivem Druck zustande gekommen. Prinzipal Franklin hatte zu seiner Mutter gemeint, er sähe keinen Sinn in einem Treffen. Seine Entscheidung hätte er gefällt und außerdem wäre er sowieso nicht darin frei, zu tun, was er gerne machen würde. Schließlich wäre er dem Vorstand und Gründungsrat gegenüber verantwortlich.

»Ja ...«, der Direktor machte es sich in seinem Ledersessel gemütlich. Er hatte Zeit. Seinetwegen konnte das Telefonat noch ewig dauern, »Sie sagen es, Mrs. Reynolds. Es war eine tragische Fehlentscheidung Skinners und er wird die Konsequenzen dafür trag ... hallo?«

Die Leitung war tot. Franklin lauschte irritiert in seinen Hörer, probierte nochmals ein »Hallo« und war konsterniert. Sein Blick richtete sich auf den Hörer, als wenn der an dem plötzlichen Verstummen seiner Gesprächspartnerin Schuld trug. Da dem nicht so war, folgte er dem Spiralkabel bis zum Telefon.

Mehr als überrascht zog Prinzipal Franklin seine Augenbrauen hoch. Auf der Gabel des Telefons lag ein Finger, der den Schaltkopf für den Hörer herunter drückte. Genaugenommen war es ein weiblicher Finger, der einer weiblichen Hand gehörte, die über Unter- und Oberarm im Körper von Thimos Mutter endete.

»Was fällt Ihnen ein? Wissen Sie, wer das war?«, Franklins Nüstern plusterten sich auf.

»Ich denke schon. Aber ich bin nicht hergekommen, um mir ein Telefonat anzuhören. Das Treffen war auf 9:00 Uhr terminiert. Sie haben uns erst eine viertel Stunde warten lassen, dann durften wir uns ihr Gespräch mit Mrs. Reynolds anhören. Erwarten Sie ernsthaft, dass Sie mich mit solch billigen Tricks beeindrucken können?«

Franklin lächelte süffisant: »Wissen Sie, ich hatte ehrlich gehofft, in Ihnen eine intelligente Frau zu treffen, die begreift, wann man erwünscht ist und wann nicht. Leider habe ich mich geirrt. Wie ich Ihnen bereits am Telefon erklärte, sehe ich in diesem Treffen nicht den geringsten Sinn. Der Vorstand hat entschieden, dass Thimo einen Störfaktor für diese Schule darstellt. Ein potentieller Mörder hat nichts auf dieser Schule zu suchen.«

»Sehr gut, schuldig bis zum Beweis des Gegenteils!«

»Zynismus ist hier nicht angebracht. Aber wenn ich offen sein darf, Sie leben in einer Traumwelt, wenn Sie wirklich glauben, dass dem nicht so sei. Thimos Unschuld wurde nicht bewiesen, also könnte er der Täter gewesen sein. Diese Schule ist ein Wirtschaftsunternehmen. Die Eltern zahlen, und wenn ich hinzufügen darf, nicht zu knapp, dafür, dass ihre Kinder eine exzellente Bildung erhalten. Meinen Sie nicht auch, dass jemand, der für eine Leistung bezahlt, nicht auch das Recht hat, zu bestimmen, wie und in welchem Kontext diese Leistung erbracht wird?«

»Ist das Ihre Meinung?«

»Meine Meinung interessiert hier nicht. Es ist die Meinung des Vorstands! Ich habe hier ausschließlich ein Unternehmen zu leiten. Als Geschäftsführer bin ich dem Vorstand und ausschließlich ihm verpflichtet. Wenn er sagt: ,Spring`, dann frage ich: ,Wie hoch?`.«

Wieder eine von Franklins Maschen. Der Prinzipal präsentierte sich als armer, machtloser Befehlsempfänger, der überhaupt keinen Einfluss auf die Schule und was auf ihr passierte, besaß. Bewusst ließ er ein kleines Detail bei seiner Beschreibung der Aufgaben und Rollen an der Liberty High weg. Es war durchaus korrekt dargestellt, dass Franklin dem Vorstand unterstellt war, nur war er damit zu gut 45% sich selbst unterstellt. Die Schule war eine AG, bei der die Mehrheit der Aktionäre ihr Stimmrecht an Franklin für den Preis einer höheren Dividende abgetreten hatten.

Thimos Mutter grinste: »Wenn dem so ist, dann dürfte das hier für Sie ja kein Problem darstellen, wo Sie ja offensichtlich gewohnt sind, Anweisungen blind zu folgen ...«

Für eine Sekunde sah Franklin verärgert aus. Sein Gesichtsausdruck änderte sich aber spontan, als Thimos Mutter ihm ein gefaltetes Schriftstück auf den Schreibtisch legte.

»Was ist das?«

»Eine einstweilige Verfügung, mit der Sie angewiesen werden, meinen Sohn wieder zum Unterricht zuzulassen, bis es eine Anhörung vor dem Vorstand der Schule mit formaler Entscheidung über die weitere Zukunft meines Sohnes an dieser Schule gibt. Des weiteren beinhaltet es eine Bußgeldandrohung von 250.000 USD für den Fall, dass mein Sohn bei der Teilnahme am Schulleben behindert oder der Besuch anderweitig verwehrt wird.«

Sichtlich beeindruckt konnte sich Prinzipal Franklin ein bewunderndes Lächeln nicht verkneifen: »Meinen Respekt, Mrs. Camron-Bach. Selbstverständlich wird diese Schule jeder gerichtlichen Aufforderung nachkommen. Willkommen zurück, Thimo!«

Offensichtlich hatte man es bei Prinzipal Franklin mit einem Opportunisten der schlimmsten Sorte zu tun.

In letzter Konsequenz bedeutete die gerichtliche Verfügung, dass Thimo nicht nur wieder dem Unterricht beiwohnen durfte, sondern faktisch sogar musste. Der Weg zum Unterricht führte unweigerlich durch die Schule, oder präzise, durch das Schulgebäude. Das war Thimos Problem, genaugenommen die Ursache für das flaue Gefühl in seiner Magengegend. Schulgebäude sind neben Lehrern überwiegend mit Schülern bevölkert. Schülern, die über Thimos Probleme mit der Justiz wussten. Wie würden sie reagieren?

Thimo und Marcel betraten die Liberty High möglichst unauffällig. Zielgerichtet liefen sie durch Flure und Gänge und versuchten dabei, nicht zu schnell, aber auch nicht zu langsam, halt möglichst unauffällig zu sein. Thimo hatte den Versuch, die Unauffälligkeit in Person zu sein bis an die Spitze getrieben, indem er seine Kleidung in die Gesamtkonzeption mit einbrachte. Mittelalte, schwarze Jeans, neutrales T-Shirt, Basecap tief, aber nicht zu tief ins Gesicht gezogen, bewegte er sich durch die Flure und hoffte, in der Masse der anderen Schüler unterzugehen.

Die Hoffnung stirbt zuletzt. Aber sie stirbt.

»Camron-Bach! Dass du den Mut hast, hier wieder aufzukreuzen!«

Shit, Thimo erkannte die Stimme sofort. Sie gehörte einer Person, die auf Platz 3 einer fiktiven Liste von Personen in Thimos Kopf rangierte, die er ungern bis gar nicht sprechen oder treffen wollte.

»Hallo Amber, unangenehm dich zu treffen!«

Amber schob sich bis auf wenige Millimeter an Thimo ran. Eiskalt und reduziert auf die Emotionen Abneigung und Ablehnung eröffnete Amber ihre verbales Bombardement: »Wir wollen dich hier nicht! Das müsste dir doch klar sein, oder? Also, warum tust du uns nicht allen einen Gefallen, packst deine Sachen und nimmst dein Spielzeug gleich mit.«

Das Spielzeug knurrte.

»Marcel, halt’s Maul!«, pfefferte Amber ihm entgegen.

Thimo kratzte sich hinterm Ohr. Amber meinte es bitterernst, nur ...

Es wirkte so komisch, urkomisch. Es war so megamäßig klischeehaft, wie eine Operette inszeniert und aufgesetzt. Thimo konnte nicht anders und musste losprusten. Er konnte sich nicht mehr halten vor Lachen. Er steigerte sich in einen Lachkrampf. Völlig hilflos kringelte er sich kichernd und gackernd.

Die Wirkung war interessant. Amber hatte mit allem gerechnet. Wüsten Beschimpfungen, Verleumdungen, Androhungen von Gewalt, sogar damit, dass Thimo weinerlich einknickte und sich tatsächlich trollte, nur mit einem hatte sie nicht gerechnet. Dass Thimo einfach nur lachte. Dieses Lachen war niederschmetternd, vernichtend, es war schlimmer, als die schlimmste Beschimpfung.

Was sollte Amber tun? Wie reagieren? Vordergründing beleidigt drehte sie sich weg und ging weg. Kein huldvolles Schreiten wie sonst, nein, sie ging einfach weg. Wer genau hinsah, konnte sogar den Eindruck bekommen, dass Ambers Augen überraschend feucht aussahen.

Marcel hingegen war das personifizierte Fragezeichen? Was war mit Thimo los? Durchgeknallt? Drogen?

Thimo versuchte sich zu beruhigen. Zwischen weiteren Kicheranfällen wischte er sich Lachtränen aus seinem Gesicht.

»Was?«, fragte Thimo grinsend.

Marcel zögerte: »Ich weiß nicht, ob das eben wirklich zum Lachen war?«

»Nein, war es sicherlich nicht«, Thimo wurde sachlich und ernst. »Amber ist eigentlich eine arme Sau. Immer die First Woman der Schule zu sein ... Sie denkt sicherlich, dass alles was sie hat, ihre Würde ist. Das macht sie zum Cheerleader, zur Queen der Schule. Ich hatte vorher nie so deutlich gespürt, wie theatralisch ihr ganzes Auftreten ist. Als wenn sie einem Drehbuch folgen würde ... und eben ... es wirkte wirklich so surreal und komisch. Ich konnte nicht anders ...«

»Du hast sie tief verletzt ...«

Thimo dachte nach, dabei machte sich ein Ausdruck des Bedauerns auf seinem Gesicht breit: »Nein, nicht wirklich ... das hat Amber schon vor langer Zeit selbst getan. Und sie tut es immer noch. Mit jeder Flasche Wodka. Trotzdem bin ich nicht unschuldig. Ich habe ihr einen Spiegel vorgehalten ... Vielleicht war es doch keine so gute Idee, wieder hierher zurückzukommen.«

8.16. Leuchtfeuer

Fehmarn – Strukkamphuk

Eine unheimliche Stille war ausgebrochen. Die Schneelandschaft schluckte jedes Geräusch. Wir konnten bestenfalls noch unser Atmen hören. Aus der Ferne drangen bis auf das seichte Plätschern der Ostsee keine Geräusche zu uns. Dafür war es nicht dunkel. Der kleine Leuchtturm streckte seinen Lichtfinger über die See aus.

»Du!«, sagte André erneut und zielte mit seiner Waffe direkt auf meinen Schädel.

Keiner rührte sich. Ich erst recht nicht. Ich hatte nicht die geringste Idee, was dieses bedrohlich klingende »Du!« nun eigentlich bedeuten sollte. Sollte ich mich die Klippe herabstürzen? Wollte André mir ein Loch in den Schädel schießen? Sollte ich mir vor Angst in die Hose pissen?

Letzte Option war für mich noch die wahrscheinlichste, denn ich war kurz davor. Meine Knie zitterten. Wenn André die Panik in meinen Augen nicht sah, dann musste er blind sein. Er musste zufrieden sein. Ja, ich geb es offen zu. Ich hatte eine scheiß Angst. Ich hätte jede Sekunde losheulen und winselnd um mein Leben betteln können.

»Ah ... du scheiß Schwanzlutscher hast ja Angst!«, André wirkte zufrieden.

»Natürlich!«, mir schossen Tränen in die Augen. »Die hättest du Wichser genauso, wenn dich jemand abknallen wollte!«

Ich bibberte. Meine Zähne klapperten vor Angst und Kälte. Ich flennte los. Doch noch während ich am zusammenbrechen war, wuchs in mir völlig unerwartet eine eisige Stärke. Die Kraft der Verzweiflung. Wenn schon ins Gras beißen, dann wenigstens aufrechten Hauptes. Der Tränenfluss ebbte ab, ich richtete mich auf und sah André mit kalten, klaren Augen an.

»Du Scheißkerl! Du willst Schwule abknallen? Hä? Du willst tatsächlich uns alle töten? Na los! Worauf wartest du noch! Fang gleich bei mir an!«

War meine Stimme am Anfang noch zittrig, belegt und leise, wurde sie mit jedem Wort kräftiger und stärker.

»Nur einen Gefallen werde ich dir nicht gewähren! Ich werde nicht um mein Leben betteln. Du musst mir schon in die Augen sehen, wenn du es tust.«

André sah mir in die Augen und ich sah zurück. Einer Zoomlinse gleich zog mein Auge sein Gesicht zu mir heran. Ich sah nur noch seine Augen. Sie waren kalt und leer. Emotionslose schwarze Löcher, umrandet von einer grau-grünen Iris gaben sie einen Blick in Andrés Inneres frei. Und dort war nichts. Nichts außer Hass und Kälte.

Kuki irrte. André würde es tun. Ich konnte es in seinen Augen sehen. Da war kein Funken von Menschlichkeit. Keine Spur von Wärme. Diese Augen konnten nur hassen.

André hob seine Pistole. Sie war entsichert und der Hahn gespannt. André richtete den Lauf direkt auf meine Stirn aus, zwischen meine Augen, die nur in seine sahen. Und seine in meine.

»Neeeiiiiiiiin!«, ein Schrei zeriss die Totenstille und plötzlich waren Andrés Augen verschwunden. Ich spürte noch, wie ich den Halt verlor. Wir hatten alle an der Kante der kleinen Uferböschung gestanden. Nun war ich am stürzen. Und mit mir André und ... Tim!

Es war Tim, der geschrien hatte.

Der Sturz schien endlos zu gehen. Dabei war die Abbruchkante bestenfalls 2 oder 3 Meter hoch. Nichts, was man als Steilküste bezeichnen konnte. Nach einer subjektiven Ewigkeit kam der freie Fall zu einem abrupten Ende. Ich schlug hart auf. Halb auf Strandsand aber auch halb auf harten Steinen. Neben mir hörte ich zwei andere Körper aufschlagen. Ich hörte ein »Umpf!«, einen dumpfen Schlag, ein Knirschen und Splittern von Knochen und ich hörte, wie sich ein Schuss löste.

Eine glühend heiße Stahlnadel bohrte sich in meinen linken Schenkel. Jedenfalls fühlte es sich so an. Eine Kugel musste mich getroffen haben. Aua! »Au-a!«, ich durfte schreien.

Ich war verletzt, aber noch am leben. Immerhin. Mein Bein tat höllisch weh, dass es mir Tränen in die Augen trieb.

»Hey, ihr da unten, was ist los?«

Das war Kukis Stimme, die nach uns rief.

Ich biss mir auf die Zähne, konzentrierte mich und antwortete: »Ich bin hier aufgeschlagen. André, dieses Arschloch hat mich angeschossen. Ich kann nicht sehen, wie stark ich blute. Tim? Bist du da?«

Es war Nacht. Ich konnte nichts sehen, geschweige denn erkennen. Der Leuchtturm war über uns. Sein Lichtstrahl traf uns nicht. Seitlich neben mir hörte ich ein Stöhnen. Der Lautstärke nach knapp zwei Meter von mir weg.

»Tim?«, ich flüsterte und hoffte inständig, dass es nicht André war.

»Ja!«, krächzte eine leise Stimme, »Mir geht es gut ... glaub ich ...«

In diesem Moment flammte eine Taschenlampe auf. Maike, patent wie immer und damit der totale Kontrast zu ihrem Bruder, war sofort zu ihrem Auto gerannt und hatte ihre Riesen-Mega MagLite, die immer griffbereit in der Ablage der Fahrertür lag, geholt. Die Lampe war kräftig genug, dass man etwas erkennen konnte. Man konnte sogar viel erkennen. Tim war gerade dabei, mühsam aufzustehen und sich zu mir zu schleppen. Sein nicht ganz schmerzfreies Gesicht sprach Bände. Trotz seiner eigenen Schmerzen untersuchte er erstmal mich und meinte schließlich: »Keine größere Arterie oder gar Schlagader verletzt! Mann, du hattest ein verdammtes Glück!«

Hatte ich eigentlich erwähnt, dass Tim ausgebildeter Ersthelfer war? Nein? Nun, er war es nicht freiwillig. Seine Ausbildung hatte er seinem Schwimmtrainer zu verdanken. Einmal im Jahr sorgte er dafür, dass die ganze Mannschaft an einem Lehrgang teilnahm.

»Was ist mit André!«

André lag regungslos schätzungsweise rund fünf Meter zu meiner Rechten. Ich wollte aufstehen, doch ein lavaheißer Schmerzschlag ließ mich sofort wieder zu Boden gehen.

Tim schüttete den Kopf: »Du bist nicht am verbluten. Niemand hat aber behauptet, du seist nicht verletzt! Warte hier!«

Welch wahre Worte. Ich wartete.

»Ich werde keinen Millimeter von der Stelle weichen!«, vor Schmerz war mir sowieso kurz schwarz vor Augen geworden.

Tim ging, nein schlich sich vorsichtig zu André vor. Bei ihm angekommen beugte er sich vorsichtig über ihn. Er hockte sich hin und hatte mir dabei seinen Rücken zugewandt. Ich konnte nur erkennen, dass er André an einer Schulter packte und von einer Bauch- in eine Seitenlage brachte. Einen Augenblick verharrte er über André gebeugt, forderte mehr Licht von Maike, schüttelte schließlich seinen Kopf und richtete sich mit herabhängenden Schultern auf.

»André ist tot!« Pause. Tim ließ uns etwas Zeit, die Worte zu verdauen. »Er muss mit seinem Schädel auf einem der Findlinge aufgeschlagen sein. Seine rechte Kopfhälfte ...«

Tims Sprache stockte. Er musste schlucken, bevor er weitersprach: »Sie ist völlig zerschmettert. Eingedrückt ... ich ...«, Tim stockte erneut, »Es ist so sinnlos ...«

Sinnlos ...

8.17. Entenbraten und Bekenntnisse

Portland

Amber war der erste Streich, doch der zweite folgte gleich ...

Der zweite Streich war aber wesentlich angenehmerer Natur. Es war Rob, der um eine Ecke der tief rekursiv verwinkelten Gänge der Liberty High gebogen kam und Thimo samt Marcel fast über den Haufen rannte.

»Fuck! Welcher Idot ...«, schnaubte Rob wütend. Doch während er noch schnaubte, kippte sein Gesichtsausdruck von Zornesfalten in Freudestrahlen um: »Fuck! Thimo, wann hat man dich aus deiner Zelle gelassen?«

»Haha!«

Zwei Sekunden zögern, ein Augenwinkelzucken und Marcel, Rob und Thimo umarmten sich. Wobei Thimo und Marcel nicht schlecht staunten. Robs Umarmung war sehr intensiv. Fast sexuell ...

Rob bemerkte das auch, wurde rot und fing mit seinen Armen an zu rudern: »Nein! Macht euch keine Hoffnungen ... ich freu' mich nur tierisch, euch wieder zu sehen!«

»Du musst nicht rot werden!«, stichelte Marcel. Rob wurde noch roter.

»Kein falsche Scham! Ich weiß doch, wie gut du küssen kannst!«, Thimo konnte es einfach nicht lassen. Rob wurde knallrot.

»Idioten ...«, ein kleines hinterhältiges, fieses Grinsen mogelte sich auf Robs Lippen, als er mit seinen Schneidezähnen an seiner Unterlippe knabberte. Man konnte deutlich sehen, dass er etwas ausheckte.

»Ich glaube, ich muss mein Experiment nochmal wiederholen!«, murmelte er. Thimo schaltete sofort und zuckte zusammen. Jetzt war es an ihm, rot zu werden, denn Rob wiederholte seinen intensiven, geilen Zungenkuss. Damals, als er mit Thimo auf Fahrradkauftour gewesen war, lief die Sache noch umgekehrt, ihm war es peinlich gewesen. Doch jetzt war es plötzlich Thimo mehr als peinlich. Doch er ließ es geschehen ... Rob war niemand, den man von der Bettkante stoßen würden ... egal ob hetero oder nicht.

»Hohoho!«, eindeutig Toms Stimme. Er war gerade in dem Moment zur Gruppe dazugestoßen, als Rob noch mit seiner Zunge an Thimos Zäpfchen schlabberte. Marcel stand grinsend daneben, seine Arme vor der Brust verschränkt.

»Was machen die beiden da?«, fragte Tom.

»Ich glaube, Rob zeigt Thimo gerade, dass er hetero ist«, Marcel legte dabei seinen Zeigefinger an sein Kinn und die Stirn in Falten.

»Hm, interessanter Ansatz ...«, Tom tat es ihm gleich - Stirn und Kinn.

»Ja. Find' ich auch ...«

Marcel war dazu übergegangen, sich nachdenklich mit Daumen und Zeigefinger sein Kinn zu massieren - in klassischer Denkerpose, auch wenn er nicht die geringste Ähnlichkeit mit der gleichnamigen Figur von Rodin hatte.

Mit geschlossenen Augen und leicht weggetretenem Gesichtsausdruck trennte sich Rob von Thimo. Es sah aus, als wenn er gegen einen leichten Schwindel ankämpfte, mindestens gegen ein Taumelgefühl.

»Wow!«, war dann auch das Einzige, was er als Kommentar rausbrachte.

»Müsstest du nicht eifersüchtig werden?«, Tom blickte schräg zu Marcel, der links neben ihm stand.

»Nicht wirklich. Thimo spielt doch nur ...«, sprach's und warf seinem Schatz ein fieses Honigkuchenpferdgrinsen zu.

»Arsch!«, knurrte der Angegrinste.

»Selber!«, grinste Marcel, schob Rob, der immer noch mit geschlossenen Augen umhertaumelte, beiseite und umarmte Thimo. Eine Hand auf dessen Gesäß gepresst, die andere an seinem Hinterkopf verschlang er Thimo mit Haut und Haaren. Der innigen Verkopplung beider Münder nach zu schließen, war Marcel gut dabei, Thimos Mandeln mit seiner Zunge zu kitzeln.

»Wow!«, kam es aus lichter Höhe. Samuel del Ray füllte den Gang aus und warf einen interessiert, beeindruckten Blick auf die zwei sich verschlingenden Jungs. »Ihr macht keine halben Sachen, oder?«

»Hi, mein schwarzes Riesenbaby!«, Thimo unterbrach die Demonstration körperlicher Zuneigung, zwinkerte nochmals kurz Marcel zu, auf dessen Gesicht sich ein Grinsen breitmachte, und umarmte Sam. Seit der Sache im Umkleideraum hatten Thimo und Samuel eine tiefe, von gegenseitigem Respekt geprägte Freundschaft zueinander entwickelt. Thimo wusste, was Sam in seiner Abwesenheit für ihn getan hatte.

Sam war eine der wichtigsten Personen an der Schule gewesen, die nicht in die allgemeine Vorverurteilung von Thimo mit eingestiegen war. Ganz im Gegenteil, er war vehement für Thimo eingetreten.

Seit dem Footballspiel, seit Scotts Tod war die Stimmung an der Liberty High dabei gewesen, sich wieder zu drehen. War bisher Thimo eine gewisse Sympathie entgegenbracht worden, hauptsächlich, weil er unbewusst gegen Brandon und Co angetreten war, drohte zwischenzeitlich die Stimmung gegen ihn zu kippen. Eine, wenn auch unbegründete, Mordanklage hinterließ ihre Spuren. Und die Einstellung des Verfahrens wegen schwerer Verfahrensfehler lag fast auf dem Niveau eines Schuldspruchs.

»Der hat sich die Freiheit mit Geld gekauft«, war einer der Sprüche, die umgingen.

»Klar, der Alte von seinem Typen ist Anwalt und hat Kohle«, kam zwangsläufig als Antwort.

Marcel wusste davon, hatte aber Thimo, solange sein Prozess noch lief, nie etwas davon erzählt. Was Marcel nicht wusste, war, dass Thimo es trotzdem wusste. Samuel del Ray, mit ihm hatte Thimo regelmäßig telefoniert, um über alle Entwicklungen an der Liberty High auf dem Laufenden zu bleiben.

Mit Mühe umarmte Thimo also Sam: »Danke, Alter! Für alles was du hier getan hast!«

»Kein Thema. Ich weiß, wer du bist und vor allem weiß ich, wer du nicht bist! Auf keinen Fall bist du Scotts Mörder.«

»Trotzdem danke!«

Können Riesenbabys verlegen sein? Sam war es. Etwas schüchtern und ungelenk klopfte er Thimo auf den Rücken: »Ist ok! Echt!«

Mit dieser letzten Aktion waren vorerst die Wiedersehensumarmungen abgehakt. Es folgte der Unterricht. Eine leidige, wenn auch nicht zu umgehende, Angelegenheit. Thimo und Marcel hatten die erste Doppelstunde zusammen Unterricht. Auf dem Weg dorthin raunte Marcel Thimo zu: »Und Rob ist wirklich nicht schwul?«

»Nope! Er kann zwar küssen wie ein Gott und ich sage dir, seine Erregung war deutlich zu spüren ...«

»Ihr habt euch ja auch recht aneinander geschmiegt ...«

»Eifersüchtig?«

»Nö. Nur ...«

»Was?«

»Schade, dass er's nicht ist ...«, Marcels unschuldiges Gesicht und sein fieses Haifischgrinsen sprachen Bände.

»Lustmolch!«

Der Unterricht verlief normal. Aber auch nur der Unterricht. Was soviel heißen soll, als dass von Seiten der Lehrkörper keine Bemerkungen bezüglich Thimos Prozess oder den Umständen, die dazu geführt hatten, kamen.

Was nicht normal war, war das Verhalten der Mitschüler. Man beobachtete Thimo, wich aber seinem Blick aus. Man tuschelte hinter seinem Rücken über ihn, sprach ihn aber nie direkt an. Thimo empfand dieses Verhalten nicht nur lästig, er fühlte sich regelrecht gekränkt. Er hatte keinen Aussatz, aber er wurde behandelt wie ein Aussätziger.

»Vergiss die Idioten!«, tat Marcel die Sache ab.

»Das kann ich nicht«, fauchte Thimo gereizt, was ihm in gleicher Sekunde sofort leidtat. »Entschuldigung, ich wollte dich nicht anblaffen. Aber du musst das verstehen. Ich will weiterhin auf dieser Schule bleiben. Es gibt hier Leute, die ich mag. Außerdem ... es würde mir gegen den Strich gehen, wenn das System am Ende doch noch siegt.«

»Du hast doch was vor?«, Marcel kannte seinen Freund inzwischen sehr gut.

Thimo grinste: »Klar!«

Natürlich hatte es keinen Zweck zu versuchen, aus ihm herauszubekommen, was er denn genau geplant hatte.

Thimo zögerte etwas, offensichtlich war er sich seiner Sache noch nicht ganz sicher: »Wie würdest du reagieren, wenn man wüsste, dass wir zusammen sind?«

Marcel zog überrascht seine Augenbrauen hoch: »Weiß das nicht sowieso jeder?«

»Sie vermuten es. Aber was wäre, wenn es, sagen wir mal, offiziell wäre?«

»Was hast du vor?«, ein skeptischer Blick in Richtung Thimo.

»Vertrau mir! Also, wie würdest du reagieren?«

Marcel zuckte mit den Schulter: »Es wäre mir wohl egal. Mich hält doch eh jeder für 'nen Freak. Hm ... ich denke, es wäre für mich ok!«

»Sicher?«

»Ja!«

»Letztes Wort?«

»Letztes Wort!«

»Gut!«

Die Cafeteria - zentraler Umschlagplatz für Informationen aller Art. Hier wurden Gerüchte kreiert, Wahrheiten mit Unwahrheiten zu Halbwahrheiten verarbeitet, Informationen ge- und verkauft. Außerdem konnte jeder hier seinen großen Auftritt haben ... wenn er sich nur traute.

Erleichternd kam hinzu, dass heute das große Weihnachtsessen stattfand. Immer ein paar Tage vor Weihnachten wurde von der Küche etwas speziell Weihnachtliches gekocht. Diesmal war es Entenbraten. Traditionell waren für dieses Weihnachtsessen immer die nächsten beiden Schulstunden gestrichen. Es gab also Zeit ohne Ende. Außerdem war das Essen gut! Wirklich gut! Die Cafeteria war also garantiert an diesem einen Tag im Jahr bis auf den letzten Platz mit Schülern vollgestopft.

Thimos Plan, wobei er das Wort Plan als totale Übertreibung empfand, war schlicht und einfach, seine lieben Mitschüler mit ihren Vorurteilen und vermeintlichem Wissen über ihn zu konfrontieren.

Wie stellt man sowas an? Relativ einfach. Die Cafeteria füllte sich mittags innerhalb weniger Minuten. Die Schüler standen einen Augenblick am Buffet, zogen sich ihr Essen und gingen auf ihre Plätze. Eine viertel Stunde nach Beginn der Mittagspause waren fast alle bei der Nahrungsaufnahme und saßen an ihren Tischen. Der Speisesaal hatte zwar drei Eingänge, links und rechts von der Essenausgabe, der zentrale Eingang lag aber in der Mitte. Jeder, der den Saal betrat, konnte von allen Anwesenden begutachtet und gemustert werden.

In normalen Zeiten tat das natürlich niemand. Es waren aber keine normalen Zeiten.

Die geradezu penetrante Art, wie Thimo von einem großen Teil seiner Mitschüler mehr oder weniger heimlich beobachtet wurde, machten ihm eins klar. Er musste dem ein Ende setzten. Sie belauern mich? Sie fragen sich, was ich machen werde? Nun gut, sie sollen es wissen!

Thimo stand vor der mittleren Tür der Cafeteria, holte tief Luft und trat hindurch. Er ging knapp zwei Meter in den Saal hinein und blieb dort breitbeinig mit verschränkten Armen stehen.

Im ersten Moment schlug ihm noch das übliche Geschrei, der allgemeine Lärm eines Saales voller Schüler während der Mittagsspeisung entgegen. Thimo schloss seine Augen und lauschte. Der Lärm wurde leiser. Er konnte sich die Szene vorstellen, die sich gerade abspielte. Die Ersten hatten ihn entdeckt und stießen ihre Freunde an, die neben ihnen saßen. Ein Augenpaar nach dem anderen richtete sich auf Thimo. Er konnte sie spüren, jeden einzelnen Blick, der ihn traf.

Der Lärm wurde immer leiser, wurde zu einem Murmeln und machte schließlich einer spannungsgeladenen, aber auch totalen Stille platz. Fast hätte man die Elektrostatik im Raum hören können, wie ein feines Knistern, das zwischen den Anwesenden hin- und hersprang.

»Ihr wollt es wissen?«, Thimo sprach gerade so laut, dass jeder ihn hören konnte, sich dafür aber auch voll auf ihn konzentrieren musste. »Ihr wollt wissen, ob ich es war, oder?«

Vorsichtig öffnete er seine Augen und sah in rund hundert Augenpaare, die gebannt auf ihn gerichtet waren.

»Sprich lauter, Compadre!«, gröhlte einer der Homis.

»Ok, ich werde es euch sagen. Ein einziges Mal!«, Thimo sprach wirklich ein klein wenig lauter. »Ich werde euch alles sagen, worüber ihr euch ständig das Maul zerreißt, weswegen ihr hinter meinem Rücken tuschelt und was euch offensichtlich keine Ruhe lässt ...«

Man hörte ihm immer noch zu. Thimo zögerte einen Moment. Er spürte, dass seine Knie weich wurden. Doch für einen Rückzieher war es jetzt endgültig zu spät. »Sie werden mich schon nicht gleich steinigen«, dachte er noch, bevor er loslegte.

Die wichtigste Information vorweg: Ich habe Scott nicht getötet. Ich habe kein Messer genommen und ihn aufgeschlitzt. Wer von euch mich kennt, weiß, dass ich Gewalt verabscheue. Und um gleich allen Besserwissern zuvorzukommen: Nein, ich kann nicht beweisen, dass ich unschuldig bin. Das könnte nur der wahre Täter. Aber ist das wichtig?

Ich lebe noch nicht lange in diesem Land. Knapp ein halbes Jahr. Aber ich dachte immer, eines der amerikanischen Grundprinzipien lautet: »Unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils.«

Also, weist mir nach, dass ich es war! Ihr werdet scheitern, denn ich habe Scott nicht angerührt. Ganz im Gegenteil. Ich habe ihn respektiert, wie ich jeden in diesem Raum respektiere. Ob er mich nun mag oder nicht. Ich habe Scotts Leistungen für unsere Mannschaft bewundert. Ohne ihn hätten wir niemals die Meisterschaft gewonnen.

Der Speisesaal fing an zu murmeln. Eine so klare und deutliche Erklärung hatte man nicht erwartet. Aber Thimo war noch nicht am Ende dessen, was er los werden wollte. Er wartete, bis sich das Murmeln wieder gelegt hatte, und setzte erneut an:

Und jetzt die zweite Information, die offensichtlich für manche so wichtig zu sein scheint, wie der Sinn des Lebens. Ja, die Gerüchte sind keine. Mädels, es tut mir leid, aber ich steh auf Jungs, genaugenommen auf einen ganz bestimmten. Und für die mit der langen Leitung: Ja, ich bin schwul!

Thimo sah sich um. Es murmelte wieder lauter im Saal. Die Reaktionen waren recht unterschiedlich. Ein paar Mädels schienen sichtlich enttäuscht zu sein. Thimo fühlte sich geschmeichelt, ein klein wenig tat es ihm leid. Ein paar Leute, vorzugsweise seine Freunde, wie Sam, Rob oder auch Tom taten so, als wenn sie applaudieren wollten: »Gut gemacht, Alter, Respekt!« Ansonsten: nachdenkliche Gesichter, einige Leute zuckten mit den Schultern und wollten damit wohl ein »Ja und?« ausdrücken und ein großer Teil, vielleicht sogar der Mehrheit schien es total egal zu sein. Thimo hätte genauso gut ein Marsmännchen sein können.

»Und wer ist der Typ?«, schrie eine unbekannte Stimme.

Thimo wollte gerade zu seinen Freunden gehen, genaugenommen war er schon im Gehen begriffen, doch blieb er bei der Frage stehen und richtete sich in die vermutliche Richtung, aus der die Frage wohl gekommen war: »Sorry, aber ich kann nur für mich sprechen. Ihr erzählt ja auch nicht jedem, mit wem ihr gerade ...«

»Ich bin es!«, unterbrach ihn Marcel. Thimo strahlte, er hatte gehofft, dass die Sache so laufen würde. Marcel kam auf ihn zu gestürmt und stellte sich neben Thimo, seinen Arm hatte er dabei um ihn gelegt. »Ich bin Thimos Freund, was wohl so viel heißt, als dass ich wohl auch schwul sein muss!«

5... Thimo zählte in seinem Kopf rückwärts. 4... es fehlte noch etwas ganz Entscheidendes. 3... so leicht konnte seine kleine Rede nicht ablaufen. 2... denn wenn man sich auf etwas verlassen kann, 1... dann auf jeden Fall auf die Arschlöcher!

Null!

»Kann nicht mal jemand diesen perversen Arschfickern das Maul stopfen! Hier wollen anständige, normale Leute ihr Weihnachtsessen genießen!«

8.18. Aufräumarbeiten

Fehmarn

Die Nacht nahm kein Ende. Wegen der dicken Neuschneedecke brauchte die Polizei besonders lange, um zum Ort des Geschehens durchzukommen. Als Erster traf Polizeiobermeister Steenkamp ein. Er war einer der ortsansässigen Vertreter der Staatsmacht und hatte diesen Abend Bereitschaft. Von der Wache in Burg bis nach Strukkamphuk war es nicht sonderlich weit, bestenfalls eine viertel Stunde, doch auch Steenkamp brauchte dreimal so lange wie gewöhnlich.

Kuki, Tim, Felix und Maike hatten als Erstes mich versorgt. Gemeinsam war ich von ihnen einen kleinen Pfad die Böschung hinauf getragen und dann in Maikes Wagen bugsiert worden. Mir war kalt, eiskalt. Ich bibberte und klapperte mit den Zähnen. Mein Kreislauf war am abpfeifen. Vermutlich lag es an der Schussverletzung, die gerade dabei war, mich in einen traumatischen Schockzustand zu versetzen. Unter Schock neigte ich zu spontanen Gedankensprüngen.

Gott, wie mich diese Frau beeindruckte. Maike schien die Ruhe selbst. Während Tim und Felix recht nervös wirkten, schienen sie und Kuki, der auch ziemlich abgebrüht wirkte, immer den Überblick zu behalten. Als wenn sie sowas schon zig Mal getan hätten, hatten sie den Beifahrersitz mit so einer goldenen Unfallfolie aus dem Verbandskasten ausgelegt, mich draufgesetzt und dann mit der Folie eingewickelt, ohne dabei zu vergessen, Tim anzuweisen, mir einen fachgerechten Verband anzulegen.

Irgendwo zwischen Bibbern und gleichzeitigem Schwitzen, Fieberwahn und Aufgeregtheit, muss ich dann zeitweise weggetreten sein. Nicht dass ich es direkt mitbekommen hätte, aber plötzlich war die Gegend voller Polizei, Scheinwerferbatterien, Krankenwagen. Menschen in orangen Rettungswesten mit leuchtend neongelben Reflexstreifen wuselten umher. Eine junge Frau leuchtete mir mit einer dünnen Stabtaschenlampe in die Augen und murmelte etwas von Reflexen, während sie schon dabei war, mir eine Blutdruckmanschette abzunehmen. Eben noch darüber sinnierend, dass ich mich überhaupt nicht daran erinnern konnte, wann man mir diese Manschette angelegt hatte, gab die junge Frau Anweisungen an zwei Typen in orange. Jene verfrachteten mich vorsichtig auf eine Trage, fixierten mich und trugen mich zu einem Krankenwagen. Auf den Weg dorthin sah ich massenweise Polizisten in grün, ein paar Zivilbeamte (Kripo?) und offenbar Leute von der Spurensicherung, denn diese waren in weiße Einmalschutzanzüge verpackt und suchten die Gegend ab.

Die Tür des Krankenwagens klappte zu und ich dämmerte wieder leise hinfort.

»Leichte Unterkühlung ... mal sehen ... die Schusswunde ... zeigen Sie mal die Röntgenbilder ... ah ja, sehr gut. Der Kleine hat ja richtig Schwein gehabt! Ok, er bleibt heute Nacht hier ... ah, sind wir wieder wach?«

Eine freundliche, mittelalte Stimme hallte durch einen hell erleuchteten Raum. Ich blinzelte. Ich hatte wohl die Augen bis eben noch geschlossen gehabt, denn die Helligkeit blendete mich. Vorsichtig öffnete ich meine Augenlider, stöhnte verkatert auf und blickte in die Augen einer Frau in weiß.

»Hallo, Sven. Ich bin Sabine Maier und Ärztin hier. Du hast wirklich Glück gehabt. Eine oberflächliche Fleischwunde, bei der nichts Wesentliches verletzt wurde. Keine Sehnen, großen Adern und keine Knochen. Wir haben deine Wunde gesäubert, genäht und verbunden. Allerdings hattest du auch eine leichte Unterkühlung, wie deine Freunde auch. Aber durch deine Verletzung und einen leichten Schockzustand hat dich die Unterkühlung stärker mitgenommen.«

»Wo sind meine Freunde?«, meine Zunge fühlte sich an wie eine nasse Socke.

»Nebenan, sie können dich nachher auf deinem Zimmer besuchen, denn du wirst erstmal hierbleiben müssen.«

»Aber heute ist Weihnachten ...«, ich sah Sabine Maier flehend an. Hoffentlich klappte mein herzerweichender, alles dahinschmelzender, treuer, trauriger Hundewelpenblick.

»Ähm ... naja, eigentlich müsstest du einen Tag hierbleiben, aber ...«, Ärztin Maier begann zu lächeln. »Du scheinst eine sehr gute Kondition zu haben, und wenn du dich nicht übernimmst ... na gut, du kannst heute Nachmittag nach Hause ...«

Ich strahlte meine Ärztin an: »Danke!«

»Nichts zu danken. Ich kenne deine Oma und außerdem wohne ich zwei Häuser weiter. Also wenn was sein sollte, ruft ihr mich an. Verstanden? Anrufen! Sofort, wenn irgendwas mit dir nicht stimmt! Und wenn es auch nur eine querliegende Gänsekeule ist!«

Fehmarn ist wirklich ein Dorf. Dass vor ein paar Monaten, kurz, nachdem ich nach Berlin gezogen war, eine Ärztin in die Nachbarschaft meiner Oma gezogen war, wusste ich. Oma ist gewissermaßen ein Nachrichtendienst. Dass ich allerdings einmal Patient dieser Ärztin sein würde, war hingegen auch für mich recht überraschend.

Meine Freunde, insbesondere Tim und Kuki, besuchten mich tatsächlich auf meinem Zimmer. Inzwischen war es kurz nach 5 Uhr morgens. Man hatte mich mit diversen Medikamenten bedröhnt. Beides schränkte meine Fähigkeit zur spontanen und konzentrierten Kommunikation doch stark ein. Waren sie 5 Minuten in meinem Zimmer? War es eine halbe Stunde? Schwer zu sagen. Ich knackte weg. Ich versank in einen tiefen, dunklen Schlaf voll wirrer Träume, die mir Angst machten, dessen Inhalte ich aber beim besten Willen nicht wiedergeben könnte.

Es war vier Uhr. Genaugenommen war es 16:03 Uhr. Meine Augen fest geschlossen, kämpfte ich gegen das allmähliche Aufwachen an. Ein zäher und unangenehmer Prozess. Hin- und herwälzen half auch nichts. Ich knurrte mehr zu mir selbst als zu irgendjemand, der möglicherweise anwesend war.

»Es knurrt!«, eine bekannte Stimme.

»Meinst du?«, eine andere bekannte Stimme.

»Hör' doch mal!«

Ich knurrte abermals. Und das nicht, um den beiden Stimmen zu gefallen. Ich knurrte einfach zu mir selbst, um meinem Körper meine Missbilligung zum Thema »Aufwachen« kundzutun.

»Jetzt hab' ich es auch gehört!«, Stimme 2. »Es knurrt wirklich - wie niedlich!«

»Sag' ich doch!«

Ich niedlich? Also wirklich ...

»Pass mal auf ...«, die erste Stimme war wieder am reden. Ich zwang gerade noch mein Gehirn, die Denkleistung zu vollbringen, zu analysieren, worauf denn der Angesprochene aufpassen sollte, als mich ein wunderschön sanfter Mund auf der Stirn berührte.

Ich schnurrte ... quasi .

Zwei Hände wanderten unter meine Bettdecke, unter mein Hemd und streichelten meine Brust.

Ich schnurrte lauter.

»Siehst du!«, meinte die erste Stimme und zog ihre Hände zurück. Ey, weiterstreicheln!

Widerwillig öffnete ich meine Augen, stellte meinen Blick scharf und sah ... Tim und Kuki.

Sie standen links und rechts vom Bett und strahlten mich an.

»Ah, ist unser Schussverletzungsopfer endlich wach geworden?«

»Wer behauptet, ich sei niedlich?«, sowas kann man doch unmöglich über mich verbreiten. Man kommt ja so schnell zu einem schlechten Ruf.

Kuki und Tim grinsten sich an und nickten: »Der ist gesund! Den nehmen wir mit!«

»Ich darf hier raus?«

»Ja, darfst du! Allerdings nur unter strengen Auflagen von Frau Doktor. Also zieh dich an und dann raus hier?«

Anziehen? Mit einer Schussverletzung? Die war zwar am Bein, aber dafür stark verbunden und zu Schmerzen neigend. Eine falsche Bewegung und das Bein rächte sich. Mir war es etwas peinlich, aber ich benötigte tatsächlich Hilfe. Kuki packte meine alten Sachen zusammen, während Timmy begann, mir in neue Klamotten, die er von Oma mitgebracht hatte, hineinzuhelfen. Alles in allem brauchten wir eine gute halbe Stunde für eine Tätigkeit, für die ich sonst gerade mal eine Minute brauchte.

Gerade fertig angezogen öffnete sich die Tür und die Ärztin kam herein: »Ah, du bist schon fertig. Gut! Denk dran, du hast eine frische Wunde. Nicht überanstrengen. Und wenn irgendwas ist, nicht warten, dass es besser wird, sondern mich sofort anrufen. Alles klar?«

»Ja, Frau Maier.«

»Nenn mich Sabine, wir sind ja Nachbarn.«

»Ok, Sabine. Und danke für alles.«

»Hey, das ist mein Job! Außerdem, wann hat man auf Fehmarn mal ein echtes Opfer einer Schießerei!«, die Ärztin hatte einen merkwürdigen Sinn für Humor. »Und jetzt raus ihr drei. Und ähm ... wenn ihr drei ... na ihr wisst schon ... miteinander rummacht. Nicht zu heftig! Die Nähte können wirklich wieder aufgehen!«

Dieser letzte Satz war nicht nur Sabine Maier peinlich. Auch wir drei wurden knallrot und sahen zu, dass wir das Weite suchten. Wir schnappten uns ein Taxi. Vom Inselkrankenhaus zu meiner Oma war es nicht all zu weit. Auf der Fahrt unterhielten wir uns. Tim hatte ein paar wichtige Neuigkeiten.

»Die Kripo will mit dir sprechen. Das hat aber noch Zeit bis nach Weihnachten. Die ganze Sache ist für die Berliner Polizei kein Ruhmesblatt. Man vermutete André tatsächlich irgendwo in Süddeutschland. Dass er uns verfolgen und auflauern würde, hat absolut niemand für möglich gehalten. Deine Eltern und meine Mum lassen dich grüßen und von Nico soll ich dir ausrichten, dass du wieder gesund werden sollst, weil sonst, so mein Bruder wörtlich: ,Du, damit meinte er mich, sexuell unausgeglichen wirst, was dir bekanntlich auf's Gemüt schlägt.«`

»Echt? Ganz schön vorlaut, dein kleiner Bruder!«

»Yap!«

Ich sah zu Kuki: »Und was ist mit dir?«

Der Kleine zuckte mit den Schultern. Ein paar Ringe gaben ein trauriges Bimmeln von sich: »Nix ist. Mum ist in Kiew zu einer Präsentation und Paps treibt sich irgendwo in Santiago de Chile rum. Ich bin so klein, mein Herz ist rein ... ach, Scheiße ist ... ich ...«

Kuki sprach nicht weiter. Er drehte seinen Kopf in Richtung des Autofensters und betrachtete die Schneelandschaft. So schien es. Die Wahrheit war eine andere. Wir konnten sie im blassen Spiegelbild der Fensterscheibe sehen. Kuki sah hinaus, damit wir die kleinen Tränen nicht sehen konnten, die seine Wangen hinunter liefen.

8.19. The Final Showdown

Portland

Der Satz war so laut und so deutlich gesprochen worden, dass ihn jeder hören und zumindest akustisch verstehen konnte. Thimo zuckte mit seinen Schultern. Plumpe Homophobie dieser Gattung als verletzend zu empfinden, hatte er sich beizeiten abgewöhnt. Ganz im Gegenteil, war er geradezu froh darüber, derartige sprachliche und intellektuelle Entgleisungen zu hören. Sie sorgte für klare Verhältnisse. Offene Ablehnung war allemal besser, als eine schweigende, tumbe Masse, die in Wirklichkeit eine Faust in der Hosentasche hatte. »Jetzt kommt's drauf an!«, dachte sich Thimo. »Hoffentlich hab' ich die Leute nicht falsch eingeschätzt!«

Die Lage war nervenzerreißend spannend. Niemand im Saal sagte ein Wort. Manche wagten nicht einmal mehr zu atmen. Die Situation war kniffelig. Sollte man sich auf Thimos und Marcels Seite stellen? Auf Brandons? Nicht jeder hatte eine verfestigte Meinung. Eigentlich hatte die Mehrheit überhaupt keine Meinung und beurteilte die Sache eher nach ihrem Unterhaltungswert. Der wiederum war spitzenmäßig. Thimo bot mehr als man erwarten konnte: Sex und Crime!

Aber mal ehrlich, wenn interessieren die Probleme von irgendwelchen Tucken? Ok, man konnte blöde Witze über sie reißen. Obwohl ... weder Marcel noch Thimo passten in die gängigen Klischees einer typischen Tucke. Thimo war »Ein Tier«. Anders konnte man ihn einfach nicht beschreiben. Muskulös, kräftig gebaut, V-Form, ein nettes, aber nicht übertriebenes Sixpack. Thimo war der Prototyp einer Hete.

Und Marcel? Die üblichen Klischees schienen bei ihm auch nicht zu passen. Marcel war schlank und eher elegant gebaut. Mehr in Richtung Tänzer. Er hatte Muskeln, aber sie traten nicht übermäßig in den Vordergrund, sondern sorgten für eine ausgeglichene Erscheinung.

Und vom Auftreten? Thimo war eindeutig der »Buddy«-Typ. Jemand, den man gern als Freund hatte. Ein cooler Kumpel zum Abhängen, aber auch gleichzeitig mit viel mehr als nur Stroh in der Birne. Nicht affektiert, nicht zickig, meistens supergut gelaunt, etwas extrovertiert ... ein echter Sunny-Boy.

Marcel war da ganz anders. Introvertiert, zurückhaltend, still, nachdenklich und ... traurig. Marcel wirkte immer etwas melancholisch. Als wenn ein tiefer Schmerz in ihm stecken würde. Woher sollte man auch wissen, dass dem tatsächlich so war. Jedenfalls war Marcel für die meisten tatsächlich immer ein merkwürdiger Typ. Wobei das nicht negativ gemeint war.

Die Situation in der Cafeteria zwang die ansonsten schweigende Mehrheit, Stellung zu beziehen. Eine ungewohnte Erfahrung. Eine eigene Meinung zu haben ist gar nicht so einfach. Man braucht Rückgrat ...

Obwohl dies für viele offensichtlich eine völlig neue Erfahrung war, rang man sich langsam zu einer eigenen Position durch. Es begann mit einem leisen Murmeln, das von Tisch zu Tisch zu springen schien und sich zu einem brummelnden Grundton steigerte. Der Saal kam in Bewegung.

»Hey, Thimo, mir ist es egal, mit wem du schläfst oder wen du liebst. Und wenn du sagst, dass du Scott nicht kalt gemacht hast, ok, dann glaub' ich dir. Ehrlich gesagt, das hätte auch absolut keinen Sinn gemacht!«

Der, der das sagte, war Jesse. Jesse war ein recht unauffälliger Typ. Man hielt ihn immer für etwas oberflächlich, da er ständig versuchte, der »coole Typ« zu sein, aber eigentlich war er ganz ok.

»Fuck! Nein, Alter, das ist nicht ok! Schwule sind das Letzte!«, ein von Thimo befürchtetes Klischee erfüllte sich. Mo, ein Typ der Rapperfraktion war aufgesprungen und textete los. Homophobie vom Feinsten. Marcel zuckte mit den Schultern. Er kannte Mo, und weil er ihn kannte, machte ihn dessen Reaktion ziemlich traurig. Mo war nicht dumm, eher sehr intelligent. Offensichtlich hatten Vorurteile nichts mit Intelligenz zu tun.

»Hey, du arrogantes Weißbrot!«, das Riesenbaby Samuel del Ray war aufgesprungen und sprang Mo verbal an die Gurgel. »Ey, Shit, was laberst du für einen Haufen Shit? Fuck! Und ich hatte dich Motherfucker für cool gehalten? Aber du bist ja ein kleiner Rassist! Shit!«

»He, du willst doch nicht sagen, das sei ok?«

»Ja, wieso denn nicht?«

»Na, weil ...«

»Ja, los! Wir hören!«

»Fuck! Ich muss mich vor dir nicht rechtfertigen!«, Mo wurde rot vor Wut.

»Aber sicher musst du das! Du hast meinen Bruder beleidigt!«, Sam wurde pampig.

»So einer ist dein Bruder? Lässt du dir von ihm einen blasen?«

»Erstmal geht dich das gar nichts an. Und wenn es so wäre, wo wäre dann das Problem?«

»Weil es pervers ist!«, platzte jetzt Brandon in den Streit dazwischen. Und mit seinem Einsteigen in den Streit ging die Sache erst richtig los. Im Saal begann es zu kochen. Ein Orkan brach los.

»OOPS!«, meinte Thimo, der mit solch einer Wirkung nicht gerechnet hatte. Hilflos sah er sich um und wurde Zeuge, wie der gesamte Saal miteinander am Streiten war. Die Situation drohte zu eskalieren. Ein paar Kampfhähne waren kurz davor, handgreiflich zu werden und mit Stühlen und Tischen zu werfen.

»Stop!«, Thimo brüllte so laut, dass er fast seine Bronchien ausgekotzt hätte. »Seid ihr alle verrückt geworden?«

Schlagartig wurde es wieder still.

»Hey, wenn ihr wirklich solche Probleme damit habt, zwei Schwule an eurer Schule zu haben ... gut, ich muss hier nicht zum Unterricht gehen. Es gibt auch Läden, wo man toleranter und deutlich menschlicher zueinander ist ...«

Thimo war erschüttert. Er wusste nicht, wie viele jetzt für oder gegen ihn waren, aber die Heftigkeit des Streits ließ ihn ernüchtern. Enttäuscht ließ er seine Schultern hängen, drehte sich um und wollte den Speisesaal verlassen.

»Warte! Ich geh' auch ...«, Marcel drehte sich um, und folgte seinem Freund. Beide hatten die Tür erreicht, Marcel hatte seine Hand schon am Griff, als eine Stimme sie anrief: »Wartet auf mich. Wenn diese Schule für euch keinen Platz hat, dann für mich auch nicht!«

Thimo und Marcel drehten sich um. Jermain Bangs, das 2 Meter 10 Basketballass der Schule erhob sich, griff zu seinem Hals, zog an einem dünnen Lederbändchen, das ihm um den Hals hing, und zog dieses Halsband unter seinem weißen T-Shirt hervor. Alle waren sprachlos, als sie sahen, was sich unten am Band befand: mehrere Ringe, die zusammen die Farben des Regenbogens bildeten.

Thimo musste grinsen. Auf einer Schule mit rund 500 Schülern und Schülerinnen konnte es wohl kaum nur zwei Jungs geben, die auf Jungs standen. Doch das Jermain einer von ihnen war, überraschte dann schon.

Es blieb nicht bei dieser Überraschung. Sandra Miller und Yvonne Blackwood traten den Beweis für die Existenz lesbischer Beziehungen an der Liberty High an.

»Soweit kommt es noch, dass die Jungs den ganzen Spaß haben«, war Yvonnes trockener Kommentar.

Worauf 5 weitere Jungs und Mädels dem Vorbild von Thimo und Marcel folgten. Keine und keiner entsprach dabei den gängigen Klischees. Alles liebe und nette Mitschüler, die nur ihren Weg im Leben suchten.

»Ja, richtig! Haut bloß ab! Keiner weint euch eine Träne nach!«, Espens etwas zu kurz gekommener Intellekt meldete sich zu Wort. »Bah! Man sollte Ihre Schließfächer gründlich desinfizieren!«

Inzwischen standen 15 Leute an der Tür und waren drauf und dran, diese Schule für immer zu verlassen. Thimo warf noch einen Blick in den Saal, sah die angewiderten Gesichter der Fraktionen um Brandon, die Rapper und Neonazi Ray, schüttelte seinen Kopf und ...

»Wartet! Geht nicht!«, eine Schülerin hatte sich erhoben. Eine Schülerin der schweigenden Masse. Niemand, der üblicherweise aus dem Hintergrund hervortrat. Einfach nur eine Schülerin unter vielen Schülern. Sie war weder eine Spitzensportlerin, kein Sprachgenie oder eine der Top-Leute in den Naturwissenschaften. Sie war einfach nur jemand von denen, die bei all diesen Sachen normalerweise untergebuttert wurden, deren Meinung nie gefragt war, die sich dem System der Cracks, Jocks, Cheerleaderprinzessinnen und sonstigen angesagten Top-Leuten unterzuordnen hatten.

»Geht nicht! Ich möchte, dass ihr bleibt.«

»Wen interessiert, was du willst?«, Espens Mikrohirn schlug wieder zu.

»Mich!«, ein Junge, wie das Mädchen ebenso aus der schweigenden Masse, war aufgestanden, »Mich interessiert, was Sarah sagt, denn sie hat Recht! Thimo, Jermain, Yvonne, Marcel, ihr alle, bitte bleibt!«

»Ich pack es nicht! Seid ihr alle bekloppt geworden? Wir sollten froh sein, dass wir diese kranken Figuren los sind. Und wenn sie nicht gerade freiwillig gehen würden, sollte man sie rausschmeißen!«

»Dich sollte man rausschmeißen! Mein Gott, wir haben es so satt, uns von solchen Arschlöchern wie dir oder Brandon sagen zu lassen, was wir gut finden sollen und was nicht, wer ok ist und wer nicht. Ihr seid so ein selbstgefälliges, arrogantes Pack, dass ich jedes Mal kotzen könnte, wenn ich einen von euch sehe.«

»Du bist doch selbst so eine Weicheitucke!«

»Oh Mann, du bist sowas von krank. Weißt du, manchen Leuten ist das sowas von egal, ob der Typ oder die Frau, die neben einem in der Schule sitzt, es mit dem eigenen oder dem anderen Geschlecht macht. Hauptsache die Leute sind menschlich ok. Und, Espen, hätte ich die Wahl, würde ich jede der Personen, die du so gerne loswerden möchtest, dir vorziehen. Jede! Denn jeder von denen ist tausendmal mehr Wert als du. Jeder von denen behandelt mich mit mehr Respekt, als ich jemals von dir oder einem deiner Freunde erfahren habe.«

»Ok, dann geh' doch zu deinen schwanzlutschenden Freunden! Wenn die dir so gut gefallen. Auf Typen wie dich können wir genauso gut verzichten!«

Der Junge, Mike sein Name, stand auf und ging zur Gruppe um Thimo. Sarah folgte ihm.

»Na, das wars dann wohl«, Brandon übernahm das Wort von Espen. »Damit sind wir sie endlich los. Und Thimo, mach hinter dir die Tür zu, wenn du gehst.«

Zufrieden grinste er Thimo an, doch der grinste provozierend zurück. Von seinem Standort am Eingang zur Cafeteria konnte er sehen, was gerade passierte. Brandon, Espen und Co bemerkten es erst, als der Lärm von scharrenden Stühlen immer lauter wurde. Mehr und mehr Schüler standen auf und gingen zu Thimos Gruppe. Selbstverständlich folgten auch Sam, Jana, Rob und Tom, die sich bisher gezielt zurückgehalten hatten, weil sie berechtigterweise als parteiisch gegolten hätten.

Es wurde zu einer Massenbewegung. Die überwältigende Mehrheit der Schüler stellte sich auf Thimos Seite. Aus der einen Person, als die sich Thimo vor die Schülerschaft gestellt hatte, waren Hunderte geworden. Zurück blieb ein harter, verbitterter Rest von etwas mehr als 30 Leuten. Aber rund 470 Jungs und Mädels hielten fest zu Marcel, Yvonne, Thimo und und und ...

Die Anfangssituation hatte sich in ihr Gegenteil gewendet. Wenn Thimo am Anfang allein war, dann war es jetzt die Gruppe um Brandon. Samuel del Ray stellte sich vor Brandon und seine Leute hin: »Brandon, es ist vorbei!«

Brandon war blass geworden. Dass was er sah, wollte er nicht glauben. Er nicht, und seine Freunde, wenn es denn welche waren, auch nicht. Man wandte sich offen gegen ihn! Man zog Schwule und Lesben ihm vor! Ihm!

»Seid ihr denn alle verrückt geworden?«, seiner Stimme fehlte jegliche Kraft. Man konnte seine Verwirrung sehen. Mit starrem Blick sah er auf die verwaisten Sitzbänke der Leute, die sich zu Thimo gesellt hatten. Er konnte es nicht begreifen.

»Brandon?«, Sam zögerte. »Gib es auf! Du siehst es doch selbst, dass ihr mit euren Ansichten ziemlich alleine da steht. Ich hatte es dir schon einmal versucht zu erklären: Wir brauchen niemanden, der uns sagt, was wir denken sollen.

Du willst, dass wir uns entscheiden? Gut, das haben wir getan. Aber ich befürchte, dass du unsere Entscheidung nicht verstehen wirst. Wenn du denkst, es wäre eine Entscheidung zwischen dir und Thimo gewesen, dann irrst du.

Das war es nie!

Es war eine Entscheidung zwischen zwei Arten, wie man mit Menschen umgeht. Für dich sind alle anderen, und das schließt deine Freunde wie Espen ein, Figuren, die man nach Belieben für seine eigenen Zwecke manipulieren kann. Für Thimo sind andere Menschen Wesen, die man mit Respekt behandelt. Das war sicherlich eine Lektion, die wir alle lernen mussten. Leider zu spät ... viel zu spät, denn sonst hätte Scott wahrscheinlich nicht sterben müssen!«

Mit diesen Worten endete die Kommunikation mit Brandon. Sam drehte sich einfach um und alle folgten seinem Vorbild. Schweigend und nachdenklich verließen 90% der Schülerschaft die Cafeteria. Zurück blieben nicht mal 20 Leute. Zu guter Letzt lösten sich nämlich sogar ein paar Jungs aus dem harten Kern von Brandons Truppe. Zwei weitere Rapper ließen die Fesseln einer falschen Freundschaft hinter sich und schlossen sich ebenfalls an.

Zurück blieben, gefangen in menschlichen Körpern, Hass, Rassismus, Intoleranz, Engstirnigkeit und Einsamkeit.

8.20. Heiligabend

Fehmarn

»Wach auf! Wir sind da!«, ich wurde von Tim zärtlich geweckt. Auf dem Weg vom Krankenhaus zum Haus meiner Großmutter, für den man bestenfalls eine viertel Stunde brauchte, war ich leicht eingedöst.

»Oh ...«, ich schreckte auf, öffnete meine müden Augen, blickte auf unser altes Haus, das jetzt meine Großmutter bewohnte. Es war schon früher Abend und daher dunkel, aber das Haus war festlich beleuchtet. Keine elektrischen Lampen, sondern Fackeln und Öllampen tauchten die Gebäude in ein magisches Licht. Im Flur umfing mich sogleich ein würziges Aroma aus Pfefferkuchen, Glühwein, Orangen und Bienenwachs. Oma hatte ganze Arbeit geleistet.

»Na, wie geht es dir?«, sie stand in der großen Küche - schließlich war das Haus eine Pension - und war dabei, das Essen zuzubereiten.

»Ganz gut. Das Bein tut manchmal etwas weh und der Verband juckt ...«

Plötzlich rannte meine Oma auf mich zu und umarmte mich. Kleine Tränen kullerten von ihren Wangen: »Svenni, ich hab' mir solche Sorgen um dich gemacht.«

»Ich weiß ... es tut mir leid ...«

»Dir tut es leid? Das muss es nicht. Dieser Junge war hinter euch her. Und jetzt ist er tot.«

Ja und? Innerlich schämte ich mich, aber Andrés Tod ließ mich kalt. Dabei sollte er es nicht. Jedes Leben ist kostbar, auch das von einem Arschloch wie ihm. Es war merkwürdig, aber ich empfand an dieser Stelle nichts. Ok, vielleicht war da ein Anflug von Bedauern. Aber mehr wegen der Sinnlosigkeit, als um die Person. Manch einer könnte vermuten, dass ich so etwas wie Genugtuung empfand, dass der Mord an Sven I gesühnt wurde. Aber auch an der Stelle blieb ich kalt. Sven I wurde durch Andrés Tod auch nicht wieder lebendig, also welchen Sinn sollte er denn dann haben? Keinen ...

Ich humpelte mühsam und unter Schmerzen auf mein Zimmer. Es war Zeit, auf andere Gedanken zu kommen. »Hey!«, sagte ich zu mir selbst. »Es ist Weihnachten! Hohoho!«

Ein diabolisches Grinsen umspielte meine Lippen, als ich den Schlüssel im Schloss meines Zimmers drehte, um die Geschenke für Tim und Kuki zu holen. Sie waren noch nicht verpackt - ich bekomme sowas immer nur im allerletzten Moment fertig - was der Grund dafür war, dass ich gegen meine übliche Gewohnheit die Tür verschloss.

Mehr kreativ, als wirklich schön wickelte ich die Präsente ein, hängte kleine Namensschilder dran und machte mich auf den Weg in Richtung des Wohnzimmers, um die Tür versperrt vorzufinden.

»Wo willst du hin?«, Oma fing mich ab.

»Ich wollte meine Geschenke unter den Baum legen.«

»Ach, das werd ich für dich machen ...«, sprach's, schnappte sich meine Pakete, schloss die Tür auf und schlüpfte so geschwind ins Zimmer, dass ich keinen Blick hineinwerfen konnte. Merkwürdig, die Wohnzimmertür wurde zu Weihnachten seit Jahren nicht mehr abgeschlossen. Während ich noch grübelte und spekulierte, entdeckte ich Tim und Kuki in der Wohnküche sitzend.

»Wisst ihr, was da los ist?«

Meine Frage wurde mit stummem Schulterzucken beantwortet. Die beiden saßen am Tisch und hatten jeweils einen Becher heißer Schokolade vor sich, die sie genüsslich schlabberten.

»Wie geht's dir?«

Ich streckte mein Bein aus und spannte dabei vorsichtig die Sehnen: »Es tut noch etwas weh und die Treppe nach oben ist Mord. Aber sonst geht's.«

Völlig scheinheilig und mit einer Unschuldsmine, die ihresgleichen suchte, luscherte Tim verstohlen über den Rand seiner Tasse, als er vom warmen Inhalt nippte: »Wir fragten uns nur, wie behindert du denn nun bist. Immerhin ist dein Zimmer sehr gemütlich und der Abend kann ja noch etwas länger werden ...«

Kuki verschluckte sich an seiner Schokolade und musste heftig husten.

»Probleme?«, fragte ich ihn keck.

»Nein ...«, Hustenkaskade. »Überhaupt keine ...«

Wir grinsten uns gegenseitig an. Es sehr lustvolles, erwartungsfrohes Grinsen.

Und dann war es endlich so weit. Bescherung. Oma kam, nahm uns mit und schloss die Wohnzimmertür auf. Tim, Kuki und ich gingen hinein und ...

Waren sprachlos! Wir standen mitten im Raum und glotzten wie Autos. Vier Augenpaare von vier grinsenden Gesichtern schauten uns amüsiert an. Mum, Paps, Tims Mama und Nico saßen auf Sofas und Sesseln verteilt und begrüßten uns mit »Frohe Weihnachten!«.

Wir waren absolut sprachlos. Eine wirklich gelungene Überraschung.

»Aber ihr ...«, stammelte ich.

»Dies ist doch eine Pension, oder?«, scherzte mein Vater.

»Ja, aber ...«

»Deine Idee, hier zu feiern ... wir fanden sie ziemlich gut. Nico und Tims Mutter übrigens auch. Die brauchten wir kaum zu überreden.«

Mein Paps stoppte und meine Mutter nahm den Gedanken auf: »Sven, es ist Weihnachten! Wir sollten zusammen feiern. Es ist schließlich das Familienfest, oder? Und du, Kuki, wir haben davon gehört, dass deine Eltern nicht im Lande sind. Was soll ich sagen? Wenn deine Familie nicht da ist, dann müssen wir eben für diese Weihnachten deine Familie sein.«

Der Kleine bekam glänzende Augen.

»Wollt ihr euch nicht setzen?«, Oma, ganz die Pragmatische.

Wir wären ja gerne der Idee meine Oma gefolgt, doch sämtliche Sitzgelegenheiten waren besetzt.

Mein hilfesuchender Blick wurde sofort bemerkt: »Kind, dann mach dich nützlich und übernimm du die Verteilung. Und ihr zwei... «, womit Kuki und Tim gemeint waren, » ...setzt euch hier hin.«

Oma hatte noch zwei Sessel aus einem Nebenraum besorgt. Und dann ging die Bescherung los. Ich habe schon von den unterschiedlichsten Arten, wie man Weihnachten feiern kann, gehört. Erst Essen, erst Bescherung, erst Kirche ... wir hatten uns eigentlich immer sehr viel Zeit gelassen, was mich als ich noch deutlich jünger war, auf die Palme brachte und recht unausstehlich machte. Aber inzwischen find ich es toll, dass wir das immer erst spät nach acht Uhr abends machen. Vorher wurde immer etwas leichtes aber trotzdem feierliches gegessen. Nun gut, das Essen fiel diesmal flach. Doch wegen meines unfreiwilligen Krankenhausaufenthalts waren wir ebenfalls spät dran.

Es war halb neun und unsere besondere Art des Geschenkeverteilens begann.

Besondere Art? Nun, ich habe von verschiedenen Methoden gehört: Von gleichmäßigem in die Masse streuen, bis zum kollektiven Geschenkeberg durchwühlen. Bei uns gab es hingegen eine recht strenge Tradition: Paps oder Mum, in den letzten Jahren auch ich, jedenfalls einer von uns, verteilte die Geschenke - eines nach dem anderen.

Hatte jemand ein Geschenk erhalten, packte er es vor den Augen der anderen aus. Erst wenn alle gesehen und gestaunt hatten, und sich der oder die Beschenkte bedankt hatte, wurde das nächste Geschenk verteilt. Die Idee dahinter hatte sich mir erst später erschlossen: Man lernt, sich über die Freude der anderen Menschen zu freuen. Packen alle gleichzeitig ihre Sachen aus, ist jeder nur mit sich selbst beschäftigt. Man freut sich vielleicht über eine Sache, die man schon immer gerne mal haben wollte, aber man kann diese Freude nicht teilen. Und genau das war bei uns anders. Wobei ich inzwischen das Schenken fast schöner finde, als beschenkt zu werden. Zu sehen, wie sich jemand über ein Geschenk von mir freut ... ein tolles Gefühl.

Während ich meine Position als Geschenkeverteiler vor dem Baum einnahm, wurden Kuki und Tim über diese spezielle Art der Bescherung von meiner Oma aufgeklärt.

»Letzte Weihnachten hat ein UPS-Bote mir eine Schachtel von meinem Paps gebracht«, skizzierte Kuki seine üblichen Weihnachten. »Der Bote war sehr jung und sehr süß. Das Geschenk war ein Einkaufsgutschein.«

»Das läuft hier ganz anders. Wollen wir doch mal sehen ...«, ich fing an. Wie man die Verteilung der Geschenke macht, hab' ich mir - ich geb’s zu - von meinem Paps abgeschaut. Man nimmt ein Geschenk in die Hand, schaut auf den Anhänger, schaut bedeutungsschwanger in die Runde, räuspert sich und legt das Geschenk zurück. Meistens gefolgt von einem sybillinischen Kommentar, wie: »Nein ... das passt noch nicht.«

Ich hatte mir bereits drei Pakete angesehen und zurückgelegt, als ich eins in den Händen hielt, welches als erstes Geschenk des Abends passte: »Hier ist eine große Schachtel für eine Frau Namens ,Oma`! Haben wir hier eine Oma?«

Alles grinste und Oma meinte: »Das muss wohl ich sein!«

Und mit den Worten »Für Oma und meine Mutter, von Mum und Paps!« übergab ich das Paket. Ein schweres Paket. Oma packte neugierig aus. Alle Anwesenden waren mindestens so gespannt wie Oma.

Ein Notebook!

»Super! Endlich hab' ich einen mobilen Computer für die Pensionsverwaltung!«, meine Oma war alles andere als technikfeindlich, worüber Tims Mutter mehr als überrascht war: »Sie können mit diesen Dingern umgehen. Mir sind die unheimlich!«

»Wissen Sie, die sind sowas von praktisch. In meinem Alter vergisst man schon mal was. Ich hab' zwar einen Desktop-PC im Büro, aber ich hab' mir immer gewünscht, sowas Mobiles zu haben. Den kann ich mit in die Zimmer nehmen, wenn ich beim Gästewechsel meine Kontrolle mache. Oder ich kann das Ding gleich am Empfang verwenden! Ein tolles Geschenk! Danke, ihr beiden! Den werd ich mir die Tage gleich einrichten. Am besten, ich hol mir noch gleich ein WaveLAN dazu ...«

Womit wir zu den nächsten Geschenken kamen. Meine Eltern erhielten etwas von mir. Tim von seiner Mutter. Oma etwas von mir (WaveLAN). Zwischendrin sorgte mein Vater für Wein und Oma für süße und salzige Knabbereien.

Und dann hielt ich einen Briefumschlag in den Händen: »Ah, was ist denn das? Etwas mickrig, oder?«

Tim grinste, das Geschenk war von ihm.

»Mal sehen für wen das ist ... für meinen allerliebsten Altmetallsammler Kuki von Tim. Hm, Tim wirklich, ein bisschen schäbig, oder?«

Ich grinste ebenfalls, denn ich wusste, was in dem Umschlag steckte. Kuki machte megagroße Augen, als ich ihm den Umschlag reichte. Unsicher und verwirrt öffnete er die Versiegelung und zog eine bunt bedruckte Karte hervor. Seine Stirn warf sich in Falten, als er versuchte zu entziffern, was es war. Es dauerte etwas, aber schließlich fing der Kleine zu strahlen an: »Wow! Ein Gutschein für ein Tattoo bei UltraLiner in New York! Wie bist du denn da rangekommen? Das ist ja Wahnsinn. Ich ... Moment mal? Wie komm ich denn da hin?«

Kuki war gleichzeitig begeistert und enttäuscht. Er schwärmte für UltraLiner, es war für ihn der Laden mit den Styles - mit seinen Styles. Nur lag ein bisschen Atlantik zwischen Kuki und seinem Traum ...

Tim zuckte mit den Schultern: »Der Gutschein ist zeitlich nicht begrenzt. Frag doch mal deinen Paps, ob er dich mitnimmt. Der hat doch eine Wohnung in N.Y. Du hast doch immer erzählt, dass du ihn da mal besuchen kommen sollst.«

»Stimmt schon ...«, Kuki war mit seinen Gedanken weit weg und bemerkte auch nicht das Augenzwinkern, das ich Tim zuwarf.

Ich nahm wieder meine Aufgabe wahr und verteilte Geschenke. An Mum, Tim, Nico, seine und Tims Mutter, Oma und sogar an mich. Tim sah mich böse an, als er eines meiner beiden Geschenke von mir auspackte: Ein megageiler Schwimmanzug: »Damit hängst du alle beim Wettkampf ab. Er soll echt Sekunden bringen!«

»Ja, ja ... und dass er sehr körperbetonend ist, ist purer Zufall ...«

Ich betrachtete verträumt den Weihnachtsbaum: »Totaler Zufall ...«

Aber Tim rächte sich. Ein Geschenk an mich war ein ebenfalls sehr körperbetonendes Fahrradtrikot, passend zu meinem Mountainbike.

»Das bringt auch Sekunden!«, grinste er mich an.

»Ach ...«

Ziemlich überrascht waren wir, dass Kuki für uns Geschenke hatte. Wir hatten ihn ja quasi zwei Tage vor Weihnachten erst nach Fehmarn eingeladen. Tim und ich erhielten Kapuzensweatshirts. Sehr gute Qualität, schwerer Stoff und individuell mit von Kuki selbst entworfenen Tribalmotiven bedruckt.

Und dann war der Platz unter dem Baum leer. Alles alle. Alle waren glücklich, nur Kuki sah etwas traurig aus. Er hatte von mir noch nichts bekommen und dachte wohl, ich hätte ihn vergessen.

»Oh, da steckt ja noch was. Hat sich da ein Umschlag unter der Teppichkante versteckt. Mal sehen, für wen der ist: für Kuki von mir.«

Kuki strahlte wieder und ich konnte nicht umhin, ihn anzuschauen: »Du glaubst doch nicht, dass ich dich vergessen habe, oder? Frohe Weihnachten mein Kleiner!«

Kuki öffnete den Umschlag und war fertig mit der Welt: »Nein, Sven, das kannst du nicht machen! Das geht nicht!«

»Doch ich kann. Wir fliegen nächste Woche am 28.12. alle drei nach Portland zu Thimo und Marcel. Glaubst du, Tim und ich könnten dich hier alleine zurücklassen?«

Kuki schniefte vor Freude gerührt und brachte es bestenfalls zu einem soften: »Danke ...«

8.21. Eine Trainingseinheit

Portland

»Du weißt, dass du mit der Aktion nichts gewonnen hast?«

Thimo zog eine Grimasse, als wenn er Schmerzen haben würde: »Du hast eine unnachahmliche Art, einem jeden kleinen Triumph madig zu machen.«

Rob zuckte entschuldigend mit seinen Schultern.

»Aber du hast leider Recht. Brandon dürfte mich jetzt noch mehr schätzen, als er es vorher bereits tat.«

»Was willst du dagegen tun?«

Rob, Thimo und Marcel liefen nebeneinander die Gänge der Liberty High entlang. Als Antwort auf Robs letzte Frage blieb Thimo spontan stehen. Rob und Marcel konnten gar nicht so schnell reagieren, sodass sie sich zu Thimo umdrehen mussten. Sie sahen ein ernstes Gesicht: »Was kann ich denn tun? Nichts! Rein gar nichts. Wisst ihr, was da drin wirklich abgelaufen ist?«

Thimo zeigte mit seinem Arm in die ungefähre Richtung, in der er die Cafeteria vermutete: »Es war eine Show! Eine Unterhaltung für die ganze Familie!«

»Ach komm ...«, Marcel wusste, dass Thimo Recht hatte, doch wollte er es nicht wahrhaben.

»Ihr wisst, was ich meine! Ich hab' unseren Mitschülern eine spannende Story geliefert. Und vor allem so real ... wow, was für Emotionen. Sex und Crime. Echter Hass und echte Liebe. Besser als jede Vorabend-Soap! Aber glaubt ihr wirklich, dass die Mehrheit begriffen hat, worum es geht? Glaubt ihr, dass auch nur die Hälfte der Leute, die uns ihre Solidarität bekundet haben, eingreifen würde, wenn jemand Jermain angreift.«

Marcel und Rob prusteten los.

»Ok, Jermain passt vielleicht nicht. Der kann auf sich selbst aufpassen. Aber habt ihr den kleinen Jason gesehen? So ein niedliches, schüchternes Kerlchen? Erstes Highschool-Jahr. Er hat sich ganz still zu uns gestellt.«

»Der ist schwul?«, Rob war verblüfft.

»Ja, ich denke schon. Er kam zwar erst mit den Heten, aber er kam auf mich zu und flüsterte mir ein ,Danke!` zu.«

»Oh!«, Marcel lächelte.

»Das Schlimmste ist die Verantwortung. Was ist, wenn eine oder einer von denen, die sich heute geoutet haben, deswegen Stress bekommt?«

»Aber daran bist du doch nicht schuld.«

»Wirklich nicht?«, Thimo wirkte richtig fertig. »Ich hab' sie doch quasi zum Outing aufgefordert. Ich ...«

»Ja ...«, unterbrach Rob, »Das hast du getan und es war gut so. Schau sie dir doch an. Alles ganz normale Schüler so wie du und ich. Vielleicht ist das etwas, das wir Heten lernen müssen. Wir reißen Witze über Lesben und Schwule, als wenn wir alles über die wüssten, und haben in Wirklichkeit überhaupt keine Ahnung. Aber ... das ist doch nicht wirklich das, was dich bewegt, oder? Dich bedrückt doch etwas anderes.«

Thimo nickte: »Wer hat denn nun Scott wirklich umgebracht?«

Die Antwort auf diese Frage blieb man sich gegenseitig schuldig. Der Unterricht ging weiter. Thimos Aktion während der Mittagspause war zwar bombastisch, theatralisch, spektakulär und einzigartig in der Geschichte der Liberty High, sie änderte aber nichts an der Tatsache, dass es sich um einen stinknormalen Schultag handelte. Dem üblichen Stundenplan folgend absolvierte Thimo eine Doppelstunde Chemie, die ihn sogar etwas aufbaute.

Am Anfang des Unterrichts war Thimo immer noch dabei, mit sich und der Welt zu hadern, bis er eine Veränderung wahrnahm. Seine Mitschüler verströmten Wärme, Offenheit, ja sogar Sympathie. Nicht nur ihm gegenüber. Die ganze Stimmung war vom Grunde her positiv. Und es steckte an. Thimos finstere Gedanken hellten sich auf und lösten sich schließlich in nichts auf.

»Vielleicht haben wir ja doch etwas bewegt«, dachte er bei sich und stürzte sich in seinen chemischen Versuchsaufbau.

90 Minuten später war auch diese Unterrichtseinheit beendet und es stand die nächste auf dem Plan. Training. Thimo packte seine Bücher und Hefte in seinen Spind und eilte zum Umkleideraum des Sportzentrums.

Dort angekommen wurde er bereits erwartet. Fast die gesamte Mannschaft war anwesend und applaudierte, als er den Raum betrat.

»Wir haben nie gedacht, dass du Scott kalt gemacht hast.«

»Völliger Unsinn!«

»Ah, unser Knacki!«

»Cooler Auftritt vorhin! Respekt, Alter!«

Solche und ähnliche Sprüche schlugen über Thimo herein. Die Schüler der Liberty High waren eine Sache, aber seine Mannschaft war in den letzten Monaten etwas ganz anderes geworden. Eine Art Familie, weswegen dieser enthusiastische Empfang Thimo regelrecht die Freudentränen in die Augen trieb.

»Leute, es ist gut! Danke! Echt! Danke!«

Thimo kam kaum dazu, sich umzuziehen, die Begrüßungsorgie zog sich arg hin. Was auch Coach Skinner nicht verborgen blieb. Sich fragend, wo seine Schützlinge blieben, platzte er in die Umkleide: »Hat hier jemand ein paar Footballspieler gesehen? Ich vermisse welche. Der Rasen sollte seit einer viertel Stunde gefüllt sein, aber ...«

Skinner brauchte nicht weiterzureden. Das schlechte Gewissen, gebummelt zu haben, trieb alle bereits trainingsbereiten Spieler aus dem Raum. Skinner machte eine Runde durch den Umkleideraum. Inzwischen waren nur noch drei Spieler im Raum, darunter Thimo. Und genau neben ihm blieb Skinner stehen.

»Entschuldigung Coach, ich bin zu spät dran. Ich ...«

»In der Tat, das sind Sie«, Skinner ließ seinen Blick durch den Raum streifen, »Ein interessanter Auftritt, den Sie da heute Mittag hingelegt haben. Es gehört schon viel Mut und Rückgrat dazu.«

»Ich ...«

»Ruhe! Ich bin gerade dabei, Sie zu loben. Da ich das selten tue, sollten Sie mich nicht unterbrechen!«, Skinner grinste. »Thimo, Sie sind ein sehr reifer Mensch. Sie haben mich sehr beeindruckt. Auf dem Footballfeld ist das bei etwas Talent einfach, aber so wie heute, menschlich und charakterlich ist viel, viel schwieriger. Es bedarf schon einer Menge Rückgrat und Stärke, um das zu vollbringen, was Sie heute getan haben. Sie genießen meine Hochachtung. Aber lassen Sie sich auch gewarnt sein und werden jetzt nicht hochnäsig oder übermütig. So, das wars! Und jetzt raus auf den Rasen!«

Skinner schien unter einem Kompensationswahn zu leiden. Was er Thimo auf der einen Seite Nettes gesagt hatte, schien er ihm auf der anderen Seite doppelt und dreifach körperlich abzufordern. Das Training war schon zu normalen Zeiten jenseits dessen, was man als hart bezeichnen würde. Aber an diesem Tag war es infernalisch.

»Leute, das ist hier kein Kaffeekränzchen hopp, hopp, hopp ...«

Skinner scheuchte die Mannschaft über die für Schnee- und Eisfreiheit beheizte Aschenbahn. 3500 Meter zum Warmlaufen. Warmlaufen - ein Begriff, der bei eisigen winterlichen Temperaturen von 5 Grad unter Null völlig neu definiert wurde. Anschließend folgte Krafttraining in der Halle. Skinner zog ein gnadenloses Programm durch. Niemand schien so recht zu wissen, was ihn geritten hatte, dass er die Mannschaft so triezte. Da aber niemand murrte, oder genauer es wagte zu murren, nahm die Qual scheinbar kein Ende. In Wirklichkeit war nach 3 Stunden Schluss, was gut doppelt so lang war, als das übliche Training.

Zum Schluss trommelte Skinner nochmals alle Schüler in der Hauptturnhalle zusammen. Entgegen seiner üblichen Griesgrämigkeit hatte er ein erstaunlich fröhliches Grinsen auf den Lippen, welches so manchen gerade wegen seiner Ungewöhnlichkeit einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Dabei gab es dafür überhaupt keinen Grund.

»Leute«, begann der Coach. »Ich bin mit euch wirklich sehr zufrieden. Ihr habt in dem letzten halben Jahr meine Erwartungen alle weit übertroffen. Es kommt selten vor, dass ich einen Fehler mache und noch seltener, dass ich ihn zugebe, aber ihr habt es verdient, dass ich ehrlich zu euch bin. Ich habe nicht daran geglaubt, dass ihr es schaffen würdet, die Meisterschaft zu gewinnen. Selbst das Erreichen der Play-Offs habe ich für äußerst unwahrscheinlich gehalten. Aber ihr habt mich eines Besseren belehrt. Diese Mannschaft galt immer als eine Ansammlung snobistischer Sprösslinge neureicher Familien, die sich die Liberty High leisten können. Und lange Zeit war dem auch so. Mein Fehler war, dass ich euch wie alle anderen vor euch auch dafür gehalten habe.

Aber ihr seid keine Muttersöhnchen, die so tun, als wenn sie Football spielen würden.

Ihr habt bewiesen, dass ihr mehr seid. Viel mehr!

Ihr könnt Football spielen!

Den Erfolg habt ihr selbst erarbeitet. In dem Moment, als ihr begriffen habt, dass ihr nur zusammen, als Mannschaft etwas erreichen könnt, seid ihr über euch hinausgewachsen. Ihr könnt stolz auf sein. Ich bin es. Es ist mir eine Ehre, euer Trainer sein zu dürfen!«

Die Jungs der Mannschaft waren selten sprachlos. Nach Skinners kleiner Ansprache herrschte die totale Stille. Keiner wagte etwas zu sagen, denn alle spürten, dass es Skinner wirklich ernst meinte.

»Bevor ich euch für dieses Jahr in die Ferien entlasse...«, lautes Gemurmel brauste auf. Nach Plan standen noch zwei weitere Trainingseinheiten in der Woche bis zu den Weihnachtsferien an. »Ihr habt richtig gehört. Wir machen für dieses Jahr Schluss. Wir haben heute etwas mehr getan und zwar aus zwei Gründen: Erstens können wir das als vorgezogenes Training verbuchen und können die letzten beiden Termine fallen lassen. Zweitens, ihr denkt wohl, ich hatte das vergessen, eure Leistungstests für dieses Halbjahr standen noch an ...«

Alles jaulte wie von der Tarantel gestochen auf. Leistungstest, das war ein ganz böses Wort. Schinderei bis zum Abwinken, denn der Test ging nicht unerheblich in die Note ein. Deswegen wurde vorher auch neben der Schule massiv trainiert.

»Ey, Coach, das ist unfair ... wir konnten uns gar nicht darauf vorbereiten.«

»Dann willst du dein A auch nicht ...«

»Nein, mit so einer Zensur werde ich mich nicht abspei... Moment, ich bekomme ein A?«

»Ja, ihr bekommt alle ein A. Eure Leistungen sind top. So gut wie noch nie.«

Skinner erntete strahlende Gesichter. Jetzt, nachdem er es gesagt hatte, ging so manchem ein Licht auf. Das Krafttraining in der Halle war kein Zufall. Skinner hatte sie alle heimlich beurteilt. Er war und blieb ein Schuft.

»Ok, und noch etwas ...«, der Coach wurde ernst und leiser. Sofort kehrte Ruhe in die Mannschaft ein.

»Wir haben noch eine Sache zu erledigen. Eigentlich zwei. Einer von euch weilt nicht mehr unter uns. Scott war bei all seinen Schwächen einer der besten Spieler und Quarterbacks, die wir je hatten. Ich denke, es wäre angemessen, wenn wir ihm zu ehren eine Schweigeminute einlegen würden.«

Es bedurfte keiner weiteren Worte. Es wurde einfach still. Scott war ein komplizierter Mensch gewesen. Sicherlich kein braves Muttersöhnchen. Er hatte schwere Fehler begangen. Thimo musste sofort an Marcel denken und an das, was Scott Marcel angetan hatte, aber gleichzeitig musste er auch daran denken, dass Scott den Erfolg dieser Mannschaft überhaupt erst möglich gemacht hatte.

»So und nun noch die letzte Sache. Es mag pietätlos klingen, aber wir brauchen einen neuen Quarterback! Ich könnte jetzt wie sonst üblich einfach anhand meiner Leistungs- und Fähigkeitsanalysen euren Quarterback festlegen. Aber ich denke, ich sollte mir eure Vorschläge mal anhören ...«

Es begann wieder ein Murmeln in der Mannschaft. Thimo überlegte, wen er als Quarterback vorschlagen sollte. Direkt hatte er sich bisher darüber noch keine Gedanken gemacht. Das letzte Spiel, das Thimo mitgemacht hatte, war das Meisterschaftsspiel und bei dem war Scott noch dabei gewesen.

»Thimo!«

Eben jener war in Gedanken versunken. Daher hatte er gar nicht mitbekommen, dass die Mannschaft begonnen hatte, seinen Namen zu skandieren. Er erschrak. Ich soll Quarterback werden? Thimo fand die Idee gar nicht so gut, ihm gefiel seine aktuelle Position viel besser.

»Ich ...«

»Ich weiß«, unterbrach Skinner Thimo lächelnd. »Du bist viel zu bescheiden und bist der Meinung, dass du viel lieber und besser Pässe fängst. Aber glaub mir, deine Mannschaft hat Recht, du wirst einen sehr guten QB abgeben!«

Und so wurde Thimo Quarterback der Liberty High.

8.22. Unplanmäßige Verhakelungen

Fehmarn

»Leute?«, Kuki stand in der Mitte meines alten Zimmers. Heiligabend war Geschichte. Nach der Bescherung hatten wir noch eine Weile gemütlich mit meinen Eltern, Tims Mutter und seinem Bruder zusammengesessen. Aber so kurz vor 12 Uhr nachts waren wir alle der Meinung, es wäre Zeit ins Bett zu gehen. Nico war zuerst nicht ganz begeistert, als er hörte, dass er alleine in einem eigenen Zimmer pennen sollte. Doch als er uns drei nochmals betrachtete und genauer nachdachte, war er plötzlich ganz anderer Meinung und fand die Idee, in einem eigenen Zimmer zu wohnen überhaupt nicht mehr so abwegig.

So kam es, dass er noch kurz mit zu uns kam, wir noch ein viertel Stündchen plauderten und er sich schließlich mit den Worten »Und macht hier zu dritt keinen Schweinkram!« in sein Zimmer verabschiedete.

Jetzt war es zwölf, die Tür war zu und Tim, Kuki und ich waren allein in meinem alten Zimmer.

»Leute?«, wiederholte Kuki.

»Ja?«, fragten Tim und ich gleichzeitig.

»Danke!«

»Wofür?«

»Für dieses Weihnachtsfest!«, Kuki seufzte. »Es ist seit vier ... nein, seit fünf Jahren das erste, das ich mit einer Familie feiern durfte. Es war zwar nicht meine, aber es war immerhin eine. Wäre ich heute in Berlin gewesen, ich hätte allein zuhause vor meinem PC gesessen. Denn meine Eltern ... na, ihr wisst schon. Also, nochmals danke!«

»Hey, Kleiner«, sprang Timmy auf und nahm den emotional gebeutelten Kuki in den Arm. »Du gehörst doch mit zu unserer Familie!«

»Soll ich jetzt auch noch zum Umarmen zu euch kommen?«, Weihnachten war mir manchmal einfach zu rührselig. Für meinen Kommentar erntete ich ein Kissen, das mir Tim in Richtung meines Kopfes pfefferte: »Idiot!«

»Sagt mal ...«, lenkte ich auf ein anderes Thema um, den Kissenangriff ignorierend, »Wo wollt ihr eigentlich schlafen?«

Das war eine delikate Frage, denn normalerweise schlief ich mit Timmy zusammen in einem Bett. Da hatten wir Kuki großspurig so eine Dreierkiste angeboten und nun...

»Ähm ... nun ja ...«, stammelte Tim.

Ich sah mich um. Mein Bett war groß genug für zwei Personen. Bei drei fast ausgewachsenen Jungs wäre es aber arg unbequem geworden. Es blieb nur die Kombination zwei im Bett und einer auf der Matratze auf dem Boden.

»Wir schlafen in Schichten zu zweit in deinem Bett. Die ersten zwei Stunden Kuki mit mir, dann Kuki mit dir und danach wir beide«, Timmy grinste breit.

»Ein su-per Vorschlag. Aber ...«, mir kam eine Idee. »Wir könnten mein Bett zur Seite schieben, die Matratze rausnehmen und neben die andere auf den Boden legen. Was meint ihr?«

»Klar!«, kam es von Tim und Kuki. Zwei Minuten später war alles erledigt. Auf dem Boden lag eine gemütliche Matratzenlandschaft mit mehr als ausreichend Platz für drei.

»Dann können wir uns ja dann mal so hinlegen ...«, brabbelte Timmy etwas verquer.

»Ja, das könnten wir denn mal so tun ... irgendwie ...«, stammelte Kuki hinzu. »Wer liegt denn wo? Ihr beiden wollt doch sicher gerne nebeneinander ...«

»Nö, nö ...«, fing ich auch noch ähnlich zögerlich und silbenhäckselnd zu murmeln an: »Ist nett von dir ... nö, es muss jetzt nicht unbedingt sein ... also ich und Tim ... tja ... wir können auch mal ohne ... ähm, tja ...«

Wir waren alle etwas merkwürdig drauf. Wir standen wie Falschbier im Raum und wussten nicht mehr, wie man ins Bett geht. Naja, eigentlich fragte sich jeder von uns, ob noch was passieren würde. Genaugenommen hoffte jeder von uns, dass noch was passieren würde. Aber die Weicheier, die wir nun mal waren, trauten wir uns natürlich nicht, das laut auszusprechen. Lieber stammelten wir blödes Zeug vor uns her.

»Muss noch wer auf's Klo?«

»Nö, ich war eben und hab meine Zähne schon geputzt.«

»Ich? Nein, im Moment nicht ... Kuki, du gehst am besten in die Mitte.«

»Ja, gut ... das mach ich dann ... jetzt ...«

Sagte es und tat es nicht. Wir standen rum und ... nun ja, es war irgendwie peinlich.

»Ich leg mich dann jetzt hin«, verkündete Kuki erneut.

»Ja, legen wir uns einfach alle hin«, ergänzte ich.

Worauf ich mich links und Kuki in die Mitte der Matrazenlandschaft legte. Timmy schüttelte den Kopf und meinte trocken: »Ich will euch ja nichts vorschreiben, aber wollt ich euch nicht vorher aus ... ich meine, umziehen?«

Wo er Recht hatte, hatte er Recht. Wir standen also wieder auf, zogen unsere Oberbekleidung aus und tauschten die Unterbekleidung gegen unsere Nachtklamotten. Wobei ich sagen muss, dass ich seit geraumer Zeit das Konzept des klassischen Schlafanzuges ablehnte. Ein übergroßes T-Shirt und bequeme Shorts waren viel angenehmer. Kuki schien bei seiner Nachtbekleidung noch einen Schritt weiter zu gehen, er ließ das T-Shirt weg.

Zugegeben, wenn ich bei Tim schlief oder er bei mir, dann ließen wir die T-Shirts ebenfalls weg, genaugenommen ließen wir dann auch die Shorts weg. Aber das war ein anderes Thema.

War es das wirklich?

Kuki lag halbnackt neben mir. Oder neben Tim. Er lag halbnackt neben uns beiden. Dass das Kerlchen verdammt appetitlich war, wussten wir seit unserem Rügenausflug. Inzwischen hatten wir uns alle hingelegt. Das Licht war aus. Ich hörte zwei Personen neben mir schwer atmen.

»Schlaft ihr schon?«, Kukis Stimme zerriss die Stille.

»Nein«, meinte ich und »Nö«, meinte Tim.

»Sagt mal ...«, Kuki zögerte.

»Ja?«, half Tim nach.

»Wenn ihr beiden zusammen seid ...«, Sendepause - Kuki sprach nicht weiter.

»Nu schieß schon los. Was willst du wissen?«

»Hmmm ... naja ... also, äh ...«, ganz entgegen seiner üblichen Art lavierte unser allerliebster Metallträger um den heißen Brei.

»Mann, Junge, sprich dich aus! Du tust so, als würdest du uns erst 5 Minuten kennen!«

»Dann wär's einfacher!«, kam es von Kuki. »Ok, also, ihr müsst mir nicht antworten, wenn ihr nicht wollt. Ok?«

Timmy wurde ungeduldig: »Komm zu Potte! Wenn uns deine Frage nicht passt, werden wir auch nicht antworten. Bloß, wenn du sie nicht stellst ...«

»Schlaft ihr immer miteinander? Ich meine, tut ihr's miteinander?«, Kuki spuckte die Worte in einer Geschwindigkeit aus, in der andere Leute bestenfalls zwei Worte ausgesprochen hätten.

»Hm, eine ziemlich direkte Frage ...«, was mich nicht störte, ich suchte nur nach der passenden Antwort.

»Ok, vergesst es! Ich habe nix gesagt!«, setzte Kuki nach.

»Nein, wir poppen nicht jedes Mal. Häufig liegen und schlafen wir nur aneinander ein.«, ich hatte das nie gezählt. Wenn ich mit Tim zusammen war, dann passierte es, oder eben nicht. Je nachdem, ob wir Bock hatten. Zum Beispiel war vor Klassenarbeiten mit Timmy vor Nervosität nichts anzufangen.

»Sex ist kein Pflichtprogramm. Wir tun es, wenn wir Lust aufeinander haben«, brachte Tim seine Meinung ein. »Zugegeben, wir haben schon recht häufig Lust aufeinander.«

»Und wie ist das so?«, in Kukis Stimme klang etwas Wehmütiges mit. Er hatte diese Frage auch nicht mit der Geschwindigkeit eines Maschinengewehres gestellt, sondern langsam und nachdenklich artikuliert. Ich ahnte, was er wissen wollte und ich vermutete auch, warum.

»Wie ist was?«, Tims Worte schienen zu bedeuten, dass er Kukis Frage nicht verstanden hatte. Die Intonation machte allerdings klar, dass er es sehr wohl hatte und Kuki nur eine Brücke bauen wollte.

»Schwuler Sex? Wie ist der?«

Eine lange Pause entstand. Wir wollten Kuki nicht quälen, nichts lag uns ferner. Es schien nur, dass ihm die Frage zu wichtig war, um mit einem blöden Spruch oder einer platten Antwort bedacht zu werden. Bei meiner Antwort versuchte ich daher auch den richtigen Ton zu treffen. Es sollte auf keinem Fall amüsiert oder gar hämisch klingen. Kuki sollte nicht denken, wir würden uns über ihn lustig machen: »Du hast noch nie mit einem anderen Typen geschlafen?«

Es entstand eine erneute Pause, bis Kuki antwortete: »Nein, nicht wirklich. Die Sache mit Heiko war nicht so toll ... gegenseitiges Wichsen, das war's. Die Nacht nach deiner Geburtstagsparty ... es war nicht wirklich was gelaufen. Das einzige Mal, wo es fast zur Sache gegangen wäre, war im Sommerhaus meiner Eltern auf Rügen. Aber bevor es interessant wurde, passierte ja die Sache mit dem anderen Sven ...«

Tim war baff: »Du und Heiko, ihr habt nie? Ich dachte ...«

»Ja, das dachten alle. Wir waren da nicht ganz ehrlich. Aber es lief nix. Heiko wollte nicht sofort und mir war es sowieso egal ... er war halt nicht wirklich den Typ, den ich wollte ... faktisch bin ich eine Jungfrau!«

Jeder im Raum wusste ganz genau, wen Kuki wirklich wollte. Erstaunlicherweise war es Tim, der der Sache ein Ende bereitete: »Und warum fragst du den Typen nicht, den du wirklich willst? Er liegt schließlich neben dir!«

»Ich trau mich nicht ...«, niemand empfand diese Antwort als lächerlich.

Manchmal muss man eben einfach handeln und das Reden sein lassen. Während Kuki noch sprach, hatte ich mir bereits die Flasche mit unserem Gleitgel aus meinem Rucksack gezogen, den ich strategisch neben meinem Kopfende unserer gemeinsamen Matratze deponiert hatte. Ohne dass Kuki es bemerkte, hatte ich mich auch meines T-Shirts und meiner Shorts entledigt und lag also nackt neben ihm.

Ich warnte ihn nicht vor. Langsam rutschte ich an Kuki ran, kam immer näher und berührte ihn schließlich mit meiner Brust, meinem Bauch, meinen Lenden und Hüften. Er lag auf der Seite und hatte sich Timmy zugewandt gehabt, sodass ich mich dicht an seinen Körper schmiegen konnte. Ein leichtes Zittern ging durch seinen Körper. Kuki seufzte auf, sagte aber nichts.

Natürlich fand ich Kuki geil. Der Typ hatte mich schon immer scharfgemacht, daher war es auch kein großes Wunder, dass mein Schwanz eine beachtliche Größe und Steifigkeit angenommen hatte. Und eben jener Schwanz drückte jetzt gegen den Stoff seiner Shorts und zwar genau dort, wo zwei wohlgeformte Pohälften zusammenliefen. Ich umschlang Kuki mit meinen Armen und streichelte seine Brust und seinen Bauch. Meinen Kopf über seiner linken Schulter und meine rechte Wange seine linke Wange berührend.

»Kuki?«, flüsterte ich leise in sein Ohr. »Soll ich weitermachen?«

Kuki antwortete auf seine Art. Er zog seine Unterhose aus und signalisierte damit, wohin ich mit meinem Schwanz sollte. Ein paar Handgriffe später war mein versteiftes Körperteil mit einer Schicht Gleitgel überzogen. Ein weitere Portion des transparenten Fluids beförderte ich vorsichtig zwischen Kukis Pohälften, wobei ich schon mal den Widerstand seines Schließmuskels testete. Für eine Jungfrau konnte er sich ganz gut entspannen.

Inzwischen war Timmy ebenfalls herangerobbt. Er streichelte Kuki und begann ihn schließlich zu küssen. Ich verstand sofort, was er vorhatte. Es war Kukis erstes Mal und das sollte geil und nicht schmerzhaft verlaufen.

So eng an seinen Körper geschmiegt, konnte ich jede Änderung in Kuki wahrnehmen. Tims Küsse und seine Berührungen zeigten schnell Wirkung. Kuki entkrampfte sich und ließ sich fallen. Mein rechter Arm, den ich zwischen Kukis Hüfte und der Matratze hindurchgeführt hatte, ließ ich langsam abwärts wandern. Meine Hand tastete sich an Bauch und Bachnabel entlang, zupfte an dessen metallenem Bauchnabelstift und wanderte weiter abwärts. Ich kraulte die Haare oberhalb seiner Schwanzwurzel. Kuki atmete tief und lustvoll, was ich als Aufforderung wertete, weiterzumachen.

Inzwischen hatten sich meine Augen an die Dunkelheit in meinem Zimmer gewöhnt und ich konnte Tim sehen, wie er Kukis Kopf mit seinen Händen hielt, ihn sogar etwas zu sich ran gezogen hatte und unseren kleinen Metallteileträger tief und innig küsste. Kuki lag zwischen uns beiden uns genoss es. Ich spürte, wie entspannt er war. Langsam tastete sich meine Hand zu seinem stark durchbluteten Körperteil vor und umfasste es. Erst langsam und dann immer fester. Sein Schwanz lag gut in der Hand. Nicht nur, dass er von beeindruckender Härte war, er hatte auch eine respektable Größe und sehr griffige Form.

Ich begann ihn zu massieren. Ich probierte verschiedene Variationen aus und wartete Kukis Reaktion ab. Wurde er härter? Wurde er weicher? Nach einer Weile wusste ich, wie ich ihn zu packen hatte. Kuki schien einen festen Griff mit langsamen, kräftigen Bewegungen zu bevorzugen.

Der Kleine genoss es. Warum auch nicht, Tim und ich taten es ebenfalls. Tim war es dann auch, der mir mit einem Nicken zu verstehen gab, dass Kuki jetzt entspannt genug war. Und er war in der Tat entspannt. Er schien gar nicht bemerkt zu haben, dass sich mein Schwanz zu seinem Schließmuskel vorgearbeitet hatte. Ich verstärkte meinen Druck und sein Muskel öffnete sich. Langsam flutschte der Kopf meines Schwanzes hinein.

Und dann zuckte er doch zusammen. Ziemlich kräftig sogar. Ich verminderte meinen Druck, gab aber kein Stück nach. Stattdessen gab ich ihm Zeit, sich wieder zu entspannen. Allmählich wurde er wieder lockerer.

»Mach weiter ...«, Kukis Aufforderung war eindeutig. Ich verstärkte erneut meinen Druck, massierte dabei aber gleichzeitig seinen Schwanz. Kuki stöhnte. Aber nicht vor Schmerz, sondern vor purer Lust. Tim hatte sich inzwischen von Kuki gelöst und schaute interessiert zu.

»Soll ich etwas Licht machen?«, fragte Tim. Ich hatte im selben Moment die gleiche Idee, nur war ich nicht gerade in der Lage, an einen Lichtschalter zu kommen. Erstaunlicherweise kam von Kuki spontan ein: »Ja!«

Mir war's Recht, denn ich sah gern den Menschen, mit dem ich so eng zusammen war. Tim schaltete also etwas Licht ein und schlug unsere Decken zurück. Er strahlte! Tim hockte vor uns, sah zu, wie ich in Kuki eindrang und strahlte vor Freude.

»Ich bin drin!«, tiefer ging wirklich nicht. Ich war ganz tief in Kuki eingedrungen. Meine Bewegungen hatte ich gestoppt, denn er sollte sich erst mal an das Gefühl gewöhnen.

Tim übernahm das Reden: »Na, kleines Blechschwein, wie fühlt sich das an?«

Kuki grunzte: »Absolut fantastisch! Ich bin im siebten Himmel! Und ihr Schweine macht sowas fast täglich. Da bricht ja jetzt noch der pure Neid bei mir aus!«

Tim grinste mich an: »Meinst du, er könnte etwas Bewegung vertragen?«

Ich grinste zurück: »Klar!«

Ich veränderte etwas unsere Position und machte es für mich und auch für Kuki bequemer. Was gar nicht so einfach war, denn ich musste auf den Verband meiner Schussverletzung Rücksicht nehmen. Aber schließlich fanden wir eine passende Lage und ich begann langsam meinen Schwanz fast aus Kuki herauszuziehen, um ihn sofort wieder tief eindringen zu lassen. Beim ersten Stoß quiekte Kuki sofort auf.

»Shit! Ist das geil!«

»Mehr?«, fragte ich und stoppte.

»Scheiße Svenni, red nicht! Tu es! Hör nicht auf!«, Kuki war fast am durchdrehen.

Er hatte es nicht anders gewollt. Ich packte ihn an seinen Hüften und begann mit einem tiefen, gleichmäßigen Rhythmus, der ihn Stoß für Stoß an den Rand des Wahnsinns brachte.

Tim grinste hinterhältig und ich ahnte, was kommen würde. Timmy beugte sich vor und ließ seinen Mund über Kukis Schwanz gleiten. Und da soll jemand behaupten, wir würden Kuki nicht lieben wie uns gegenseitig.

Und dann begann der Abflug. Wir katapultierten Kuki in die nächste Umlaufbahn. Dabei genossen wir es mindestens so sehr wie er. Tim und ich hatten uns rhythmisch angeglichen, während Kuki zwischen uns seine Augen vor Schmerz und Lust oder Lust und Schmerz geschlossen, nein, zugekniffen hatte.

Und dann brachen die Spasmen in Kuki aus. Der Kleine war ein explodierender Vulkan. Während er kam, verkrampfte sich sein Schließmuskel derart, dass diese Massage mich auch kommen ließ. Ich entlud mich in heftigen Schüben in Kuki, während dieser das Gleiche in Tim tat.

Und dann passierte es: »Himpfe!«

Tim schien Probleme zu haben. Noch etwas benommen von meinem Orgasmus zog ich mich aus Kuki zurück und beugte mich erschöpft vor, um zu erkennen, worum es eigentlich ging. Wie es aussah, kam Tim nicht von Kukis Schwanz los. Immer, wenn er seinen Mund zurückziehen wollte, zog es irgendwie auch an Kuki ... Moment mal!

Ich konnte mich nicht beherrschen und musste schallend loslachen.

»Daf ift nift luftig. Ich hänge feft!«, nuschelte Tim und Kuki: »Timmy, vorsicht! Reiß mir nichts aus!«

Ja, ja. Ich wusste doch, dass Intimpiercings gefährlich sein können. Offensichtlich hatte sich Tims Zungenstift, in Kukis Prinz Albert verfangen. Wie peinlich! Zwei Jungs, die mich mit ihren Augen anflehten irgendwas zu tun und ich, der sich über ihr kleines Missgeschick vor Lachen kringelte.

»Du Arfff?«, Tim war überhaupt nicht begeistert.

Nicht ganz ohne Schadenfreude sah ich mir die zwei Spezialisten an: »Ihr Armen! Soll ich euch helfen?«

»Ja, ferdammt!«, kam es genuschelt.

Ich schüttelte den Kopf über die Dummheit der Welt und machte mich dann daran, mir die Situation etwas genauer anzusehen. Eine vertrackte Sache, denn man konnte nicht viel sehen. Tims Kopf befand sich tief in Kukis Schoß. Es blieb wenig Platz zum Manövrieren.

»Ok, entspannt euch und Tim, ich glaube, du musst nochmal ein bisschen tiefer.«

Die beiden hörten auf mich. Tim stülpte seinen Mund nochmals etwas tiefer über Kukis Teil. Glücklicherweise war Kuki bereits befriedigt und schien seine aktuelle Situation nicht sonderlich erotisch zu finden, sein Schwanz war gerade dabei abzuschlaffen, deswegen gelang es mir, mich vorsichtig mit zwei Fingern an seinem Teil vorbei in Tims Mund vorzutasten und die Verhakung zu lösen.

»So, nu isser wieder frei!«, grinste ich die zwei an, die etwas bedröppelt und griesgrämig dreinschauten, dies aber erwartungsgemäß nicht lange durchhielten und albern zu kichern anfingen.

»Leute, das war fantastisch!«, Kuki strahlte uns beide an. Nein, er ging sogar weiter und umarmte uns.

»Ist es so, wie du es dir vorgestellt hast?«

»Nein! Sowas kann man sich nicht vorstellen! Das war ... hypergalaktisch!«, Kuki sah plötzlich erschrocken aus. »Shit, ich glaube, ich könnte das ständig machen!«

»Isser nicht niedlich. Eben war er noch Jungfrau und jetzt ...«

»Svenni?«, Tim sah mich plötzlich etwas frech von der Seite an.

»Ja?«, was wollte er denn?

»Ihr zwei hattet ja euren Spaß ...«

»Ach so!«, mir wurde klar, auf was Tim raus wollte, oder eigentlich, wo er rein wollte.

»Wollt ihr zwei jetzt miteinander ...«, Kuki sah uns fragend an.

Ich grinste zurück: »Ja, ich wollte jetzt Tim ficken!«

»Sven, du bist vulgär!«, was nichts daran änderte, dass er es endlich tun sollte.

»Es sei denn, du möchtest, dass ich dich auch ...«, Tim ging gar nicht auf meinen Einwurf ein und kokettierte stattdessen mit Kuki.

»Ne, lass mal gut sein. Fürs erste Mal, war es absolut ausreichend«, Kuki lehnte dankend ab.

»Sven, dann schmeiß mal die Gleitcreme rüber?«

»Mit dem größten Vergnügen!«

8.23. Kampf des Geistes

Portland

»Meinen Glückwunsch Camron-Bach! Ich hätte nie erwartet, dass man einen Arschficker wie dich jemals zum Quarterback wählt.«

Thimo war gerade dabei, den Umkleideraum der Sporthalle zu verlassen, als er die Stimme hörte. Thimo seufzte ernüchtert und drehte sich zur Stimme um. Wie nicht anders zu erwarten, stand Espen hinter ihm. Neben Espen hatten sich auch noch Brandon und Obernazi Ray van Geldern eingefunden.

»Ihr lasst euch auch nichts Neues mehr einfallen? Vor der Sporthalle auflauern ... ein paar einschüchternde Worte ...«, Thimo äffte einen affektiert-dramatischen Sprachstil nach.

»Willst du uns verarschen?«, Espen brauste auf - erwartungsgemäß.

»Nein, will ich nicht!«, Thimo warf den Dreien einen müden und erschöpften Blick zu. »Ich bin viel zu müde, um mich über euch lustig zu machen, euch zu verarschen, mich über euch aufzuregen oder sonst wie irgendwas anderes zu tun. Leute, ich bin einfach alle, leergepumpt, ausgelaugt und fertig. Ich könnte vor euch im Stehen einschlafen. Also, wenn ihr mich weiter beleidigen, beschimpfen oder anbrüllen wollt, dann müsst ihr das ohne mich tun. Viel Spaß!«

Thimo sprach mit einer derart müden Stimme, dass jeder normale Zuhörer eingeschlafen wäre. Selbst Ray van Geldern fing zu gähnen an. Thimo bekam das überhaupt nicht mit. Nach Skinners Powertraining hatte er arge Mühe, seine Augen auf zu behalten. »Hoffentlich holt Marcel mich ab. Ich könnte unmöglich Autofahren«, dachte er noch zu sich selbst.

»Hey, stehengeblieben!«, Espen war auf Thimo zugesprungen und hatte ihn am Kragen gepackt. Müde, mit zufallenden Augen drehte Thimo seinen Kopf: »Hm? Was denn noch!«

»Du kannst nicht einfach abhauen!«

»Warum nicht?«, geben diese Idioten denn nie auf?

»Weil ...«, Espen wollte keine Antwort einfallen. Immerhin hatte sein Angriff auf Thimo diesen so weit geweckt, dass er halbwegs klar denken konnte.

»Espen, verdammt, was willst du von mir? Und Brandon, was willst du? Oder Ray? Was wollt ihr von mir? Ihr wollt mir doch nicht ernsthaft einreden, ihr hasst mich, nur weil ich schwul bin. Manche Psychologen würden sowas als verdrängte eigene homoero ...«

Weiter kam Thimo nicht. Ein Faustschlag, ausgeführt gegen sein Kinn stoppte seine Worte. »Shit, warum kann ich mein vorlautes Mundwerk nicht halten«, verfluchte er sich selbst, während er laut sagte: »Ok, vergiss es!«

»Ich bin nicht schwul!«, zeterte Espen, »Jeden, der was anderes behauptet, mach ich kalt.«

»Auch gut, du bist also nicht schwul!«, Thimo wischte sich etwas Blut von seiner Lippe. »Ich habe das auch nie behauptet. Aber ...«

Thimo sah auf den Schnee vor seinen Füßen und zog mit seinem linken Schuh Furchen hinein: »Wie soll es mit uns Vieren eigentlich weitergehen? Espen? Brandon? Ray? Wollt ihr mir jetzt täglich auflauern? Ich meine, es ist eure Zeit, die ihr verschwendet, aber wenn ihr meint, dass ihr das braucht ...«

»Du pokerst ziemlich hoch, Camron-Bach!«, Brandon hatte bisher nur distanziert zugesehen, jetzt mischte er sich ein. Espen hingegen schien seine Rolle genau zu kennen. Kaum hatte Brandon zu sprechen angefangen, ließ er Thimo los und schlich zurück zu Brandon.

»Ich? Pokern? Ach was! Ich will nur meine Ruhe haben! Also lasst mich einfach zufrieden, so wie ich euch zufriedenlasse.«

Ihre Blicke kreuzten sich. Brandon sah tief in Thimos Augen und Thimo in seine. Ein Duell der Blicke, vor dem Duell der Fäuste, denn darauf musste es zwangsläufig hinauslaufen.

Keiner der Beiden bewegte sich und trotzdem konnte man spüren, dass die beiden Kontrahenten einen erbitterten Kampf miteinander ausfochten. Das ging so minutenlang. Man sah die Anspannung auf der Stirn von Thimo. Obwohl es winterlich kalt war, lief Brandon eine Schweißperle aus seinen Haaren. Auf jeden Außenstehenden muss die Szene vollkommen irreal und absurd ausgesehen haben, aber für Brandon und Thimo war es ein Kampf.

Thimo blickte tief in Brandons Augen. Augen, die eine Pforte, ein Tor in Brandons Seele waren. Obwohl Thimo und Brandon gute zwei Meter auseinander standen, hätte Thimo Brandon nicht näher sein können. Dieser bewegungslose Kampf stand voll in der Tradition buddhistischer Zenmönche. Quai Chang Kane hätte seine wahre Freude daran gefunden. Beide Seiten suchten in ihrem Gegenüber nach einem schwachen Punkt, einer Verletzlichkeit, mit der der andere besiegt werden könnte.

Und dann sah er es. Thimo sah Brandons Schwäche. Angst! Pure simple Angst. Brandon hatte panische Angst vor Kontrollverlust. Eine Situation nicht kontrollieren, in die eigene gewünschte Richtung steuern zu können, versetzte Brandon in schiere Panik. Das war es, was Thimo so gefährlich für Brandon machte, ihn konnte er nicht kontrollieren. Weder durch psychische Manipulation noch durch physischen Druck. Möglicherweise war Brandon dies selbst überhaupt nicht bewusst, aber es war seine Triebfeder. Der Ursprung seines Hasses und seine Achillesferse...

Die in diesem Moment riss.

Es war wie ein Schlag ins Gesicht. Brandon zuckte mit seinem Kopf zurück, als wenn ihn eine unsichtbare Faust getroffen hatte. In diesem Moment begriff er, dass er Thimo niemals besiegen konnte. Er könnte ihn schlagen, verleumden, demütigen sogar umbringen, doch brechen würde er ihn niemals können.

Zögerlich richtete er seinen Blick erneut auf Thimo. Es war ein bitteres Gefühl, als er sah, dass Thimo von seinem Sieg wusste. Noch bitterer war, dass Thimo offensichtlich keine Spur von Triumph empfand. Weder Häme noch Spott war in seinem Gesicht zu sehen, nur der Ansatz von Mitleid ...

Thimo wusste zwar, dass er gesiegt hatte, aber er fühlte sich in der Tat nicht als Triumphator. Eigentlich durchzuckte ihn nur ein Gedanke: »Dieses arme Schwein. Das alles hätte nicht sein müssen ...«

Schließlich sagte sich Thimo, dass nicht er diesen Weg gewählt hatte, sondern Brandon. Mit diesem letzten Gedanken an das Thema packte Thimo seine Sachen und ging.

»Ey, der Typ haut ab!«, Espens schrille Stimme schallte ihm nach.

»Lass ihn gehen, die Sache ist gelaufen«, blaffte Brandon Espen an.

»Aber wir wollten den Typ doch fertigmachen ...«

»Espen, halt's Maul!«

8.24. Urlaubsvorbereitungen

Fehmarn

Der nächste Tag, es war der 25.12. oder 1. Weihnachtsfeiertag, begann mit einem spektakulären Frühstück. Zu meiner Genugtuung war an eine ausreichende Versorgung mit Curryheringen gedacht worden. Es war ein herrlicher Morgen. Die dicken Schneewolken hatten sich verzogen und Platz für einen strahlend blauen Himmel gemacht. Es war klirrend kalt, aber genauso war die Luft glasklar. Die Wintersonne glitzerte auf dem Schnee, verfing sich in Eiszapfen, die von den Dachrinnen hingen, und brachten sie zum Leuchten.

Meine Oma hatte das Frühstück als Buffet im Wintergarten aufgebaut, den sie anlässlich dieses Feiertags geheizt hatte. Tim, Nico, Kuki, meine Eltern, Tims Mum und meine Oma, wir saßen alle zusammen und frühstückten fröhlich.

»Hey, Kuk’, du bist ja heute Morgen so still«, Nico, der Kuki regelmäßig mit seiner eigenwilligen Verkürzung seines Spitznamens aufzog, hatte sich zwischen uns drei gesetzt.

»Ich?«, Kuki war mit seinen Gedanken ganz wo anders. Tim und ich wussten auch wo. Kuki war immer noch bei der letzten Nacht. Der Kleine strahlte uns blöd grinsend und ganz verträumt an.

»Sagt mal«, fragte Nico und sah zu Tim und mir rüber. »Was habt ihr denn mit dem gemacht?«

»Ähm«, stammelte ich verlegen und zuckte mit den Schultern.

»Tja ...«, kam es ähnlich dürftig von Tim.

Nico stutzte. Er sah von Tim zu mir, von mir zu Kuki und von Kuki wieder zu Tim: »Ihr habt doch nicht etwa ...«

Drei Augenpaare sahen Nico verzückt-lächelnd und hinterhältig-provozierend an.

»Oh!«, meinte jener schließlich und lief knallrot an.

Den restlichen Tag verbrachten wir damit, die Insel unsicher zu machen. Mit Nico im Schlepptau besuchten wir am Nachmittag meine alten Freunde und erzählten ihnen von der dramatischen Geschichte mit André. Auf einer kleinen Insel wie Fehmarn war es immer besser, selbst eine Sache zu erzählen, als es den unvermeidlichen Gerüchteverbreitern zu überlassen. So hatte die Wahrheit immerhin noch eine kleine Chance.

Maik fand natürlich alles ganz krass und ließ massenweise blöde Kommentare vom Stapel: »André war wohl ein enttäuschter Liebhaber!« Wie immer wusste er nicht, wovon er redete. Aber das war egal, denn es war auch Maik, der meinte: »Jeder, der dir oder einem deiner Freunde jemals etwas antut oder es auch nur versucht, wird sich wünschen, niemals geboren worden zu sein. Spätestens, wenn ich mit ihm fertig bin.«

Denn bei allen blöden Sprüchen wusste ich immer, dass ich mich auf Maik 100% verlassen konnte.

Was soll ich sagen, es waren die schönsten Weihnachten seit langem. Vielleicht war Weihnachten bei uns immer sehr friedlich und etwas Besonderes. Oma schaffte es immer wieder, diese spezielle Atmosphäre herbeizuzaubern. Doch denke ich rückblickend, lag es einfach an dem, was in dem letzten halben Jahr geschehen war, dass ich gerade diese Weihnachten als die Friedlichsten empfand.

Eingemümmelt in dicke Steppjacken, dicke Pullover und zwei Lagen Unterwäsche, die Wollmütze weit über die Ohren gezogen und die Kunstfell besetzte Kapuze der Jacken darübergestülpt saßen wir am Meer und sahen zu, wie die Sonne am späten Nachmittag versank.

Tim, Kuki und ich.

Wir saßen aneinander gelehnt, Kuki in der Mitte und sahen auf die offene See. Es war fast windstill. Das Meer war so glatt wie ein Spiegel. Die Reflexion der Sonne wurde immer länger, je tiefer sie sank, bis sie eine lange, leuchtende Straße bis zum Horizont bildete.

Wir dachten nach. Jeder für sich und doch alle das Gleiche. Keine Worte. Die brauchten wir nicht. Wir wussten, um was sich unsere Gedanken drehten: Hass, Trauer, Tod, Freude, Zukunft und Liebe. Es war einer dieser vollkommen melancholischen Momente, die ich so liebte. Momente, in denen man gleichzeitig traurig und überglücklich ist.

Seit dem letzten Mal, dass ich an diesem Strand saß, war viel passiert. Zu viel?

Nachdem die Sonne schließlich ihren Bauchplatscher in die Ostsee absolviert hatte, kehrten wir schweigend, aber gut gelaunt zum Haus meiner Oma zurück.

»Was steht an?«, irgendwie wirkten alle nach Aufbruch. Meine Eltern hatten sich richtig in Schale geworfen.

»Wir sind alle eingeladen. Maik und Maikes Eltern veranstalten dieses Jahr das Weihnachtsfest.«

Eine Tradition, die ich fast vergessen hatte. Die meisten Eltern der Leute aus meiner alten Gang kannten sich recht gut und waren wohl durch uns selbst miteinander befreundet. Manche waren auch Nachbarn oder kannten sich selbst noch aus Schultagen. Fehmarn ist ja ein Dorf. Warum also Weihnachten nur mit der Familie feiern, wo doch eh fast alles Familie war?

Ich erklärte Tim und Kuki kurz die Sachlage und wir zogen uns ebenfalls, wie von unseren Eltern gewünscht, unsere »Guten Sachen« an. Wobei der Begriff »Gute Sachen« offenbar elterlicherseits und unsererseits deutlich anders interpretiert wurde.

Wenig später landeten wir bei Maiks Eltern und trafen natürlich auch den gesamten Rest der Gang wieder.

»Und, hast du dich mit Jan ausgesprochen?«, Kuki sprang als erstes auf Felix und Jan zu.

»Das hat er«, antwortete Jan. »Und ich weiß jetzt, warum er dich die ganze Zeit angegafft hat.«

Kuki grinste: »Und, wie stehst du zu dem Thema?«

»Ich weiß noch nicht, ob ich es mag, wenn sich Felix piercen lässt. Es hängt ja auch ein wenig davon ab, wo. Aber wenn er es möchte, was wäre ich für ein Freund, der ihm so einen Herzenswunsch verbieten täte?«

»Wenns euch später nicht gefällt, das Zeug lässt sich auch wieder rausnehmen!«

»Klar, merkwürdigerweise denkt man daran nie. Aber du könntest uns noch ein paar Tipps geben. Und vielleicht könntest du uns auch noch ein wenig was zeigen?«

»Tipps geht ok. Aber zeigen? Hier?«, Kuki war dann doch erstaunt.

»Nein, bei Maik im Zimmer ...«

Und so nahm auch dieser Abend seinen Lauf. Jan und Felix erfuhren alles, was sie über Piercings wissen wollten und sogar noch etwas mehr. Maik, Sören, Stefan, Anne und Maike, halt alle hatten wir einen netten Abend. Gegen ein Uhr nachts ging es aber schließlich wieder heimwärts, denn nach dem morgigen Frühstück sollte es zurück nach Berlin gehen. Dort warteten noch die Vorbereitungen auf unseren Flug nach Amiland. Allzu viel Zeit blieb uns ja nicht mehr und es galt noch eine Menge vorzubereiten. Bis zum 28.12. waren es nur noch zwei Tage.

»Du warst am Ende so still?«, Tim hatte es bemerkt. Wir lagen wieder auf den Matratzen in meinem alten Zimmer. Es war der 26.12. gegen Viertel nach eins.

»Ja, ich musste an etwas denken ...«

»An etwas? Oder an jemanden?«

»Du hast Recht. Ich habe an Thimo gedacht. In drei Tagen werde ich ihn wiedersehen ... merkwürdig, aber das ist ein seltsames Gefühl. Ich sollte mich freuen, aber irgendwie ist da eher ein flaues Gefühl im Magen ...«

Kuki kuschelte sich an mich und flüsterte: »Wundert dich das? Er ist dein Freund, er war dein erster Freund, der erste Mann mit dem du zusammen warst und jetzt kommst du mit zwei Typen an, die scheinbar seinen Platz einnehmen.«

»Möglicherweise ...«

»Nein, genau so ist es!«, stimmte Tim ein. »Du betrügst ihn nicht. Er ist nach wie vor dein Freund. Was ihr zusammen hattet, wird euch niemand nehmen.«

Und etwas leiser, aber keck von Kuki: »Und seit gestern Nacht ahne ich, was ihr miteinander geteilt habt. Ich hätte nie gedacht, dass man sich so nah sein kann.«

»Danke Kuki!«

»Ich danke euch! Es sind wirklich die schönsten Weihnachten, die ich je erlebt habe!«, Kuki räusperte sich. »Und das nicht nur, weil ich jetzt keine Jungfrau mehr bin. Ähm, tja, und wo wir gerade beim Thema sind, da hätte ich dann noch eine Frage: Seid ihr beiden eigentlich schon sehr müde?«

»Svenni?«

Nö, nicht wirklich?»

»Gut, dann wirf doch mal die Gleitcreme rüber!«

8.25. Transit

Zwischen Berlin International (BER) und New York International (NYC)

»Habt ihr auch eure Pässe?«

»Ja Mama!«

»Hast du auch ein Taschentuch?«

»Ja Mama!«

»Und ruft sofort an, wenn ihr angekommen seid!«

»Ja Mama!«

Die anwesende Mutternschaft, seines Zeichens eigentlich nur Tims und meine, war in ihr typisches Rollenverhalten verfallen. Nur Kuki war besser dran, da seine geschäftigen Eltern bekannterweise nicht im Lande weilten, sondern den Jahreswechsel mütterlicherseits in Kiew und väterlicherseits in Santiago de Chile verbrachten. So blieb ihm eine Überdosis mütterlicher Begluckung erspart.

Interessant war das Verhalten unser Erzeugerinnen allerdings schon. Frauen mittleren Alters, die eigentlich mit beiden Beinen auf den Füßen standen und uns regelmäßig predigten, selbständig und erwachsen zu handeln, reduzierten uns plötzlich auf das intellektuelle Niveau von 12jährigen zurück.

»Und macht im Flugzeug keinen Unsinn!«

»Nein Mama!«

Glück? Mehr als das!

Zuerst ging sich die Fliegerei eher unangenehm an. Ich muss gestehen, es war mein erster Flug. Ich war noch nie mit einem Flugzeug geflogen und der Gedanke, mehrere tausend Meter Luft zwischen mir und dem Erdboden zu haben, weckte bei mir sehr gemischte Gefühle.

»Du siehst etwas blass aus.«

»Nicht blass, er sieht grün aus.«

»Leute, haltet mal für ein paar Minuten die Klappe und sprecht mich vor allem nicht an!«

Tim und Kuki kicherten albern, musterten mich und kicherten erneut. Ich krallte mich in meinen Sitz und wartete darauf, dass wir endlich abstürzten.

»Sven, entspann dich, wir sind noch gar nicht gestartet.«

Nun ja ... der Flug von Berlin-Tegel nach Frankfurt war dann weniger schlimm, als ich mir ausgemalt hatte. Mit jeder Minute in der Luft ließ meine Verkrampfung nach.

»Na, alles nicht so schlimm, oder?«

»Es geht. Ich ...«, meine Entspannung wurde von einem Durchsacken der Maschine absorbiert. Ich war mir sicher, dass meine Fingernägel Abdrücke in den Armlehnen hinterlassen würden.

»Keine Panik. Sowas ist normal. Ein Fallwind oder unprofessionell ,Luftloch`. Schau mal aus dem Fenster. Siehst du die Wolkenkante? Hinter uns lag eine geschlossene Wolkendecke vor uns ist es wolkenlos. An solchen Kanten holpert es öfters mal. Alles im grünen Bereich ...«

Woher wusste Kuki das alles? Wie auch immer, ich begann mich langsam an die Fliegerei zu gewöhnen.

»Das ist 'ne 737-400. So das Brot- und Butterflugzeug im Inlandsflug und innerhalb Europas. Warte mal ab, bis wir nachher in die 747 umsteigen. Die fliegt wie ein tonnenschwerer Tanker durch die Weltmeere.«

Vor dem Umsteigen stand noch die Landung, die aber erschreckend unspektakulär war. Spektakulärer war da eher der Flughafen Frankfurt. Ein wahrer Moloch und verwirrend ohne Ende. Und ich hatte Probleme mit dem Bahnhof Alexanderplatz? Lächerlich!

Nach langem Suchen fanden wir schließlich unser Gate in einem völlig anderen Terminal, was aber bedeutete, dass wir Hunderte von Metern durch unterirdische Gänge zurücklegen mussten. Dort angekommen war das Boarding schon im vollen Gange. Wir hielten einer professionellen Dauerlächlerin mit niedlichem Airlinekäppi und Uniform unsere Tickets hin, diese tippte etwas auf ihrem Computerterminal, zog überrascht ihre nachgefärbten Augenbrauen hoch, blinzelte irritiert mit ihren meterlangen Wimpern, kritzelte auf den Tickets rum und wünschte uns schließlich einen guten Flug.

In der Maschine angekommen, begann das überraschte Hochziehen und kKimpern einer ebenfalls mit neckischem Käppi versehenen Saftschubse bzw. Stewardess erneut. Als sie uns unsere Plätze zeigte, verstanden wir auch wieso. Wir waren völlig unerwartet in der Business-Klasse deponiert worden. Auf unseren Tickets stand zwar Holzklasse, aber bevor wir uns schlagen ließen, akzeptierten wir auch solche Unannehmlichkeiten.

Diese Unannehmlichkeiten bestanden aus angenehm breiten Sitzen, erstaunlich viel Beinfreiheit, mega-noblem Essen, woraus sich Tim nicht so viel machte: »Das sollen Pommes sein?«

»Nicht Pommes frites, Pommes duchesse«

»Pomme dünnschiss? So sehen die auch aus!«

Weiterhin gab es Getränke bis zum Abwinken.

»Wenn meine Mutter wüsste, dass ich Champagner saufe, würde sie ausrasten!«, kommentierte ich meinen perlenden vergorenen Traubensaft.

»Meine auch!«, erwiderte Kuki. »Die würde mir vor lauter Neid das Glas aus der Hand reißen und das Zeug selber kippen.«

Tja, und dann war da noch unser Steward. Hm ... ich hasse Klischees, insbesondere wenn sie zutreffen. Unsere Saftschubse war 'ne Schwuppe. Und das Schlimme daran, eine ziemlich niedliche. Ok, er war wahrscheinlich so um die 27, also 10 Jahre älter als wir. Aber nett anzusehen war er trotzdem. Muskulös, groß, mit blankpoliertem Schädel, markantem, kantigen Gesicht, ganz leicht naturgebräunte Haut und verdammt nett - auf seine Art.

»Was macht ihr Kinder in der Bussiness Class?«, es sollte witzig klingen, enthielt aber eine kühle Unterschwingung.

»Pommes dünnschiss essen«, konterte Kuki und setzte ein Lächeln auf, dass unser Flugbegleiter drohte, wegzuschmelzen.

»Fliegt ihr allein?«, kam die nächste Frage, nachdem sich der Kahlkopf von Kukis Blick erholt hatte.

»Mutterseelenallein! Ist das nicht traurig?«

»Sieht nicht so aus, dass ihr traurig seid ...«, kam es vordergründig freundlich, aber ...

»Ok, ich ahne, was sie denken: ,Drei verwöhnte, versnobte Gören irgendwelcher stinkreichen Säcke, die mir das Leben schwer machen werden.` Trifft es das ungefähr?«

Unser Flugbegleiter musterte uns scharf und antwortete eiskalt: »Es steht mir nicht zu, die Kunden unserer Gesellschaft zu beurteilen, geschweige denn in irgendeiner Weise zu kritisieren.«

Tim lächelte freundlich: »Entspannen Sie sich. Wir machen bestimmt keinen Stress. Außerdem hatten wir eigentlich Holzklasse gebucht, mit Superspartarif und Frühbucherrabatt. Keiner von uns könnte sich solch einen Flug leisten. Ähm, unsere Eltern natürlich auch nicht. Wir haben keine Ahnung, warum wir hier vorne sitzen, aber es ist wirklich nett hier.«

Unsere männliche Saftschubse schien sich zu entspannen, musterte uns einen nach dem anderen und wir sahen ihn einer nach dem anderen so brav wie Tick, Trick und Track schüchtern blinzelnd an.

»Ok, entschuldigt, wenn ich vorhin etwas den falschen Ton erwischt habe. Aber dies ist mein erster Transatlantikflug, auf dem ich in der Bussiness Class eingesetzt bin ...«

»Und es steht eine Beurteilung an ...«

Der Flugbegleiter sagte nix, sondern nickte nur.

»Ok, von uns bekommen Sie die allerbeste Note, wir Schwestern müssen ja zusammenhalten ...«

Tim muss der Champagner zu Kopf gestiegen sein, denn nicht nur der Flugbegleiter lief knallrot an, sondern Tim ebenfalls: »Hab' ich das eben wirklich gesagt? Oops, Entschuldigung ...«

Tim verkroch sich tief in seinem Sitz, während unser Saft- und Essensversorger nach Luft rang: »Meine sexu... Moment mal, ihr drei seid ... oh Gott, das hat mir noch gefehlt, 'ne schwule Jugendgruppe auf Reisen ...«

Wir sahen unseren Flugbegleiter an, unser Flugbegleiter sah uns an. Schließlich fingen wir alle vier zu grinsen an.

»Es hätte schlimmer kommen können ...«, meinte ich, »Wir hätten ja auch irgendwelche übellaunigen, kurz angebundenen Geschäftsleute sein können, denen man nichts Recht machen kann.«

»Ok, ich glaube, du hast Recht. Ich bin wirklich etwas nervös heute. Es soll doch bei meiner Premiere heute alles klappen!«

»Das wird es. Garantiert.«

»Danke! Kann ich euch noch was zu trinken bringen?«

»Ja, alkoholfreie Cola, insbesondere für diesen Witzbold neben mir. Und, ach ja, könnten Sie mal rausbekommen, wieso wir nicht in der Holzklasse sitzen?«

»Wollt ihr da unbedingt hin?«, kam es als Rückfrage. »Ok, die Cola kommt sofort. Und das andere bekomm ich auch raus. Übrigens, ich bin Andreas.«

Deutlich entspannter entschwand Andreas, unsere allerliebste Saftschubse, um wenige Minuten später mit drei Cola und einer Antwort wieder bei uns aufzutauchen: »Ich habe mir die Buchungsliste angesehen. Eure Tickets wurden vor kurzem regulär upgegradet.«

»Das heißt?«

»Jemand hat die Differenz bezahlt und ihr wurdet umgebucht.«

»Hm, wer macht denn sowas?«

»Keine Ahnung. Ihr sitzt jedenfalls völlig korrekt hier und nicht in der Holzklasse.«

Andi verschwand und kümmerte sich um seine anderen Fluggäste. Neben mir begann Kuki nervös auf seinem Sitz hin- und herzurücken. Der Kleine wurde fast noch kleiner.

»Hast du was?«, fragte Tim.

»Ich glaube, ich kann das mit den Tickets erklären ...«

»Du?«

»Ja ...«, Kuki sah verlegen auf den Boden, »Ich hab die Tickets umgebucht.«

»Du?«

»Naja, ihr hattet mir ja mein Ticket zu Weihnachten geschenkt, wofür ich euch echt danke. Es ist ja nicht nur der Flug, sondern auch, dass ihr mich mitnehmt. Jedenfalls stand auf den Tickets die Buchungsnummer drauf und da hab ich dann etwas telefoniert ...«

»Du?«

»Sven, du wiederholst dich. Ja, ich habe telefoniert. Meine Eltern haben so viele Flugmeilen gesammelt und als mich mein Paps, der inzwischen in Rio ist, am 2. Weihnachtsfeiertag anrief und fragte, was ich mir zu Weihnachten wünschen täte, hab' ich ihn halt gefragt, ob ich sein Meilenkonto plündern dürfte.«

»Und was hat er geantwortet?«

»Sonst nix?«

»Wie?«

»Er sagte: ,Sonst nix?` Ich sag ja, meine Eltern haben kein Verhältnis zu Geld. Die sind nur peinlich.«

»Hast du eine Ahnung, was drei Upgrades kosten?«

»Ja, ziemlich genau sogar. Entspannt euch, es trifft keine armen Leute. Und wenn mein Paps jetzt denkt, er sei ein toller Vater, dann ist doch alles in Ordnung, oder?«

Ich war, gelinde gesagt sprachlos. Kuki war immer wieder für eine Überraschung gut. Diese war schon etwas heftig, aber was solls: Das Essen war gut, die Kinofilme top-aktuell und der Steward ... nun ja ...

Man gab sich alle Mühe, die Fluggäste bei Laune zu halten. Entweder gab es mal wieder etwas zu essen oder es lief ein Film. Aber auf Dauer sind Langstreckenflüge langweilig. Jede Minute schien ein klein wenig länger als die vorhergehende zu sein. Die letzten 2 Stunden waren einfach nur öde. Ich hatte mich zwar mit diversen spannenden Geschichten, die ich mir aus dem Internet gesaugt hatte, versorgt - einzigartige Geschichten, die, wollte man sie alle aufzählen, Tage, wenn nicht sogar Wochen damit zubringen würde. Manche ließen mich lachen, manche aber auch weinen, bei manchen musste ich mir einfach an den Kopf fassen und mich fragen: »Leute, ihr scheint euch doch zu mögen, warum macht ihr euch das Leben so schwer?«

Aber fiktiven Figuren lässt sich schlecht etwas zurufen. Wobei sie beim Lesen für mich teilweise eine Lebendigkeit erreichten, die fast unheimlich war.

Doch irgendwann mag man auch die spannendste Geschichte nicht mehr lesen, wenn man stundenlang in einem Flugzeugsitz sitzt. Ich blickte zu Tim und Kuki in der Hoffnung, mich mit ihnen unterhalten zu können. Doch die beiden waren eingeschlummert.

So saß ich da ...

Und grübelte ...

Den Kopf voller Geschichten ...

Von denen mich manche arg mitgenommen hatten ...

Da sitzen und emotional angeschlagen sein ...

Thimo!

Es packte mich wie ein elektrischer Schlag oder ein eisiger Luftzug.

Thimo und ich - wir hatten uns jetzt gut ein halbes Jahr nicht mehr gesehen. Plötzlich, als wenn ein Vorhang beiseitegeschoben wurde, der meine Erinnerung verhangen hatte, war mir alles wieder präsent.

Am Abend bevor Thimo abreiste hatten wir noch zusammen geschlafen. Eigentlich hatten wir die ganze Nacht durchgemacht, als wenn wir unsere Trennung damit abwenden konnten. Doch am Ende lagen wir heulend in unseren Armen.

Thimo war mein erster Freund. Ein Mensch, mit dem ich mehr geteilt hatte, als jemals vorher mit einem anderem. Er war es, der mich dazu gebracht hatte, dass ich von mir akzeptiert hatte, schwul zu sein. Nein, mehr noch, ich hatte es nicht nur akzeptiert, ich war inzwischen sogar stolz darauf. Ohne Thimo kein Tim und kein Kuki. Aber genau das war mein Problem.

Ich betrachtete die beiden. Sie schlummerten so unschuldig vor sich hin. Tim und Kuki, sie sahen so glücklich aus. Und ich bekam Gewissensbisse. Denn mir wurde eins klar. Ich liebte Thimo - immer noch.

Ich liebte aber auch die beiden neben mir. Ein Tag ohne Tim zu sein, war eine Qual. Nicht mit Kukis Piercings spielen zu können: einfach undenkbar!

Es war also eine absolute Scheißidee, nach Portland zu fliegen. Denn wie sollte ich Thimo begegnen? Wie sollte ich mich gegenüber Kuki und Tim verhalten?

»Was bewegt dich?«, ich hatte Andi, den Steward gar nicht kommen hören.

»Wie?«

»Du siehst so traurig aus. Du siehst ständig zu deinen Freunden rüber und machst den Eindruck, gleich losheulen zu müssen.«

Ich hatte mich in Andi getäuscht. Der Typ hatte Tiefgang. Andi deutete mir, ihm in die Bordküche zu folgen. Dort machte er mir, schließlich war er Flugbegleiter und für mein Wohl zuständig, eine Dose Bitter Lemon auf: »Es hilft dir, einen klaren Kopf zu bekommen! Und dann erzähl mal, wenn du willst ...«

»Ok, ich fühl' mich wie ein Arschloch, denn ...«

Ich erzählte. Einem wildfremden Mann erzählte ich grob von meiner Beziehung zu Thimo und zu den anderen beiden. Andi hörte aufmerksam zu, sagte aber kein Wort, sondern füllte nur mein Bitter Lemon nach. Als ich geendet hatte, schwieg er weiter. Ich schwieg auch. Wir standen etliche Minuten in der Bordküche und sagten kein Wort. Ein anderer Gast klingelte und Andi ging kurz weg, kam wieder, holte eine kleine Flasche Wein und ging wieder zum Fluggast.

Als er schließlich zurückkehrte, meinte Andi: »Eigentlich kannst du glücklich sein. Mann, ich habe noch nie erlebt, dass man auf Anhieb so geile Freunde findet, wie du sie hast. Nicht jeder hat so'n Sott wie du! Aber das ist nicht die Frage, die dich bewegt, oder?«

Ich nickte zustimmend.

»Du wirst mir das jetzt nicht glauben, aber das mit deinem alten Freund, das wird sich regeln. Du wirst schon die richtige Entscheidung treffen.«

»Toller Tipp. Und warum werde ich das tun?«

»Ganz einfach, weil dir Tim und Kuki nicht egal sind. Wenn sie es wären und du sie nur als was zum Poppen sehen würdest, hättest du jetzt keine Gewissensbisse. Dir wären die beiden total egal. Ich hab's erlebt. Oder, um es mit den unnachahmlichen Worten meines Ex auszudrücken: ,Ey, komm Andi! Du weißt, dass du nie mehr als ein geiler Fickschlitten für mich warst.` Zwei Tage vorher hatte er mir noch tausendmal seine unsterbliche Liebe verkündet. Der Typ war ein Arsch. Du bist bestimmt keiner. Natürlich liebst du Thimo immer noch. Ihr habt euch ja nicht im Streit getrennt. Ihr kennt euch seit Jahren. Ich glaube, wenn du ihn heute Abend triffst, wirst du wissen, wie ihr miteinander umgehen müsst. Bestimmt!«

Mir war zwar nicht ganz klar, was Andi meinte, aber es baute mich auf. Ich dankte ihm, doch er lehnte ab: »Ne, lass mal. Es baut mich viel mehr auf, euch drei Schnuckel so nett zusammen zu sehen. Vielleicht gibt's ja für funktionierende Beziehungen doch noch Hoffnung.«

8.26. Portland

Irgendwann ging dieser Flug auch noch zu Ende, aber unsere Reise noch lange nicht. Im Flughafen von New York International mussten wir erstmal die Einreisekontrolle des immigration office über uns ergehen lassen. Danach mussten wir unsere Koffer holen, durch den Zoll und mit dem ganzen Gepäck per Shuttle zu einem anderen Flughafen, von dem der Weiterflug nach Portland abging.

»Svenni, ist irgendwas? Du wirkst seit wir gelandet sind so still.«

Tim sah mich besorgt an, doch ich wischte seine Besorgnis mit einer Handbewegung weg: »Nein, alles ok. Der Flug war anstrengend. Ich konnte nicht schlafen und bin etwas müde.«

Tim nickte. Obwohl ich das Gefühl hatte, dass er meiner Erklärung nicht traute, sagte er nichts.

Wir shuttelten also zum anderen Flughafen. Den Weg zu finden, die richtige Linie zu finden und all die neuen Eindrücke dieses für mich unbekannten und fremden Landes aufzunehmen, lenkten mich dann auch so weit ab, dass sich der Gedanke an Thimo vorerst wieder in einen der hinteren Winkel meines Schädels verkroch.

Die U.S.A., nun ja, ein merkwürdiges Land. Ich bekam zwar bisher nur Flughäfen und Transitfahrzeuge mit, aber schon die waren anders. Es roch anders. Es sah alles anders aus. Die Leute waren anders. Es war irgendwie alles extremer als in Berlin. Ein Typ war nicht fett, er war ultrafett. Eine Frau war nicht schlank, sie war megadürr. Ein Typ war nicht muskulös, er war das Hyperultratier.

»Fuck!«, übernahm ich dann auch sofort mein erstes U.S.-amerikanisches Sprachidiom.

»Das kannst du laut sagen!«, meinte Kuki, der gerade einen gepiercten Typen entdeckt hatte, gegen den er selbst nackt wirkte.

Der nächste Flug brachte uns dann endlich nach Portland. Seit Abflug in Berlin waren 16 Stunden vergangen. Mir taten inzwischen alle Knochen weh. Nach Landung, taxiing zum Gate, deboarding und dem üblichen Warten auf Koffer und Rucksack in der baggage claim, waren wir endlich und ein für alle mal mit der Megareiserei fertig. Ich schulterte meinen Rucksack und packte meine Koffer, die typisch für mich als Letzte von Band ausgespuckt wurden, und durchschritt die automatische Tür zur Empfangshalle.

Und da stand er! Thimo! In voller Lebensgröße.

Er stand gut 9 1/2 Meter bzw. 10 Yards von mir entfernt und strahlte mich an. Mir wurde schwindelig. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Thimo grinste und schüttelte seinen Kopf. Tim und Kuki standen rechts und links neben mir und waren ebenfalls stehen geblieben.

»Ist das Thimo?«, fragte Kuki.

Ich sah mich nicht zu Kuki um. Wie in Trance murmelte ich nur: »Ja, das ist er!«

»Dann begrüß ihn gefälligst!«

Ich ließ meinen Koffer fallen und rannte los. 10 Yards? Der notwendige Raumgewinn beim Football für einen neuen 1st down. Ich rannte auf ihn zu. Noch vier Yards und ...

Stolperte über einen fremden Koffer. Mit spektakulärer Flugparabel landete ich auf meinem Gesäß. Ok, immerhin 6 Yards Raumgewinn. 2nd and 4. Ich rappelte mich auf und sprang los und ...

Erreichte mein Ziel.

»Du hast einen neuen 1st down erzielt!«, Thimo dachte das Gleiche wie ich. Wie früher.

»Das muss ein Irrtum sein, ich bin Defense ...«

»Ich weiß!«

Wir standen uns gegenüber. Unsere Gesichter trennten bestenfalls 20cm.

»Ich ...«

Weiter kam ich nicht. Thimo riss mich an sich und umarmte mich. Er schmiegte seine Wange an meine, presste seinen Körper an meinen und ließ sich von den gaffenden Blicken der prüden, puritanischen Amis nicht stören.

»Shit, bin ich froh, dass du endlich da bist! Svenni, fuck, hab' ich dich vermisst!«

»Ich dich auch. Ich ...«

Shit! Wir heulten los wie zwei Mädchen. Wir hielten uns gegenseitig die Köpfe in den Händen uns strahlten uns an, um uns erneut zu umarmen und zu flennen. Kitschig, aber offenbar unvermeidlich.

»Deine Sprache ... seit wann kultivierst du englische Kraftausdrücke?«

»Ähm ...«, Thimo sah mich peinlich berührt an und zog sein Gesicht schief, als hätte er auf eine Zitrone gebissen. »Ist das wirklich so heftig?«

»Shit, nein!«

»Idiot!«

»Selber!«

Und es machte Klick. Wir blieben an unseren Blicken hängen und sahen tief in die Seele des jeweiligen Gegenübers. Sie war wieder da, unsere gemeinsame Vergangenheit. Thimos Blick - es war der gleiche wie der vor einem halben Jahr. Als wir uns voneinander verabschiedet hatten, auf dem Fährbahnhof Puttgarden ... für einen Moment waren wir wieder auf unserer Insel. Zwar nur in unseren Gedanken, Träumen und Sehnsüchten, aber es reichte für ein gutes und glückliches Gefühl.

Thimo schüttelte grinsend seinen Kopf: »Svenni, hör auf. Schau mich nicht so an. Fuck, ich schmelz sonst noch weg.«

»Musst du gerade sagen!«, ich hielt meinen Kopf etwas schief, zog ihn sogar etwas zurück und betrachtete Thimo genauer: »Du hast dich verändert.«

»Wirklich?«

»Ja, ich weiß nicht genau. Härter oder reifer. Möglicherweise beides. Aber dein Babyface hat sich abgeschliffen. Mann, aus meinem alten Thimo ist ein echter Kerl geworden.«

Und das war noch eine Untertreibung. Thimos winterliche Bekleidung verdeckte einen Großteil seiner Körperkontur, aber selbst mit dickem Pullover und Steppjacke konnte man erkennen, was für ein megabreites Kreuz der Kerl inzwischen hatte.

»Skinner!«

»Skinner?«

»Skinner!«, bestätigte Thimo meine Rückfrage. »Unser Football-Coach und ein wahrer Sadist. Wir haben in der Sportstation eine Spezialwaage, die Gewicht, sowie die prozentualen Muskel- und Fettmasseanteile messen kann. Ich habe im letzten halben Jahr 10kg zugelegt und dabei meinen Fettanteil halbiert.«

»Wow!«

»Naja ...«, Thimo, die Bescheidenheit in Person, »Willst du eigentlich deine beiden Freunde noch lange da hinten stehen lassen?«

»Oh, Mist! Die hätte ich glatt vergessen!«, ich winkte die beiden schnell heran und auch Thimo fuchtelte mit seinen Armen, um seinen Leuten zu signalisieren, dass sie herankommen sollten.

»Ok, Kuki, Timmy, das ist Thimo! Thimo, das sind Tim und Kuki!«, stellte ich meinen beiden Freunden meine erste Liebe vor.

»Hi, ihr zwei«, meinte Thimo.

»Hi, du einer«, meinten die zwei und kicherten albern.

»Ähm, tja und dieses blonde Gift ist Marcel, mein Freund.«

»Hi, Marcel!«, kam es unisone von Sven, Tim und Kuki, wobei Letzterer noch hinzufügte: »Wow! Was für eine Sahneschnitte, Thimo, pass auf den gut auf!«

»Och, ich pass schon allein auf mich auf!«

Kuki zuckte zusammen: »Shit, du kannst ja Deutsch!«

»Und du musst mir erzählen, wie du durch die Metalldetektoren gekommen bist«, entgegnete Marcel.

Kuki war sprachlos.

Merkwürdig war es schon, aber wir fünf fanden sofort einen guten Draht zueinander. Marcel sprach natürlich nicht so gut Deutsch wie wir, schließlich war es reines Schuldeutsch und das bisschen Praxis, das er bei Thimo und seiner Mutter gehabt hatte. Deswegen sprach Thimo im Normalfall mit ihm Englisch. Wir taten das Gleiche, wenn auch nicht so perfekt, wie es Thimo inzwischen drauf hatte. Das halbe Jahr hatte ihn in vielfacher Hinsicht verändert.

»Alter, du bist zwar zweisprachig aufgewachsen, aber Englisch war nie so dein Ding. Das hat sich aber heftig geändert.«

»Wundert dich das?«, Thimo kratzte sich an seiner Stirn. »Außer mit meiner Mum oder meiner Großmutter sprech ich doch mit niemandem mehr Deutsch. Sollte es dir noch nicht aufgefallen sein, aber wir sind hier in Amiland, die sprechen ... naja, nicht wirklich Englisch.«

»Wo hast du eigentlich deine Mutter gelassen?«

»Zuhause ... es wäre sonst zu eng im Wagen geworden.«

»Und wer fährt?«

»Ich!«

»Du? Du bist doch keine 18 ... ach ja, ich hab's vergessen: Amiland!«

»Du sagst es!«

Wir liefen durch Gänge, Flure und Unterführungen und erreichten schließlich das Parkhaus. Marcel und Thimo hatten uns netterweise einen Teil des Gepäcks abgenommen. Man hätte meinen können, wir wären mit unserer gesamten Habe verreist.

»Wir sind da! Das ist meine Karre. Schmeißt die Sachen hinten auf die Ladefläche!«

Wir standen vor einem fetten schwarzen Toyota Pickup. Thimo zog eine Abdeckplane von der Ladefläche zurück, wir deponierten unsere Sachen und schlüpften in den Wagen.

»Fettes Teil, dieser Wagen. In deiner Mail wirkte der gar nicht so groß. Kann es sein, dass da jemand tiefstapeln wollte?«

»Ich doch nicht!«, Thimo tat entrüstet. »Das würde mir nie in den Sinn kommen. Ähm, Svenni ...«

Thimo wurde sachlich und blickte fragend zu mir rüber.

»Ja?«

»Hat alles mit dieser Transaktion geklappt?«

»Ja, die Bilanzprüfer sind mit ihrer Arbeit so gut wie fertig. Mein Paps hat echt rotiert, als er die Zahlen sah. Ich muss gestehen, ich war skeptisch und wollte deinen Verdacht nicht so recht glauben, aber du hattest mal wieder Recht gehabt.«

»Ich weiß ... leider.«

Kuki, Marcel und Tim starrten uns an. Sie hatten keine Ahnung, wovon wir sprachen.

8.27. Auf Schnupperkurs

»Willkommen im Haus der Camron-Bachs! Darf ich euch meine Mutter vorstellen?«, Thimo führte uns ins Wohnzimmer.

»Hallo, ich bin Ellen! Hallo Svenni, schön dich wieder zu sehen.«

»Hallo Ellen, ich freu mich auch ... ich soll Grüße von meinen Eltern ausrichten und du sollst sie unbedingt mal in Berlin besuchen kommen. Dann sind da noch Grüße von deiner Mutter und von meiner Oma, die ich zu überbringen hatte. Hab' ich auch niemanden vergessen? ... nö, das war's«

»Wann hast du meine Mutter gesprochen?«

»Wir waren Weihnachten auf Fehmarn und da habe ich sie getroffen. Ach, jetzt hab' ich doch noch Grüße vergessen. Nämlich von der ganzen Gang, also Maik und Maike, Anne, Stefan, Sören und, und, und ...«

»Es hat sich nichts geändert ...«

Ich sah Ellen gequält an und auch Kuki und Tim zuckten unwillkürlich zusammen.

»Entschuldigt ... ich habe nicht nachgedacht. Ich weiß was passiert ist ...«, Ellen sah richtig betroffen aus.

»Ist schon ok. Wir ... wir kommen damit klar.«, brach Timmy das Eis.

»Gut, ich werde mich dann mal um das Essen kümmern. Ihr seid nach dem langen Flug sicherlich total hungrig.«

Mit diesen Worten entschwand Thimos Mutter in Richtung Küche. Wäre es unhöflich, wenn wir ihr gesagt hätten, dass wir eigentlich überhaupt keinen Hunger hatten, dass uns vielmehr der Gedanke an Essen nach der massiven Überversorgung im Flugzeug abschreckte. Nein, wir sagten lieber nichts. Thimos Mutter war einfach zu nett. Wie ich sie kannte, hatte sie schon die leckersten Sachen vorbereitet.

Wir mussten eine deutliche Köpersprache gehabt haben, den Thimo sagte: »Ich weiß, was ihr denkt: ,Bitte nicht noch mehr Essen!`Aber wenn ihr es euch nicht mit meiner Mum ernstlich verscherzen wollt, dann müsst ihr da noch durch.«

Er grinste diabolisch und ich streckte ihm meine Zunge entgegen: »Bäh!«

»Hoppla, was haben wir denn da?«

»Ein Geschenk von dem da!«, ich zeigte auf Kuki, »Der steht auf sowas!«

»Wäre mir jetzt gar nicht aufgefallen ...«, Thimo sah sich um, zog eine Augenbraue hoch und meinte: »Sagt mal, schlaft ihr alle oder warum muss ich mich mit Svenni alleine Unterhalten.«

»Die sind nur schüchtern ...«

»Scheint mir auch so ...«

»Nö, sind wir nicht«, protestierte Tim. »Es ist nur interessant, euch beide beim Wiedersehen zu beobachten. Ehrlich gesagt bricht bei mir der blanke Neid aus.«

Timmy, was sagst du da? Ich bekam Herzklopfen. Trat jetzt genau das ein, was ich befürchtete hatte? Ich und Thimo und niemand dazwischen?

Kuki schüttelte verneinend seinen Kopf: »Entspann dich Svenni. Tim, und übrigens ich auch, also wir meinen nur, dass ihr beiden echt wie eine einzige Person daherkommt. Ihr scheint immer schon zu wissen, was der andere denkt. Das muss euch nicht unangenehm sein. Mann, ihr kennt euch seit Ewigkeiten. Wenn du denkst, wir werden jetzt eifersüchtig auf euch zwei, dann bist du falsch gewickelt. Wir kennen dich, glaube ich inzwischen gut genug, als dass wir uns um deine Treue sorgen machen müssten.«

»Wow, du hast dir deine Jungs ja prächtig erzogen«, kommentierte Thimo.

»Nicht wahr ...«

»Na dann können wir ja poppen gehen!«, Thimo las mal wieder meine Gedanken. Mir war die gleiche Idee gekommen, unsere lieben Freunde etwas aufzuziehen.

»Klar ...«, vervollständigte ich Thimos Steilvorlage.

»Hey!«, kam es dann auch gleichzeitig aus drei Kehlen. »Nix da!«

Mir fiel ein Stein vom Herzen. Meine Sorgen waren unbegründet gewesen, es lief alles besser als ich mir vorgestellt hatte. Später meinte Thimo dann zu mir, dass das mal wieder typisch für mich sei. Ich müsste für alles und jede Eventualität einen Plan haben. Was soll ich sagen, er hatte Recht. Ich war froh, dass sich dieser Plan zum absolut Positiven entwickelte. Tim, Marcel und Kuki tauten auf und ließen ihre anfängliche Zurückhaltung fallen.

Zuerst saßen wir noch relativ verkrampft im Wohnzimmer, aber nach Ellens Essen, das sich als ausgesprochen leckerer und leichter Imbiss entpuppte, zogen wir uns in Thimos Reich im ersten Stock zurück und machten es uns dort gemütlich. Wir lagen aneinandergekuschelt. Tim hatte mich in seine Arme geschlossen, während Kuki mit seinem Kopf auf meinem Schoß lag. Marcel und Thimo hatten eine ähnliche Variante gewählt. Entspannt tauschten wir unsere Erlebnisse aus. Vieles wussten wir zwar durch zahlreiche Mails voneinander, aber manche Details muss man einfach von Angesicht zu Angesicht besprechen.

»Und wie geht es deinem Bein momentan?«

Diese Frage kam von Marcel. Ich hatte meine Schilderung der Ereignisse auf Fehmarn abgeschlossen. Tim und Kuki fügten hier und dort ein paar Details ein, die ich entweder vergessen hatte oder nicht so wichtig empfand.

»Soweit ganz gut. Ich sollte nachher noch den Verband wechseln, aber meine Ärztin meinte, die Wunde würde gut abheilen.«

»Schade ...«, Marcels Enttäuschung war offensichtlich.

»Ich hätte dich und Thimo zu gerne zusammen surfen gesehen?«

»Surfen?«, ich war plötzlich hellwach, obwohl wir mehr oder weniger seit 20 Stunden auf den Beinen waren. »Du hast einen Spot gefunden?«

Thimos fieses Grinsen sprach Bände.

»Surfen? Leute, es ist Winter! Draußen friert es!«, Kuki machte einen entsetzten Eindruck.

»Na und? Das Wasser hat immer noch 4 Grad, alles kein Problem mit den richtigen Klamotten. Aber mit dem Bein ... erstmal nicht.«

»Ähm, mal was ganz anderes ...«, Kuki gähnte müde. »Es ist inzwischen 23 Uhr Ortszeit, wir haben uns wacker gehalten und den Auswirkungen der Zeitverschiebung mit allen Mitteln widerstanden, doch jetzt fallen mir die Augen zu und morgen ist auch noch ein Tag.«

Kuki hatte Recht. Wir hatten die Zeit total vergessen. Während es in Portland nach Eastern Standard Time 23:15 war, war es in Berlin bereits Viertel nach fünf des nächsten Tages. Da wir an diesem Tag um 7 aufgestanden waren, waren wir also über 22 Stunden wach, die Nickerchen im Flugzeug ausgenommen. Thimo und Marcel sprangen auf und sorgten für unsere Unterkunft. Wir bekamen ein eigenes Zimmer, ebenfalls im ersten Stock direkt neben Thimos Reich. Es gab sogar eine Tür zwischen den beiden Räumen.

Hundemüde packten wir das Nötigste für die Nacht aus, sprangen schnell ins Bad, legten uns ins Bett und waren in weniger als einer viertel Stunde nach Kukis Bemerkung eingeschlafen.

Der nächste Morgen begann strahlend. Es hatte in der Nacht kräftig gefroren, das kleine Thermometer am Fensterrahmen unseres Zimmers zeigte allerdings 5 Grad. Ich wollte grade das Thermometer als billiges Schätzeisen verfluchen, da es draußen definitiv wesentlich kälter aussah, als mir einfiel, dass die Amis ja noch der Unsitte imperialer Maße und der Fahrenheitskala nachhingen.

»Minus 15 Celsius!«, meinte eine Stimme hinter meinem Rücken. »Na, hast du gut geschlafen?«

Ich drehte mich um und sah in Thimos Augen, außer ihm war niemand im Raum.

»Deine beiden Lieblinge sind schon zusammen mit Marcel unten. Es gibt gleich Frühstück«, antwortete Thimo auf meine Frage, die ich noch nicht gestellt hatte. »Ich musste doch mal nachsehen, ob du immer noch schläfst.«

Nein, das tat ich nicht. Stattdessen stand ich nur mit Shorts bekleidet mitten im Raum und Thimo vor mir. Weiche Knie waren vorprogrammiert.

»Du siehst gut aus. Was treibst du für Sport?«, fragte Thimo, während er mich mit seinen Augen streichelte.

»Schwimmen. Ich bin in Tims Verein eingetreten.«

»Du und das Wasser. Du kannst nicht ohne? Aber das Training bekommt dir gut. Netter Bauch ...«

»Musst du gerade sagen. Welchem Wohnzimmerschrank willst du eigentlich Konkurrenz machen?«

»Ist das so extrem?«

Ich musterte Thimo, der noch ein paar Schritte näher gekommen war. Seine Oberarme fochten einen unfairen Kampf mit den Ärmeln seines T-Shirts aus. Entweder waren die Ärmel zu klein oder seine Oberarme zu dick. Der Rest sah ähnlich aus. Thimo war immer sehr muskulös gewesen, aber inzwischen war er ein Tier. Ich sah Muskelgruppen unter seinem Stoff arbeiten, von denen ich nicht wusste, dass man diese überhaupt besaß.

»Nein, schlimmer ...«

Thimo zuckte mit den Schultern, was der Stoff seines T-Shirts mit einem fiesen Knirschen quittierte: »Es ist das Footballtraining.«

»Du hast es geschrieben. Außerdem hab' ich gehört, dass du der neue Quarterback bist.«

Thimo machte einen gequälten Eindruck: »Nur weil Scott tot ist. Er war ein Arschloch, aber auf dem Spielfeld war er ein Gott. Der Typ konnte kämpfen wie kein anderer.«

»Das kannst du auch. Ich kann mich daran erinnern, dass du um mich gekämpft hast ...«, ich musste an mein Coming-Out denken. Hätte Thimo mich damals nicht so hartnäckig zu einem Coming-Out ihm gegenüber genötigt, ich wäre immer noch eine Klemmschwester.

»Das war etwas anderes«, Thimo stand jetzt unmittelbar vor mir und grinste hinterhältig, »Ich dachte dabei völlig eigennützig. Schließlich wollte ich ja dich ...«

Wie sahen uns direkt in die Augen. In meinen Shorts bäumte sich etwas auf. Thimo nahm seine Hand und streichelte mir über meine Brust: »Mein Surfboy!«

»Thimo, ich ...«, Shit! Ich hätte Thimo die Klamotten vom Leib reißen können. Wir hätten uns dann aufs Bett geworfen oder gleich mitten im Zimmer miteinander ... aber wir taten es nicht. Thimo grinste mich an: »Also ist es wahr?«

»Was?«

»Was vor einem halben Jahr war, unsere gemeinsamen 6 Wochen, mehr wird es nicht mehr zwischen uns geben.«

»Ist das eine Frage?«

»Nein, eine Feststellung. Wir könnten dort in dieses Bett steigen ...«

»Ja, könnten wir ...«

»Wir würden poppen, dass die Wände wackeln ...«

»Wahrscheinlich ...«

»Aber es wäre nicht dasselbe wie damals, oder?«

Ich wusste, warum ich Thimo so liebte. Er war wirklich eine natürliche Ergänzung meiner selbst. Selbst nach sechs Monaten Trennung dachten wir immer noch das Gleiche. Auch diesmal hatte Thimo Recht und sprach lediglich aus, zu welchem Schluss ich ebenfalls gekommen war. Miteinander zu schlafen, so geil das auch sein würde, wäre nicht mehr das selbe wie früher. Thimo hatte Marcel und ich hatte Kuki und Tim. Jetzt der Lust nachzugeben, hätte geheißen, sie zu betrügen. Ein zu hoher Preis für 'ne schnelle Nummer. Dafür liebten wir unsere Jungs zu sehr.

Was blieb?

Wir umarmten uns, pressten unsere weitgehend bekleideten Körper aneinander, küssten uns recht tief, versanken nochmals für einen Moment im Rausch der Aura des jeweils anderen und trennten uns lächelnd.

»Ich bekomme 5 Dollar von euch!«, Kukis Stimme zerriss die Stille nach dem Kuss.

Thimo und ich schnellten synchron herum und sahen drei blöd grinsende Typen im Türrahmen stehen.

»Was?«, schrien wir überrascht.

»Wir drei, Marcel, Timmy und ich, hatten gewettet, dass ihr beiden euch nicht beherrschen könnt und auf eure Art Wiedersehen feiern würdet. Tim und Marcel meinten, ihr würdet es tun. Ich hab dagegen gehalten und gewonnen.«

»Ihr habt was? Gewettet, ob es uns überkommt und wir es miteinander treiben?«

»Yap!«, strahlten uns die drei an.

»Lag doch nahe, oder?«, setzte Timmy nach.

»Und wie ich das sehe, stand eure Entscheidung auf Messers Schneide, oder?«

»Öhm ...«

»Lasst es gut sein. Wir hätten es euch nicht übel genommen. Umso mehr fühlen wir uns natürlich geschmeichelt, dass ihr es nicht getan habt«, brachte Kuki die Sache auf den Punkt.

»Immerhin versteh ich jetzt eine Sache«, meinte Marcel zu Thimo.

»Und die wäre?«, fragte dieser.

»Warum du dich ursprünglich in mich verliebt hast«, Marcel stellte sich neben mich. Ich wusste was er meinte. Er war blond, hatte den Körperbau eines Schwimmers, war blauäugig ... er sah mir verdammt ähnlich oder ich ihm, je nachdem, von welchem Standpunkt man das sah.

»Ertappt«, schmunzelte Thimo, »Das galt aber nur am Anfang. Inzwischen ...«, und mit diesen Worten machte Thimo ein paar Schritte von mir weg auf Marcel zu, um seinen Kopf in seine beiden Hände zu nehmen, »... kann mich niemand mehr von dir trennen.«

8.28. Eine Stunde in praktischem Kapitalismus - "Unfriendly Takeover"

»Genau, Marcel hat Recht. Stellt euch mal nebeneinander!«, Timmy schob Thimo von Marcel weg und mich neben Marcel. Anschließend postierten sich Thimo, Kuki und Tim in ungefähr drei Metern Entfernung vor uns auf und musterten Marcel und mich ausgiebig.

»Schaut euch das mal an. Man würde die beiden zwar nicht für Zwillinge halten, aber für Brüder allemal«, Kuki bei der Fleischbeschau. »Dreht euch doch mal um, sodass wir euch von hinten sehen können.«

Was tut man nicht alles für seine Freunde. Wir drehten uns um.

»Oh, Shit!«, entfuhr es Timmy. »Wenn ich nicht wüsste, dass Sven derjenige ist, der nur seine Shorts anhat, ich könnte die beiden von hinten nicht auseinanderhalten.«

»Dann bespring mal nicht den Falschen!«

»Kuki, du bist ordinär!«

»Wenn die Herren mit ihren Betrachtungen dann fertig sind, dürfte ich mir dann was anziehen und frühstücken?«, mir knurrte nämlich der Magen.

»Richtig, Frühstück!«, fiel es Marcel wieder ein, »Wir waren eigentlich nur hochgekommen, um euch zu sagen, dass das Frühstück jetzt fertig ist!«

Vier Jungs tobten nach unten und ich schüttelte meinen Kopf. Kinder! Die waren zwar alle in meinem Alter, aber trotzdem, alles nur Kindsköpfe.

Ich zog mich in Ruhe an und folgte gemächlich dem Duft frisch gebrühten Kaffees. Neben den Jungs waren auch Ellen und ein Herr, der ungefähr in ihrem Alter war, anwesend.

»Paps!«, setzte Marcel an. »Darf ich dir Sven vorstellen.«

»Ah, Mr. Jacobsen, freut mich Sie kennenzulernen«, begrüßte mich Jimmy Reynolds.

»Sie können mich ruhig duzen.«

»Ok, also Sven, ich habe da noch ein paar Unterlagen zum Unterzeichnen.«

Marcel, Tim und Kuki starrten mich erstaunt an, starrten dann Jimmy an und schließlich wieder mich: »Was hast du mit meinem Paps zu tun?«

»Dein Paps ist zufällig mein Anwalt!«, ich zwinkerte Thimo zu. Jener lächelte mich dankbar an und meinte nur: »Danke Svenni, für alles!«

»Was geht hier vor?«, Marcel klopfte mit seinem Mittelfinger auf den Tisch.

»Ok, du sollst es erfahren. Wir haben keine Geheimnisse unter uns. Du weißt doch, was passierte, als man mich vor Gericht stellte?«

»Ja, nein, ich weiß nicht? Man hat dir die Anklageschrift vorgelesen und du hast auf unschuldig plädiert, oder?«

»Ja, aber außerdem wurde eine Kaution festgesetzt ...«

Marcel machte ganz große Augen: »Sven hat deine Kaution gestellt? Aber Moment mal, das waren 100.000 Dollar! Die zahlt der einfach so?«

»Es war das mindeste, was ich für Thimo machen konnte. Ich sah darin auch kein Risiko, denn ich weiß, dass Thimo niemals jemanden töten könnte.«

Tim knuffte mich in die Seite: »Ich wusste ja, dass du was von deiner Tante geerbt hast, aber einfach mal 100.000 Öcken locker machen ... Respekt, Alter!«

»Timmy, ich sag es ja nur ungern, aber die 100.000 Öcken waren Peanuts!«

»Umpf!«, Timmy verschluckte sich an seinem Pfannkuchen mit Ahornsirup.

»Was steht denn heute überhaupt an?«, lenkte Kuki das Thema in eine andere Richtung.

Thimo lehnte sich zurück, mampfte einen Happen Muffin zu Ende und meinte dann: »Marcel und ich dachten, wir zeigen euch ein bisschen was von Portland. Besuchen ein paar unserer Freunde. Allerdings müssen wir gleich noch in die Schule.«

»Heute? Ich denke, ihr habt Weihnachtsferien?«, Tim und Kuki waren überrascht, und auch Marcels Mimik drückte Verwunderung aus.

»Das ist richtig. Es ist auch kein Unterricht. Heute tagt der Vorstand und entscheidet, ob ich an der Liberty High bleiben darf oder nicht. Es liegt ein Antrag vor, mich wegen grober Verfehlungen von Anstand und Sitte der Schule zu verweisen. Ach ja, Marcel, dich hat man auch vorgeladen.«

»Das ist heute?«, Marcels Stimmung rasselte in den Keller. »Paps, ich will nicht. Da steckt doch Mutter wieder dahinter. Sie will mich gegen Thimo benutzen.«

Jimmy Reynolds grinste wissend: »Ich glaube, darum wirst du dir keine Sorgen machen müssen.«

Ich grinste ebenfalls, genauso wie Thimo.

»Die haben doch was ausgeheckt!«, murmelte Kuki.

»Findet es doch raus. Ihr kommt natürlich mit ...«

Zwei Stunden später betraten Jimmy Reynolds, Tim, Kuki, Marcel, Thimo, seine Mutter und ich die Liberty High. Ohne den Lärm und das Chaos der sie sonst bevölkernden Schülerschaft wirkte Thimos Highschool bedrückend. Ein kalter Betonsarg ohne Seele. Wir schlichen durch endlose Gänge und Flure. Als ich den Laden in seiner ganzen Monstrosität sah, kamen mir gewisse Zweifel, ob meine Idee, die ich gerade dabei war durchzuführen, wirklich so gut war. Doch für solche Zweifel war es jetzt zu spät. Ich hatte die Verträge unterzeichnet. Die Show konnte beginnen.

Konferenzraum A II befand sich im Verwaltungstrakt, gleich neben Franklins Büro. Wofür man auf dieser Schule alles Geld ausgegeben hatte, war schon erstaunlich. Der Raum war kein Raum, sondern ein Saal. Ein riesiger ovaler Tisch, eigentlich ein Tischband, denn die Mitte war leer, respektive mit einem Blumengesteck geschmückt, prägte das Bild des Raumes. An jedem Sitzplatz gab es ein Mikrofon, eine Leselampe und eine Schreibunterlage. An der einen Stirnseite des Raumes befanden sich eine Stifttafel und eine Leinwand, die elektrisch ausgefahren werden konnte. Unter der Decke hing ein fetter Videobeamer. An der anderen Seite des Tisches, sozusagen der Tafel gegenüber, befand sich der Sitzplatz für den Diskussions- bzw. Besprechungsleiter. Vor ihm war eine Schaltkonsole für die Mikrofonanlage und die Multimediaausstattung eingelassen. Auf dem Stuhl hinter diesem Platz thronte Prinzipal Franklin, wie mir Thimo ins Ohr flüsterte. Ihm zur Seite saßen die unterschiedlichsten Leute, von denen Thimo auch nicht wusste, wer wer war. Eine Ausnahme war Marcels Mutter, die zwei Plätze rechts von Franklin saß und Thimo und Marcel einen angewiderten Blick zuwarf.

»Wer sind all diese Leute? Frau Camron-Bach, dies ist kein Kindergeburtstag!«, Franklin sparte sich eine Begrüßung.

»Mr. Franklin, ich freue mich auch, Sie zu sehen. Danke der Nachfrage, ja mir geht es gut.«

Franklin knurrte: »Bitte, sparen wir uns doch diesen billigen Zynismus.«

»Nun gut, wie Sie wünschen. Warum ich mit so vielen Personen erschienen bin? Wenn ich das Thema dieser Sitzung richtig verstanden habe, dann soll es doch vordringlich um die charakterlichen Qualitäten und Mängel meines Sohnes gehen. Ich möchte natürlich nicht gegen die Geschäftsordnung verstoßen, daher habe ich mir den Abschnitt aus der Schulsatzung für diese Art von Sitzungen notiert. Da heißt es wörtlich ,der betreffende Schüler bzw. sein gesetzlicher Vertreter, kann Personen benennen, die vom Vorstand zu dem ihm zur Last gelegten Verfehlungen gehört werden müssen.` Ich habe das doch nicht etwa falsch interpretiert?«

Franklin konnte sich ein anzügliches Grinsen nicht verkneifen: »Und wer sind diese Personen?«

Ellen stellte Marcel, Thimo, Kuki und mich vor. Natürlich war das hoch gepokert, da eigentlich nur Marcel und ich etwas zu Thimo sagen konnten.

»Und wer sind Sie?«, diese Frage ging an Jimmy Reynolds.

»Das ist mein Mann!«, fauchte eine Frau, die ich damit als Marcels Mutter identifizierte. Der arme Junge, die Frau war ein Drache, »James Fennymore Reynolds, was um Gottes Willen treibst du hier?«

»Gott hat damit nichts zu tun, mein Schatz, sondern ein Mandant. Ich vertrete die Interessen eines Aktionärs dieses Unternehmens. Hier ist meine Legitimation. Gemäß Satzung haben Aktionäre mit einem Mindeststimmrechtsanteil von 5 Prozent das verbriefte Recht der Teilnahme an Sitzungen des Vorstandes. Sie sind berechtigt, ihre Stimme von einem Vertreter, der Volljurist sein muss, wahrnehmen zu lassen. Aber, Mr. Franklin, Sie kennen ja die Satzung.«

»In der Tat. Wie ich sehe, ist ihre Legitimation in Ordnung. Haben wir noch einen Platz für Mr. Reynolds frei? Ah, da hinten auf der rechten Seite. Gut, dann können wir beginnen. Einziger Tagespunkt der heutigen Sitzung ist der Schüler Thimo Camron-Bach. Dem Vorstandsvorsitzenden, das bin ich, wurde ein Entschließungsantrag eingereicht, wonach der genannte Schüler wegen fortgesetzten moralischen, ethischen und sozialen Fehlverhaltens von dieser Schule ausgeschlossen werden soll. Erweitert wurde der Antrag um eine Forderung von Schadensersatz für dem der Schule zugefügten Imageschaden durch eben jenen Thimo Camron-Bach. Diese Forderung soll zivilrechtlich gegen die Erziehungsberechtigte durchgesetzt werden.«

Der Typ war ja ekelhaft. Thimos Beschreibung in verschiedenen E-Mails von Franklin kam dessen wahrer Ekelhaftigkeit nicht mal annähernd nahe. Thimo moralisches und ethisches Fehlverhalten vorzuwerfen war einfach absurd. Ich kenne niemanden, der ethischer ist als Thimo. Da könnte sich sogar der Dalai-Lama noch ne Scheibe von abschneiden.

Die fette Qualle Franklin laberte weiter: »Vielleicht wäre es ganz gut, wenn Sie, Mrs. Reynolds ihren Antrag kurz begründen würden.«

Marcels Mum räusperte sich, brachte sich in Positur und legte los: »Thimo Camron-Bach ist homosexuell!«

Wie, das war alles? Für Mrs. Reynolds offensichtlich schon. Das Wort »homosexuell« vereinte offenbar moralisches, ethisches und soziales Fehlverhalten in sich. Imageschädigend war es natürlich auch. So einfach, wie Mrs. Reynolds die Welt darstellte, war sie dann allerdings doch nicht. Selbst Franklin war die Erklärung ein klein wenig zu knapp: »Und?«

»Was und? Ich habe es doch eben gerade klar und deutlich gesagt. Dieser Schüler ist ho-mo-sex-u-ell! Er macht noch nicht einmal ein Geheimnis daraus. Sie sehen doch, wohin das geführt hat. Mord und Totschlag! An unserer Schule! Sie haben es mir doch vor Weihnachten deutlich geschildert, wie er die ganze Schülerschaft in Aufruhr versetzt hat. Andere Schüler ermuntert hat, zu glauben, sie seien auch so welche. Und dann tyrannisiert er die besten Schüler unserer Schule. Wir wissen doch alle, wie er Brandon zugesetzt hat. Aber nicht nur das. Nein. Was ist mit Scott? Gut das Gericht hat anders entschieden. Ein Formfehler! Naja, so kommen die meisten Mörder ja frei. Dabei weiß doch jeder, dass er Scott umgebracht hat. Und warum? Weil er, Scott, meinen Sohn vor ihm und seiner Perversion schützen wollte. Ich ...«

»Cynthia, halt’s Maul!«

Alle Blicke richteten sich auf James Fennymore Reynolds. Jener hatte, entsetzt von der abgrundtiefen Naivität seiner Frau seinen Kopf auf seine Hände gestützt und schaute erschöpft auf die Schreibfläche vor seinen Augen.

»Was?«, kreischte Marcels Mutter.

»Halt die Klappe!«

»Was wagst du mich in diesem Ton vor all den Leuten ...«

»Schnauze!«, Jimmy Reynolds war der Mount St. Helens. Nach Jahrhunderten der Stille, der scheinbar erloschenen Urgewalt brach es wie eine pyroklastische Explosion aus ihm hervor: »Cynthia, ich sag es dir nur ein einziges Mal. Halt bitte dein Mundwerk. Du hast keine, wirklich nicht die geringste Ahnung, was an dieser Schule wirklich gelaufen ist. Du kennst nicht einmal deinen Sohn, wenn du glaubst, dass Scott ihn vor Thimo beschützen wollte. Du befindest dich mit deinem Weltbild soweit außerhalb jeglicher Realität, dass es mir weh tut. Bitte, sei einfach still.«

Das saß. Das erste Mal wagte Cynthia Reynolds nicht, ihren Ehemann in Grund und Boden zu quasseln.

Jimmy sprach den Vorstand an: »So, sehe ich das richtig? Wenn man die rhetorische Vernebelung wegpustet, bleibt eigentlich nur übrig, dass Sie Thimo loswerden wollen, weil er schwul ist?«

»Sie haben es erfasst!«, nahm Franklin die Gesprächsleitung wieder auf. »Reynolds, tun Sie doch nicht so scheinheilig, wir betreiben hier ein Unternehmen. Ich habe dem Kleinen klipp und klar gesagt, dass es mir egal ist, mit wem er was treibt, Hauptsache, er macht es diskret. Aber Thimo musste ja einen regelrechten Kreuzzug daraus machen. Wissen Sie, dass seit seiner vorweihnachtlichen offenen Verkündung vor versammelter Schülerschaft mein Telefon nicht mehr stillsteht. Jeder Elternvertreter will wissen, was für eine merkwürdige Schule das ist, an der man solche Typen zulässt. Mensch Reynolds, ich bin nicht so konservativ, wie Sie denken. Nur denken nicht alle so wie ich. Es gibt Eltern, die haben ein traditionelleres Bild von Moral, Anstand und Sitte. Darauf müssen wir Rücksicht nehmen, und da Thimo dies nicht kann oder will, muss er halt gehen.«

Neben Franklin nickte ein weißhaariger älterer Herr: »Für mich und meine ethischen Überzeugungen ist es unmöglich, meinen Sohn weiter auf dieser Schule zu lassen, wenn derartige Abartigkeiten an dieser Schule üblich sind. Ich sehe mich natürlich auch gezwungen, meine erheblichen finanziellen Zuwendungen zu dieser Einrichtung zu überdenken. Ich kann keine Schule unterstützen, die meine Vorstellungen von Moral nicht teilt.«

»Und Sie sind?«

»Hank van Geldern.«, Ray van Gelderns Vater, aus Südafrika emigrierter rassistischer Bure mit nationalsozialistischer Gedankenwelt.

»Dann nehme ich an, dass Sie Edward McCarthy sind?«, richtete sich Jimmy an den Herrn neben van Geldern.

»Sie vermuten richtig. Darf ich fragen, warum?«

»Nur der Information halber ...«, bei Jimmy schlug wieder der Spitzbube durch. Genüsslich massierte Jimmy sein Kinn.

»Gut, kommen wir zur Abstimmung?«

»Darf ich vorher noch etwas dazu sagen oder bin ich hier nur ein Objekt?«, Thimo hielt es nicht mehr auf seinem Platz.

»Wenn es sich nicht vermeiden lässt«, Franklin macht einen gequälten Gesichtsausdruck. »Aber bleib beim Thema!«

»Selbstverständlich!«, Thimo warf mir einen hintersinnigen Blick zu und ich nickte ihm als Bestätigung zu.

»Sie unterschätzen uns! Sie unterschätzen uns Schüler, ihre Töchter und Söhne. Sie brauchen sie nicht vor mir oder irgendjemand anderem zu schützen, der schwul ist. Wirklich nicht. Wir, die Schüler dieser Schule wissen ganz genau, wer gut und wer böse ist. Die sexuelle Orientierung hat damit nichts zu tun. Ich würde mir eher die Frage stellen, ob Drogen- und Waffenhandel, ob Erpressung, Nötigung, Vergewaltigung oder Körperverletzung an eine Schule gehören. Denn genau das passiert hier. Jeden Tag. Nur wird dies nicht hinterfragt. Warum? Weil die Schüler, die so etwas tun, einflussreiche Eltern haben? Möglicherweise im Vorstand sitzen? Weil eingeschüchterte Schüler leichter zu manipulieren und zu steuern sind? Geben Sie es zu! Sie alle! Sie wollen mich nicht loswerden, weil ich schwul bin. Das ist lächerlich. Sie wissen doch ganz genau, dass ich nicht der Einzige bin. Nein, Sie wollen mich loswerden, weil ich durch Zufall ihr reibungsloses System gestört habe. Ich ...«

»Das reicht!«, unterbrach Franklin. »Wenn du dein Rederecht missbrauchst, um hier haltlose und unverschämte Anschuldigungen auszusprechen, dann muss ich dir das Wort entziehen. Wir kommen jetzt ...«

»Franklin?«, unterbrach Thimo seinen Schulprinzipal mit lauter Stimme, denn dieser hatte ihm sein Mikro abgeschaltet.

»Ja?«

»Sie sind gefeuert!«

Es wurde totenstill. Franklin starrte Thimo entgeistert an. Er wollte nicht glauben, was er soeben gehört hatte.

»Was hast du gesagt?«

»Sie sind gefeuert! Entlassen, wenn Sie das besser verstehen. Ach ja, der Antrag, mich von der Schule zu verweisen ist abgelehnt!«

Franklin brach in schallendes Gelächter aus: »Kleiner, bist du jetzt größenwahnsinnig geworden? Du schaust wohl zu viele schlechte Filme. Ich und entlassen. Sei froh, wenn ich dich nicht vom Sicherheitsdienst rauswerfen lasse und jetzt verschwinde.«

Thimo blieb gelassen. Statt auf Franklin einzugehen, der sich vor Lachen kringelte, blickte er zu mir herüber. Das war mein Stichwort.

»Mr. Franklin, das würde ich an Ihrer Stelle lassen. Wenn ich mich kurz vorstellen darf, ich bin Sven Jacobsen und seit heute Morgen Mehrheitsaktionär dieses Unternehmens. Mr. Reynolds kennen Sie ja bereits, er ist mein rechtlicher Beistand und verfügt über die notwendigen Vollmachten, im Namen meiner elterlichen Vertreter zu agieren. Ich bin schließlich noch nicht volljährig und sowohl nach deutschem und auch amerikanischem Recht nicht geschäftsfähig. Aber das ist nur ein formales Problem, denn meine Entscheidung ist auch die Entscheidung meiner Eltern und wird jederzeit von Mr. Reynolds bestätigt werden. Entschuldigen Sie, dass ich es Ihnen nicht selbst gesagt habe, dass Sie gefeuert sind, aber diese kleine Genugtuung wollte ich dann doch meinem Freund Thimo überlassen.«

»Wow!«, schrie Marcel auf. »Du hast den Laden gekauft?«

»Yap! War gar nicht so teuer. Als wir dahinter gekommen sind, dass diese Schule eine Scheinfirma ist, schrumpfte der Wert recht schnell zusammen. Nicht wahr Mr. van Geldern?«

Der Angesprochene wurde blass, ebenso McCarthy. Zur gleichen Zeit fanden in den Geschäftsräumen und Wohnhäusern von van Geldern und McCarthy Hausdurchsuchungen von FBI, Zoll und Steuerfahndung statt. Auf die Spur hatte uns die Geschichte von Alex gebracht, als er Thimo und Marcel erzählt hatte, dass Ray und Brandon mit Waffen handelten. Als Marcel dies seinem Vater erzählte, begannen seine grauen Zellen zu arbeiten und er begann zu telefonieren. Jimmy schien über erstaunliche Kontakte zu verfügen, denn kurze Zeit später erhielten Alex, Thimo, Marcel und Wollmütze Besuch vom Außenministerium, FBI, DEA und anderen, geheimeren Dienststellen. Ihre Informationen lieferten die letzten Mosaiksteinchen zu einem Puzzle, an dem verschiedene Strafverfolgungsbehörden seit langem zugange waren.

Wie es aussah, nutzte Hank van Geldern seine Kontakte nach Johannesburg, um mit geschmuggelten Rohdiamanten ins Waffengeschäft einzusteigen. Der alte Rassist träumte davon, die Republik Südafrika wieder in einen Burenstaat mit strenger Rassentrennung zurück zu verwandeln. Er versorgte weiße, rechtsextreme Rassisten mit Waffen, während diese ihn mit Diamanten bezahlten. Alles natürlich vorbei an der Steuer und mit einem Aufschlag für sein eigenes Vermögen. Ein Problem stellte aber die Umwandlung des illegalen Geldes in sauberes dar, also dem alten Problem der Geldwäsche.

An dieser Stelle kamen die Liberty High, McCarthy und Prinzipal Franklin ins Spiel. Das illegale Geld wurde als Spende von ehemaligen Schülern, die jetzt im Ausland lebten, deklariert. Es waren erhebliche Spenden, aber die Schule hatte auch erhebliche Ausgaben. Ständig wurden Investitionen getätigt. Erstaunlicherweise wurden aber immer nur zwei Firmen mit Aufträgen bedacht: McCarthy Industrial und Burex International. Noch erstaunlicher war, dass diese Firmen meist das doppelte bis dreifache des üblichen Marktpreises verlangten.

So wurde schwarzes Geld plötzlich weiß. Und alle waren zufrieden. Bis Thimo aufkreuzte und das ganze System durch Zufall ins Wanken brachte.

Mein Interesse an alldem war, eine Schule zu retten, denn nachdem die Mauscheleien aufgeflogen waren, war die Liberty High faktisch pleite. Auf der anderen Seite war aber gleichzeitig noch dieses astronomische Vermögen, das mir meiner Tante hinterlassen hatte. So viel Kohle braucht kein Mensch. Also kaufte ich die Mehrheit der Aktien. Ein klassisches unfriendly takeover. Den Laden zu kaufen war sowas von einfach: Den größten Teil der Aktien hielten Banken. Sie hatten einen Aktienstock als Sicherheit für diverse Investitionskredite erhalten. Diese stammten noch aus einer Zeit, bevor Franklin & Co mit ihrer Geldwäsche begonnen hatten. Nachdem jene Banken, die die ganzen Jahre über satte Gewinne mit der Liberty High gemacht hatten, von den Unregelmäßigkeiten erfuhren, bekamen sie sofort kalte Füße und trennten sich mehr als bereitwillig von ihren Aktienpaketen. In der Zwischenzeit hatten Buchprüfer der Firma meines Vaters die Schule genauer durchleuchtet und errechnet, dass ich ein echtes Schnäppchen gemacht hatte. Eine Tatsache, die wir den Banken natürlich nicht auf die Nase banden. Die Schule war eine Gewinnmaschine. Hätten sich Franklin, van Geldern und McCarthy nicht dermaßen schamlos bedient und sogar mehr Geld aus der Schule abgepumpt, als sie mit ihren Schiebereien reingepumpt hatten, wäre der Laden niemals in Insolvenzgefahr geraten.

Was soll's, mir gehörte plötzlich eine Schule. Und einen Oberarsch von Direktor feuern zu können, das war echt geil!

8.29. Sylvester

Und plötzlich stand Sylvester vor der Tür. Die Sache mit der Schule hatte uns zwei Tage mehr oder weniger in Atem gehalten, dass wir überhaupt nicht mitbekamen, wie die Zeit raste. Mit einem Mal war es der 31.12. und wir hatten überhaupt nichts vorbereitet.

Und es gab viel vorzubereiten. Schließlich wollten wir eine fette Sylvesterfete für alle unsere Freunde geben. Zwangsläufig brach also am Morgen des einunddreißigsten nervöse Hektik aus. Alle zeterten und schrien durcheinander, bis Thimo ein Machtwort sprach.

»Leute, Ruhe! Es gibt keinen Grund zur Panik.«

Wir wurden still und lauschten unserem allerliebsten Footballtier.

»Ich habe gerade mit Rob und mit Alex gesprochen. Sie werden gleich mit ihren Autos vorbeikommen und uns beim Einkaufen und Organisieren helfen. Wir bilden vier Teams. Drei nehmen die Autos, eines bereitet hier alles vor. Mein Vorschlag wäre, dass sich unsere ortsunkundigen europäischen Gäste auf die vier Gruppen verteilen.«

»Thimo, du bist ja sowas von vernünftig.«

»Und du, Svenni, bist ein Chaot, aber ein lieber. Alles ok, soweit?«

»Ja, Massa!«

Wenig später tauchte Rob auf. Endlich lernten wir den Berufszyniker der Liberty High persönlich kennen. Thimo hatte nicht übertrieben, kaum war er da, kam er auf mich zu: »Du bist also dieser ominöse Svenni. Ich hab' gehört, du hast unsere Schule gekauft?«

»Könnte man so sagen ...«

»Cool, dann feuer doch bitte den Küchenchef, meine Lateinlehrerin und unseren Kotzbrocken von Hausmeister ...«

»Nö!«

»Aber die sind echt Scheiße!«

»Mag sein, aber wenn ich jeden entlassen würde, der einen unserer Schüler angepinkelt oder auch nur mal 'ne schlechte Zensur gegeben hat, wäre der Laden in Null-Komma-Nix leer. Außerdem wäre es nicht fair. Oh Mann, ich hätte das nie gedacht, dass das so hart ist. Aber ich bin jetzt ein Arbeitgeber. Weißt du was ich gestern den ganzen Tag gemacht habe? Ich saß in einer Personalratssitzung. Von 10 Uhr bis nachmittags um 4. Jeder wollte jetzt wissen, wie es mit der Liberty High weitergehen wird. Ob ich massenweise Entlassungen plane. Wie es überhaupt angehen könne, dass ein minderjähriger Schüler eine Schule kauft. Ein Teil, insbesondere Lehrer, haben mich nicht mal ernst genommen, sodass Jimmy, Marcels Paps, denen erst einmal auf die Finger klopfen musste. Was mir am Anfang gar nicht so klar war, ist, das sind Menschen, nicht nur Lehrer oder Hausmeister. Die Leute haben Familien und müssen die auch ernähren. Ich sag' dir, Verantwortung zu haben ist scheiße.«

»Du hast es für Thimo getan?«

»Mehr oder weniger ...«

Rob, ein Typ, den ich erst seit fünf Minuten kannte, schlug mir mit seiner nächsten Bemerkung die Beine weg: »Du musst ihn immer noch abgrundtief lieben.«

Ich stöhnte auf und seufzte: »Ja, vielleicht. Sieh ihn dir an ...«, ich zeigte auf Thimo, der ein paar Meter entfernt mit Marcel sprach. »Ist er nicht ein Traum? Es ist gar nicht mal sein Aussehen, das ist reine Geschmackssache. Sieh, wie er mit Marcel spricht. Er hört zu. Das macht er immer! Er redet nicht einfach mit einem, er hört einem immer ganz genau zu. Oder die Sache, die er im Gericht getan hat. Einfach zu schreien: ,Ok, ich war es, aber lasst Marcel zufrieden!` Das ist typisch, das versteht er unter Freundschaft. Oder was letzte Woche in der Cafeteria passierte. Typisch Thimo ...«

»Du lenkst ab ...«

Erwischt! Rob konnte man nichts vormachen: »Ok, du hast Recht. Ich liebe ihn immer noch. Wenn ich Marcel und Thimo zusammen sehe, wünschte ich, ich wäre Marcel. Auf der einen Seite freu ich mich, dass die beiden zusammengefunden haben, auf der anderen Seite könnte ich vor Schmerzen losbrüllen.«

»Thimo weiß das?«

»Klar weiß er das! Es ist Thimo, der kennt mich besser als ich mich selbst.«

»Du bist echt cool, weißt du das?«

»Hey, danke! Und du bist dir wirklich sicher, dass du nicht schwul bist? Du sollst ja verdammt gut küssen können ...«

Rob wurde krebsrot. Meine letzte Bemerkung machte ihn richtig verlegen. Schüchtern murmelte er: »Im Moment halt ich mich noch für hetero. Aber wenn ich euch alle so sehe ...«

»Lass gut sein! Das musst du wissen.«

»Klar!«

Rob war cool. Ich entschied mich, mich seiner Einkaufsgruppe anzuschließen, zu der auch noch Tom und Peter gehörten. Ein absoluter Chaotenhaufen. Ihren Einkaufsstil konnte man eigentlich nur als »Entropisches Shoppen« bezeichnen: Man sorgt in einem Laden für maximales Durcheinander und plötzlich ist der Einkaufswagen auf wundersame Weise mit allem was man haben wollte gefüllt. Keine Ahnung, wie das funktionierte, aber es wirkte.

Tim und Kuki hatten sich Alex und Mig angeschlossen. Wollmütze Miguel war völlig scharf auf Kukis Piercings. Weswegen Tim und ich übereinstimmend meinten: »Noch ein Opfer!«

Gegen fünf Uhr nachmittags war das Haus der Camron-Bachs das reinste Wespennest. Überall wuselte, schwirrte und krabbelte es. Girlanden, Luftschlangen, Lampions wurden aufgehängt, eine Bar mit überwiegend nichtalkoholischen Getränken aufgebaut. Ein Raum wurde zur Buffetausgabe umfunktioniert. Auf den Tischen des Buffets wurden von Ellen allerlei Speisen aufgeschichtet.

Und schließlich ging die Party los.

Ein Gast nach dem anderen trudelte ein. Natürlich kam die komplette Losergang. Rob stellte mir einen nach dem anderen vor.

»Fehlt da nicht noch Jana?«, fragte ich ihn, nachdem wir alle Leute durchhatten.

»Stimmt, ich hab' sie noch gar nicht gesehen. Na, sie kommt sicherlich auch bald.«

In diesem Moment knallte eine Pranke auf meine Schulter: »Hi, Marcel ...«

Ich drehte mich um und sah in das verblüffte Gesicht eines gigantischen Fleischberges, der überraschenderweise sprechen konnte: »Du bist nicht Marcel!«

»Nein, ich bin Sven und du?«

»Sam, Samuel del Ray! Wow, von hinten hab ich dich für Marcel gehalten. Thimo Babys Geschmack was Männer betrifft scheint dann wohl eindeutig geklärt zu sein.«

Und so ging es weiter. Mehr und mehr Leute kamen und alle waren wirklich gut drauf. Thimo hatte sich einen guten Freundeskreis ausgesucht und ich war ein klein wenig stolz auf ihn - neidisch natürlich auch. Das Beste war, dass man Tim, Kuki und mich sofort in ihren Kreis aufnahm. Und zwar nicht, weil wir Thimos Freunde waren, sondern einzig und allein unseretwegen.

Die Party nahm ihren Lauf. Noch eine Stunde und das alte Jahr war Geschichte. Thimo war gerade dabei, eine Lobrede auf Sam zu geben. Er forderte Sam tatsächlich auf, als Schulsprecher zu kandidieren. Nach allem, was ich von Sam wusste, war er die beste Wahl, die man treffen konnte.

In mich hineinlächelnd zog ich mich etwas aus dem Trubel der Rede zurück und ging meinen Teller mit einem leckeren Dessert vom Buffet befüllen. Offensichtlich lauschten alle anderen Thimos Rede, der Raum mit den Leckereien war vollkommen leer. So stand ich vor Puddingen, Pies, Pfannkuchen, süßen Frucht-, Karamell- und Schokosaucen, hatte die geilsten Eissorten vor der Nase und konnte mich nicht entscheiden.

»Hallo Marcel ...«, flüsterte eine sanfte, leise Frauenstimme hinter mir.

»Bitte, nicht schon wieder!«, dachte ich bei mir und wollte mich umdrehen, um das Missverständnis, diese andauernde und wiederholte Personenverwechselung aufzuklären.

»Nein, dreh' dich nicht um!«, die Stimme wurde kaum lauter, aber sie enthielt etwas zwingendes, das mich daran hinderte, meinem Wunsch nachzugeben und mich umzudrehen.

»Wenn du dich umdrehst, geh' ich sofort. Ich muss dir etwas sagen. Etwas, das ich dir nicht in die Augen sagen kann ...«

Ich drehte mich also nicht um. Ich ließ meine Schultern hängen, was von meiner unbekannten Sprecherin als Aufforderung gewertet wurde, weiterzusprechen.

»Ich will nicht, dass Unwissenheit zwischen dir und Thimo steht. Du musst Gewissheit haben. Thimo hat Scott nicht ermordet.«

Ich erstarrte. Die Raumtemperatur schien innerhalb weniger Sekunden um mehrere Grad gefallen zu sein.

»Ich ... ich konnte es nicht mehr mit ansehen. Wie dieses Schwein dich quälte. Ich konnte doch nicht wissen, dass man Thimo für den Täter halten würde. Ja, ich war's. Es tut mir auch nicht leid. Ich würde es wieder tun. Dir zu liebe. Marcel, ich weiß, dass da nie etwas zwischen uns werden wird. Aber ich liebe dich! Ich ...«

Die Stimme erstarb in einem Schluchzen. Ich wollte mich gerade umdrehen, stellte aber fest, dass mich die Worte der unbekannten Frau paralysiert hatten. Ich konnte mich keinen Millimeter bewegen.

»Hi, Jana, bist du doch noch gekommen. Nanu, was ist denn mit ...«, Robs Stimme brach den Bann, der mich lähmte. Ich fuhr herum, sah aber nur noch den flüchtenden Rücken eines Mädchens, das in der Menschenmasse der Party verschwand.

»Das war Jana?«

Rob nickte, starrte mich dabei skeptisch an: »Ist etwas? Du bist ganz bleich.«

»Nein, es ist nichts ... entschuldige ...«, ich ließ Rob einfach stehen. »Ich muss dringend Thimo sprechen!«

Ich jagte hinaus und fand ihn zwischen seinen Mannschaftskollegen.

»Thimo, ich muss dich unbedingt unter vier Augen sprechen.«

»Jetzt?«, kam es erstaunt zurück. Doch Thimo wäre nicht Thimo, wenn er nicht sofort gespürt hätte, dass die Sache wichtig war.

»Jetzt!«

»Entschuldigt mich kurz ...«

Wir gingen in sein Zimmer. Ich vergewisserte mich, dass niemand anderes im Raum war, und lehnte mich sogar vorsichtshalber gegen seine Zimmertür.

»Schieß los, was ist so wichtig? Du siehst aus, als wenn du ein Geist gesehen hättest!«

»Gesehen nicht, aber gehört!«

Ich erzählte, was geschehen war. Thimo reagierte, wie ich es erwartet hatte. Er war genauso entsetzt, bestürzt und fertig wie ich. Als ich mit meinem Bericht fertig war, war Thimo es auch. Total fertig. Er hatte weiche Knie bekommen und musste sich erst einmal auf sein Bett setzen.

Leise, seinen Blick nach innen gerichtet, sprach er wie zu sich selbst: »Ich habe es geahnt. Ich habe es immer gewusst, hab' mich aber selbst belogen, weil ich es nicht wahr haben wollte. Mein Gott! Jana, was hast du getan?«

»Was wirst du tun?«

»Gute Frage, nächste Frage ...«, Thimo schüttelte seinen Kopf. »Ich bin kein Ankläger und ich bin auch kein Richter. Wenn es nach mir geht, sollte diese Geschichte niemals die vier Wände dieses Hauses verlassen.«

»Du billigst, was sie getan hat?«

»Nein, auf keinen Fall! Doch was bringt es, Jana hinter Gitter zu bringen? Wird Scott dadurch wieder lebendig? Wenn Jana hingerichtet würde, würde das den Tod von Scott ausgleichen? Ungeschehen machen?«

»Nein, sicherlich nicht. Ich glaube eher, dass die Schuld Jana nachlaufen wird. Sie wird sie einholen und ewig quälen.«

»Das hat sie doch schon. So, wie sie mit dir gesprochen hat ... es wird sie zerbrechen, früher oder später. Und noch ein Opfer dieser unsäglichen Geschichte ...«

»Und Marcel? Soll er es erfahren?«

»Ja! Ich werde ihn niemals hintergehen oder anlügen. Er wird es erfahren, aber nicht sofort. Nicht jetzt. Er würde sich die Schuld geben und unter dieser Schuld ebenfalls zerbrechen.«

»Thimo?«, ich hatte mich vor Thimo hingehockt. Er saß nach wie vor auf seinem Bett.

»Ja?«

»Du bist ...«

»Nein, rede nicht weiter. Ich bin das, was du bist und du bist das, was ich bin. Wir sind die zwei Seiten ein und derselben Medaille. Wir waren es immer und wir werden es immer sein. Egal, wie viele Ozeane uns trennen mögen. Uns verbindet mehr als nur Liebe, das ist der Grund, warum wir unseren Träumen Liebe geben können. Du zu Tim und Kuki und ich zu Marcel. Doch wir beide ...«

Er sprach nicht weiter. Wir umarmten uns, küssten uns, gingen wieder nach unten, wo die Party ihren Höhepunkt erreichte. Thimo schnappte sich seinen Marcel und ich mir Kuki und Tim. Sie sahen uns an und erkannten etwas in unseren Augen, in unserem Lächeln. Sie verstanden und fragten nicht nach.

Und dann war es soweit. Neujahr. Das Ende eines Jahres und der Anfang eines neuen und der Anfang neuer Träume, Wünsche und Hoffnungen.

Epilog

Ein halbes Jahr später

Jana war verschwunden. Das war die größte Überraschung. Vier Wochen später erhielt Thimo von ihr einen Brief aus Wien. Sie hatte sich abgesetzt, wollte aber noch erklären, was nach dem Finalspiel wirklich passiert war. Jana hatte die Diskussion mit Thimo, Marcel und Scott auf dem Spielfeld mitbekommen und, ähnlich wie Staatsanwalt Tanner, die Szene völlig falsch interpretiert. Sie konnte nicht wissen, dass Scott Marcel um Verzeihung gebeten hatte. Sie dachte, er würde Thimo und Marcel unter Druck setzen, ihre Beziehung zerstören oder vielleicht sogar noch schlimmeres tun.

Geblendet von ihrer Wut und ihrem Hass auf Scott, fuhr sie zu ihm und stellte ihn zur Rede. Dort angekommen überhäufte sie Scott mit Vorwürfen und Anschuldigungen. Sein verständliches Leugnen wertete sie natürlich als Bestätigung für ihre Vermutung. Sie rastete aus, sah ein Messer auf Scotts Schreibtisch liegen und stach zu. Das Blut sprudelte nur so aus ihm heraus, er wusste, dass er starb. Das Letzte was er sagte war: »Es tut mir leid!«

Im Nachhinein ist nicht ganz klar, ob Jana damals schon erkannt hatte, dass Scott komplexer und gebrochener war, als sie sich vorstellen konnte. Jedenfalls begriff sie, was sie getan hatte. Statt sich zu stellen, floh sie. Sie vermutete, dass man den Mord Brandon anlasten würde. Schließlich war es sein Messer. Scott hatte es Brandon nach dessen Messerangriff auf Thimo gestohlen. Brandon hatte ihn aus seiner Gang geschmissen, weswegen sich Scott dachte, es wäre ganz gut, wenn er sich zu seiner eigenen Sicherheit ein Druckmittel gegen Brandon zulegte. Und das war eben jenes Messer mit dem Thimo niedergestochen wurde. Brandon hatte mehrfach damit geprahlt, dass dieses Messer sein »Tuckenschlitzer« sei.

Es gab aber noch andere Überraschungen.

Als Erstes brauchte ich einen neuen Prinzipal für die Liberty High. Meine Wahl fiel auf Coach Skinner. Hart aber gerecht. Nur, dass er bei meiner Entscheidung überhaupt nicht mehr hart war. Ganz im Gegenteil, für ihn war es mehr als eine Beförderung auf einen verantwortungsvollen Posten. Es war die Anerkennung seiner Leistungen für diese Schule und die waren unbestreitbar.

Doch Skinner schaffte es umgekehrt auch uns zu überraschen, indem er zu seiner feierlichen Ernennung zum Prinzipal seinen langjährigen Lebenspartner mitbrachte. Wer hätte das gedacht?

Hank van Geldern, Edward McCarthy und Exprinzipal Franklin wanderten in den Knast. Die Anklage füllte ganze Aktenbände und reichte von Gründung einer kriminellen Vereinigung, über Verstoß gegen Kriegswaffenkontrollgesetze, Landesverrat - wie sich rausstellte, unterhielt van Geldern Verbindungen zu ehemaligen südafrikanischen Geheimdienstmitarbeitern - bis hin zu Geldwäsche und Steuerhinterziehung in besonders schweren Fällen. Die drei wurden verknackt, eingesperrt und der Schlüssel weggeworfen.

Wie die Väter, so die Söhne. Bei Ray wurden massenweise illegale Waffen entdeckt, die ihn auf direktem Weg in den Jugendknast brachten. Und Brandon? Nun ja, ein Haufen Elend. Nachdem sein Vater in den Knast gewandert und sein Vermögen beschlagnahmt war, wollten Brandons tolle Freunde, wie Espen, nichts mehr mit ihm zu tun haben. Er ist allein. Verbitterung nagt an seiner Seele, aber er zeigte Rückgrat. Als ich die Schule übernahm und dies allgemein bekannt wurde, kündigten Espen und Co sofort ihre Unterrichtsverträge und suchten sich eine neue Schule. Brandon blieb.

Cynthia und Jimmy Reynolds haben sich getrennt. Jimmy war es egal, dass er damit faktisch pleite war, denn Cynthia hatte das Geld in der Familie. Doch mit Geld kann man sich bekanntlich nur sehr selten Glück kaufen. Besser ist da schon kaufen lassen, womit ich nochmals ins Spiel komme.

Was soll man mit einer Schule? Ist doch affig und angeberisch. Also galt es, das Teil wieder los zu werden. Nur wollte ich den Laden nicht den Haien des freien Marktes zum Fraß vorwerfen, weswegen mein Vater auf die Idee kam, eine Stiftung zu gründen. Und wer wäre besser geeignet so ein Projekt anzugehen, als Jimmy Reynolds? Nebenbei gründete er noch seine eigene Kanzlei und war erstmals in seinem Geschäftsleben nicht mehr von den Launen seiner zukünftigen Exfrau abhängig. Besonders befriedigend war für ihn, dass ein großer Teil seiner Exkollegen aus der Kanzlei seiner Frau zu ihm überwechselten.

Und Marcel? Seine Mutter spricht nicht mehr mit ihm. Sie verleugnet, was geschehen ist und gibt an all dem Jimmy die Schuld. Marcel scheint es egal zu sein, er ist froh, dass er seit Jahren einen Zugang zu seinem Vater entwickelt hat. Vater und Sohn entdecken gerade, dass sie sich ähnlicher sind, als sie gedacht hatten. Jimmy sieht man inzwischen häufiger bei Ellen. Wer weiß, was sich da noch entwickelt.

Rob weiß noch immer nicht, ob er nun schwul ist oder ob er nur gerne Thimo küsst. Er will sich darum aber keinen Kopf machen, schließlich gibt es genug Dinge, zu denen man sarkastische Kommentare abgeben muss.

Samuel del Ray wurde mit überwältigender Mehrheit zum Schulsprecher gewählt. Er scheint seine Sache gut zu machen. Das Essen in der Cafeteria ist deutlich besser geworden.

Amber macht eine Entziehungskur. Sie scheint erkannt zu haben, dass Jim Beam und Johnny Walker keine echten Freund sind. Seit sie trocken ist, scheint sie sogar recht umgänglich zu sein.

Und wir? Thimo und Marcel sind und bleiben ein Traumpaar. Die zwei passen perfekt zusammen. Allerdings droht womöglich eine räumliche Trennung der beiden, denn um Thimo, dieses Kampfpaket, reißen sich genauso wie um Sam verschiedene Collegemannschaften. Sobald die beiden die Highschool hinter sich haben werden, steht eine schwere Entscheidung an. Skinner ist sich in dieser Hinsicht sehr sicher, dass beide, Sam und Thimo ihren Weg in die Profiliga finden werden. Man stelle sich das vor: Thimo als NFL-Star!

Doch bis dahin ist der Weg noch weit. Tim und ich sind in Amiland geblieben und machen hier sozusagen ein »Austauschschuljahr«. Nein, wir gehen nicht auf meine Schule, das wäre mir peinlich, wir haben die JFK gewählt. Mig und Alex sind sehr gute Freunde geworden. Wobei Migs Temperament manchmal anstrengend sein kann.

Und Kuki? Unser metalldurchlöcherter kleiner Freund in unserer Dreierkiste. Er musste leider zurück nach Deutschland. Da seine Eltern in Gütertrennung lebten, hatten sie nichts, weswegen sie sich streiten konnten. Da sind sie auf die Idee gekommen, dass man sich dann doch um den Sohn streiten könnte. Die erste Amtshandlung war also, ihn zurück zu zitieren. Tim und ich, wir vermissen ihn beide. Natürlich gehört er noch zu uns, doch machen wir uns nichts vor. So ein Typ wie er und ein Jahr Zölibat?

Sowas kann man ihm nicht zumuten. Wirklich nicht.

Da fällt mir ein, in seiner letzten Mail stand etwas von zwei Jungs aus Dresden ... Man darf gespannt sein.

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