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Kopfgeister

Band 3 - Der Weg des Tapferen

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkungen

1. Dies ist also Band III von Kopfgeister. Als wenn man es nicht anders erwartet hätte, spielt es in Portland (einer Stadt übrigens, von der ich nicht die geringste Ahnung habe, außer, dass sie im Bundesstaat Maine liegt.)

2. Im krassen Gegensatz zu Band I und II kommt es in diesem Band nicht zu sexuellen Handlungen. (Schade! Wird aber wieder ... ) Wenn also die ersten Bände X-rated (Sex) waren, dann ist dieser Band R-rated (Gewalt). Was das auch immer für den Jugendschutz bedeuten mag ... Das müsst ihr selber wissen.

3. Orte, Personen, Handlungen und der ganze restliche ganze Kram ist natürlich frei erfunden. Mancher Markenname mag geschützt sein. Ich empfehle jedem Juristen, der sich darüber aufregt: Schlaf mit deinem Freund (oder wenn es sich nicht vermeiden lässt, mit deiner Freudin) und vergiss es!

4. Rechtschreibung … Jajajaja, ich weiß!

5. Dieser Text ist exklusiv für Nickstories geschrieben, der absolut besten Webseite für die absolut besten Geschichten. Sagte ich das nicht schon einmal? Egal, eigentlich sollte dieser Punkt an erster Stelle stehen! Keep rocking ...

Eine vergessene Warnung

Ich hab noch etwas ungeiles und wichtiges bei meinen Vorbemerkungen zu Band II vergessen: Safer Sex

Ok, dies ist zwar eine Gesichte und soll die Fantasie anregen (Wenn es was anderes anregt, ist das auch ok), aber Svenni und Tim poppten da ganz ohne Netz und doppelten Boden. Don't do that at home! Play safe! Soviel zum erhobenen Zeigefinger und zum erhobenen Zeugefinger.

E-Mail: Nero.Impala@gmx.net

3.1. Portland, Maine, USA

Thimos Hinterkopf schlug an sein Schließfach. Ein Moment von Schwäche. Für kurze Zeit schloss er seine Augen, atmete tief durch und dachte nach. Liberty High, meine neue Schule. Was für ein Unterschied. Vom Landeiergymnasium in die Hölle einer Großstadt-High-School. Thimo drehte sich um und stellte die richtige Kombination an seinem Schloss ein. High-School. Das war auch so eine Sache. Gewöhnungsbedürftig, sehr gewöhnungsbedürftig. Thimo sammelte die Bücher für seinen nächsten Kurs aus dem Spind und warf ein paar nicht mehr benötigte hinein. Völlig unerwartet fiel sein Blick auf ein Bild von Sven, das er an die hintere Spindwand geklebt hatte. Scheiße Svenni! Was mach ich hier bloß? Der Moment der Schwäche ging vorüber. Mit einer entschlossenen Handbewegung knallte Thimo die Spindtür zu.

Eine Woche früher. Der Umzug von Fehmarn war glatt und ohne erwähnenswerte Vorkommnisse abgelaufen. Thimo und seine Mutter wurden von seiner Tante, der Schwester seiner Mutter am Flughafen abgeholt. Eine allgemeine Begrüßungszeremonie und eine halbe Stunde Autofahrt zum neuen Haus. Das war's.

Die folgenden Tage wurden mit ablenkender Geschäftigkeit verbracht: Einrichten, einkaufen, Umgebung ansehen, Oma besuchen, Mail an Sven, High-School ansehen. Von außen betrachtet lebte sich Thimo ein. Von innen gesehen gähnte eine Leere in ihm, wo Sven hätte sein sollen. Leben als Last - Thimo erlebte eine neue Erfahrung. Keine, die er gerne machen wollte.

Liberty High - die Wirkungsstätte der nächsten Jahre. Mit sechzehn Jahren stellt man selten vergleichende Betrachtungen über das deutsche und amerikanische Schulsystem an, aber man muss schon blind, taub und megaignorant sein, um nicht zu merken: Der Laden läuft anders, ganz anders.

Zuerst waren da die Kurse. Was wählt man denn da? Die erste Wahl fiel auf eine Fremdsprache, auf Deutsch. Thimo grinste in sich hinein: ,Wenigstens ein Fach, in dem ich perfekt sein werde.`

Die restliche Wahl war etwas schwerer. Verwirrende Regeln über Pflicht- und Wahlkurse ließen jede Bedienungsanleitung für asiatische Billigvideorekorder vor Neid erblassen. Da aber vor Thimo schon Legionen amerikanischer Schüler diese Hürde mit Leichtigkeit genommen hatten, konnte dieses bürokratische Hemmnis am Ende doch überwunden werden.

So eine High-School ist eher eine Bildungsfabrik als eine Schule. Die Liberty High war eine Hightech Bildungsfabrik: neu, modern, sachlich, kalt. Das Beste war gerade gut genug, sei es Lehrer oder Material, nur Wärme und Atmosphäre fehlten dem Betonbunker. Hätte Thimo den Grundriss der Schule in einer Map von Unreal Turnament wiedergefunden, er hätte sich nicht gewundert. Selbst die Schüler hatten Skins wie aus dem Egoshooter.

So jagte also unser Held durch die Gänge dieses unwirklichen Gebäudes und zählte innerlich seinen Fragcount beim Anblick der Lehrkörper hoch. Lehrer, Bildungsvermittler, Geldeintreiber - diese Schule kostete Geld, viel Geld. Portland liegt im Bundesstaat Maine und Maine ist ein New England Staat. Sehr aristokratisch, der beste weiße Abschaum des nordamerikanischen Kontinents. Hier lässt man sich die Bildung seiner Kleinen etwas kosten, insbesondere bei einer so elitären Einrichtung wie der Liberty High.

Bei der Anmeldung wurde der Schulleiter auch nicht müde, seine Schule Thimos Mutter anzubieten, wie ein neues Luxusauto. Über die nächsten Jahre würde sie auch ungefähr den Betrag hinblättern müssen, den man für einen solchen Wagen bezahlen muss.

Thimo war das alles ziemlich egal. Im tiefsten emotionalen Loch seit dem Tod seines Vaters gefangen, schlurfte er lustlos neben seiner Mutter her. Mr. Franklin, so der Name des Anstaltsleiters, war ein korpulenter, bebrillter Mittfünfziger und von einer unangenehm hektisch-fahrigen Aura umgeben.

Bildungsverkäufer Franklin spulte sein volles Verkaufsprogramm ab, das heißt eine komplette Führung durch die Schule: Computersaal mit den neusten PCs und T3+ Internetanbindung, Multimediaraum mit Großbildprojektor und 6.1-DTS-ES-Surroundanlage, Kantine, Bio-, Chemie- und Physiksäle, Aula, drei Sporthallen, Footballfeld, dieser Laden hatte einfach alles - nur keine Seele.

In zwei Wochen würde es losgehen, das neue Schuljahr. Ein neuer Anfang. Nur wo war das: im Himmel oder in der Hölle?

Viertel vor acht auf der Suche nach dem ersten Unterrichtsort. Deutsch. Bingo. Ein leichter Einstieg. Mrs. Klein hatte einen deutschen Namen, war in dritter Generation Amerikanerin, klein, dick, und schien ganz sympathisch zu sein. Ein sehr mütterlicher Typ.

»Hallo Klasse, ihr werdet euch dieses Jahr sehr anstrengen müssen. Wir haben einen Neuen und der kommt aus Deutschland. Hallo Thimo.«

Super! Das war genau das, was Thimo nicht sein wollte: Der Freak aus Deutschland, der den anderen die Note versaut. Die beste Reaktion in ausweglosen Schulsituationen: verlegen dreinschauen und rot werden.

Die Klasse quittierte beides, Mrs. Klein und Thimo mit einem Grunzen. Zu viele Augen richteten sich auf Thimo und sezierten ihn wie ein Insekt: Er war der Freak! Fehlstart in der ersten Runde.

»Erzähl doch mal was von dir. Auf Deutsch! «

Neiiiiiiinnnnnnnnn! Warum demütigt diese Frau mich so? Was hab' ich ihr getan? Thimo erzählte von Fehmarn, vom Surfen, von Deutschland, seinen Namen, Belanglosigkeiten, bis er meinte es müsste reichen. Mrs. Klein setzte ihr mütterliches Lächeln auf, nickte anerkennend und dankte. Der eigentliche Unterricht begann. Deutsche Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts war das Thema der nächsten Wochen und ungefähr so erstrebenswert wie eine Wurzelbehandlung.

Die Stunde ging vorüber. Mit einem Blick auf seinen Kursplan vergewisserte er sich, dass der nächste Kurs im gleichen Raum stattfinden würde. Das gab ihm Zeit, nachzudenken.

»Hey, du bist Feihmoh?«, eine Hand tippte Thimo von hinten auf die Schulter.

»Thimo, ja?«, Thimo drehte sich um und sah in das freundliche Gesicht eines Jungen.

»Tom - mein Name - ich bin Tom. Du bist neu.«

»Ja? Und ...«

»Wie gefällts dir bei uns ...«

»Da das gerade meine erste Stunde war, kann ich dazu noch nichts sagen. Aber für den Anfang: Kalt, dies ist ein widerlicher Betonbunker.«

»Wie?«, Tom hatte eine andere Antwort erwartet, »Hm, ich kenn nur diesen Laden. Aber stimmt! Es ist hier kalt. Ist mir noch nie aufgefallen.«

Tom sah sich um, als wenn er seine Schule das erste Mal wirklich sah.

»Du hast wirklich Recht … Aber deswegen hab' ich dich nicht angesprochen ...«

Sein Gesicht nahm einen verschmitzten Ausdruck an, »Ich wollte dich eigentlich fragen, ob du dich schon eingelebt hast. Ob du schon jemanden kennst? Ob du dich hier zurechtfindest?«

Thimos Reaktion war zwiespältig. Auf der einen Seite freute er sich, dass ihn jemand ansprach, der offensichtlich ganz nett war. Auf der anderen Seite war Thimo Toms Motivation nicht ganz klar. Tom wirkte ein wenig zu freundlich, fast, aber wirklich nur fast aufdringlich. Thimo entschied sich, die Sache langsam anzugehen.

»Nö, noch nicht eingelebt. Ja, ich habe schon jemanden kennengelernt.«

In diesem Moment wurde Tom blass: »Wen denn?«

»Na dich!«, Thimo registrierte, wie die Farbe in Toms Gesicht zurückkehrte - Eine interessante Reaktion.

»Aber, Tom, du könntest mir vielleicht helfen, mich hier zurechtzufinden. Der Laden ist ... ähm ... unübersichtlich und so verdammt groß.«

Toms Gesicht strahlte, diese Antwort schien er ersehnt zu haben.

»Klar, zeig mal deinen Kursplan.«

Beide Jungs verglichen ihre Kurspläne. Es stellte sich heraus, dass Tom und Thimo eine ganze Reihe von Kursen gemeinsam hatten, wie zum Beispiel die nächste Stunde Englisch.

»Du kommst doch aus Deutschland, woher kannst du so gut Englisch?«

»Meine Mutter kommt von hier, ich bin mit beiden Sprachen aufgewachsen. Aber wie kommt ein normaler amerikanischer Junge dazu, Deutsch zu lernen?«

»Och, das ist einfach. Die meisten hier im Kurs haben irgendwo Verwandte in Europa und sprechen von Haus aus ein bisschen Deutsch. Es ist 'ne billige Methode ein paar gute Noten abzugreifen.«

»Ok. Ich werd' mich zurückhalten und euch nicht die Noten versauen.«

»Wie überaus freundlich!«

Thimo entblößte seine Zähne und grinste mit einem Haifischgrinsen zurück.

3.2. Betrachtungen über das Sozialgefüge einer amerikanischen High School

Nach Englisch folgte Physik. Toms und Thimos Wege trennten sich. Beide verabredeten sich zur Mittagspause in der Cafeteria, wo Tom ihm dann ein paar Freunde vorstellen wollte.

Auf dem Weg zum Physiksaal wurde Thimo von Coach Skinner abgefangen. Ein Sporttrainer, wie er im Buche steht: sehnig, um die 50, kurze, ergraute Haare. Man konnte meinen, er hätte gerade bei den Marines abgemustert.

»Camron-Bach, Thimo Camron-Bach?«

»Ja?«

»Ich bin Coach Skinner. Man hat dir sicherlich mitgeteilt, dass der Sport eine Grundsäule der Persönlichkeitsbildung dieser Schule ist?«

Eine rein rhetorische Frage, auf die Thimo auch nur mit einem rein rhetorischen Nicken antwortete.

»Gut! Ich will dich heute Nachmittag um fünfzehnhundert auf dem Feld sehen. Mal sehen, was wir mit dir anfangen können.«

»Äh, da hab' ich eigentlich Geschichte ...«

»Freigestellt! Ich werde mit deinem Fachlehrer reden. Lass dich mal ansehen ...«

Skinners Pranken griffen zu. Zwei eiserne Schraubstöcke packten Thimo an den Schultern und drehten ihn herum. Skinner musterte Thimo wie ein Pferdehändler einen Prachtgaul.

»Schon mal Football gespielt. Naja, wohl eher nicht. In Europa versteht man ja nichts von Sport.«

Hätte Thimo ihm erzählen sollen, dass es auf Fehmarn einen American Football Club gab, in dem er mitgespielte hatte? Hätte er erwähnen sollen, dass er Captain und QB war? Dass man ihn mehrfach zum MVP gewählt hatte? Thimo und Sport gehörten ungefähr genauso zusammen wie Cola und Eiswürfel. Thimo trieb extrem viel Sport, wenn er dabei auch kein Fanatiker war. Es machte ihm einfach Spaß. Fußball, American Football und natürlich Surfen, Surfen mit Svenni, das war seine Welt.

»Nicht wirklich.«

»Naja, mal sehen, was wir mit dir machen. Sportlich scheinst du ja zu sein. Also um fünfzehnhundert!«

Und weg. Thimo kam zu spät zum Physikunterricht. Dr. Summers war erst sauer, dann, nachdem der Name Skinner fiel, stocksauer.

»Wenn Sie sich einbilden, Mr. Camron-Bach, mir mit sportlichen Leistungen imponieren zu können, dann haben Sie sich getäuscht. Bei mir wird wirkliche Leistung gefordert. Merken Sie sich das!«

Die arme Sau. Ich arme Sau. Thimo seufzte innerlich. Gut zwei Stunden auf der neuen Schule und schon zwischen die Lehrerfronten geraten.

Der Unterricht war leicht und Thimo konnte mit ein paar guten Antworten bei Dr. Summers Boden wettmachen.

Der Rest der Stunden bis zum Mittag verlief ohne weitere Vorkommnisse. Der Weg zur Kantine war mit Toms Wegbeschreibung leicht zu finden: einfach nur den Massen folgen.

Die Kantine lag relativ zentral. Ein sehr großer, heller Saal mit etlichen Bänken. Der erste Blick bestätige eine von Thimos größten Befürchtungen. An jedem Tisch saß eine andere Gruppe von Schülern. Kein Durcheinander aller Sorten von Kids wie auf seiner alten Schule. Hier blieb jeder unter sich.

Thimo holte sein Essen und schaute sich um. Tom saß an einem Tisch am hinteren Ende der Kantine und winkte ihm zu.

»Hi! Da bin ich! Wie versprochen ...«

Tom sah Thimo strahlend und vor allem erleichtert an.

»Hi Thimo, darf ich dir Peter, Marcel, Rob und Jana vorstellen.«

Vier nette Jungs und ein nettes Mädchen schauten Thimo erst neugierig, dann überrascht und schließlich hocherfreut an. Die nächsten fünf Minuten waren alle mit umfangreichem Austausch von Begrüßungswünschen beschäftigt. Nach Thimos erstem Eindruck waren das alles ganz liebe Leute: offen, sympathisch, freundlich und sehr natürlich. Er fühlte sich prompt an seine Freunde auf Fehmarn erinnert.

»Und, ist eine High School sehr unterschiedlich zu einem, wie heißt das bei euch ...?«, die Frage kam von Marcel.

»Lach' nicht. Es heißt Gymnasium, so wie hier die Fitnessstudios heißen. Aber um deine Frage zu beantworten. Ja und nein. Der Unterricht läuft etwas anders ab, aber der Stoff scheint mir ziemlich gleich zu sein. Allerdings scheinen die Schüler anders zu sein ...«, Thimo ließ demonstrativ sein Blick in den Saal schweifen.

Die Sache brannte ihm unter den Nägeln. Wenn es auf der Liberty High eine feste Rang- und Hackordnung gab, dann wollte er sie möglichst bald kennenlernen, möglichst noch, bevor er sich aus Unkenntnis Ärger einhandelte.

»Wie meinst du das?«, Toms erschrockener Gesichtsausdruck war wieder da.

Thimo dachte: ,Das weißt du ganz genau!` und sagte laut: »Schau dich um, jede Gruppe an ihrem eigenen Tisch.«

Rob nickte: »Jaja, unsere gute alte Liberty High und ihre Promis. Möchtest du einen Hofbericht? Gut! Also, da hinten findest du den Tisch unsere Homecoming Queens, die besten weißen Mädchen aus den besten Häusern unsere Stadt unter ihrer Chefin Amber Wilson, Boss der Cheerleader, größte Schlampe des Ladens und feste Freundin von Johnny Walker. Wenn du verstehst, was ich meine. Für die weibliche Hälfte der Schülerschaft wird hier entschieden wer In und wer Out ist. Nicht wahr, Jana?«

Jana produzierte ein verächtliches Schnauben und verdrehte die Augen. Amber und Jana waren offensichtlich keine Freundinnen.

»Womit wir auch gleich zum Tisch Nummer Zwo kommen. Den Speerspitzen des Sports. Scott und Brandon, alias Captain und VC des Footballteams samt den anderen Jocks dieser Schule. Dieser Tisch repräsentiert die Alphamännchen. Der Rest, also wir, sind Fußvolk, niedere Lebensformen, die man im besten Fall ignoriert. Allerdings ist unter dem Fußvolk nicht jeder gleich. Wenn du einen Blick zur anderen Seite des Saals wirfst. Voilà, unsere Nazis!«

Thimo verschluckte sich: »Nazis? Wie bitte?«

Gemeint war ein Pulk von 5 Jungs. Alle dunkel gekleidet. Kurze, aber nicht rasierte Haare, unsympathisch und merkwürdig.

»Nazis! Sie hassen einfach alles und jeden, der nicht weiß ist. Naja, die einen mehr, die anderen weniger. Schwarze, Juden, Schwule und Hispanos stehen natürlich ganz oben auf ihrer Hassliste. Ach ja, sie sind bewaffnet ... und sollen von ihren Waffen auch schon Gebrauch gemacht haben. Abgesehen von dumpfen Sprüchen verhalten sie sich in der Schule ruhig, aber draußen ... ich möchte denen nicht unbedingt über den Weg laufen.«

Thimo musste erneut schlucken. Mit sowas hatte er nicht gerechnet.

»Es gibt da noch ein Gerücht: Obwohl sich die Nazis und die Jocks offiziell hassen wie die Pest, soll es eine Querverbindung geben. Brandon soll deren Ideen durchaus aufgeschlossen gegenüberstehen ...«

Thimo schwieg. Diese Schule wurde ihm immer unsympathischer. Bei solchen Leuten war ein Outing wohl nicht ganz ungefährlich.

»Noch jemanden, den ich nicht kennen lernen will?«

»Das kommt drauf an? Brauchst du Drogen? Crack, Koks, Heroin, E oder einfach nur Prozac? Dann wende dich vertrauensvoll an Juan und seine Leute. Die managen den Drogenhandel.«

Gemeint war eine Gruppe von Hispanos, weit, weit entfernt vom Tisch der Nazis. Thimo hatte den Eindruck, dass man auf dieser Schule, oder vielleicht einfach in diesem Land, seine Vorurteile kultivierte. Hispano gleich Dealer, was für eine einfache Gleichung.

»Obwohl offiziell persona non grata, sind Juans beste Kunden unsere Sportasse. Wo bekommt man sonst wohl Epo und gewisse anabole Steroide her?«

»Tja, woher wohl ...« Langsam dämmerte Thimo, dass die Dinge an der Liberty High komplizierter waren, als sie oberflächlich aussahen. Weit komplizierter. Überzeugt war er immer noch nicht.

»Gibt's noch mehr, was ich lieber nicht wissen sollte?«

»Naja, da hinten sitzt der Club der Streber. Zwei Reihen weiter unsere Black Community - besteht aus gerade mal 15 Brüdern. Von denen jeder natürlich noch weitere fünf Brüder hat, die ... ok, leg dich mit denen einfach nicht an. Was noch? Ach ja, zwei Punks unter Artenschutz. Sind aber gerade nicht da ... naja, den Rest wirst du schon noch sehen ...«

»Wenn er sich dann noch mit uns unterhält.« Janas erster Satz verpasste der Stimmung einen jähen Dämpfer. Toms Augen funkelte vor Zorn: »Jana, halt's Maul.«

»Moment! Das will ich jetzt genau wissen ...«, Thimo ahnte, worauf Jana hinaus wollte, aber sie sollte es selbst aussprechen. Die fünf hatten Potential. Das Potential, gute Freunde werden zu können. Das hatte er sofort gespürt. Das erste Mal, seit er in Portland ankam, hatte er den Ansatz eines Gefühls von Freundschaft wahrgenommen. Doch für Freundschaft braucht man eine Basis. Ehrlichkeit und Vertrauen. Sollten sie doch dafür kämpfen.

Thimo war sich sehr sicher, warum Tom ihn angesprochen hatte. Er war sich seiner körperlichen Attribute durchaus bewusst. Er wusste, dass er einen sportlichen, einen sehr sportlichen Körperbau hatte und zu 100% in die Kategorie der Jocks passte. Skinner hatte es ebenfalls sofort bemerkt.

»Shit, was soll der Affentanz!«, Jana war sauer »Sobald Skinner ihn am Wickel hat, sitzt er da hinten ...« Janas Finger deutete in Richtung Scott und Co, und zu Thimo gerichtet: »Du bist nett. Aber gib dich mit uns Loosern besser nicht ab. Ist schlecht fürs Image!«

Thimo grinste. Volltreffer. »Jana, ich geb nichts aufs Image. Mit wem ich rumhänge, ist meine Entscheidung!«

»Oh du Wichser, dann geh' doch gleich rüber, du Superheld!«

»Du hast mich missverstanden. Meine Entscheidung ist, hier bei euch zu sitzen. Ach ja Tom, ich weiß, warum du mich angesprochen hast. Ich bin nicht doof. So läuft das aber nicht.«

Toms zuckte zusammen und wurde blass: »Ich ... ich ... ich wollte doch nur ...«

»Ich weiß, was du wolltest. Du hast gedacht: Hey, da kommt ein dummes, aber gut aussehendes Kraftpaket und auch noch aus Deutschland, der weiß nicht, wie es hier läuft, wird aber bestimmt Skinners Liebling und Sportcrack. Wenn man sich so jemanden warm hält und mit ihm rumhängt, dann steigt vielleicht das eigene Ansehen. Tut mir Leid mein Junge, so läuft das wirklich nicht ...«

Aus Tom war sämtliche Luft entwichen. Kalkweiß saß er da. Looser - dieses Wort hämmerte durch seinen Schädel. Sein kleiner Plan war geplatzt. Schlimmer noch, Thimo grinste ihn mit diesem typisch verhassten, herablassenden Lächeln der Sporttypen an.

»Schhch ...«, Tom konnte es selbst nicht fassen. Er war aufgesprungen und hatte Thimo am Kragen gepackt. Mit einer Kraft, die er sich selbst nicht zugetraut hatte, presste er Thimo gegen die Wand.

»Wow! Ist gut, ist gut! Entschuldigung, das wollte ich nicht. Bitte Tom! Ich hab's nicht so gemeint.«

Das Grinsen war aus Thimos Gesicht gewichen. Er wusste, dass er Tom provoziert hatte, aber er wusste genauso, dass Tom das brauchte; er brauchte es, um sein Selbstwertgefühl wieder zu finden. Tom ließ ihn los. Selbst von seinem Wutausbruch erschrocken, setzte er sich wieder an den Tisch und starrte mit leeren Augen in seine Essensreste.

»Tom! Entschuldige! Bitte! Du bist kein Looser! Sei einfach du selbst. Mensch, nu' schau nicht so trübe drein ... du bist nett, wirklich nett. Ich mag dich und ich möchte, dass auch du mich magst ... Keiner von euch ist ein Looser. Um ehrlich zu sein, ihr seid die ersten Leute in diesem Laden, die mir sympathisch sind. Ich habe auch keine Lust, einer von denen da, den Jocks zu werden. Mensch, ich weiß ja noch nicht mal, ob ich für den Sport, den ihr hier betreibt, überhaupt tauge. Also, wenn einer von euch meine Freundschaft will, dann bitte gern. Aber bitte nur, weil euch was an meiner Person liegt, und nicht, weil ihr euch davon ein besseres Image versprecht. Ich glaube nämlich nicht, dass ich euch eines bieten kann ...«

»Willst du denn überhaupt unsere Freundschaft?« Marcels Frage kam ebenso schüchtern, wie süß rüber. Nebenbei fand Thimo, dass Marcel eine ganz appetitliche Erscheinung abgab. Groß, schlank, weniger der Footballtyp. Mehr ein Leichtathlet. Bei seinem Aussehen war Thimo schleierhaft, warum er sich selbst zu den Loosern zählte. Aber das traf soweit auf die ganze Gruppe zu. Jeder von ihnen sah gut aus. Obwohl ... Thimo musterte alle fünf. Marcel sah nicht nur gut aus, er sah überirdisch gut aus. Er hatte eine Aura, die sich erst beim zweiten Blick erschließt. Außerdem hatte er diesen tiefen Ausdruck in seinen Augen. Ein Ausdruck von Sehnsucht, Sensibilität, Tiefe, Liebe und Melancholie, der Thimo sofort in seinen Bann zog. Nach der zunehmenden Versteifung in Thimos Lendengegend zu schließen, war Marcel als sehr gefährlich einzustufen.

»Ich denke schon.« Thimo schüttelte den Kopf. »Ja verdammt. Ihr seid ok. Tom, du warst absolut der Erste, der sich überhaupt mit mir unterhalten hat. Ich bin froh, Leute kennenzulernen. Ich habe mein ganzes bisheriges Leben in einem anderen Land, auf einem anderen Kontinent verbracht. Alle meine Freunde hab' ich zurückgelassen müssen. Ich fühl mich so einsam ... und wäre wirklich, wirklich heilfroh, neue Freunde kennen zu lernen.

Insbesondere, wenn es so sympathische Looser sind, wir ihr. Ich vermute mal, in zwei Tagen, werd' ich in diesem Laden entweder als Freak oder ebenfalls als Looser gehandelt. Also, was soll's. Freunde?»

»Freunde!«, gefolgt von allgemeiner Umarmung.

3.3. Noch mehr "Freunde"

Das Eis war gebrochen. Tom, Jana, Marcel, Peter, Rob und Thimo. Thimo schaute sich um. Kein schlechter Anfang. Wirklich nicht. Alle bieten sie Möglichkeiten. Ich mag sie. Svenni, sie würden dir gefallen. Alle! Insbesondere Marcel.

»Thimo? Entschuldigung, ich wollte dich vorhin nicht ...«

»Nein! Tom, entschuldige dich nicht! Nicht bei mir. Denn eigentlich muss ich mich bei dir entschuldigen. Ich wollte dich provozieren! Ich hab' dich gedemütigt und das war falsch. Egal wie meine Motive waren, du hattest Recht. Bitte entschuldige, ich werd sowas nie wieder tun ...«

,Außerdem kann der Kleine richtig zupacken.` Diesen Gedanken behielt Thimo für sich.

Die Spannung, die noch vor wenigen Sekunden spürbar war, war verflogen. Glücklich über seine neuen - seine ersten - Freunde und umgekehrt glücklich über ihren neuen Freund, verbrachte die Gruppe den Rest der Mittagspause mit dem Austausch von persönlichen Informationen. Alle waren 16, Rob der Älteste und einzige, der über ein Auto verfügte. Praktischerweise lag Thimos Haus direkt auf Robs Heimweg. Überhaupt wohnten alle fünf zueinander in fußläufiger Entfernung. Die Schule war noch am weitesten entfernt.

Die nächste Stunde musste Thimo ohne seine neuen Freunde verbringen. Keiner war im gleichen Kurs gemeldet. Nach einer weiteren Stunde, diesmal zusammen mit Jana, stand die Begegnung mit Skinners Sportunterricht auf dem Plan.

Mit der Sporttasche unterm Arm tauchte Thimo auf dem Feld auf. Die gesamte Mannschaft war beim Training, die Cheerleader hüpften mit ihren Pompons umher. Das Bild übertraf jedes Klischee einer High-School-TV-Serie um Längen.

Skinner war leicht auszumachen. Als Thimo auf ihn zu trat, signalisierte er ihm kurz zu warten und ließ die Mannschaft ihren augenblicklichen Spielzug ausführen: 3rd an 7. Ein Sack. Der Zug ging daneben. Skinner schüttelte den Kopf, pfiff und deutete der Mannschaft, zu ihm zu kommen.

»Scott. Wo bist du mit deinem Kopf?«

»Sorry, Coach.«

»Ok, das ist Thimo. Ich glaub zwar nicht, dass man in Deutschland Football spielen kann, aber vielleicht können wir ja was aus ihm machen. Ok, lass dir ein paar Protektoren und einen Helm geben, und dann will ich dich in 5 Minuten auf dem Feld sehen. Josh?«

Josh nickte und deutete Thimo, ihm zu folgen. Im Umkleideraum fanden sich ein paar passende Klamotten. Thimo musste daran denken, dass sein ganzes Footballequipement zu Hause lag. Aber man muss ja nicht mit der Tür ins Haus fallen. Vielleicht ganz gut, wenn man etwas unterschätzt wird.

Nach exakt fünf Minuten stand Thimo auf dem Feld. Skinner musterte ihn und überlegte, wo man ihn einsetzen könnte.

»Kennst du überhaupt die Regeln?«

Thimo nickte.

»Naja, das werden wir sehen. Für Defense bist du zu mager. Mehr ein Läufer. Kannst du fangen?«

Zustimmendes Nicken.

»Sagt dir Wide Receiver was?«

Klar, tat es. Nicken.

»Ok, los!«

Das Spiel begann von Neuem. Der QB, Scott erläuterte seine Spielzüge und die Codenummern. Aufstellung. 1 und 10.

»Hunt!«

Scott wollte gleich klarmachen, wer im Team das Sagen hat und kurzen Prozess mit Thimo machen. Er pfefferte ihm das Ei fast nicht fangbar zu. Allerdings nur fast. Ein zu offensichtlich gezielter unfangbarer Wurf wäre Skinner sofort aufgefallen. Thimo sah, packte zu, das Ei war sicher! Er lief! 5 Yards, 10, 15, 20 Yards. Erst bei 22 Yards wurde er gestoppt. Kein Foul, der Zug wurde gut gegeben. 1 und 10. Skinner grinste, ein sybillinisches Grinsen.

Scott wurde sauer. Dieser Nobody aus Germany versuchte ihm seine Show zu stehlen. Nächster Versuch gleiches Spiel, gleiches Ergebnis. Thimo machte 12 Yards gut. Thimo ahnte, dass Scott dies nicht auf sich sitzen lassen konnte. Seine Ahnung war richtig. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Scott dem Defensivspieler ein Zeichen gab. Das konnte nur eins bedeuten: Takelt ihn hart! So hart, dass er nicht wieder aufsteht.

Der nächste Spielzug. Thimo bekam den Ball. Und dann kam die Dampframme, 115kg Lebendgewicht stampften auf ihn zu. Aber das war nur das Ablenkungsmanöver, die eigentliche Gefahr drohte von der linken Seite. Mit diesem Trick hatte Thimo gerechnet. Ein paar Haken geschlagen und die beiden Defense-Spieler krachten hinter ihm ungebremst zusammen. Vor Thimo war das Feld frei. Er rannte, er rannte und erreichte die Endzone Touch-Down. Thimo schleuderte den Ball auf den bemalten Rasen und riss seine Arme hoch. So leicht verarscht man keinen Camron-Bach!

Etliche Sekunden später begann Thimo die Realität um sich wieder wahrzunehmen. Seine beiden Gegner waren noch nicht wieder aufgestanden, sondern lagen auf dem Rasen und krümmten sich vor Schmerzen. Amber und ihre Cheerleader hatten ihre Pompons vergessen und waren der Szene völlig überrascht gefolgt. Scott kochte vor Wut und Skinner grinste in sich hinein.

»Oh, da haben wir wohl ein Naturtalent. Du hast schon mal Football gespielt, oder?«

»Sorry Coach, ja hab' ich. Ich spiele seit sechs Jahren und war die letzten zwei Jahre QB. Naja, was wir in Europa spielen, kann sich mit dem richtigen Football hier sicherlich nicht messen.«

»Shit! Du hast Talent und weißt, wie man mit dem Ball umgeht. Ach ja und das geht an alle. Ihr seid ein Team! Hört ihr mich. Und wenn ich sowas wie eben nochmal sehe, werden Köpfe rollen. Wenn Thimo gut spielt, dann ist das gut für das Team und gut für die Schule.«

Skinner sprach die ganze Gruppe an, fixierte aber ausschließlich Scott. Der nahm die Nachricht wie ein Eisblock auf. Lippen zusammengepresst und kein Kommentar.

Das Training ging weiter. Niemand versuchte mehr, Thimo auszutricksen. Das Spiel verlief fantastisch. Thimo hatte schon immer Football geliebt, aber in den letzten Monaten merkte er, dass er von seiner alten Mannschaft unterfordert war. Hier war das ganz anders. Er war gut. Sogar sehr gut. Aber er war gut, weil die anderen gut waren. Ein Team. Die restlichen Spieler spürten Thimos Einstellung und gaben ihre anfängliche Zurückhaltung auf. Er wurde besser ins Spiel eingebunden und gab dies wieder zurück. Auch Scott versuchte keine Tricks mehr.

»Ok, Schluss für heute. Thimo, wir müssen über deinen Stundenplan reden. Du kommst fest ins Team. Ich will dich bei den Meisterschaften dabei haben. Mindestens als Ersatz. Wenn deine Leistungen immer so sind wie heute, dann wahrscheinlich auch fest. Also Leute, Abmarsch und unter die Dusche.«

3.4. Was unter der Dusche geschah

Duschen. Wasser. Spinde. Steingutwaschtische. Schweiß. Dampf. Ein typischer Umkleideraum. Dieser war vollgefüllt mit schweißnassen Sportlern. Skinners Training war nicht gerade als leicht bekannt, vielmehr wusste jeder, dass Coach Skinner die Dinge manchmal etwas übertrieb. Wenn die Jungs nach dem Training duschten und dafür etwas länger brauchten, dann war das nur verständlich. Thimo war ganz glücklich darüber, völlig leergepumpt zu sein. Andernfalls hätte sich vielleicht beim Anblick so vieler nackter Jungs etwas zwischen seinen Beinen unziemlich geregt.

Üblicherweise gab es so gut wie nie Streit und Schlägereien zwischen den Footballspielern. Von anderen Mannschaften mag man anderes gehört oder gewusst haben, Skinners Jungs waren viel zu erschöpft dazu.

Wie gesagt: fast nie. Thimo saß auf der Holzbank vor seinem Spind und war damit beschäftigt, sich zu erholen. Beim Training hatte er alles gegeben und war jetzt leer. Der eine oder andere klopfte ihm auf die Schulter.

»Cooles Spiel.«

»Du wirst noch VC.«

»Respekt, Newbee!«

»Der Kraut hat Power!«

Diese und ähnliche Anerkennungen gingen runter wie Öl. Thimo war mit seiner Performance mehr als zufrieden. Er hatte das Gefühl, noch nie so gut gespielt zu haben, aber auch noch nie so gefordert worden zu sein.

In diesem Hochgefühl schnappte er sich Handtuch und Seife und ging zur Dusche. Die meisten Jungs waren schon fertig und Thimo war zuerst allein. Er schloss die Augen und ließ das Wasser über seinen Körper fließen. Entspannung. Erholung. Körper und Geist füllten sich wieder mit Leben.

Der Schlag kam völlig unerwartet. Zwei kräftige Hände schleuderten Thimo gegen die Kachelwand. Die Wucht des Aufpralls ließ ihn für zwei, drei Sekunden wegtreten. Während des Versuchs zu realisieren, was mit ihm passierte, trafen ihn zwei weitere Faustschläge. Ein Haken in den Magen, der andere seitlich gegen die Nieren. Thimo ging zu Boden. Ein Fuß in seinem Gesicht sorgte mit Nachdruck dafür, dass er dort blieb.

»Ich weiß nicht, aus welchem Loch du hervorgekrochen bist, aber du solltest dahin zurückkriechen.«

Scott! Es war Scotts Stimme und wohl auch sein Fuß.

»Oouummpf ...«, Thimo stöhnte vor Schmerzen, seine Stimme klang gepresst: »Scott, was willst du von mir?«

»Ich von dir?«, die Stimme sollte verächtlich klingen. »Nichts! Kreuz einfach nicht meinen Weg. Und versuch nicht schlauer zu sein, als du bist! Ich bin der QB und habe es auch vor zu bleiben. Das Gleiche gilt für meine Leute. Also pass bloß schön auf, mit wem du dich anlegst. Haben wir uns verstanden?«

Und ob! Thimo hatte verstanden, war aber nicht bereit, diese Demütigung zu akzeptieren. Scott wollte Krieg, den konnte er bekommen. Thimo hatte schon früher Kämpfe austragen müssen und wusste, worauf es ankam. Scott überschätzte den Erfolg seiner Attacke. Selbstsicher wie er war, ging er davon aus, dass Thimo kampfunfähig am Boden lag. Thimo beließ ihn in seinem Glauben, wartete aber nur auf eine Gelegenheit.

»Thimo, du bist so jämmerlich. Vielleicht hat dich Skinner doch überschätzt.«

Hat er nicht! Scotts Druck mit seinem Fuß ließ nach. Das war der Moment auf den Thimo gewartet hatte. Mit einer blitzartigen Bewegung packte er Scotts Fuß und zog daran. Der Boden war nass und rutschig. Scott verlor seine Balance und landete neben Thimo auf der Seite. Thimo langte aus. Ein rechter Haken und Scotts Lippe blutete. Für Thimo war dieser Schlag Genugtuung genug, aber dabei hatte er nicht mit dem Ego von Scott gerechnet. Die Schlacht begann. Fäuste und Schädel schlugen aneinander. Nach wenigen Sekunden nahm Thimo den Geschmack seines eigenen Bluts in seinem Mund wahr. Dieser Kampf war von Hass geleitet. Scotts Hass. Der Gewinner würde alles erhalten - der Verlierer nichts.

Die Entscheidung wurde vertagt. Vom Lärm der Schlägerei angelockt, wurden Scott und Thimo von sechs Jungs getrennt, wobei sie sich dabei selbst Schläge einhandelten. Für Thimo überraschend, versuchte Scotts Freund Brandon den Streit noch am ehesten zu stoppen. Er fixierte Scott und redete auf ihn ernst und eindringlich ein.

»Scott, lass es. Das hier ist nicht der richtige Ort. Nicht jetzt!«

Scott sah Brandon an und nickte. Thimo gefiel Brandons Rede überhaupt nicht. Alarmglocken schellten in seinem Kopf.

Scott hob seine rechte Hand und deutete Thimo mit seinem Zeigefinger:

»Du Looser. Die Sache ist noch nicht ausgestanden. Ich wollte dich nur warnen, aber du ... du ... Wir sehen uns wieder ...«

»Was ist hier los?«, in diesem Moment polterte Skinner in den Duschraum.

Gesenkte Gesichter, keiner wollte etwas sagen. Thimo überlegte. Ein Kampf mit Scott war eine Sache, einen Schüler zu verpfeifen eine andere.

»Ähm, ja, also ... ich war etwas ungeschickt und bin auf der Seife ausgerutscht ... Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte. Naja, Scott wollte mich auffangen, aber ich habe ihn mitgerissen. Äh, wir sind wohl etwas unsanft auf den Boden aufgeschlagen ...«

»Auf der Seife ausgerutscht ...«, Skinner grinste, »Nun ja, dann ist ja alles in Ordnung. Und damit ihr euch ein wenig abkühlt und über sicheres Duschen nachdenkt, lauft ihr beiden jetzt noch 10 Runden um den Platz. Nicht wahr ...«

Sportlehrer - alles Arschlöcher. Dies war wohl die einzige Sache, bei der Scott und Thimo einer Meinung waren. Beide Jungs kletterten unter Schmerzen in ihre Klamotten und begannen ihre Runden zu drehen. An eine Wiederaufnahme des Kampfes war nicht zu denken, Skinner überwachte jeden Schritt. Den beiden blieb nur, sich tödliche Blicke zuzuwerfen und sich anzuzischen.

»Ey, Looser. Ich bin noch nicht fertig mit dir!«

»Vergiss es Scott. Ich habe kein Interesse an einen Kampf mit dir.«

»Pah, Schwuchtel ...«

Konnte er wissen das? Nein. Thimo vermutete, dass Schwuchtel wohl nur Scotts schlimmstes Schimpfwort war, das ihm zur Verfügung stand.

»Scott, du bist so jämmerlich. Lass es! Wirklich! Ich brauch das nicht. Du kannst nicht gewinnen. Selbst wenn du mich besiegst ...«

Das gab Microbrain etwas zu denken. Scott hielt sein Maul und Thimo war dafür dankbar. Ihm taten alle Knochen weh. Sein erster Schultag und am Abend würde er bereits alle Farbschattierungen von grün, gelb, blau und violett zeigen.

3.5. To ride the dogs of war

Die zehn Runden waren schließlich zu Ende. Scott und Thimo duschten mit maximalem Abstand voneinander, zogen sich an und verließen den Umkleideraum.

Draußen wurden beide schon erwartet. Auf Scott warteten Brandon und noch zwei andere Jocks, deren Namen Thimo aber noch nicht kannte. Auf ihn warteten Rob und Marcel. Die Spannung zwischen den beiden wartenden Gruppen war deutlich spürbar. Als Scott Rob und Marcel sah, begann er gehässig zu grinsen.

»Sind das deine Freunde? Gratulation! Looser zu Looser, so hab' ich's gern. Hallo Marcel, wie geht's denn meinem gelenkigen Lieblingslooser?«

Die Art wie Scott dies sagte und die Art wie Marcel darauf reagierte, gefielen Thimo überhaupt nicht. Marcel lief rot an, seine Augen zeigten gleichzeitig Emotionen von Angst, Hass und Scham. An dieser Schule sind mehr Leichen vergraben als auf dem Fehmarner Zentralfriedhof.

Thimo ballte seine Fäuste. Scott ging zu weit.

»Ok, lass es uns klären. Jetzt, hier und ein für alle Mal!«

Thimos Körper spannte sich. Ihm war es egal, ob er verlieren oder gewinnen würde, aber Scott hatte eine Grenze überschritten. Zurückweichen wäre Feigheit.

»Ok, du willst es ja nicht anders! Lass uns die Sache klären ...«

Scott war bereits dabei, auf Thimo loszugehen, als erneut Brandon dazwischenging.

»Scott, warte! Nicht jetzt! Nicht hier! Du weißt doch ...«

Scott hielt tatsächlich inne und trat zurück.

»Looser. Heute hattest du Glück, aber nächstes Mal ...«

Scott, Brandon und die zwei anderen verschwanden. Einfach so. Was ist hier los? Informationen, ich brauch Informationen!

Mit einem spöttischen Schmunzeln strahlte Rob Thimo an.

»Du machst keine halben Sachen, oder? Wenn du dich mit jemandem anlegst, dann mit dem Mann an der Spitze! Respekt und mein Beileid. Ich möchte nicht in deiner Haut stecken.«

»Und in meinen Knochen. Beides tut mir weh. Können wir uns hinsetzen?«

»Klar! Komm, da drüben ist 'ne Bank.«

Alle drei setzten sich. Marcel holte eine Wasserflasche hervor und bot sie Thimo an. Das Angebot wurde mehr als wohlwollend angenommen.

»Dabei weiß ich eigentlich nicht, was ich Scott getan habe ...«

Thimo nahm seinen Kopf in die Hände, rieb sich die Augen und stützte sich mit den Ellenbogen auf.

»Du magst es nicht wissen, aber die gesamte Schule weiß, was passiert ist! Du hast Scott ausgepunktet. Etliche Leute, inklusive Marcel und mir haben deine Performance auf dem Feld gesehen. Mann, du warst super! Ein Naturtalent. Du hast Scott genullt. Und das mein Lieber weiß inzwischen wirklich jeder. Scott wurde ausgepunktet. Wow!«

Rob war beeindruckt. Thimo hingegen taten nur seine Knochen, Haut, Gesicht und Glieder weh. Die Schlacht mit Scott hatte ihren Tribut gefordert.

»Rob, kannst du mich nach Hause fahren? Äh, und könnte mich jemand etwas stützen. Ich glaube meine Knie sind etwas weich ...«

»Klar. Marcel pack mit an.«

Auf Rob gestützt wanderten die drei zu Robs Auto. Marcel schleppte das Sportzeug. Ein bitter erkaufter Sieg.

»Thimo! Mein Gott was ist mit dir passiert?«

Mütter sind auf der ganzen Welt gleich. Immer um ihre Kleinen besorgt und immer etwas hysterisch, wenn den Kleinen etwas zugestoßen ist. Thimos Mum machte da keine Ausnahme.

»Mum, alles ok. Wirklich. Lass mich nur hinsetzen und etwas ausruhen.«

Thimo ließ sich in einen Sessel plumpsen. Alle standen im Wohnzimmer, das heißt Marcel und Rob standen wie Falschbier unsicher und schüchtern im Türrahmen und trauten sich nicht rein. Thimo merkte, dass er sie noch nicht vorgestellt hatte.

»Ach ja! Mum, das sind Marcel und Rob. Zwei neue Freunde. Marcel und Rob: Meine Mutter!«

»Hallo Jungs!«

»Guten Tag, Frau Camron-Bach ...«

»Nennt mich Ellen. Das ist kürzer. Seid ihr eigentlich hungrig ...«

»Öhm, also ... ich könnte was vertragen ...«

»Ok, einen kleinen Moment. Und dann, mein Herr Sohn, erzählst du mir genau, was passiert ist. Und ihr zwei, setzt euch endlich!«

Mütter halt. Was soll man sonst noch sagen?

Ein paar Minuten später war Ellen mit ein paar Sandwiches und Softdrinks zurück. Thimo erzählte von seinem ersten Schultag. Von seiner sportlichen Leistung und, in zensiert-mutterkompatibler, Form die Geschichte von Scott.

»Hm, lassen wir das mal so stehen. Du hast mir natürlich wieder mal nicht alles erzählt. Aber ... hm, wie soll es jetzt weitergehen?«

Ein hilfesuchender Blick zu Rob und Marcel ergab nur ratloses Schulterzucken.

»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich aus diesen Klamotten raus muss und mich mit einem halben Pfund Mobilität eincremen werde ...«

Thimo stemmte sich vorsichtig, sehr vorsichtig aus dem Sessel. Die Blessuren begannen so langsam richtig weh zu tun.

»Kommt ruhig mit ...«

Rob folgte sofort; Marcel schien kurz einen Anflug von Angst zu zeigen, folgte dann aber auch. ,Oder bilde ich mir das nur ein?' Thimo war sich nicht sicher.

Thimos Raum lag im ersten Stock und hatte sein eigenes Bad. Er zog sich bis auf die Shorts aus und warf sie aufs Bett, schnappte sich ein Handtuch und lockere Sachen: ein T-Shirt XXL und eine weite, lange Sporthose.

»Macht's euch gemütlich, bin gleich wieder da. CD-Player steht da hinten ...«

Sprach's und entschwand ins Bad.

»Wow! Das bin ich?«, der Badezimmerspiegel reflektierte das ganze Drama. Thimos Gesicht war ein impressionistisches Gemälde in Blau-, Rot-, Grün- und Violetttönen. An der linken Augenbraue und an der Unterlippe klebte noch etwas Blut. Das rechte Auge war mit einem Veilchen verunstaltet. Der Oberkörper war auch eher bunt.

»Ganze Arbeit … Naja ...«

Thimo wusch das angetrocknete Blut ab und rieb alle Körperteile, die es nötig hatten mit Wund- und/oder Schmerzsalbe ein. Schnell in die Sportklamotten geschlüpft, kehrte er in sein Zimmer zurück und legte sich auf sein Bett.

»Sagt mal, passiert sowas an der Liberty High öfter?«

»Nö, eigentlich nicht. Is' sonst ne ruhige Schule ...«

»Shit! Erzähl doch keinen Scheiß!«, mit einem plötzlichen Wutausbruch wurde Rob von Marcel unterbrochen, »Der Laden strotzt doch nur so vor Gewalt. Wie oft bist du selbst abgezogen worden? Wie oft hast du Prügel bezogen? Also erzähl mir nicht solchen Scheiß ...«

Rob senkte den Blick auf den Boden und seufzte verbittert.

»Shit, du hast Recht. Es ist ein Scheißladen. Friss oder stirb. Füg dich, oder sieh' zu, wie du klarkommst - alleine!«

»Und was ist jetzt eigentlich passiert? Ich meine: Wie passe ich ins Bild?«, Thimo stellte diese Frage mehr sich selbst als den beiden Jungs.

»Oh, das ist doch wohl klar, oder? Du bist ein Unsicherheitsfaktor, ein Zündfunke, das Gramm Uran, was zur kritischen Masse gefehlt hat. Dein Auftritt hat das gesamte fein ausbalancierte Machtgefüge in Frage gestellt.«

»Ey Leute, wer bin ich denn? Seht mich an! Ich bin gerade mal sechzehn! Er hat ne' Hausmacht ...«

»Na und? Scott ist gerade mal siebzehn. Was soll's ... und das mit der Hausmacht ... naja, ich will es mal so sagen. Die Masse der Kids an der Schule ist desinteressiert was läuft. Hauptsache ohne viel Stress durchkommen. Also kommt man Scott und seinen Jungs oder den anderen Gruppen nicht in die Quere. Nicht weil man sie respektiert, weil man sie fürchtet. Das kann aber auch ganz schnell umkippen, manchmal reicht dazu eine Person ...«

Rob und Marcel sahen Thimo mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an. Eine Mischung aus Hoffnung, Freude, Sehnsucht und, das war das Merkwürdigste, Ehrfurcht war in ihren Augen. Thimo schnürte es den Hals zusammen.

»Was erwartet ihr von mir? Ich bin nicht der Erlöser der Liberty High! Ich habe heute meinen ersten Schultag auf dieser verdammten Schule gehabt. Ich habe Football gespielt, ich habe neue Freunde und neue Feinde gefunden und ich wurde zusammengeschlagen ... also was? Helft mir! Was soll ich tun?«

Marcel hatte die ganze Zeit geschwiegen, er sah, das Thimo unter der Situation litt und ergriff das Wort: »Heute Mittag hat ein guter Freund einem anderen guten Freund einen weisen Rat gegeben: ,Sei du selbst!`«

Treffer! Das war der Rat den Thimo Tom gegeben hatte. Thimo resignierte. Was könnte er auch noch an der Situation ändern. Nichts.

»Und was wird jetzt kommen?«

Rob und Marcels Gesichter verfinsterten sich.

»Krieg!«

3.6. Die Ruhe vor dem Sturm

Die allgemeine Wertschätzung ist eine Hure. Sie wendet sich immer demjenigen zu, der am meisten zu bieten hat. In diesem Fall hieß dieser jemand Thimo Camron-Bach und bot allerlei Gesprächsstoff und die Basis für die absurdesten Gerüchte. Dieser sechzehn Jahre alte Junge war über Nacht das Thema Nummer eins in den Kursen und Gängen der Liberty High geworden. Thimo war das eher unangenehm. Er wurde von Jungs und Mädchen gegrüßt, die er weder kannte noch jemals vorher gesehen hatte. Aber seine Performance auf dem Footballfield und seine Auseinandersetzung mit Scott hatten ihn bekannt gemacht. Man zollte im Respekt. Fraglich war nur, ob hinter dem Respekt nicht eher Mitleid steckte. Das Thema war noch lange nicht erledigt.

Im krassen Gegensatz zu Marcels und Robs Prognose kam es zu keiner kriegerischen Handlung. Man hatte zwar den Eindruck, dass die ganze Schule unter Hochspannung stand, ging aber ausgesprochen respektvoll miteinander um. Thimo und Scott gingen sich so weit wie möglich aus dem Weg, und wenn sich ein Kontakt nicht vermeiden ließ, wie beim Training, hielten sich beide mit ihrer Wut aufeinander zurück.

Beim Training selbst hielt sich Thimo nicht zurück. Warum auch? Scott hatte ihn eh gefressen, warum mit dem eigenen Können hinterm Berg halten? Voller Stolz packte Thimo den Umzugskarton mit seinen Footballsachen aus. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er die Sachen je im Geburtsland des Footballs nutzen können würde.

Thimos gute Leistungen beim ersten Training waren keine Eintagsfliege. An den folgenden Trainingstagen, von denen es an der Liberty High viele gab, pendelte sich seine Performance auf einem sehr hohen Niveau ein. Nicht nur Skinner war beeindruckt, auch ein Großteil der Mannschaft zollte Thimo Respekt und akzeptierte ihn. Vorbehalte und kalte Ablehnung gab es natürlich bei der Gruppe um Scott. Für ihn liefen die folgenden Tage nicht so gut. Scotts eigenes Spiel war unkonzentriert und weit von seinen Möglichkeiten entfernt. Thimo bedauerte diese Entwicklung. Scott war ein guter Spieler, ein sehr guter sogar, auf den man bei den kommenden Schulmeisterschaften nicht verzichten konnte. Mehr um alles andere in der Welt war Thimo an einer friedlichen Einigung interessiert. Er glaubte zwar nicht daran, dass er Scott je mögen würde, aber wenn sie sich gegenseitig respektieren würden, wäre viel gewonnen. Die Realität sah anders aus.

Die erste Schulwoche ging vorüber. Der Reiz der neuen Umgebung begann dem Alltagstrott Platz zu machen. Es kehrte sowas wie Normalität ein. Thimo hing die meiste Zeit mit Rob, Peter, Tom, Jana und Marcel zusammen und auch wenn Toms anfängliches Ziel, Thimo als Imageverbesserer einzusetzen, sofort enttarnt wurde, zeigte Thimos Anwesenheit Wirkung. Die ehemalige Loosergang stieg langsam aber sicher in den inoffiziellen Sympathiecharts der Schüler der Liberty High. Wie gesagt: Die allgemeine Wertschätzung ist eine Hure.

Thimo lag auf seinem Bett und dachte nach. Seit dem denkwürdigen ersten Schultag waren knapp zwei Wochen vergangen. Er war mittlerweile in die Stammmannschaft von Skinners Footballtruppe aufgenommen worden. Seine anderen schulischen Leistungen waren ok, naja, eigentlich waren sie gut bis sehr gut. Es läuft. Ein Gefühl von Zufriedenheit machte sich breit, nur getrübt um die Sorge, was Scott möglicherweise noch vorhat.

Er schob diesen Gedanken beiseite. Man wird sehen. Viel mehr Freude machte sich Thimo um Svenni und seinen neuen Freund Tim. Svens E-Mails hielten ihn über alle Entwicklungen auf dem Laufenden und es lief nach anfänglichen Startschwierigkeiten offensichtlich blendend. Ok, da war noch ein Problem mit Tims Vater zu klären, aber das würden die beiden sicherlich in Griff bekommen. Umgekehrt versorgte Thimo Sven mit allen wichtigen Infos aus seiner neuen Heimat. Nach allem was Thimo gelesen hatte, schien Svennis Gymnasium wesentlich mehr den Vorstellungen von einer normalen Schule zu entsprechen, als seine High-School. Svenni hatte offensichtlich ebenfalls neue Freunde gefunden. Noch eine Sorge weniger.

Es ist schon verblüffend, aber deine neuen Freunde erinnern mich sehr, von deiner Beschreibung her, an meine hier in Portland. Wir suchen wohl immer und überall dasselbe. Sind wir uns so ähnlich? Junge, du fehlst mir! Meinst du, dass du es schaffst, über Sylvester rüber zu kommen?

Ich liebe dich, Thimo!

So endete die E-Mail, die Thimo vor wenigen Minuten – natürlich verschlüsselt - verschickt hatte. Seine Gedanken hingen noch an dem Text. Marcel? Er hatte ihn die ganze letzte Woche beobachtet, intensiver als seine anderen neuen Freunde. Der Typ war absolut süß und zum Verlieben. Aber ... dieses Wort kreiste durch Thimos Kopf. Da war diese schwer greifbare dunkle Schwingung, die von Marcel ausging. Man meinte Schmerz, Verzweiflung und Angst zu spüren. Thimos Spürhundinstinkt war geweckt. So wie er Svennis Geheimnis gelüftet hatte, wollte er wissen, welche Dämonen Marcel jagten. Thimo ahnte, dass ein Schlüssel dazu bei Scott lag, die beiden verband etwas Böses. Bei dem Gedanken daran überlief Thimo eine Gänsehaut.

Ich brauch mein Kiteboard! Ich muss nachdenken!

In der letzten Woche hatte Thimo seine Fahrprüfung bestanden und war somit im Besitz eines Führerscheins. Treckerfahren war zwar nicht Autofahren, aber zusammen mit ein paar illegalen Autofahrstunden auf der Insel reichte ihm ein einwöchiger Crashkurs, um fit für die Prüfung zu werden. Er packte seine Surfsachen ins Auto seiner Mutter und fuhr zu einem Surfspot, den er sich im Internet rausgesucht hatte. Es war erst später Nachmittag, noch genügend Zeit, um zu fliegen, um die Welt eine Weile zu vergessen und nachzudenken ....

Der nächste Morgen. Samstag - Wochenende - Ausschlafen - Frühstück.

»Mein lieber Sohn, tu sowas bitte nie wieder. Ja?«

Oops, Thimo hatte sich ohne zu Fragen den Wagen seiner Mutter ausgeliehen. Nicht dass sie ihm den Wagen nicht gegebenen hätte, aber sie wollte doch schon informiert werden.

»Sorry Mum, tut mir leid. Ich war mit meinen Gedanken ganz wo anders ...«

»Ist der Surfspot denn wenigstens gut?«

Ellen kannte ihren Sohn.

»Hmmm ...«

»Probleme? Du vermisst Sven, oder?«

»Ja und Ja. Ich vermisse Svenni, du weißt wie sehr! Aber das ist nicht mein Problem. Ich kann dazu noch nichts sagen, mir geht jemand nicht aus dem Kopf. ..«

»Du meinst Marcel!«

»Mum! Woher ...?«

»So wie du ihn ansiehst, ist das ziemlich offensichtlich. Er ist sympathisch, ein netter Junge, aber, er wirkt so traurig ...«

»Du hast es auch bemerkt? Ich hab' mir das nicht eingebildet?«

»Nein hast du nicht. Oh, und Sohn, ich kenn dich! Du willst ihm helfen. Sei vorsichtig ...«

Thimo konnte nur fragend dreinschauen.

3.7. Robs Weltformel

»Thimo, ich hab' hier einen Brief von Svennis Eltern erhalten. Die fragen an, ob du für Sven ein Geburtstagsgeschenk besorgen kannst.«

»Klar, aber warum wir? Ist das nicht verdammt umständlich?«

»Also, sie schreiben, dass Sven in ein ganz bestimmtes Fahrrad, so ein Mountainbike verliebt ist. Das bekommt man wohl in Europa noch nicht und wenn doch, dann nur für ein Heidengeld. Sie fragen, ob man das hier nicht vielleicht billiger bekommen kann.«

»Klar. Die Preise sind hier deutlich besser. Was soll es denn für eines sein?«

»Och, Thimo, du weißt doch, dass ich von sowas keine Ahnung habe. Aber hier steht was. Cannondale Raven 4000 SX, sagt dir das was?«

»Oh ja, das sagt mir sehr wohl etwas. Wissen Svennis Eltern, dass man dafür einen Kleinwagen bekommen kann?«

»Ich glaube schon, die haben eine Geldanweisung mitgeschickt und noch etwas, sie haben für dein Geschenk an Thimo gesorgt. Das wird dir gefallen.«

»Was? Wie kommen die darauf, was ich Thimo schenken will?«

»Warte doch erst mal ab. Sie haben zwei Flugtickets besorgt, über Silvester, damit Svenni zu uns, äh, ich meine zu dir kommen kann. Aber wieso zwei Tickets?«

Thimo musste wissend lachen: »Mein kleiner Svenni hat einen wirklich süßen Freund gefunden. Du weißt doch, dass ich ihm befohlen hatte, sich mich aus dem Kopf zu schlagen.«

»Keine Eifersucht?«

»Nein. Ich weiß das Svenni mich liebt. Immer. Das geht über eine normale Freundschaft hinaus. Wir sind sowas wie Brüder.«

»Sohn, ich bin stolz auf dich. Aber was ist mit dem Fahrrad?«

»Ich werd' mal Rob anrufen, der hat ein Auto und ich brauch mir deins nicht ausleihen.«

»So war das doch nicht gemeint. Natürlich kannst du dir das Auto ausleihen. Du solltest allerdings vorher fragen.«

»Ja Mama.«

»Ich glaube es wäre trotzdem ganz gut, wenn du Rob fragst. Ich benötige den Wagen heute nämlich selbst.«

»Kein Problem.«

Thimo rief Rob an, der auch sofort freudig zusagte. Knapp eine halbe Stunde später stand er auch schon vor der Tür.

»Hi, Thimo. Was liegt an? Du willst dir ein Fahrrad kaufen? Warum kein Auto?«

»Es ist nicht für mich, sondern für einen Freund. In Deutschland. Cannondale Bikes sind hier deutlich billiger als drüben.«

»Und was ist mit dem Zoll?«

»Die Firma von dem Paps meines Freundes hat hier eine Niederlassung mit der sie ständig Waren austauschen. Also, sobald die das Ding bei mir abgeholt haben, ist für mich die Sache erledigt.«

»Was sind wir heute wieder ehrliche Staatsbürger! Ok, dann schieß mal los. Was für ein Bike soll es denn sein?«

»Ein Raven 4000 SX.«

»Sagt mir nix, aber egal. Ich kenn ein paar gute Läden in der Nähe.«

Rob und Thimo düsten los. Wie Thimo bereits feststellen musste, hatte die Formulierung »in der Nähe« eine ganz andere Bedeutung als in Europa. So waren Entfernungen von 20 Meilen noch quasi »Eben mal um die Ecke«. Für »in der Nähe« gingen so auch noch locker 100 Meilen durch. Von metrischen Entfernungsangaben hatte man auch noch nicht viel gehört. Der erste Laden, den Rob ansteuerte, lag deswegen auch nur lächerliche 45 Meilen entfernt. Genug Zeit, sich zu unterhalten.

»Eigentlich ist ja Marcel unser Bikefreak. Allerdings ist er mehr auf dem BMX-Trip. Du solltest ihn mal in der Halfpipe erleben ...«

»Kennst du Marcel eigentlich schon lange.«

»Was heißt lange? Peter, Tom, Jana und Marcel kennen sich schon ewig. Ich bin den vier erst auf der High-School begegnet. Damals hat Jana mich vor Scott gerettet.«

»Vor Scott gerettet - Wie denn das?«

»Oh, das eine beschissene Geschichte. Du wirst überrascht sein, aber Scott, Marcel und Jana waren mal die besten Freunde.«

»Wie bitte? Jana und Marcel waren mit diesem Arsch befreundet?«

»Er war nicht immer so ein Arschloch wie heute. Das kam erst später.«

Rob erzählte. Marcel und Scott kannten sich quasi aus der Sandkiste. Die Eltern waren Nachbarn, die Kinder spielten zusammen, das Übliche halt. Ob im Kindergarten, der Elementary School und später in der Junior High, die beiden waren nicht zu trennen. Sie waren echt beste Freunde. Später kamen dann auch Peter, Tom und zum Schluss Jana hinzu. Die Wege von Marcel, Peter und Tom, sowie Scott hatten sich bereits getrennt, als Rob dazu kam. Nur Jana war noch mit Scott zusammen. Auch wenn weder Jana noch Marcel heute Scott gerne erwähnten, wenn es um die gemeinsame Vergangenheit ging, so schien sie glücklich gewesen sein.

»Das ist mir auch schon aufgefallen. Immer wenn von Scott die Rede ist, oder er irgendwo aufkreuzt, ist Marcel verdammt merkwürdig.«

»Ja, er scheint Angst zu haben, obwohl das die Sache nicht richtig beschreibt. Ich tappe da ähnlich im Dunkeln wie du, Thimo. Als ich Marcel kennen lernte, war die Freundschaft der beiden schon Gesichte. Ich mag Marcel. Er ist ein toller Typ und ein wirklich guter Freund. Aber es gibt da etwas tief in ihm drin, da kommt keiner ran. Es tut weh, ihn leiden zu sehen. Und er leidet wirklich! Ich spüre das.«

»Hast du irgendeine Idee, wieso er leidet?«

»Nein! Leider überhaupt nicht! Ich glaube Jana weiß etwas. Aber sie sagt nichts. Ich hab' einmal versucht mit ihr darüber zu sprechen und voll auf Granit gebissen. Sie sah mich nur traurig an, ich hatte fast den Eindruck, sie würde anfangen zu weinen, riss sich dann aber zusammen und meinte schließlich nur: ,Bitte frag' mich nicht! Ich habe ein Versprechen gegeben.` Danach hat sie nie wieder ein Wort darüber verloren. Aber ihre Traurigkeit kannst du immer noch sehen; immer dann, wenn sich die Wege von Scott und Marcel kreuzen.«

Thimo schwieg. Seine Gedanken drifteten ziellos umher. Er war über diese neue Welt hereingebrochen wie ein Sturm. Seine pure Anwesenheit schien längst vernarbte Wunden aufzureißen. Er fühlte, dass er diese Entwicklung nicht mehr umdrehen konnte. Er hatte unbewusst eine Kette von Ereignissen angestoßen. Die Geschichte nahm ihren Lauf.

»Du bist so nachdenklich?«, Rob weckte Thimo aus seinen Gedanken.

»Ich frag' mich gerade, was ich da eigentlich losgetreten habe.«

Rob nickte: »Du hast ziemlich sensible Antennen, was? Ich weiß ja nicht, ob es wirklich an dir liegt, aber mit Beginn des neuen Schuljahres hat sich das Klima an der Liberty High geändert. Es weht ein merkwürdiger Wind durch die Gänge der Lehranstalt. Und wenn du mich fragst: Mann sollte Hurrikanwarnung geben«

»Du machst mir Freude.«

»Ach was! Die Liberty High ist ein verfluchter Ort mit verfluchten Menschen. Amber Wilson zum Beispiel, unsere First Lady und Inbegriff der holden, unschuldigen Weiblichkeit, Symbol des weißen, puritanischen Amerikas und Idol der Jugend ist das größte Miststück, das ich kenne, Alkoholikerin, was man ihr nicht vorwerfen kann, Erpresserin, sie erpresst mindestens zwei Lehrer mit Sex, d.h. mit fingierten Anschuldigungen wegen sexueller Belästigung, pudert ihr Näschen meistens auch von innen und hat bisher mit jedem aus dem Footballteam geschlafen.«

»Mit mir nicht.«

»Oh Mann, ich vergesse immer, dass du einer von denen bist.«

»Ich bin nicht einer von denen. Ich spiele nur Football, was ist daran verkehrt?«

»Du stellst damit das System in Frage. Du kommst hierher und scherst dich einen Dreck um die ungeschriebenen Gesetze der Liberty High.

Footballspieler bleiben unter sich! Schwarze bleiben unter sich! Streber bleiben unter sich! Latinos bleiben unter sich! Jeder bleibt unter sich! Punkt! Das ist ein Naturgesetz! Und Ende!»

Rob kam regelrecht in Rage, die Sache schien im verdammt nahe zu gehen. Während er sprach, schlug er mit den Händen aufs Lenkrad seines Wagens. Rob hatte Wut im Bauch.

»Eine Weile wird man dir das durchgehen lassen, aber irgendwann schlägt das System zurück. Und je höher du bis dahin gestiegen bist, desto härter wird es dich treffen und am Ende vernichten.«

Robs Wut war umgeschlagen. Er klang nicht überheblich, er klang aber auch nicht traurig, als er die letzten Sätze sagte. Er klang nur ernüchtert, gleichgültig und resigniert.

»Was ist passiert? Wer hat dich gebrochen?«

»Ist das so offensichtlich? Aber du hast Recht, ich hab' das alles hinter mir. Als wir, meine Eltern und ich, hier hergezogen sind, war ich fast so wie du. Keine Ahnung vom System. Es wird bloß schwierig, wenn die verschiedenen Gruppen exklusive Loyalität einfordern. Man muss sich also für eine Seite entscheiden. Bei mir war es die Entscheidung, zwischen Scott und seine Leuten auf der einen und der Gruppe um Marcel, Tom und Peter auf der anderen Seite zu wählen. Scott verlangte, nein eigentlich war es Brandon, dass ich die anderen, die Looser vergessen sollte.«

Die Erinnerungen schienen schmerzhaft zu sein. Thimo merkte, wie sich Rob innerlich verkrampfte. »Es ist wahr!«, dachte er, »Ich reiße wirklich Wunden auf, die man besser in Frieden lassen sollte.«

Nach einer langen Pause fuhr Rob deutlich leiser mit seinem Bericht fort.

»Tja, das war's dann. Ich war nicht bereit, mich für eine der Seiten zu entscheiden, also wurde für mich entschieden. Scott ließ mich fallen wie eine heiße Kartoffel. Kannst du dir vorstellen, was es bedeutet, wenn der Captain der Footballmannschaft öffentlich den Stab über dir bricht? Ich stand mehr oder weniger allein da. Aber das war noch nicht alles. Es gab einen Menschen, der wirklich zu mir hielt: Jana! Das war ihr Fehler! Amber Wilson sah endlich ihre Chance, Jana kaltzustellen und nutze sie eiskalt aus. Amber hat weder das Format noch die Klasse von Jana, aber sie ist ehrgeizig, skrupellos und einfallsreich.

Wie ich vorhin erzählte, war damals Jana noch mit Scott zusammen, obwohl das bereits am Bröckeln war. Amber spielte jeden gegen jeden aus, ließ hier und dort eine kleine Lüge fallen, manipulierte hier, manipulierte dort, mit anderen Worten: Sie versprühte überall ihr Gift bis es Wirkung zeigte. Neben Brandon war sie die zweite treibende Kraft, die hinter meinem Bruch mit Scott stand. Und alles nur aus gekränkter Eitelkeit: weil ich ihr einen Korb gegeben hatte. Niemand gibt Amber einen Korb!»

Rob schüttelte den Kopf, als wenn er versuchen wollte, die Erinnerungen aus seinem Schädel herauszuschütteln.

»Mit der Trennung von Scott brach für Jana die Hölle los. Scott beschimpfte sie in aller Öffentlichkeit als Hure und lesbische Schlampe. Durch die intensive Vorarbeit von Amber stürzte Janas Beliebtheit in den Keller und mit ihr alle, die zu ihr hielten: Tom, Peter, Marcel und ich - die Loosergang war geboren.

Und weswegen das alles? Blanker Neid und lächerliche Missgunst. Aber so läuft der Laden. Das System ist überall am wirken und arbeitet für die Arschlöcher. Die Schule kostet ein Heidengeld. Und wie bekommt man zahlende Eltern? Mit einem guten Ruf! Und was ist ein guter Ruf bei einer Schule? Exzellente Sportler und viele Siege der Schulmannschaften. Also fördert man vor allen anderen die Sportcracks, also Arschlöcher wie Scott und Brandon. Du hast es selbst erlebt. Skinner entscheidet darüber, dass du von etlichen Unterrichtsstunden befreit bist. Skinner will dich, Franklin will dich, die Schule will dich. Nicht weil sie dich mag, sondern weil sie mit deinen Leistungen auf dem Footballfeld Kohle machen will.

Das System geht aber noch weiter. Die Sportler können sich bei uns alles erlauben. Schlechte Noten? Kein Problem. Prinzipal Franklin wird mit dem entsprechenden Lehrer ein klärendes Gespräch führen. Am Ende werden beide übereinstimmen, dass die schlechte Note wohl ein bedauerlicher Irrtum war, denn ein guter Sportler kann keine schlechten Noten haben. Das Gleiche gilt fürs Abzocken. Weißt du, wie viele Kids aus den unteren Klassen sich ihre körperliche Unversehrtheit erkaufen müssen? Oder wie wär's mit sexuellen Übergriffen auf die Mädchen und wohl auch gelegentlich auf die Jungs? Auch kein Problem: Sie hat es doch nur darauf angelegt. Warum laufen die Schlampen auch so aufreizend rum? Und Sex mit den Jungs? Spätpubertäres Verhalten! Nicht der Rede wert. Einfach unter den Tisch kehren. Oh Shit, ich möchte echt nicht in der Haut von so'ner echten armen schwulen Sau stecken. Wenn das die Typen mitbekommen. Der kann sein Testament machen ...»

3.8. Erst denken, dann sprechen

Thimo hätte fast in den Wagen gekotzt. Robs letzter Satz kam einem Schlag in den Magen gleich. Nur blieb keine Zeit, um weiter darüber nachzudenken, da Rob inzwischen bei seinen Hasstiraden auf das System und bei seiner kleinen Reisschüssel Vollgas gab.

»Aber damit ist noch lange nicht Schluss! Wer, meinst du, bekommt die Stipendien fürs College? Genau! Denn auf dem College geht die ganze Scheiße genau so weiter. Eine gute College Footballmannschaft bedeutet Ruhm und Ehre, also Geld. Und so züchtet dieses System diese gottverdammten, arroganten Arschlöcher ran, die dann später auch noch die besten Jobs bekommen. Und die Typen können sich wirklich alles erlauben. Und die dummen Hühner von Frauen rennen diesen Idioten auch noch hinterher. Mich kotzt das an! Mich kotzt das echt an!«

Thimo wusste nicht so recht, was er darauf entgegnen sollte. Er wusste auch nicht, ob Rob wirklich Recht hatte mit dem, was er gesagt hatte. Er wusste nur, dass seine Stimmung auf einem Tiefpunkt angekommen war. Rob einen Stimmungstöter zu nennen, wäre eine Untertreibung. Thimos nächster Satz entsprang daher auch weniger einer gründlichen Überlegung als vielmehr purer Hilflosigkeit, überhaupt etwas zu sagen.

»Äh, ich spiel da auch mit ... Skinner hat mich gestern fest in die Mannschaft aufgenommen.«

»Shit Thimo, ich weiß! Aber du passt da eigentlich gar nicht rein! Ich hab' Angst, Thimo! Angst um dich, dass dir das Gleiche passiert wie mir.«

»Wie denn? Scott hat mich doch schon fest in sein Herz geschlossen. Die Fronten sind doch schon längst geklärt. Und noch etwas: Du hast es selbst gesagt: Das System braucht mich!«

»Shit, du hast Recht. Solange du so gut spielst wie im Moment, bist du faktisch unantastbar. Stimmt, dir spielt das System in die Arme.«

»Ich hätte da noch eine andere Frage: Was ist mit Brandon?«

»Mann, du bist wirklich gut! Hörst du das Gras wachsen? Du hast absolut Recht! Brandon ist ein Schlüssel in der ganzen scheiß Geschichte. Scott hat Muskeln, hat Kraft, hat eine gewisse Ausstrahlung. Was er nicht hat ist Esprit. Oh, ich will ihn nicht schlechter machen, als er ist. Er ist nicht dumm. Denn obwohl er inzwischen das totale Arschloch ist, ist er eigentlich eine grundehrliche, solide Haut. Scott macht keine Umwege, immer geradeaus. Wenn er Scheiße sagt, dann ist auch Scheiße. Ich glaube nicht, dass er jemals linke Touren mit einem veranstalten würde. Zu Intrigen ist er einfach nicht fähig und, ich glaube, das ist sein größtes Problem, Scott ist leider etwas naiv, leicht zu beeinflussen und hat einen heftigen Minderwertigkeitskomplex.«

»Scott hat was?«

»Oh ja, und wie! Eine Sache hab' ich immerhin rausbekommen. Scott bewundert Marcel! Immer noch! Scheint so eine Art Hassliebe zu sein. Vielleicht weißt du's noch nicht, aber Marcel ist ein echter Ausnahmeleichtathlet: 100m, 200m, 400m Laufen und 4x100m Staffel. Er ist in allen Disziplinen wirklich gut, aber seine wirkliche Stärke sind die 400m. Pech für ihn, dass Leichtathletik in unserem Laden kein besonders hohes Ansehen genießt. Bei den 400m ist Marcel unschlagbar. Du solltest ihn mal laufen sehen. Es ist fantastisch. Wenn Marcel läuft, ist es, als wenn er eins wird mit der gesamten Welt. Er läuft sowas von geschmeidig und elegant. Es liegt ihm einfach im Blut.

Wie auch immer ... Scott scheint Marcel bei all seiner Abneigung zu beneiden. Scott hat in einem schwachen Moment mal eine Bemerkung losgelassen, dass er seine Footballleistung für minderwertiger hält, als Marcels Laufleistung.»

Da könnte etwas dran sein. Scott war ein sehr guter Footballspieler und mit Recht Captain der Mannschaft, das wusste Thimo aus eigener Anschauung. Aber er wusste genauso, dass Scott seine Leistung aus seiner Kraft und Schnelligkeit bezog, er war nicht das, was man elegant nennen würde. Seinem Spiel fehlte die Seele. Scott hatte sich seine Position durch Arbeit erkämpft; durch verdammt harte Arbeit. Sie war ihm nicht durch Begabung zugefallen. Thimo begriff so langsam, warum Scott auf ihn so heftig reagiert hatte. Thimo musste nicht in gleicher Weise für seine Leistung arbeiten. Er hatte diese Form von Begabung. Er war das Naturtalent, wie Skinner es formulierte, und stellte für Scott somit eine ernsthafte Bedrohung seiner Position dar.

»Ich glaub' ich weiß, was du meinst.«, Thimo behielt seine Gedanken erst mal für sich.

»Nun ja, Scott ist sicherlich ein guter Captain, aber er scheint das Gefühl zu haben, nicht so gut in seiner Sache zu sein wie Marcel. Dieser Minderwertigkeitskomplex nährt seinen Hass, obwohl ich nicht glaube, dass Scott von selbst zu diesem Hass kam.«

»Brandon?«

»Genau. Was ich so häppchenweise rausbekommen habe, begann sich das Verhältnis zwischen Scott und Marcel erst mit dem Auftauchen von Brandon zu verschlechtern. Ich halte Brandon für gefährlich. Er hält sich immer im Hintergrund, aber er hat die Fäden in der Hand. Thimo! Wenn ich's mir recht überlege, könnte man fast sagen, dass Brandon Scott für ihn die Drecksarbeit machen lässt. Wenn Brandon für seine Ziele ein paar Muskeln braucht, schaltet er Scott ein. Mann, ich Idiot, warum hab' ich das nie vorher so deutlich gesehen?«

»Ganz einfach, du bist an das alles gewöhnt. Du bist zu dicht dran. Erst wenn man ein paar Schritte zurück tritt, sieht man das ganze Bild. Was weißt du noch über Brandon?«

»Nicht sehr viel. Er ist etwas länger hier als ich. Ein halbes Jahr wohl, vielleicht ein, zwei Monate mehr. Er hängt immer mit Scott zusammen, nein falsch, Scott hängt immer mit ihm zusammen. Scott scheint nichts gegen Brandons Willen zu tun. Er scheint sich fast nur noch über Brandon zu definieren.«

Von der Fahrerei und der Unterhaltung müde geworden, drehte Thimo die Rückenlehne seines Sitzes etwas weiter zurück, schloss die Augen und räkelte sich in seinem Sitz.

»Weißt du was? Heute Morgen hatte ich noch an einen schönen Samstag gedacht. Wir würden in Ruhe ein Fahrrad für meinen Schnuckel kaufen, etwas abhängen ...«

»Deinen Schnuckel?«

3.9. Kaffee und Blaubeer-Pie

Thimo biss sich auf die Lippen, aber es war zu spät. Ein kleiner Moment mentaler Schwäche und Müdigkeit, und das falsche Wort war rausgeflutscht. Shit, erst denken, dann sprechen! Er wurde knallrot und in Sekundenbruchteilen blass. Die schlagartigen Änderungen seiner Hautfarbe, sein panischer Gesichtsausdruck waren natürlich ebenfalls nicht unbemerkt geblieben. Rob war alles andere als dumm und zog sofort die richtigen Schlüsse. Sehr zum Leidwesen von Thimo.

»Bist du schwul?«, Robs entsetzte Stimme stimmten Thimo nicht sonderlich optimistisch.

»Ja!«, Thimo wählte die am nüchternsten klingende Tonfarbe, die seine Stimme zu bieten hatte.

»Echt? So mit Schwänze blasen und rückwärts Einparken?«, Rob schien sich gar nicht mehr einzukriegen.

»Ich würde das nicht ganz so vulgär formulieren, aber ja, ich habe einen Schwanz gelutscht und meinen gelutscht bekommen. Genauso habe ich gefickt und bin gefickt worden!«, Thimo wurde sauer, stocksauer. Er sah nicht ein, warum die intimsten und schönsten Momente in seinem Leben, die Zeit in der er mit Sven zusammen war, etwas sein sollte, was er zu rechtfertigen hätte. Noch weniger gefielen ihm Robs vulgäre Formulierungen. Aber wenn Rob es deftig wollte, sollte er es auch deftig bekommen. Jetzt war es Thimo, der in Rage geriet.

»Hast du Probleme damit, Rob? Ja ich habe einen Freund. Sein Name ist Sven. Ich bin schwul und er ist schwul. Wir lieben uns. Und wir halten nicht nur Händchen. Wir küssen uns, wir ficken und wir blasen uns gegenseitig. Und wirst es kaum glauben: Es macht Spaß! Es ist megageil! Ist es das, was du wissen wolltest?«

Wäre Thimo ein Pferd, hätte er Schaum vorm Mund gehabt.

»Ich werde das nicht rechtfertigen, genauso wenig wie ihr Heten euren Sex rechtfertigt. Also, wenn du damit ein Problem hast, dann sprich es aus! Jetzt! Da vorn ist 'ne Tankstelle, da kannst du mich raus lassen. Ich ruf meine Mutter an, die wird mich abholen. Du kannst dann auch gleich deinen Wagen desinfizieren lassen, weil ein Schwuler darin gesessen hat!«

Rob sah Thimo völlig entgeistert an: »Sag' mal spinnst du, oder was? Was ist den in dich gefahren? Ich hab' dich nur gefragt, ob du schwul bist.«

»Jetzt weißt du's! Und, was wirst du tun? Soll ich jetzt mein Testament machen?«

Rob war völlig verunsichert und wusste nicht mehr, was er sagen sollte. Thimo war völlig außer Kontrolle geraten: »Thimo! Stopp! Komm runter. Es ist alles in Ordnung. Ich hab' kein Problem damit, dass du schwul bist. Beruhige dich ... ich ... oh, man Shit, Mann ... ich ... sorry ...«

Völlig zittrig brachte Rob den Wagen auf dem Parkplatz der Tankstelle zum Stehen, stellte den Motor ab und drehte sich zu Thimo. Der sah ihn mit einer Mischung aus Wut und Zorn an. Rob holte tief Luft und versuchte ganz ruhig zu sprechen.

»Thimo, es tut mir Leid was ich gesagt habe! Ich hätte nicht so flapsig darüber reden sollen. Und was ich vorhin sagte, mit der armen schwulen Sau, die ihr Testament machen kann, das hab ich so wirklich nicht gemeint ... ich hab' mich wohl wie eines dieser Arschlöcher benommen, die ich selbst so hasse. Thimo, wirklich, es tut mir leid «

Schweigen. Beide Jungs sahen sich an und merkten, dass sie wohl etwas überreagiert hatten. Schließlich fand Rob seine Stimme wieder und sprach leise, mit gesenktem Blick weiter:

»Ich dachte, so über Schwule zu reden sei cool. Naja, alle reden so über Schwule. Shit, man denkt nie daran, ob nicht möglicherweise einer neben einem im Auto sitzt und wie der sich dann fühlen muss.«

Thimo quälte sich ein Lächeln hervor. Seine Wut und sein Zorn waren genauso schnell wieder verzogen, wie er aufgekommen war. Er schüttelte amüsiert seinen Kopf ganz leicht, so wie man es tut, wenn man innerlich über die Dummheit der Welt lacht - und über die eigene Dummheit.

»Thimo, bitte nimm meine Entschuldigung an. Ich möchte gerne dein Freund bleiben, auch wenn ich verstehen kann, wenn du das jetzt nicht mehr willst.«

»Kann es sein, dass ich etwas überreagiert habe? Kann es sein, dass ich es war, der sich verplappert hat? Kann es sein, dass wir zwei beide ziemliche Idioten sind? Rob, es tut mir auch leid und ich nehme deine Entschuldigung nur unter der Bedingung an, dass du meine Entschuldigung annimmst. Ich möchte deine Freundschaft. Aber sag mir ganz ehrlich, hast du damit Probleme, dass ich schwul bin?«

»Nein, keine!«

»Gut! Denn das wäre das definitive Ende unserer Freundschaft gewesen.«

»Du bist knallhart, weißt du das?«

»In manchen Dingen, ja! Dies ist so eine Sache, bei der ich keine Kompromisse machen will, niemals mehr.«

»Wie wär's jetzt erst mal mit 'nem Kaffee?«

Die Highway-Tankstelle hatte nicht nur Benzin zu bieten, sondern, wie so viele ihrer Art, auch einen angeschlossenen klassischen American Diner. Rob und Thimo suchten sich einen Tisch. Es blieb natürlich nicht einfach bei einem Kaffee. Rob nahm noch ein Ham 'n Cheese Sandwich und Thimo eine Portion Blaubeer-Pie dazu. Deutlich entspannter saßen sie sich in einem dieser Sitzabteile mit den typischen roten Kunstlederbezügen gegenüber.

Rob nahm das Gespräch wieder auf.

»Du hast uns zwar schon was von deinem Leben in Deutschland erzählt, aber eine Person hast du wohl ausgelassen, oder?«

Thimo strich sich grinsend über das Kinn.

»Eigentlich hab' ich gar nicht soooo viel ausgelassen. Ich hab' auch schon von Svenni erzählt. Nur dieses kleine Detail unserer Beziehung hab' ich verkürzt wiedergegeben.«

Während der Kaffee mehrfach nachgefüllt wurde und man sich an Blaubeer-Pie und Sandwiches labte, reichte Thimo die kleinen und unwesentlichen Details der Geschichte von ihm und Svenni nach.

»Und Svenni hat jemanden gefunden? Wie hieß er noch, Timmy?«

»Ja, Gott sei Dank!«

»Eifersüchtig?«

»Auf Sven und Tim? Nein, ganz im Gegenteil. Ich bin froh, dass er jemanden gefunden hat. Ich kann ja wohl kaum von ihm verlangen, dass er auf mich wartet, oder?«

»Aber du klingst trotzdem traurig.«

»Natürlich! Er war mein erster, wie heißt das hier so schön, „Boyfriend“. Wir lieben uns immer noch! Ich werde sicherlich keine Freudentänze aufführen, dass uns der Atlantik trennt. Aber es ist Ok. Und jetzt lass uns für ihn ein Fahrrad kaufen!«

»Das Beste, das man für Geld kaufen kann.«

3.10. Spekulationen über einen Freund

»Sag' mal, du hast doch auch eine Fahrerlaubnis. Könntest du ...«

»Red' nicht weiter, klar kann ich.«

Rob warf Thimo den Wagenschlüssel zu. Thimo setzte sich hinters Lenkrad, während Rob es sich auf dem Beifahrersitz bequem machte.

»Du musst mir nur noch erzählen, wo ich eigentlich hin soll?«

»Kein Problem! Erst mal zurück auf den Highway«

Rob gab seine Fahranweisungen, Thimo lenkte den Wagen durch den Verkehr und war ganz froh, so etwas mehr Fahrpraxis zu erhalten. Rob saß in seinem Sitz und war merkwürdig nachdenklich. Thimo wurde schon wieder nervös, hatte Rob möglicherweise nicht ganz die Wahrheit gesagt und doch unterschwellige Ressentiments ihm gegenüber?

»Du bist so still. Ist was?«

Rob verschränkte seine Hände hinter seinem Kopf und schloss die Augen.

»Ja und nein. Ich versuche gerade, dich neu einzuordnen. Manchmal hab' ich den Eindruck, dass wir Schachfiguren sind.«

»Und was bin ich für eine Figur? Jetzt sag nicht ,die Dame`, denn dann gibt's Ärger!«

Rob musste lachen: »Du bist aber auch sensibel! Nein, die Dame ist eindeutig Jana. Die schwarze Dame ist natürlich Amber. Scott hält sich für den König, aber ich denke er ist bestenfalls ein Turm. Der König ist Brandon. Und du, mein Lieber, bist ein Springer, der gerade einen sehr überraschenden Zug gemacht hat. Ich bin mir allerdings noch nicht sicher, ob er gut oder schlecht war.«

Rob drehte seinen Kopf zu Thimo und lachte plötzlich los.

»Was amüsiert dich so?«

»Ach, mir ist gerade was aufgefallen. Aber bitte nimm mir das nicht übel. Versprochen?«

»Ich weiß ja noch gar nicht, worum es geht.«

»Vertrau mir ...«

»Ok ...«

»Naja, ich stell mir gerade all die gut gebauten Footballspieler vor, wie sie halb nackt und nackt in eurer Umkleidekabine umherstolzieren, in all ihrer Männlichkeit. Und mitten unter ihnen steckst du ...«

Eine Lachkaskade brach aus Rob heraus.

»... die Typen würden die totale Krise kriegen, wenn sie wüssten, dass du schwul bist! Entschuldige, Thimo-Baby, aber ich find das total zum totlachen ... nicht, dass du es überleben würdest, wenn es raus käme ... aber so, oh, shit, ist das cool!«

»Junge, hast du einen kranken Humor.«

»Sorry, aber mit der Zeit wird man in dem Laden zum Zyniker.«

»Wär' mir jetzt nicht aufgefallen ... Nebenbei bemerkt, ich steh' nicht so auf diese Footballtiere. Ok, der eine oder andere ist ganz nett gebaut, aber eigentlich ...«

»Wer wäre denn dein Typ?«

»Du kannst Fragen stellen ... Ich weiß es nicht ... Das sind alles Einzelfallentscheidungen. Wenn ich einen Jungen sehe, dann weiß ich es sofort ... Hmm ... Ich könnt dir jetzt aber nicht sagen, wie jemand ganz genau aussehen muss, damit er mir gefällt. Gegenfrage: Was für Frauen magst du?«

»Das ist genauso schwierig ... Ich frag' mal anders. Gibt es so Körperattribute, auf die du abfährst? Du weißt schon, viele Jungs schauen bei den Frauen zuerst auf Titten und Hintern. Gibt es sowas bei dir?«

»Maik! Ein Freund auf Fehmarn. Total tittenfixiert. Sowas meinst du?«

»Nee, das ist ja schon Fetischismus. Ich kenn auch solche Typen. Nein, was ich meine, worauf achtest du zuerst?«

»Wenn du mich so direkt fragst, ja, da gibt es was: das Gesicht und dort am meisten die Augen. Ok, ein gut gebauter Körper schadet nicht. Aber da mag ich weniger diese aufgeblasenen Muskelpakete, als mehr so den Schwimmertypus, Svenni hat so einen geilen V-Shape und sein neuer Freund, Tim, auch. Sowas gefällt mir, oder aber den natürlichen, klassischen athletischen Typen ...«

»Marcel!«, Rob grinste und Thimo wurde rot. Natürlich, Marcel, Thimo hätte genauso gut sagen können: »Schau dir Marcel an und du weißt, bei wem meine Beine weich und mein Glied steif wird.«

»Er hat dich verzaubert. Ich seh's an deinem Gesichtsausdruck.«

»Du hast Recht. Aber halt bloß die Klappe ...«

»Mit wem redest du? Natürlich halt ich das Maul.« Rob gab ein paar Fahranweisungen, schloss seine Augen und lehnte sich tief in seinem Sitz zurück.

»Ich hab' das noch nie jemandem gegenüber erwähnt, aber deine Chancen bei Marcel stehen wahrscheinlich gar nicht mal so schlecht ...«

»Du meinst, er könnte auch ...«

»Ich denke schon. Ich würde' die Quoten auf fünfzig zu fünfzig schätzen. Ich glaub sogar, dass du der absolut Richtige für ihn wärst.«

»Wie soll ich das denn jetzt verstehen?«

»Worüber haben wir vorhin gesprochen? Marcel und Scott verbindet etwas. Etwas, das Marcel leiden lässt. Thimo, das muss wirklich unter uns bleiben, aber ich habe Angst um Marcel. Angst, dass er eines Tages keinen Ausweg mehr sieht. Wenn du weißt, was ich damit meine. Er braucht jemanden, der um ihn kämpft, der ihn möglicherweise sogar liebt. Jemanden wie dich!

Scott scheint ihn in der Hand zu haben. Möglicherweise erpresst er ihn damit.»

»Hä? Erpressen, womit?«

»Ok, ich will's mal anders erklären: Stell dir vor, du wärst schwul ...«

»Das brauch ich mir nicht vorstellen ...«

»... is' ja gut. Nu zick nicht rum. Also, wem würdest du ... Nein, ich korrigiere mich. Wem hast du als erstes erzählt, dass du schwul bist?«

»Svenni!«

»Und was ist Svenni?«

»Schwul!«

Rob verdrehte die Augen: »Ahhhhh, Kerl, hast du eine lange Leitung! Svenni ist nicht nur schwul, er ist dein bester Freund!«

Thimo wäre fast vor Schreck auf die Bremse getreten. Schlagartig wurde ihm klar, worauf Rob hinauswollte.

»Du meinst, Marcel hat es Scott erzählt, als sie noch die besten Freunde der Welt waren. Aber das ging mächtig in die Hose. Scott hat nicht ganz so verständnisvoll reagiert, wie Marcel es erwartet hatte und noch viel schlimmer: Scott erpresst seitdem Marcel mit seinem Wissen. Ist es das, was du meinst?«

»So Pi mal Daumen! Ja, du hast es verdammt gut auf den Punkt gebracht. Und was denkst du?«

»Bullshit! Dein Gedankengang hat einen Fehler. Was hat Scott davon, Marcel zu erpressen? Welche Gegenleistung erhält er? Außerdem, was würde Marcel schon Schlimmes passieren, wenn es rauskommt. Er ist doch schon Mitglied im Club der Looser.«

Ganz im hintersten Winkel seines Gehirns ahnte Thimo, dass er sich mit dieser Antwort selbst etwas vormachte. Marcel war nicht Thimo. Wenn er wirklich schwul war und sein erstes Coming-Out so verlaufen war, wie er eben beschrieben hatte, dann war es durchaus vorstellbar, dass Marcel in panischer Angst vor einer Bloßstellung lebte. So unbegründet diese Angst auch sein mochte. Aber Thimo verdrängte diesen Gedanken. Er schob ihn wie ein unerwartetes, unangenehmes Gefühl, das einen manchmal beschleicht, einfach in den hintersten Winkel seines Gehirns.

»Oops! Stimmt, daran hab' ich gar nicht gedacht.«, Rob wirkte verunsichert, »Ich glaub', ich muss darüber nochmal nachdenken. Aber bei einer Sache hab' ich trotzdem Recht: Du bist verliebt! Ich seh' es in deinen Augen. Du hast dich voll in Marcel verliebt. Und was auch immer Marcels dunkles Geheimnis sein mag, du wirst es rausfinden.«

»Kein Kommentar.«

Rob lächelte eine Weile vor sich hin.

»Das Klima hat sich wirklich geändert. An unserer scheiß Schule liegen so viele Leichen im Keller, gibt es so viele Intrigen, so viele dunkle Geheimnisse. Der Laden ist randvoll damit. Und du, mein lieber Thimo bist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Ich bin mir sicher, es kommt ein Sturm auf, ein Hurrikan, der keinen Stein auf dem anderen lassen wird!«

Amen! Rob hatte gesprochen. Den Rest der Fahrt schwiegen Rob und Thimo. Es war kein unangenehmes Schweigen, bei dem man das Gefühl hat, etwas sagen zu müssen. Es war ein Schweigen gegenseitigen Verstehens. Beide Jungs hingen einfach ihren eigenen Gedanken nach und es wird nicht verwundern, dass sie beide fast über dieselben Dinge grübelten.

Der erste Fahrradladen, den sie besuchten, war der totale Reinfall. Aber Rob hatte noch ein paar andere Läden auf seiner Liste. Der Nächste war nur wenige Meilen entfernt. Auch hier wurden sie nicht fündig. Der Händler konnte das Bike besorgen, würde aber drei Wochen dafür benötigen.

Zwischenzeitlich war es Mittag geworden und man entschied sich dafür, vor einer längeren Fahrt zum dritten Händler etwas zum Mittag zu essen. In einem weiteren netten Highway-Diner gönnten sich die beiden ein opulentes Mahl. Thimo bezahlte, das heißt, er hatte Geld von seiner Mutter erhalten und sollte Rob einladen. Schließlich war es keine Selbstverständlichkeit, dass er Thimo durch den halben Bundesstaat kutschierte.

Der dritte Laden, der fast schon auf dem Heimweg nach Portland lag, entpuppte sich dann als absoluter Glücksfall. Nicht nur, dass die drei krassen Jungs, die den Laden betrieben, die absoluten Bike-Freaks waren, sie hatten das Raven sogar vorrätig und machten Thimo einen megamäßig günstigen Preis. Thimo tätigte eine Anzahlung und machte die Details mit dem Versand zu ihm nach Hause klar. Robs Auto, eine japanische Reisschüssel, war einfach zu klein, um es sofort mitzunehmen.

Mit dem guten Gefühl, dass der Tag doch eigentlich ganz gut verlaufen war, machten sich die Zwei auf den Heimweg.

3.11. Robs Experiment

»Thimo?«

Rob und Thimo waren fast wieder zu Hause. Noch knapp 20 Meilen und sie hatten ihr Tagessoll geschafft. Auf einem kleinen ruhigen Parkplatz legten sie ihre letzte Pinkelpause ein, setzten sich nebeneinander auf eine Parkplatzbank und entspannten etwas ihre verspannten Glieder, indem sie sich auf der Bank ausstreckten und rekelten. Lange Autofahrten gehen auf die Gelenke, insbesondere in den Nacken.

»Rob, deine Stimme hat wieder diesen merkwürdigen Unterton. Was ist es denn diesmal?«

Thimo war aufgefallen, dass immer wenn Rob einen bemüht unverfänglichen Ton anschlug, meistens etwas viel weniger unverfängliches folgte.

»Ich würde gerne etwas ausprobieren. Nennen wir es ein Experiment ... Du musst aber vorher versprechen, dass du mir nicht böse bist.«

»Wie soll ich das tun? Ich weiß ja gar nicht, worum es geht.«

»Vertrau mir einfach!«

»Ok!«, wie fast jeder andere auch, gab Thimo die denkbar falscheste Antwort auf Robs Frage. Aber auf der anderen Seite, was konnte schon groß passieren.

Rob grinste, sah sich vorsichtig um, als wenn er Angst hätte, jemand würde ihn beobachten. Und dann wagte Rob sein Experiment!

»Rob was machst ... hmmmpffff ... Ich ... hmmmmmmmmmmmm«

Rob nahm Thimo in den Arm und küsste ihn. Nicht einfach freundschaftlich, nein, ganz im Gegenteil, ausgesprochen leidenschaftlich. Thimos erste Reaktion war Abwehr, er wollte Rob wegstoßen, doch Stopp, Rob küsste verdammt gut und so schlecht sah er auch nicht aus. Hey, der Junge schmeckte sogar ausgesprochen gut und ...

Thimo gab seinen anfänglichen Widerstand auf. Wenn das Robs Experiment war, dann wollte er ihn nicht enttäuschen.

Erst eine Ewigkeit später trennten sich die beiden. Rob war völlig außer Atem und brauchte eine ganze Weile, bis er wieder einen Laut von sich gab: »Wow!«

»War das dein Experiment?«

»Ja!«

»Und was sollte das jetzt?«

Thimo musste zugeben, dass Rob wirklich gut küssen konnte - verdammt gut sogar - war sich aber nicht sicher, was das Ganze eigentlich sollte. Wollte ihn Rob verarschen? War Rob wider Erwarten schwul? Beide Möglichkeiten waren ungefähr so wahrscheinlich, wie die Chance, dass der Papst zum Islam konvertiert.

»Bitte sei mir nicht böse, aber ich wollte es wissen. Ich wollte wissen, wie es ist, einen Jungen zu küssen.«

Thimo schüttelte seinen Kopf, seufzte einmal tief und musste unwillkürlich lachen.

»Rob, du bist ein Freak! Aber ein ganz Lieber! Weißt du das?«

»Naja?«

»Wie würdest du dein Experiment bewerten?«

»Ehrliche Antwort?«, Rob war nicht mehr ganz so forsch, wie noch am Anfang seines Experiments. Ganz im Gegenteil, er machte einen eher zittrigen Eindruck.

»Das bist du mir als dein Versuchskaninchen schuldig.« Thimo war immer noch amüsiert, spürte aber sofort, dass mit Rob plötzlich etwas nicht mehr stimmte.

»Ok, dieses Kaninchen ist lebensgefährlich. Du küsst einfach fantastisch. Ich hab' echt weiche Knie bekommen. Du hast einen gefährlichen Einfluss.«

Offensichtlich war Rob vom Ergebnis seines kleinen Experiments überrascht worden. Dass ihm so ein Kuss Mann zu Mann gefallen könnte, stand nicht auf dem Plan. Umso verunsicherter schaute er nun aus der Wäsche.

»Ey, was ist los?«

»Hm, das ging wohl nach hinten los. Es war nur so eine fixe Idee. Ich geb's ja zu! Ich bin ein Freak und mach' manchmal verrückte Sachen. Und ganz ehrlich, ich wollte einfach nur wissen, wie das so ist, einen Jungen zu küssen.«

»Ja und, wo ist das Problem?«

»Es war geil!«, die Diskrepanz zwischen dem Inhalt seiner Worte und dem, was Rob plötzlich fühlte, hätte man bequem in Meilen messen können.

Thimo grinste, ahnte er doch, worauf das Ganz hinauslief.

»Und jetzt bist du ... sagen wir mal: verunsichert.«

»Könnte es sein, dass ich ... du weißt schon ...«

»... dass du schwul bist? Hihi, das wär' jetzt 'ne gute Gelegenheit, dich zappeln zu lassen. Aber nö, ich glaub' nicht, dass du schwul bist.«

»Nein? Wieso? Das eben war eine der geilsten Erfahrungen, die ich je gemacht habe.«

»Ach, und das macht dich jetzt schwul?«

»Ich weiß nicht. Was meinst du?«

»Versuchen wir es mal anders. Wenn du mal nicht mit den Händen über der Bettdecke schläfst, an was denkst du dann. Was wandert dir durch den Kopf? Jungs oder Mädels? Brüste oder Schwänze?«

»Frauen, Mädchen ...«

»Kein Jungen?«

»Nö.«

»Ok, wo ist dann dein Problem? Ist es so schwer vorstellbar, dass ein Kuss zwischen uns beiden erotisch und anmachend sein kann, ohne, dass du dazu gleich schwul sein musst?«

»Ich weiß nicht ... wohl nicht, oder?«

»Nein, heißt es wirklich nicht. Rob, ich versichere dir, wenn du schwul wärst, würdest du es wissen. Würdest du, so wie ich dich bisher kennen gelernt habe, es schon lange wissen. Und noch eins muss ich dir noch auf den Weg geben: Täusch' dich nicht, so cool, wie das im Augenblick wirken mag, ist es nämlich nicht immer schwul zu sein.«

»Hä?«

»Versteh' mich nicht falsch, ich bedaure es nicht, ganz im Gegenteil. Inzwischen kann ich mich richtig gut damit identifizieren, Svenni sei Dank! Doch um erst mal dahin zu kommen, muss man durch einen mächtig gewaltigen Haufen Scheiße kriechen. Und wenn du mir nicht glaubst, frag' Svenni.«

»Danke.«

»Wofür? Dass ich einen wirklich schnuckeligen Jungen wieder in die Arme der heterosexuellen Allgemeinheit zurückgebracht habe?«

»Naja, wahrscheinlich genau dafür.«, Rob wurde knallrot, »Du findest mich schnuckelig?«

»Auf jeden Fall. Roby-Baby, du bist wirklich süß. Aber keine Angst, ich fall schon nicht über dich her. Aber bevor du nochmal mit irgendwelchen Experimenten liebäugelst, solltest du dir vorher über die möglichen Konsequenzen im Klaren sein.«

»Meinst du? Ich wollte gerade fragen, ob du nicht mal mit mir schlafen könntest. Nur so, damit ich mir ganz sicher sein kann, dass ich nicht schwul bin.«

Rob hatte seine alte Selbstsicherheit wiedergefunden und mit ihr auch seinen hinterhältigen Witz. Seine letzte Frage sprach er mit der gleichen Beiläufigkeit aus, mit der er über das Wetter sprach.

»Hilfe, rette mich jemand vor diesem Wahnsinnigen. Du bist und bleibst ein Idiot.«

»Ich weiß!«, Rob grinste und zeigte seine Haifischzähne.

»Musst du immer das letzte Wort haben?«

»Natürlich!«

»Ahhhhhhhhhhhhhh!«

»Gleichfalls!«

3.12. Damengambit

Das Wochenende war wie alle Wochenenden viel zu schnell vorbei. Der Montag kam mit seiner Verheißung auf langweilige Schulalltage. Dieser bestand, wenn er seinem neuen Stundenplan Glauben schenkte, fast aus mehr Footballtrainingsstunden als regulärem Unterricht. Der Plan wurde ihm gleich am Montagmorgen vom Sekretariat der Schule zugestellt. Skinner hatte sein Versprechen - Oder war es eine Drohung? - wahrgemacht und hatte mit Thimos Fachlehrern gesprochen. Sein normaler Unterricht war auf ein absolutes Minimum reduziert worden. Thimo fragte sich, wofür er stundenlang den Kursplan und die dazugehörige Anleitung studiert hatte, wenn man ihm sowieso alles umbaute. In seinem neuen Plan waren Kurse miteinander kombiniert worden, die nach den Regeln und Vorschriften eigentlich unzulässig wären. Ein Stempel und eine Unterschrift ,Genehmigt - Franklin (Prinzipal)' schien die Sache aber wasserdicht zu machen.

Neben seinem Stundenplan hatte er auch einen Brief an seine Mutter (Ellen Camron-Bach, persönlich) erhalten, den er aber sofort öffnete. Ellen hatte Thimo schon vor längerer Zeit angewiesen, dass er Briefe, die an sie gerichtet waren, aber von oder über ihn handelten auf jeden Fall öffnen darf, nein, eigentlich sogar öffnen sollte. Ellen empfand es nämlich als Respektlosigkeit gegenüber einem heranwachsenden Menschen, wenn man über ihn sprach oder schrieb und nicht mit ihm. Ellen war schon eine tolle Mutter.

Der Brief verursachte bei Thimo ein Kopfschütteln: ,Mann, Rob, du hattest mal wieder absolut Recht. Das System funktioniert tatsächlich.` Im Umschlag steckte eine revidierte Rechnung für das erste Schulhalbjahr, samt einer Lobhudelei von Principal Franklin über Thimo. So hatte die Schule einfach mal eben die Gebühren um glatte 50% reduziert. Die Argumentation war Wasser auf die Mühlen von Rob gewesen: Principal Franklin teilte Thimos Mutter mit, dass in Anbetracht der exzellenten schulischen Leistungen ihres Sohnes, Thimo Francis Camron-Bach, der Schulbeirat für Förderungen, unter ihrem Vorsitzenden Skinner, einstimmig beschlossen hätte, Thimo in das Sonderförderungsprogramm für hochbegabte Schüler aufzunehmen. Weiterhin sei man außerordentlich stolz darauf, einen so herausragenden Schüler, wie Thimo Francis in dieser Lehranstalt zu haben und Frau Camron-Bach, der wehrten Mutter überaus dankbar, dass sie sich für die Liberty High als das führende Institut Portlands entschieden hat.

Thimo überkam plötzlich das Gefühl eine Ware zu sein, so eine Art Mettwurst oder ein halbes Hähnchen. Rob hatte absolut Recht gehabt: Skinner hatte Thimo Potential bescheinigt. Damit war Franklin in Zugzwang. Würde Skinner Recht behalten und Thimo zu einem der besten Spieler des Teams aufbauen und man möglicherweise mit ihm sogar die Meisterschaft gewinnen, bestand die reelle Gefahr, dass eine andere Schule mit besseren Konditionen Thimo abwerben könnte. Ja, Thimo war eine Ware geworden. Mehr als Witz begann er sich abzutasten, als Rob vorbei kam.

»Hi, ähm, was machst du da?«

»Könntest du mir mal helfen und nachsehen, ob irgendwo ein Preisschild an mir hängt?«

»Wie bitte?«, Rob sah fragend drein. Statt einer Antwort hielt Thimo ihm beiden Briefe hin.

»Was hab' ich dir gesagt? Das System funktioniert. Meinen Glückwunsch!«

»Nicht eher herzliches Beileid?«

»Ist doch das Gleiche! Sorry, aber ich muss los. Sehen wir uns nachher mit den anderen in der Kantine? Marcel ist auch da.«

»Spar' dir dein anzügliches Grinsen. Ja, ich bin nachher auch da.«

»Oh, hallo Thiiiehmooo ...«, Thimo umsäuselte die Stimme einer Frau, die Vibrationen von Raubkatze, Viper, Samt und Stacheldraht in sich vereinte. Die Stimme gehörte Amber Wilson. Thimo war gerade auf dem Weg zum Aufenthaltsraum - eine unplanmäßige Freistunde in Folge der Krankheit eines Lehrkörpers - als ihn Amber leise flüsternd und trotzdem unüberhörbar von hinten ansäuselte.

»Hi Amber. Was kann ich für dich tun?«, Thimos Position zu Amber war bisher neutral. Unabhängig von der herzhaften Abneigung, die sich Jana & Co sowie Amber and Friends entgegenbrachten, hatte Thimo bisher keine verwertbaren Erfahrungen mit Amber gemacht. Ein voreiliges Urteil wäre demnach unfair.

Obwohl ...

Thimo drehte sich zu Amber um und betrachtete sie von oben bis unten. Dies war faktisch das erste Mal, dass sich die beiden direkt gegenüberstanden. Amber wäre eine Schönheit gewesen, wenn sie ihr Aussehen nicht durch schlechten Geschmack verdorben hätte. Soweit sich Thimo überhaupt eine Meinung über Frauen im Allgemeinen und Amber im Speziellen bilden wollte, repräsentierte Amber das genaue Gegenteil von dem, was Thimo bei einer Frau als attraktiv bezeichnen würde. Amber verkörperte das klassisch-konservative Rollenmodell, die personifizierte weiße-puritanische Fraulichkeit, quasi der Archetyp des bigotten Amerikas. Ein Mädchen, dass sich jeder George Bush jr. als Enkelin wünschen würde. Amber könnte mit Leichtigkeit auf jedem Schönheitswettbewerb die Preise reihenweise abräumen, sei es für Miss Staubsauger oder Miss New England Wurstwaren.

Wenn sich Thimo auch innerlich vor dieser Demonstration veräußerlichter Schönheit schüttelte (ein Effekt, den er sonst nur von Hustensaft und dem Magenbitter seiner Oma kannte), behielt unser Held äußerlich die Fassung. Mann ist ja Tierfreund, Abteilung Mistkäfer. Soviel zu seinen nicht vorhandenen Vorurteilen.

»Weißt du, dass wir uns noch nie richtig unterhalten haben?«, Ambers Lächeln war genauso falsch wie ihre langen Wimpern. Dafür konnte sie mit den Dingern aber besser klimpern.

»Stimmt, das tut mir Leid, Amber, aber der Football ... du weißt ...«, Thimo war kurz von dem Gedanken fasziniert, sich seinen Finger in seinen Hals zu stecken. Mädchen, ich find dich zum Kotzen, Gualp!

»Ja genau ... Football. Ich hab' dich auf dem Feld gesehen. Meine Mädels haben nur für dich getanzt. Du bist ja soooooo gut ... die lechzen alle darum, einmal mit dir alleine zu sein ...« Ambers Aussage war eine glatte Lüge, da alle Cheerleader mit irgendwelchen Boys aus der Mannschaft liiert waren.

»Ja, warum denn das?«

»Och, Thimo. Du musst doch nicht tiefstapeln. Jeder weiß doch, dass du der neue Star bist. Du weißt doch bestimmt, wie die Quoten stehen, dass du der neue Captain wirst.«

Das wusste Thimo nicht. Er wusste nicht einmal, dass auf ihn gewettet wurde. Ob es wohl auch eine Wette darauf gab, wie viele Knochen Scott ihm im Zweifelsfall brechen würde?

»Scott ist der Captain und er ist ein verdammt guter Spieler.«

Thimo gab nur seine ehrliche Meinung wieder.

»Vergiss Scott! Ich entscheide, mit wem ich ausgehe!«, Ambers Stimme verlagerte sich in Richtung Viper. »Jeder weiß inzwischen, dass er dir nicht das Wasser reichen kann.«

Das war deutlich. Amber hatte genug mit Scott gespielt und von seiner Stellung als Captain des Teams profitiert. Kaum sah es nach einem potentiellen Machtwechsel aus, konnte man den armen Kerl wie eine heiße Kartoffel fallen lassen.

»Das glaub' ich nicht. Erstens bin ich wirklich nicht so gut und zweitens hat Scott im Team wirklich die älteren Rechte. Ich werde mich auf keinen Fall vordrängeln. Er ist ein wirklich guter Spieler und Captain. Wir brauchen ihn.«

War da ein kurzer abfälliger Blick zu sehen? Wenn ja, dann dauerte er nur einen Wimpernschlag. Amber stellte ihren Soundprozessor von Viper auf Schmusekatze.

»Thimo, du bist so süß mit deiner Bescheidenheit. Sag mal, was hältst du davon, wenn wir mal zusammen ausgehen würden?«

Wenn man ganz genau hinhörte, und Thimo hörte sehr genau hin, dann konnte man, verwoben in die vordergründig flauschig-samtige Stimmtextur, eine deutliche Drohung wahrnehmen. Die Übersetzung von Ambers letztem Satz lautete daher: »Ich werde mit dir ausgehen. Wage es ja nicht, nein zu sagen! Wurm!«

Thimo konnte sich locker 1000 Personen vorstellen, mit denen er lieber ausgegangen wäre. 99,8% wären männlich, und unter den restlichen 0,2% wäre Amber nicht zu finden gewesen. Womit sich das Problem ergab, einen Ausweg zu finden, ohne Ambers Zorn zu wecken.

»Oh, wirklich gern ... nur ..., naja wir sind immer noch mit dem Einziehen beschäftigt und meine Mum braucht meine Hilfe ... also, vielleicht so in ein, zwei Wochen?«

Das würde zwar nur etwas Aufschub bringen, aber immerhin. Amber war auch nicht sonderlich mit dieser Antwort zufrieden.

»Thimo, du wirst doch nicht kneifen wollen? Hast du Angst vor mir? So schlimm wie alle sagen bin ich gar nicht.«

Nein, du bist viel, viel schlimmer.

»Wer sagt denn, dass du schlimm bist?«

»Oh, so der eine oder andere.«

Thimo fragte sich langsam, was Amber eigentlich von ihm wollte. Während des ganzen Gesprächs war sich ihm immer dichter auf die Pelle gerückt. Unangenehm dicht. Johnny Walker war auch schon zu riechen. Amber nahm Körperkontakt auf und drückte Thimo sanft, aber nachdrücklich an die Wand. Selbst wenn er nicht schwul gewesen wäre, diese Nähe zu Amber war unangenehm.

Amber bewegte ihren Mund dicht an Thimos Ohr, eine ihrer Hände schob sich unter Thimos Hemd: »Junge du bist heiß! Ich will dich - Jetzt!«

Unwillkürlich spannten sich Thimos Muskeln, was wohl als Reaktion auf das massiv empfundene Unbehagen betrachtet werden muss. Ein leichter aufkommender Ekel ließ sich kaum noch unterdrücken. Amber schien Thimos angespannten Körper und die Signale, die er verströmte falsch zu verstehen. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass auch nur ein Mann ihren weiblichen Reizen widerstehen könnte, und interpretierte Thimos Reaktion als Aufforderung, weiter zu machen. Dabei war es ein lautloser Hilfeschrei: ,Hilfe! Rettet mich jemand vor diesem Monster!»

»Aber, aber, du wirst ja ganz wild. Ok, ok, ich kenn hier einen kleinen Raum, da sind wir ganz ungestört ...«

Thimo schrie weiter lautlos um Hilfe. Wo war er da rein geraten? Amber wollte tatsächlich mit ihm Sex haben! Und zwar sofort! In der Schule! Während des Unterrichts! (Er hätte jetzt Bio, wie passend). Das ist ja widerlich! Um ihrem Wunsch Nachdruck zu verleihen, platzierte Amber ihre Hand auf Thimos Schritt und griff einmal herzhaft zu. Die Frau ist wahnsinnig! Ich will hier raus!

»Hallo Amber!«

Thimos Erlösung hatte eine weibliche Stimme.

»Oh, Jana. Was willst du denn hier?«

Für einen kurzen Moment kreuzten sich die Blicke von Thimo und Jana. Amber, die Thimo immer noch gegen die Wand drückte und damit Jana den Rücken zuwandte, konnte daher nicht sehen, wie Jana Thimos panischen Gesichtsausdruck mit einem hämischen Grinsen bedachte. Kaum hatte sich Amber zu Jana umgedreht, mutierte ihr Gesicht zu Stein.

»Na, mal wieder auf Männerfang?«, Jana hatte nicht vor, auf Ambers Frage einzugehen. Ihre Stimme war von erschütternder Coolness.

»Was geht dich das an?«, Raubtier Amber fuhr ihre Krallen aus, ihren Zorn kaum versteckend. Hatte Jana ihr doch eine sicher geglaubte Nummer mit dem neuen Sunnyboy der Schule versaut.

»Thimo, ich muss dich warnen. Amber verspeist Jungs mit Haut und Haaren. Ist doch so, nicht wahr Amber?«, Jana legte massenweise ironisches Mitleid in ihre Stimme, wohl wissend, dass dies Amber auf die Palme bringen würde. Diese begann auch prompt vor Wut zu kochen. Ihr Gesicht nahm giftgrüne Schattierungen an, als sie zurückfauchte: »Du abgehalfterte Schlampe! Verpiss dich! Ich versteh wirklich nicht, was Scott jemals an dir gefunden hat. Und merk' dir eins: Was Thimo und ich zu bereden haben, geht dich gar nichts an!«

»Zu bereden? So nennt man das jetzt? Na dann solltet ihr euch aber beeilen, Brandon kommt gerade den Quergang runter.«

Ambers Reaktion auf Janas letzte Bemerkung war beeindruckend. In knapp 20 Millisekunden hatte sie sich von Thimo losgerissen, ihre Kleidung zurecht gezupft und die Maske des unschuldigen Mädchens aufgelegt.

Mit einem grimassenhaften Lächeln drehte sich Amber um. Im Weggehen zischte sie Jana durch ihre zusammengebissenen Zähne zu:

»Das wirst du mir büßen, Jana! Scott wird bald wieder Marcel besuchen. Du weißt doch: Die beiden verstehen sich ja soooo gut!«

Jana versteinerte. Ihre Gesichtszüge wurden hart. Mit innerer Genugtuung nahm Amber zur Kenntnis, dass ihre letzte Bemerkung die beabsichtigte Wirkung erzielt hatte, und schritt huldvoll von dannen.

Kaum war Amber aus dem Blickfeld entschwunden, begann Jana zu schwanken. Ihre Knie wurden weich und sie musste sich mit einer Hand an einer der Wände abstützen. Thimo sah, dass die Härte in Janas Gesicht Trauer und Wut gewichen war. Eine einzelne Träne rann ihr über die Wange. Sie biss sich auf die Unterlippe und ballte ihre Fäuste. Hart bleiben! Keine Schwäche zeigen!

Der Moment der Schwäche dauerte nur Sekunden, dann hatte auch Jana sich wieder unter Kontrolle. Thimo fragte sich, wovon er da gerade Zeuge gewesen war. Beide Mädels hatten sich einen Kampf geleistet und beide hatten heftige Blessuren davongetragen. Scott, Amber, Brandon, Jana, Marcel. Was ging hier vor? Thimo kam die Unterhaltung mit Rob in Erinnerung. Was hatte er noch gesagt? ,Jana weiß etwas. Aber sie sagt nichts. Sie hat ein Versprechen gegeben. Aber es quält sie.` War es das? Ging es um dieses dunkle Geheimnis? Thimos Gedanken liefen Amok. Dabei hätte er fast Jana vergessen.

»Geht es dir gut?«, Thimo stützte Jana, die immer noch etwas schwach auf den Beinen war.

»Ja schon Ok. Es ist nichts! Gar nichts! Diese Schlange!«, Jana richtete ihren Blick auf Thimo. Ihre Augen musterten ihn von oben nach unten. Ein merkwürdiges Lächeln umspielte plötzlich ihre Lippen: »Sie hat dir Angst eingejagt?«

Mehr als das: Todesangst!

»Ja, etwas. Sie wollte Sex mit mir haben! Hier in der Schule!«

»Willkommen im Club. Du wärst nicht der Erste und auch sicherlich nicht der Letzte, dem das passieren würde. Ich geb' dir einen guten Rat: Lass es! Die Boys, die mit Amber zusammen waren, waren danach nicht mehr dieselben ...«

»Ich hatte auch nicht vor ...«

Jana musterte Thimo erneut, diesmal mit einem breiten Grinsen: »Wohl nicht! Nein! Oh, Baby! Wer dich abbekommt, kann sich echt glücklich schätzen - Schade!«, und mit dieser ebenso schmeichelhaften wie geheimnisvollen Bemerkung ließ Jana Thimo verwirrt allein im Gang stehen.

3.13. Ein Brief von Tim

Die nächsten Tage waren ereignislos. Thimos Versuch, mehr Informationen zu sammeln, waren wenig erfolgreich. Bestimmte Vermutungen und Gerüchte schienen sich zu verdichten. So schien Brandon tatsächlich gewisse Kontakte zu der Nazigruppe zu unterhalten. Thimo beobachtete ihn ein paar Mal, wie er mit Ray, einem der Nazis wild gestikulierend am Diskutieren war. Da Thimo kein Profi im Lesen von Körpersprache war, konnte er sich nur auf seine Vermutungen stützen, aber es machte den Eindruck, als wenn Brandon Ray von irgendetwas überzeugen wollte. Er meinte sogar beobachtet zu haben, dass Brandon dem Nazi einen Papierumschlag übergeben hatte.

Amber Wilson unternahm keine weiteren Annäherungsversuche, das heißt keine direkten. Immer wenn sich Thimos und Ambers Wege kreuzten, warf sie ihm anzügliche Blicke zu. Diese schienen auf Thimo eine toxische Wirkung zu haben; jedes Mal, wenn ihn ein Blick traf, wurde ihm sofort speiübel. Wenn das so weitergeht, bekomm ich noch einen anaphylaktischen Schock.

Rob war inzwischen zu Thimos engstem und bestem Freund geworden. Nicht nur, dass Thimo mit Rob nach seinem Coming Out einfach freier und offener reden konnte, Rob war auch einfach ein absolut aufrechter, intelligenter, empfindsamer, ehrlicher, treuer Junge - ein wirklich guter Freund. Und obwohl sich Rob als Hetero geoutet hatte, schwang zwischen den beiden eine gewisse erotische Spannung hin und her.

Als eine seiner wichtigsten Aufgaben empfand Thimo aber die Bewachung von Marcel. Wann immer sie zusammen waren, meistens in der Gruppe um Jana, Tom, Rob und Peter, beobachtete er Marcel genau. Er versuchte seine Körpersprache zu analysieren, seine Reaktion auf andere Menschen zu interpretieren und alles, was er sagte, zu deuten.

Robs Meinung dazu: »Übertreib es nicht, oder du wirst irgendwann den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen können.«

Je mehr Thimo Marcel beobachtete, desto mehr ergriff Marcel von ihm Besitz; desto mehr überkamen ihn aber auch Angst und Furcht. Die dunkle Aura um Marcel war für ihn fast greifbar. Marcel schien ein fröhlicher Typ zu sein, vielleicht etwas ruhig und schüchtern. Aber das war nur oberflächlich. Thimo meinte, eine in sich zerrissene Seele zu spüren. Und Traurigkeit, er fühlte unendlich viel Traurigkeit, die Marcel mit einer Firnisschicht aus vordergründigem Spaß und Fröhlichkeit zu verdecken suchte. Und Thimo war sich noch einer Sache sicher, Jana spürte das Gleiche wie er. Könnte es sein, dass ich mich in Marcel verliebt habe?

Tage vergingen, Wochen vergingen. Es kam Svens Geburtstag. Berlin war Portland um fünf Stunden voraus. Thimo wachte gegen 9:00 Uhr auf. In Berlin war es demnach schon 14:00 Uhr, das heißt, Svenni musste eigentlich schon seine Geschenke ausgepackt haben. Der erste Weg führte Thimo daher zu seinem Computer, um nach E-Mails zu sehen.

Wie erwartet lag eine Mail von Sven in seinem Eingangskorb. Der erste Teil bestand aus den erwarteten Beschimpfungen wegen des Wahnsinns um sein Fahrrad. Thimo ahnte, dass Sven ein derart teures Geschenk schwer im Magen liegen würde.

Die Flugtickets wurden genauso dankbar wie ebenfalls als wahnsinnig (Thimo, du spinnst!) aufgenommen. So wie es aussah, würden Sven und Tim Sylvester in Portland verbringen. Thimo kratzte sich zufrieden am Kinn. Hatte er doch Recht behalten: Tim war der absolut richtige für Sven. Er schien wirklich lieb zu sein, außerdem war er ein richtiger Schnuckel.

Vor eine Woche hatte Tim Thimo eine E-Mail geschickt. Eine Mail, die Thimo mehr als erstaunt hatte. Tim hatte sich tausendmal bei Thimo bedankt, dass er Sven bei seinem Coming Out geholfen hatte. Svens Stärke hätte ihm erst den Mut gegeben, sich selbst einzugestehen, dass er ebenfalls schwul war. Ohne Thimo, so Tim, wäre es niemals dazu gekommen.

Wenn Thimo von diesem ersten Teil der Mail schon tief beeindruckt, geschmeichelt und bewegt war, dann haute ihn der zweite Teil regelrecht um.

Thimo,

bei aller Dankbarkeit, muss ich mich bei Dir entschuldigen.

Bitte verzeih mir, dass ich mich in Sven verliebt habe. Er ahnt wahrscheinlich selbst gar nicht, wie sehr. Aber ich kann ohne ihn nicht mehr leben.

Er hat mir ein neues Leben gegeben. Mein wirkliches Leben.

Trotzdem oder gerade deswegen fühle ich mich schuldig, denn ich weiß um Eure Liebe zueinander. Ich kann es an Svens Augen sehen, wenn er von Dir spricht. Was ich nicht weiß ist, wie ich damit umgehen soll. Wie wir - Du und ich - damit umgehen sollen.

Ich lege daher die Entscheidung in deine Hände.

Ich liebe Sven so sehr, dass ich bereit wäre, auf ihn zu verzichten. Ich könnte es niemals ertragen, wenn Sven unglücklich ist, etwa, weil er zwischen Dir und mir entscheiden sollte. Das darf nicht sein, denn es würde ihn und es würde mich zerreißen. Du kennst Sven besser als ich, daher weißt Du, was die richtige Entscheidung ist. Ich kenne Dich nicht, aber ich vertraue Dir völlig - Sven tut es, also tu ich es auch.

Tim

Nachdem Thimo diese Zeilen gelesen hatte, benötigte er erst mal einen Satz Kleenex, um seine feuchten Augen zu trocknen. Wow, dieser Tim meinte es ernst, bitterernst sogar. Tim schrieb wirklich davon, Sven aus Liebe zu verlassen. So wie er es schrieb, klang es völlig ehrlich und war sein bitterer Ernst. Wer würde da nicht gerührt sein.

Nachdem sich Thimo seine feuchten Augen getrocknet und über den Wahnsinn in der Welt seinen Kopf geschüttelt hatte, setzte er sich an seinen PC und überlegte eine ganze Weile, was er Tim als Antwort schreiben sollte, bevor er wirklich loslegte.

Doch so einfach war das nicht. Tim warf eine interessante Frage auf. Wie weit würde er selbst gehen, damit Sven glücklich ist? Wie weit würde er für Marcel gehen? Diese letzte Frage musste warten, viel wichtiger war Thimo, dass Tim und Svenni zueinander fanden.

Mein lieber Timmy,

ich werde Dir eigenhändig jeden einzelnen Knochen brechen, wenn Du Svenni verlassen solltest.

Aber mal im Ernst: Dass Ihr zwei zusammengehört, kann ich aus jeder E-Mail von Sven lesen. Also wo ist Dein Problem? Dass Sven und ich mehr als nur Freundschaft zueinander empfinden, ist sicherlich richtig, aber ...

Wir wussten beide, dass das mit uns nur in diesem einen besonderen Sommer funktionieren konnte. Denn auch ich liebe Sven und wünsch mir für ihn, dass er glücklich ist. Und das, was Svenni jetzt glücklich macht, bist du!

Also los! Schnapp dir mein Baby!

Thimo war zufrieden. Tim schien der Richtige für Svenni zu sein. Der Sendeknopf schickte die e-Mail in Richtung Deutschland und mit ihr Thimos beste Wünsche für die beiden Jungs.

Heute, Svens Geburtstag, war diese Mail seit einer Woche Geschichte. Tims Antwort bestand nur aus zwei Worten »Danke Thimo«. Mehr gab es auch nicht zu sagen.

3.14. Das Nichtgeburtstagsgeschenk

»Na, schon eine Mail von Svenni erhalten?«

Ellen und Thimo saßen am Frühstückstisch und ließen den Samstagmorgen ruhig angehen.

»Klar, bei ihm ist es ja schon fast drei Uhr nachmittags.«

»Und was hat er geschrieben?«

»Dass wir Idioten sind und völlig wahnsinnig. Svenni halt! Du kennst ihn ja. Aber über die Tickets hat er sich trotzdem gefreut. Timmy kommt auch mit.«

»Und mein Sohn, eifersüchtig?«

»Ach Mum ... ich würde lügen, wenn ich ,Nein` sage, aber ... es ist so besser ...«

»Du wirkst auch nicht wirklich traurig.«

»Nein, es ist merkwürdig, aber eigentlich freu ich mich für die zwei. Naja, Timmy scheint wirklich ein lieber Kerl zu sein ...«

»Und, hast du hier auch schon einen lieben Kerl gefunden?«

»Mama! Also bitte ...«, Thimo lief rot an. Mütter konnten schon sowas von direkt sein, einfach peinlich.

»Du wirst ihn mir schon rechtzeitig vorstellen.«

»Mama! Wirklich!«

»Ok, ich hör ja schon auf. Da heute ja Thimos Geburtstag ist und um deine Stimmung etwas zu heben, habe ich auch noch eine kleine Überraschung für dich. So als Entschuldigung für unseren Umzug. Schau mal aus dem Fenster ...«

Mutter und Sohn standen in der Küche, das breite Fenster über der Spüle gab den Blick auf die Grundstücksauffahrt und den Carport frei. Wo sonst nur Ellens kleines Auto (Mercedes A-Klasse, als kleine Erinnerung an Deutschland) stand, standen jetzt zwei Autos. Der kleine Daimler und ein fetter, schwarzer Toyota Pickup mit getönten Scheiben, dunkler Echtlederausstattung und mit einer riesigen roten Schleife darum.

»Herzlichen Glückwunsch zum Nichtgeburtstag mein Sohn. Ich glaub' du kannst ihn brauchen. Die Entfernungen sind hier wirklich riesig und ein Auto für uns beide ist einfach zu wenig.«

»Mama, Wahnsinn. Der ist viel zu groß! Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Danke!«

Ein überglücklicher Thimo umarmte und drückte seine Mutter. Der Wagen war absolut eine Entschädigung für den Umzug. Nicht dass Thimo jemals eine eingefordert hätte. Er verstand ziemlich gut, warum seine Mutter nicht mehr auf Fehmarn leben wollte. Erinnerungen können schmerzhaft und erdrückend sein. Und die Erinnerung an seinen Vater war sehr schmerzhaft.

Thimos Freude freute Ellen, was sie mit einem zufriedenen Lächeln ausdrückte.

»Kleine Jungs brauchen kleines Spielzeug, große Jungs brauchen großes Spielzeug. Und du bist inzwischen ein verdammt großer Junge. Weißt du das? Hast du mal in letzter Zeit in den Spiegel geschaut. Thimo, du bist in den letzten Monaten sowas von erwachsen geworden. Ich bin stolz auf dich. Und Paps wäre es auch ...«

Es ließ sich nicht vermeiden, Thimos Augen wurden feucht.

»Danke Mama. Ich liebe dich!«

»Na das will ich doch hoffen, und nun schwirr' ab ...«

Ellen gab ihrem Sohn einen Klaps auf den Hintern. Thimo stürmte davon. Nach wenigen Schritten drehte auf dem Absatz um: »Ich glaub ich brauch noch die Schlüssel ...«

Statt einer Antwort kamen ohne weiteren Kommentar die Autoschlüssel angeflogen.

Nachdem sich Thimo mit seinem Wagen vertraut gemacht hatte - was so viel hieß wie: Bedienungsanleitung überfliegen und ein, zweimal um den Block fahren - entschied er sich, seine Freunde einzusammeln. Ihm war heute nach Spaß zumute.

Seit dem ersten Schultag waren Rob und Thimo immer zusammen zur Schule gefahren. Das heißt, Rob holte Thimo von zu Hause ab und brachte ihn auch wieder zurück. Manchmal nahmen sie auch Peter und Marcel mit, deren Häuser mehr oder weniger auf dem Weg lagen. Mitfahren ist aber etwas anderes als selbst fahren. Thimo verfuhr sich zweimal. Er wollte eigentlich zuerst zu Rob fahren, landete aber in der Straße, die zu Marcels Haus führte.

Dieser Septembersamstag verwöhnte die Einwohner von Portland mit sehr schönem Spätsommerwetter. Es waren gute 22 Grad Celsius oder 72 Grad Fahrenheit. Mit anderen Worten, es war warm. Die Sonne strahlte, der Himmel war blau. Wenn Thimo sich nicht verfahren hätte, wäre er aus nördlicher Richtung gekommen, nun kam er aus südlicher Richtung. Die Spätsommersonne stieg nicht mehr so hoch wie im Sommer, so dass Thimo die Sonnenblenden runter klappen musste. Langsam fuhr er die Straße hoch. Zum einen fühlte er sich noch nicht ganz sicher mit dem Auto, zum anderen suchte er einen Parkplatz. Zwei Grundstücke von Marcels Haus brachte den Wagen zum Stehen.

Thimo wollte gerade aussteigen, als er plötzlich Marcel sah. Ihm blieb die Luft weg. Er sah Marcel so, wie er ihn noch nie gesehen hatte. Marcel fuhr, stand, hüpfte auf einem BMX-Bike. Rob hatte erzählt, dass Marcel ein Bike-Freak sei, aber das war eine totale Untertreibung.

Marcel schien das Rad perfekt zu beherrschen. Es fehlte zwar eine Half-Pipe, aber was dieser Junge mit dem Fahrrad veranstaltete, war einfach großartig, meisterhaft. Marcel war eins mit dem Bike.

Das war aber noch nicht alles. Marcel trug eine BMX-Schlabberhose und Vans mit flacher Sohle für einen festen Grip. Sein perfekter Oberkörper war nackt, bis auf ein Lederbändchen mit einem silbernen Anhänger um seinen Hals. Dieser Anblick war atemberaubend. Die Sonne verlieh Marcel einen goldenen Farbton, sein Haar schien zu glühen. Er selbst schien die Umwelt nicht wahrzunehmen. Völlig versunken in seinem Tun, wirkte er unschuldig, selig und vor allem glücklich.

Es traf Thimo wie ein Schock. Ihm war, als wenn er Marcel das erste Mal in den drei Wochen, die er ihn kannte, glücklich sah. Wirklich glücklich - frei von dieser unbestimmten Last, die er immer mit sich rumzuschleppen schien.

Es schmerzte zu wissen, dass dies nicht sein Normalzustand war. Nur hier und jetzt auf seinem Bike, schien er loslassen zu können. Was hatte Felix erzählt, als er seine erste Begegnung mit Jan schilderte? Es war ein Blick in meine eigene Vergangenheit. Nun, dies war kein Blick in die Vergangenheit, Thimo hatte das Gefühl, einen Teil von sich selbst zu sehen. ,So muss es aussehen, wenn ich mit dem Kiteboard unterwegs bin. Mein Gott, er fühlt das gleiche ... oh, Marcel, was tust du mir an ...`

In diesem Moment realisierte Thimo, dass er sich tatsächlich unsterblich und hoffnungslos in Marcel verliebt hatte. Rob hatte mal wieder Recht behalten. Thimo war nicht einfach von Marcels Äußerem angezogen, er hatte sich seelisch verliebt. Verliebt in die Person und nicht in den Körper. Ein entscheidender Unterschied. Er umklammerte das Lenkrad seines Autos und ließ seinen Kopf auf den oberen Lenkradrand sinken. Thimo konnte seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Liebe kann so verdammt wehtun.

Während der ganzen Zeit hatte Marcel Thimo nicht bemerkt. Die Fensterscheiben waren getönt, die Sonnenblenden heruntergeklappt und außerdem hätte Marcel gegen die Sonne schauen müssen und wäre geblendet worden.

Thimo wischte sich gerade die letzten Tränen aus den Augen, als sich die Szene auf der Straße dramatisch änderte. Scott tauchte auf. Seine Eltern mussten vor Kohle stinken. Scott fuhr mit einem perfekt restaurierten 50iger Jahre Corvette Cabrio vor, Haifischflossen inklusive. Er wirkte zwar ziemlich lächerlich in dem Wagen, aber manche Leute merken die Einschläge einfach nicht.

Scott fuhr im Schritttempo auf Marcel zu. Kaum hatte dieser Scott erkannt, wich sein glücklicher Gesichtsausdruck und machte der üblichen Angst, Wut und Scham Platz. Marcel schnappte sich sein T-Shirt, das er an die Auffahrt seines Hauses gelegt hatte, und zog es in Bruchteilen einer Sekunde an. Es schien ihm ausgesprochen unangenehm zu sein, dass Scott ihn unbekleidet sah, auch wenn es nur der Oberkörper war. Scott wartete bis Marcel an seinen Wagen getreten war und begann auf ihn einzureden. Thimo konnte nichts hören, wollte aber auch nicht riskieren bemerkt zu werden und widerstand somit der Versuchung, den Fensterheber zu betätigen.

Marcel war heftig am gestikulieren. Scott redete auf ihn ein und Marcel wehrte mit den Händen ab. Sein Gesicht war rot vor Wut und Angst. Scott machte eine Pause. Er schien seinem nächsten Satz besonderen Nachdruck verleihen zu wollen. Soweit Thimo das erkennen konnte, redete Scott sehr langsam auf Marcel ein. Der hörte zu und brach schließlich zusammen. Die Schultern sackten herunter. Marcel nickte, sagte ein oder zwei Worte. Scott hatte offensichtlich gewonnen, grinste triumphierend und brauste davon. Zurück blieb ein gebrochener Junge. Marcel tastete nach dem Bordstein, seine Knie waren weich. Er setzte sich, schlang seine Arme um seinen Kopf, als wenn er sich vor Schlägen schützen wollte und heulte.

Thimo wurde übel. Was war da eben gerade geschehen? Was sollte er tun? Aussteigen und mit Marcel reden? Wegfahren? Sich Scott vorknöpfen? Rob oder Peter fragen? Keine Alternative war sonderlich verlockend oder Erfolg versprechend. Scott konnte warten. Wegfahren würde bedeuten, sich seiner Verantwortung zu entziehen. Tom, Peter oder jemand anderes von seinen Freunden fragen? Das wäre eine Möglichkeit, aber würde Marcel das wollen? Wohl nicht. Die Entscheidung war gefallen.

Thimo stieg aus dem Wagen. Vor ihm lagen 35 Meter Weg. 35 Meter, die den Unterschied zwischen einem unbeteiligten Zuschauer und einem Freund ausmachten. Verantwortung!

3.14. Wer den Wind säht

Marcel saß noch immer auf dem Bordstein. Dass Thimo sich neben ihn setzte, nahm er minutenlang nicht wahr. Schließlich nahm er die Hände runter und bemerkte Thimo.

»Du?«

Marcel brachte nur ein verschnieftes Flüstern hervor. Die Andeutung eines Lächelns huschte über sein Gesicht. In seinen Augen brannte ein kaltes Feuer.

Thimo nickte, sagte aber nichts.

»Bist du schon lange hier?«

Ein bestätigendes Nicken.

»Hast du Scott gesehen?«

Marcels Stimme enthielt Vibrationen von Angst und Unsicherheit. Abermals eine zustimmende Kopfbewegung von Thimo.

Marcel schwieg. Ein beklemmendes Schweigen. Seine Augen wurden wieder feucht. In der Sonne glitzernde Tränen perlten seine Wangen herab.

»Ich kann nicht ...«

Thimo hatte nichts gesagt. Die Frage blieb unausgesprochen, aber Marcel wusste sie auch so: »Was ist los? Was ist zwischen dir und Scott? Was macht dich so fertig?«

Marcel kämpfte mit sich. Ein Gedanke ließ ihn sich innerlich aufbäumen und den Wunsch entstehen, laut loszuschreien. Ein anderer Gedanke ließ ihn resignieren. Seine Körper zitterte von den wütenden Emotionen und Gefühlen.

Thimo saß hilflos da, unfähig zu helfen. Selbst paralysiert zwischen seinen Gefühlen zu Marcel, seiner Hilflosigkeit, nicht zu wissen, was los ist und seiner Wut auf Scott, der unübersehbar Grund für diese Situation war.

In einem Akt schierer Verzweiflung berührte Thimo Marcel. Es war als beruhigende Geste gemeint. Einfach eine Hand auf die Schulter legen. Energie übertragen.

»Fass mich nicht an!«, Marcel brüllte ihn an und sprang auf, »Fass mich nicht an! Niemals! Du weißt nicht, wen du da berührst. Ich sage dir, du kennst mich nicht. Denn wenn du mich kennen würdest, würdest du gehen. Ich bin ein Looser!«

Noch bevor Thimo etwas entgegnen konnte, war Marcel ins Haus gerannt und hatte dir Tür hinter sich zugeschlagen. Wut, Zorn, Hass fokussierte sich auf einen Punkt. Scott! Was hatte dieser Typ Marcel angetan?

Thimo revidierte seine Meinung. Das Problem Scott konnte nicht mehr warten. Es musste gelöst werden und zwar sofort. Das heißt fast sofort. Thimo macht sich Sorgen um Marcel. Er schien kurz davor zu kollabieren oder hatte es gerade eben. Es musste jetzt jemand für ihn da sein, jemand der Marcels Vertrauen besaß. Jana

Für den Weg zu Jana brauchte Thimo nur 15 Minuten. Ob er dabei gegen einige oder alle der US-amerikanischen Verkehrsregeln verstieß, war ihm egal. Jana war zu Hause. Etwas verblüfft öffnete sie Thimo die Tür und ließ in rein. In kurzen Worten wurde sie ins Bild gesetzt. Je mehr sie erfuhr desto besorgter wurde sie. Verzweiflung und Sorge trieben Falten in ihr Gesicht.

»Thimo, ich muss mich bei dir entschuldigen. Ich muss dir ein Geständnis machen. Ich hab' dich von Anfang an falsch eingeschätzt. Ich hab dich für ein arrogantes Arschloch gehalten, der sich einen Spaß daraus macht, uns Wichte zu verarschen. Aber du bist so anders. Freundschaft bedeutet dir so viel, wie ich es bei niemandem vorher erlebt habe.«

Die Beichte kam etwas überraschend und war auch nett gemeint, doch brannten Thimo im Moment ein ganz anderes Probleme unter den Nägeln.

»Jana, ich will nicht unhöflich sein und danke, dass du mich letztendlich doch für einen guten Menschen hältst, aber kannst du mir bei der Sache mit Marcel helfen. Weißt du, was da zwischen ihm und Scott vorgeht. Erpresst er ihn? Hat er ihn irgendwie in der Hand? Wenn ja, womit? Kannst du mir irgendwas sagen, was mir helfen könnte oder muss ich Scott so gegenübertreten.«

Jana atmete tief. Sie wurde sehr ernst, als sie mit fester Stimme sprach.

»Ja, Scott hat Marcel in der Hand. Ich weiß es. Aber ich kann nichts sagen, ich habe ein Versprechen gegeben. Ich kann es nicht brechen. Gott, was würde ich dafür geben, es nicht zu wissen. Doch bitte ich dich. Riskier nichts. Scott ist gefährlich.«

»Das ist mir egal. Ich kann nicht zurück. Ich kann nicht zulassen, wie dieser Haufen Scheiße einen Freund vernichtet! Ich kann nicht! Bitte kümmere dich um Marcel, jetzt! Noch eins. Wie meinst du das? Scott ist gefährlich?«

»Ich spreche aus Erfahrung. Ich war mal seine Freundin. Bis zu dem Zeitpunkt als er anfing mich zu schlagen ...«

»Was?«, Thimo schrie.

»Du hast gehört, was ich gesagt habe. Ich werde es nicht wiederholen. Niemals! Ich vertraue dir ... Bitte, sei sehr vorsichtig. Ich fahr jetzt zu Marcel.«

Jana lieh sich den Golf ihrer Mutter aus und fuhr zu Marcel. Thimo hatte andere Pläne. Es war bekannt, dass Scott und seine Freunde samstags meistens an einem kleinen See rumhingen und Bier tranken.


»Scott!«

Thimo hatte die Saufbrüder gefunden. Sechs Jungs, darunter Scott und Brandon, saßen auf einer Parkbank, tranken Bier, quatschten und ärgerten die Enten.

»Oh, wen haben wir den da? Thimo Camron-Bach, der neue Shootingstar der Liberty High, Beschützer der Armen und Rechtlosen. Was verschafft uns die Ehre ihrer Anwesenheit, eure Heiligkeit.«

Scotts Versuch Thimo lächerlich zu machen, scheiterte. Der Hohn perlte an Thimo ab, wie Regen am Ostfriesennerz.

»Marcel!«

»Oh, Marcel. Wie geht's denn meiner kleinen Lieblingsschwuchtel?«

Das war es also. Thimo glich Mutterns Dampfdrucktopf kurz vorm Auslösen des Sicherheitsventils.

»Was hast du mit ihm gemacht?«

»Ich? Nichts! Er hingegen ...«, die Art, wie Scott pathetisch versuchte eine Tunte zu imitierenden, war Ekel erregend.

»Was soll das heißen?«

»Das dieser Looser, dieser Schwanzlutscher keinen Mum hat. Kein Rückgrat, wie alle diese Schwuchteln. Blasen kann er allerdings verdammt gut ...«

Das konnte unmöglich sein. Thimo wurde schwarz vor Augen. Ein Puzzle aus tausend Teilen begann sich in seinem Kopf wie von selbst zusammenzufügen. Wie eine zersplitterte Glasscheibe, die sich auf wunderbarer Art und Weise, zu einem Ganzen zusammenfügt. Nein, Scott war kein Mensch, er war ein Ungeheuer in Menschengestalt. Thimo konnte seinen Herzschlag in seinen Halsschlagadern fühlen. Adrenalin in ungeahnter Höhe pulsierte durch seinen Körper. Scott hatte Marcel mit seiner Homosexualität erpresst, dafür allein verdiente er schon zu büßen. Aber wozu er Marcel gepresst hatte, das war Vergewaltigung. Thimo schmeckte bittere Galle in seinem Mund.

»Hat es dir die Sprache verschlagen? Ich wundere mich, dass er dir seine Dienste nicht angeboten hat. Er saugt wirklich gut und hat einen schön engen Arsch ...«

Dieses Schwein! Dachte er wirklich, er wird ein besserer Hetero, wenn er sich einen blasen lässt und Ärsche fickt. Seht her, ich bin ein richtiger Mann, mir liegt alles zu Füßen: Frauen wie Männer. Was für eine jämmerliche Figur. Frauen schlagen und Schwule erpressen. Das wahre Gesicht von Scott. Wer wollte freiwillig mit diesem Looser etwas zu tun haben?

Oder war es etwas völlig anderes? Wollte Scott wohlmöglich seinen Minderwertigkeitskomplex dadurch kompensieren, dass er Herrschaft über Marcel ausübte? Egal! Scheißegal! Ein Schwein blieb ein Schwein!

Splitsecond - Superzeitlupe Thimo ganze Aufregung, die Wut, der Hass war für Sekunden, die ihm wie zu Stunden gedehnt vorkamen, vergessen. Absolute Ruhe und Klarheit kehrten in ihm ein. Die Umwelt trat aus seinem Bewusstsein zurück, Stimmen, Töne und Bilder nahm er nur noch gedämpft war. Das Einzige was er laut und deutlich hörte, war sein Herzschlag: laut, gleichmäßig und ruhig.

Dann brach der Sturm los.

Schlagartig kehrte die Realität zurück. Thimo fixierte Scott.

»Scott, Du bist der Looser

Für Scott völlig unerwartet, traf Thimos Linke Scotts Kinn und seine Rechte die Leber. Thimo landete noch zwei weitere Hacken, bevor Scott sich begann zu wehren. Wie schon bei ihrem ersten Zusammentreffen merkte Thimo, dass Scott kein leichter Gegner war. Er war ein Jahr älter und wohl auch kräftiger. Seine Schwäche war, dass er zum einen nicht überlegt handelte und zum anderen, der Alkohol aus den Bieren, die er getrunken hatte, seine Aktionen verlangsamten.

»Was liegt dir diese Schwuchtel so am Herzen? Es ist doch nur ein Warmduscher ohne Rückgrat. Glaubst du, so eine Tunte würde jemals das Gleiche für dich tun?«

Scott konnte es nicht lassen zu provozieren. Ein Fehler, die Provokation wirkte, aber anders als erwartet, setzte sie bei Thimo nur noch mehr Adrenalin frei.

»Die Schwuchtel, die dich gerade zu Brei schlägt, beweist dir gerade das Gegenteil!«

Scott entsetztes Gesicht sprach Bände. Für zwei, höchstens drei Sekunden wie gelähmt, begriff er, was Thimo gerade gesagt hatte. Das war sein finaler Fehler. Thimos Rechte schlug wieder zu. Scott sackte zu Boden, geschlagen und ausgepunktet.

»Looser

Thimos Triumphgefühl währte nur wenige Zehntelsekunden, bis sie von Bedauern und Mitleid ersetzt wurden. Es hätte nicht so weit kommen müssen. Es hätte niemals so weit kommen dürfen. Je mehr sich seine Wut und Zorn verflüchtigten, umso stärker drangen Thimos grundlegenden Charaktereigenschaften wieder an die Oberfläche: Sachlichkeit, Besonnenheit, Ruhe und Friedfertigkeit. Er schämte sich, was er getan hatte. Thimo verabscheute Gewalt. Immer der Typ, der einen Kampf beendete, wenn nicht sogar schlichtete, hatte er das Gefühl, versagt zu haben. Er hatte die Kontrolle über seine Emotionen verloren und sich gehen lassen. Gewalt schafft nur wieder Gewalt. Es hätte nicht soweit kommen müssen.

Versunken in seine Gedanken, hatte Thimo seine Umwelt und damit Scotts Freunde völlig vergessen. Er wollte sich gerade aufrichten und den Ort verlassen, als er etwas Heißes an seiner Seite spürte.

»Was zum Teufel ...?«

Er griff hin und merkte, dass es sich nass und feucht anfühlte. Ruckartig zog er seine Hand zurück und schaute drauf. Es vergingen etliche Sekunden, bis er realisierte, was er sah: Blut! Noch während er versuchte zu begreifen, dass einer von Scotts Freunden ihm ein Messer in die Seite gestoßen hatte, traf Thimo ein Schlag am Kopf. Der Schmerz hatte keine Zeit zu entstehen. Weit vorher verlor Thimo das Bewusstsein und glitt in eine tiefe Dunkelheit.

Svenni! Hilf mir ... Ich falle ... Ich ...

Nachwort

Und nu? Alles aus? Kein Marcel und Thimo? Diese und andere Fragen beantwortet Band IV (um gleich wieder massenweise neue Fragen aufzuwerfen). Nur soviel: Wenn ich sagen würde, »Alles wird gut.«, dann wäre das eine Lüge. Shit happens! . Auf der anderen Seite sage ich auch nicht: »Alles geht in’ Arsch!« Eine Sache ist jedenfalls sicher: Band IV wird zwischen den beiden Handlungsorten hin- und herspringen. Es wird also nicht wieder zwei Bände für die beiden Handlungsstränge geben. Das war einfach viel zu nervig, das zusammenzupuzzeln, dass das halbwegs passt. Ich hoffe, es hat geklappt.

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