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Hyperion

3. Teil - Terra Incognita

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Inhaltsverzeichnis

Schadensbegrenzung und Sackgassen

Ein FTL-Sprung stellte immer eine hochkomplexe Prozedur dar, bei der es viel zu viele Parameter zu koordinieren galt, als dass er von Menschen bewältigt werden konnte. Zum Glück gab es auf der Hyperion, so wie auf allen Schiffen der Raumflotte, künstliche Intelligenzen, die auf genau diese Aufgabe optimiert und speziell dafür entwickelt waren. Hyp, die Schiffs-KI, konnte mit Fug und Recht als der mit Abstand höchstentwickelte Computer der gesamten Flotte betrachtet werden. Doch so fortschrittlich Hyp auch sein mochte, ein Problem war auch sie nicht in der Lage zu lösen, den Blackout nach dem Sprung.

Aus irgendeinem Grund wurden die Daten des Arbeitsspeichers eines Computers bei einem Sprung gelöscht. Was hieß, dass ein jeder Computer auf der Hyperion oder jedem anderen Schiff nach einem Sprung erst wieder booten musste, einschließlich der Schiffs-KI. Faktisch hieß dies, dass ein jedes Schiff in den ersten zwei Minuten nach einem Sprung quasi offline war. Es gab weder Antrieb noch Sensordaten, weder Navigation noch Kommunikation.

Die besonders kritische Phase nach einem Sprung waren die ersten fünfzehn Sekunden, in denen die Schiffsysteme mit fest vorprogrammierten Prozeduren versuchten, einen Ausgangszustand wiederherzustellen.

Alles beginnt mit Sekunde Null. Um die fünfzig Nanosekunden benötigen die Neustartsysteme, um das Ende eines Sprungereignisses zu erkennen. Zu diesem Zeitpunkt steht, man mag es kaum glauben, nur Batterieenergie zur Verfügung, da alle Fusionsreaktoren, die für die konventionelle Energieversorgung des Schiffs verantwortlich sind, vor einem Sprung abgeschaltet und gesichert werden. Weitere fünf Sekunden sind erforderlich, bis die Reaktoren des Schiffs wieder hochgefahren sind, sich ihre Leistungsabgabe stabilisiert hat und sie Energie in das Bordnetz abgeben können. Bis zu diesem Zeitpunkt sind FTL-Raumschiffe ziemlich finstere Orte, da sich die Beleuchtung nur auf einige wenige, schwache, akkubetriebene Orientierungs- und Notlichter beschränkt. Während auf Passagierschiffen, die bestenfalls kleine Hüpfer von zehn Lichtjahren absolvieren und sich damit fast nie ein Sprungkater einstellt, jeder an Bord den Blackout live erleben konnte, waren die Besatzungen und Passagiere von Tiefraumforschungsschiffen wie der Hyperion viel zu sehr mit dem Sprungschock beschäftigt, um sich von fehlender Beleuchtung irritieren zu lassen.

All dies galt insbesondere für die Sprünge der Hyperion. Für die armen Seelen an Bord beschränkte sich ein Sprung auf einen grellweißen Blitz. Ein Effekt, der durch die Stasis hervorgerufen wird. Dann kam der Sprungschock mit der Durchschlagskraft eines Vorschlaghammers.

»Shit!«, stöhnte Quentin, kaum dass ihn das Universum zurück hatte. Irgendein Witzbold hatte das Gefühl, das ein jeder nach einem Sprung empfand, scherzhaft als Haarwurzelkatarrh bezeichnet. Bei der leichtesten Berührung der Kopfhaut und Haare, kam es einem vor, als ob der Schädel zersplittern wollte.

»Alle wohl…«, begann Otis, brach aber mitten im Satz ab, als im klar wurde, was er gerade fragen wollte. In dieser Beziehung waren Menschen wie Computer, die nach dem Sprung ebenfalls booten mussten. Jeder Gedanke, der einem kurz vor dem Sprung noch durch den Kopf gegangen war, verschwand kurzfristig und tauchte erst nach einigen Momenten des Berappelns wieder auf. In diesem konkreten Fall halfen die Computer der Brückenbesatzung allerdings zusätzlich auf die Sprünge.

»Fehlfunktion! Fehlfunktion! Funktionsversagen bei Stasissuite 10011, singende Eidechse, Jason, erkannt. Funktionsversagen bei Stasissuite 22817, Cardigan, Ruth C. erkannt. Prüfe Vitalfunktionen.«

Was gab es da noch zu prüfen? Jedem auf der Brücke war die Bedeutung der Meldung mehr als klar. Auf der Brücke brach eine drückende Stille aus, obwohl die Konsolen der einzelnen Posten eine permanente Geräuschkulisse voller Pieps, Quiek, Zirp und Tickgeräusche produzierten. Es waren die Brückenoffiziere, die nicht wagten, auch nur ein Wort zu sagen. Insbesondere wagte keiner, in Richtung Floyd zu schauen. Dem stand der Mund offen. Mit glasigen Augen und mühsam unterdrückten Tränen hatte er seinen Blick starr auf den großen Kontrollmonitor mit den wichtigsten Diagnosemeldungen gerichtet, auf denen die Status der defekten Stasisanzüge rot vor sich hin pulsierten.

»Sekundäre Computer booten«, kam es mechanisch und krächzend von Max, der das Schweigen einfach nicht ertrug.

»Lebenszeichen Stasissuite 22817, Cardigan, Ruth C: negativ – kein Lebenszeichen feststellbar«, meldete sich einer der Computer. Floyd schloss seine Augen. Eine Träne entwich seinem Augenwinkel und lief ihm die Wange hinunter. Mit zitternden Lippen harrte er der unvermeidlichen zweiten Meldung: »Lebenszeichen Stasissuite 10011, singende Eidechse, Jason: Keine Daten ermittelbar – Datenübertragung mit Suite gestört.«

Datenübertragung zu Anzug gestört? Floyd riss seine Augen wieder auf, sein Kopf wirbelte zu Otis herum, sein Mund formulierte ein einziges Wort: »Was?«

»Er lebt!«, schrie Otis als es diesem trotz hämmernder Kopfschmerzen gelang, eine mentale Verbindung zu seinem Seelenpartner aufzubauen. »Verdammt, diese verdammte Rothaut lebt! Jason lebt!«

»Natürlich lebe ich!«, brüllte es knarzend und gurgelnd aus einem Lautsprecher des Notfallsprechsystems. »Ich schwimme in der Kühlflüssigkeit des gesicherten Computerkerns. Es wäre nett, wenn mich hier jemand rausholen könnte. Ich weiß nämlich nicht, wie lange mein Isoanzug dicht hält.«

»Jason, halte durch. Die Service-Bots sind bereits auf dem Weg«, antwortete Otis.

»Okay Leute. Postsprungcheckliste, Cross- und Doublecheck. Ich will wissen, was schief gelaufen ist. Warum haben zwei Stasisanzüge versagt? Professor Cardigan ist tot. Können wir den Bereich um die Leiche isolieren?«,

»Ist bereits geschehen. Mit Inkrafttreten des Tiefraumprotokolls sind alle Schotten standardmäßig geschlossen und wurden um den Bereich mit dem gestörten Stasisanzug verriegelt, um eine Kontamination der anderen Sektionen mit Biomaterial zu verhindern. Das ist das Standardprotokoll bei FTL-Fehlfunktionen«, erläuterte der XO, was bei der Brückenmannschaft zu hörbaren Schluckgeräuschen führte. Lt. Wolf, der den sensibelsten Magen unter Floyds Brückenoffizieren besaß, hielt es nicht mehr auf seinem Stuhl und eilte zum Waschraum. Biomaterial – die offizielle Sprachregelung bei Sprungunfällen zeichnete sich durch eine fast schon sarkastisch präzise Beschreibung dessen aus, was von den Opfern übrig blieb. Sollte es Professor Cardigan nicht doch noch bis zu einer Notfallstasiskammer geschafft haben, war von ihr nicht mehr übrig, als ein feines Püree, das sich ihr obendrein nur mit sehr großem Aufwand zuordnen ließ. Lebendes Gewebe, das einem FTL-Sprung ausgesetzt wurde und sich dabei nicht in Stasis befand, wurde bis auf DNA-Ebene zerstört. Eine Zuordnung der Erbsubstanz war somit nicht möglich. Eine Identifizierung musste daher auf der Basis individueller chemischer Marker erfolgen.

»Mr. Otis, isolieren Sie das Brückendeck. Ab sofort gilt Sicherheitsalarm II.«

»Alle Seelen! Alle Seelen! Hört nun dies!«, ertönte die Stimme des Schiffscomputer »Ab sofort tritt Sicherheitsalarm der Stufe II in Kraft. Alle wachhabenden Besatzungsmitglieder werden angewiesen, die ihnen zugewiesenen Alarmpositionen einzunehmen.«

»Hier spricht der Captain«, meldete sich Floyd, nachdem der Computer seine Ansage beendet hatte. »Es ist meine traurige Pflicht, Ihnen allen mitteilen zu müssen, dass es während unseres letzten Sprungs zum Versagen zweier Stasisanzüge gekommen ist. Ich brauche wohl niemanden über die Bedeutung einer derartigen Fehlfunktion aufzuklären. Bei aller verständlichen Bestürzung über den Vorfall und den Fragen, die Sie jetzt bewegen mögen, möchte ich Sie inständig bitten, sich weiter gewissenhaft Ihren jeweiligen Aufgaben zu widmen. Sie erleichtern uns damit die schwere Aufgabe, die Umstände dieser tragischen Vorfälle zu untersuchen. Sobald uns gesicherte Erkenntnisse vorliegen, werde ich sie Ihnen allen sofort zukommen lassen. Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis.«

Während vor wenigen Momenten alle Brückenoffiziere es peinlichst vermieden, ihren Captain anzusehen, starrten sie ihn jetzt vollkommen entgeistert an. Der zuckte mit den Schultern, blickte zu Otis, um von ihm nach ein paar Sekunden ein bestätigendes Nicken zu ernten.

»Gentlemen, ich weiß, was Sie jetzt denken«, begann Floyd an die Brückenmannschaft gewandt. »Floyd Rutherford Grant ist ein herzloser Bastard, Mannschaft und Passagiere glauben zu lassen, wir hätten zwei Opfer zu beklagen. Ich gebe Ihnen Recht. Es ist herzlos, bietet uns aber einen taktischen Vorteil, den wir dringend benötigen. Ich muss Ihnen etwas beichten. Sie alle werden sich an meinen peinlichen Versuch erinnern, eine vermeintliche Verschwörung aufzudecken. Wie sich später rausstellte, ist diese Verschwörung überaus real. Während des Versuchs, der Ursache der verschwundenen Lagerräume auf den Grund zu gehen, stießen Otis, Quentin, Jason und ich auf Ungereimtheiten. «

»Ich dachte, das Lagerraumproblem beruht auf einem Fehler der Servicemannschaft des Raumdocks«, wandte Lt. Commander Max Friedrich ein.

»Das sollten wir glauben«, erklärte Otis. »Ihr erinnert euch noch daran, dass die Strahlung von etwas in unserem Schiff angezogen wurde?«

Allgemeines, zustimmendes Nicken ließ den XO fortfahren.

»Ich konnte den Ursprungsort der Anziehung ausfindig machen. Sie liegt im Bereich Sektion G, Deck 8, im Bereich der Einheiten G-8001 bis G-8027. Noch Fragen?« Erneut wartete Otis, bis sich die Bedeutung seiner Worte seinen Zuhörern vollkommen erschloss. »Ich sehe, ihr erkennt das Problem. Über meinen Fund informiert, bat Floyd Jason nochmals ganz genau zu überprüfen, ob es sich bei dem Lagerraumproblem wirklich um einen Bedienungsfehler im Raumdock handelte oder ob jemand die Einträge manipuliert hat. Letzteres war der Fall. Jason konnte Spuren einer Manipulation entdecken und war dabei, mit Hilfe eines Korrelationsprogramms den Urheber der Veränderungen ausfindig zu machen.«

»Dann haben wir einen Verräter an Bord?«, wollte Ronald, der jüngste unter den sechs befreundeten Offiziersfreunden wissen.

»Es wird noch etwas komplizierter«, griff Floyd die Frage auf. »Die Cardigan hat mich eiskalt auflaufen lassen. Während ich mich als peinlicher Verschwörungstheoretiker blamierte, stellte sie selbst weitere Nachforschungen an. CC hat offensichtlich nicht eine Sekunde an meiner Verschwörung gezweifelt, war aber der Meinung, die Angelegenheit selbst in die Hand nehmen zu müssen, statt sie von einem Captain, der noch grün hinter den Ohren ist, versaubeuteln zu lassen.«

»Hat ja super geklappt«, grummelte Quentin. »Lass es dir nicht zu nahe kommen. Du lebst, CC ist tot.«

»Genau das ist wohl das Problem. Oder glaubt einer von euch, dass Jasons und CCs Anzüge zufällig den Geist aufgaben?«, gab Otis zu bedenken.

Wohl kaum. Floyd studierte die Mienen seiner Führungsoffiziere. War es ein Fehler, Max, Ron und den Chief nicht eingeweiht zu haben? Wider aller Befürchtungen, schienen sie es ihm nicht übel zu nehmen.

»Und was machen wir jetzt?«, wollte Ron wissen.

»Dem Verschwörer eine Falle stellen«, meldete sich Jason über den Notsprechkanal zu Wort, nachdem Otis ihn die Unterhaltung per mentaler Übertragung mithören ließ. »Offensichtlich sind CC und ich seiner Enttarnung so nahe gekommen, dass er sich zum Handeln genötigt sah. Er oder sie hält mich für tot. Belassen wir es vorerst dabei.«

Seltsame Sprungziele

Wie lange ließ sich die Identität der beiden Sprungopfer verheimlichen? Wahrscheinlich nicht lang genug. Bisher hatte sich der Verschwörer sehr vorsichtig verhalten und kaum Spuren seines Wirkens hinterlassen, durch die sich auf seine Identität schließen ließ. Es war daher sehr unwahrscheinlich, dass er oder sie jetzt nachlässig wurde und sich durch eine unbedachte Bemerkung verriet, bevor bekannt wurde, dass Jason doch noch lebte.

Wenn er genau darüber nachdachte, so überlegte Floyd, sollten sie alle versuchen, Jason so lange wie möglich als tot gelten zu lassen. Wer auch immer im Hintergrund die Strippen zog, scheute nicht vor einem Doppelmord zurück. In Floyds Augen hatte sich der Verschwörer damit zu einer der extremsten Reaktionen hinreißen lassen, was mindestens zwei Schlüsse zuließ. Zum einen, dass Professor Cardigan und Professor singende Eidechse seiner Identität sehr nah, wenn nicht sogar zu nah gekommen waren und zum anderen, dass sehr viel auf dem Spiel stand. Der Einsatz musste erheblich sein, was eine Frage deutlicher als bisher in den Vordergrund schob: Was befand sich in den unzugänglichen Lagerräumen?

»Okay, sichern wir zuerst das Schiff, bevor wir mit der Untersuchung beginnen«, verkündete Floyd. » Gentlemen, unseren Status bitte.«

»Navigationssysteme sind wieder online, Positionsbestimmung läuft«, begann Lt. Commander Friedrich. »Oh Shit, was ist das?« Der Commander begann wild auf seine Computerkonsole umher zu tippen: »Captain, nach meinen Daten haben wir unser Ziel um ein Lichtjahr verfehlt. Wir befinden uns dort, wo wir eigentlich erst mit unserem nächsten Sprung landen wollten.«

»Ich bestätige die Koordinaten des Navigators«, meldete sich Quentin, der bei einem FTL-Sprung für die Navigationsüberwachung zuständig war. »Wir befinden uns in der Randzone unseres endgültigen Einsatzgebiets, genau außerhalb der FTL-Gravitationsschwelle.«

»Besser hätte ich den Sprung auch nicht planen können«, grummelte Max und vertiefte sich weiter in die Daten seiner Konsole.

»Was ist passiert?«, wollte Floyd wissen. Das Sprungziel eines Überlichtsprungs war prinzipbedingt immer mit einer gewissen Unschärfe behaftet, die mit der Distanz des zurückgelegten Sprungs logarithmisch zunahm. Die FTL-Physiker sprachen in diesem Zusammenhang statt von einem Ziel von einem Zielwahrscheinlichkeitsraum und zählten dies zu den Dingen, die ihnen nach wie vor Rätsel aufgaben. Es begann mit der Form des Wahrscheinlichkeitsraumes. Statt einer Kugel, was der allgemeinen Erwartung entsprach, besaß der Raum die Form einer in Sprungrichtung langgezogenen Linse oder Keule. Während in vertikaler und horizontaler Richtung die Abweichung eher gering war, schwankte die Sprungweite deutlich stärker. Von einem idealen Zielpunkt in der Mitte der Linse aus betrachtet, betrug die Abweichung für Sprünge über 30 Lichtjahre im Mittel wenige Lichttage, bei Sprüngen unter einem Lichtjahr reduzierte sich die Abweichung auf wenige Lichtminuten, was es erst erlaubte, in erträglicher Zeit anschließend mit Unterlichtgeschwindigkeit ein Ziel anzusteuern. Die größte Sprungabweichung, die je von einem Schiff berichtet wurde, betrug dreiundzwanzig Lichttage und konnte später auf einen Justierungsfehler der Wurmlochprojektoren zurückgeführt werden. Eine Abweichung von einem Lichtjahr konnte unmöglich auf die übliche Sprungabweichung zurückgeführt werden.

»Ähm…«, machte Max.

»Öhm…«, kam von Quentin.

»Jungs?«, wollte Floyd wissen.

»Ich habe keine Ahnung«, gestand Max Friedrich. »Ich habe hier nur grüne Lichter. Wenn mein Navigationsrechner nicht lügt, sind wir dort, wo wir sein sollen. Ich versteh das nicht. Ich habe die Sprunglösung konform zum Tiefraumprotokoll doppelt geprüft. Im Logbuch stehen die von mir eingegebenen Daten und decken sich exakt mit Quentins. Cross- und Doublechek sind okay. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass die Daten des Sprunglösungsrechners bei der Übertragung in den Sprungsequenz- und Navigationsrechner geändert wurden.«

»Wie bei mir«, bestätigte Quentin. »Der Parametersatz, den mein Sprunglösungssystem ausgespuckt hat, ist ein anderer, als der vom Sprungleitrechner verarbeitete. Was geht hier vor?«

»Zwei Stasisanzüge versagen. Wir springen an ein anderes Ziel. Sieht außer mir noch jemand anderes ein Muster?«, wollte Otis wissen und sprach damit aus, was wir alle dachten.


»Wie es aussah, war das Muster weitaus größer«, bemerkte Richterin Sakoviac. »Aber erlauben Sie mir eine technische Frage. Als Juristin sind mir die Details des Überlichtflugs nicht ganz so präsent, wie Ihnen. Könnten Sie kurz erklären, was es mit vertikaler und horizontaler Kreuzprüfung auf sich hat und was die verschiedenen Rechner für Funktionen haben?«

»Selbstverständlich«, erwiderte Floyd höflich und begann zu erklären. »Überlichtsprünge sind mit keiner anderen Fortbewegungsart vergleichbar, die uns bekannt ist. Der entscheidende Punkt besteht darin, dass sich das Raumschiff während des Sprungs eigentlich nicht bewegt. Was in Wirklichkeit passiert ist selbst der Wissenschaft noch nicht vollständig klar. Das aktuelle Standardmodell erklärt den Überlichtsprung in etwa so, dass das springende Objekt von einer Nanosingularität eingehüllt wird, welche dann eine Einstein-Rosenberg-Brücke, ein sogenanntes Wurmloch, ausbildet und das Objekt um die vorbestimmte Sprungdistanz versetzt. Soweit die Theorie. In der Praxis müssen wir dafür einen gigantischen technischen Aufwand treiben, um dies zu erreichen. Eines von vielen Problemen stellt unter anderem die Berechnung der Arbeitssingularität dar. Ich will jetzt nicht in totales Technogebabbel abdriften, aber die Idee hinter der Sprungberechnung besteht darin, den Sprung rückwärts, vom Ziel zum Ausgangspunkt zu simulieren. Die Sprungrechner versuchen dabei, eine Lösung für komplexe mathematische Probleme zu finden, was sehr, sehr aufwendig ist, weswegen die Rechner teilweise Stunden danach suchen. An dieser Stelle unterscheidet sich ein normales Passagierraumschiff von einem DSRS, einem Deep Space Research Ship, wie der Hyperion. Sie müssen wissen, dass der Rechenaufwand mit der fünften Potenz der Sprungdistanz steigt. So benötigt ein Sprung über zwei Lichtjahre den 32-fachen Rechenaufwand gegenüber einem Lichtjahr, bei drei Lichtjahren ist es bereits das 243-fache. Neben den körperlichen Folgen längerer Sprünge stellt insbesondere der drastisch steigende Rechenaufwand einen Hauptgrund dar, warum die Sprungdistanzen bei Passagierschiffen deutlich kürzer sind als bei Tiefraumforschungsschiffen. Außerdem operieren Linienraumschiffe auf gut dokumentierten Routen, bei denen auf Sprungalmanache zurückgegriffen werden kann, die die Berechnung deutlich vereinfachen.«

»Ich dachte, die Berechnungen werden von der Schiffs-KI durchgeführt?«, hakte Senator Nagano nach.

»Das ist korrekt, aber gleichzeitig auch wieder nicht.« Floyd wog seinen Kopf hin und her und überlegte, wie er die ziemlich komplexen Zusammenhänge am besten erklären sollte. »Wenn wir von einer Schiffs-KI sprechen, vergleichen wir das Computersystem immer mit unserem menschlichen Bewusstsein. Dabei stellt es mehr die Summe einer Vielzahl miteinander vernetzter Systeme dar, wobei die Sprunglösungsrechner auch nur ein Teil sind. Wir verwenden im erforschten Raum zwei Sprunglösungsrechner, mit Inkrafttreten des Tiefraumprotokolls vier. Vier unabhängig voneinander operierende Computersysteme versuchen eine Sprunglösung zu finden. Ich weiß, das klingt alles ganz fürchterlich trocken, aber stellen Sie sich vor, Sie materialisieren in einem Stern, nur weil der Sprung falsch berechnet wurde. Das Problem ist, dass die Rechenmodelle nicht exakt sind. Dies ist der Grund für die doppelte beziehungsweise vierfache Berechnung. Sobald die Ergebnisse vorliegen, werden sie untereinander verglichen und erst wenn sie in festgelegten Toleranzen übereinstimmen für den Sprung verwendet.«

»Wenn ich auf einen Punkt zurückkommen darf, den wir beim letzten Hearing schon einmal ansprachen«, klinkte sich erneut Senator Nagano ein. »Captain, stimmen Sie rückblickend nicht mit mir überein, dass ein früher Abbruch der Mission die nachfolgenden Probleme vermieden hätte?«

»Natürlich hätte ein Abbruch die nachfolgenden Entwicklungen dramatisch verändert.« So leicht ließ sich Floyd nicht in eine Falle locken. Wobei er sich fragte, warum sich der Senator so auf ihn eingeschossen hatte. »Allerdings kann niemand sagen, wie die Mission dann verlaufen wäre. Wer zu Mitteln wie dem Verändern von Sprungzielen greift, hätte sich kaum mit einem Abbruch abgefunden. Nicht bei dem, was auf dem Spiel stand.«

»Und es stand sehr viel auf dem Spiel«, antwortete Senatorin Monnahan versonnen.

Anstrengende Klettertouren

»Achtung: Elementare Systemstörung«, ertönte plötzlich die kalte und leblose Stimme eines Computers, die nichts mit dem charaktervollen, lebendigen der Schiffs-KI gemein hatte, »Inkonsistenzen in Basiskomponenten der Schiffs-KI entdeckt. Schutzprotokoll 17 initiiert. FTL-Antrieb gesperrt.«

»Fantastisch«, knurrte Quentin, der Floyds fragenden Blick bemerkt hatte. »Das autonome Kontroll- und Sicherheitssystem des Schiffs hat die Abweichung des Sprungziels ebenfalls entdeckt. Wir sitzen fest. Captain, bis wir das Problem beseitigt haben, ist alles, was ich zurzeit bieten kann, Unterlichtantrieb.«

»Na super. Sonst noch irgendetwas?«, wollte Floyd wissen.

»Die Servicebots haben Jason aus dem Kern gefischt«, meldete sich Otis zu Wort, der mit singende Eidechse in telepathischem Kontakt stand. »Er will auf die Brücke kommen.«

»Nein!«, rief Floyd. »Der Verräter könnte ihn sehen.«

»Der Schacht?«, gab Quentin zu bedenken.

»Der Schacht!«, erwiderte Otis, kräuselte seine Stirn und hakte nach. »Der Schacht? Das sind dreihundert Meter.«

»Dreihundertsiebenundvierzig Meter, um genau zu sein«, meinte Quentin und grinste breit. »Jason schafft das. Der Junge ist fit. Vertraut mir.«

Auf Floyds verwirrten Blick hin erbarmte sich Otis und begann seinem Captain den Schacht zu erklären. Er war genau das, ein Schacht der senkrecht den vorderen Kommandosektor des Schiffs durchzog und bei etwa einem Fünftel vom Kiel gemessen den Broadway und Tube im sogenannten Stern schnitt. Die Tube wiederum war eine Röhre, die die Hyperion quer durchlief, während dies der Broadway in Längsrichtung tat. Von diesen drei Hauptwegen zweigten unzählige Gänge ab, die das gesamte Schiff durchzogen. Primär diente dieses zweite Wegenetz reinen Wartungszwecken. Während die Hauptgänge mit ihren makellosen Wandvertäfelungen und den hochglänzenden Lichtpanelen ein elegantes Schiff zeigten - manche Flure zierte sogar Teppichboden - herrschte in der versteckten, zweiten Welt der Wartungsgänge Pragmatismus. Hier rangierten die technischen Anforderungen weit vor den Bedürfnissen etwaiger herumkriechender Techniker. Ganz ungefährlich war es dort nicht, weswegen weder Schacht, noch Tube, Broadway oder Wartungsgang jedem zugänglich waren. Allerdings zählte Jason singende Eidechse zu denjenigen, die als Bordtechniker des Schiffs über umfangreiche Zugangsberechtigungen verfügten. Was blieb waren dreihundertsiebenundvierzig Meter, die vom Broadway bis zur Brücke erklommen werden wollten. Selbst für einen sportlichen Mann wie Jason stellte der Schacht eine ziemliche Herausforderung an seine Kondition dar.

»Also gut«, akzeptierte Floyd den Vorschlag und wandte sich dem Sternensystem vor ihnen zu. »Wenn wir schon hier sind, schauen wir uns erst einmal um. Meine Herren: Standardprogramm!«

Das Standardprogramm war, wie der Name vermuten lässt, ein standardisiertes und schematisiertes Vorgehen bei der Ankunft in einem unbekannten Raumsektor und bestand primär aus systematischen Scans der Umgebung. Dabei wurden sowohl aktive als auch passive Messungen vorgenommen.

»Wow«, ließ sich als erstes wieder Max Friedrich hören. »Eine Sonne der Hauptreihe, Typ G also mittleren Alters, etwa 1,07 Sonnenmassen. Ich habe selten einen Stern gesehen, der dem Spektrum unserer Sonne so ähnlich ist. Ansonsten zähle ich acht Planeten. Der vierte Planet befindet sich in der habitablen Zone und… nochmals Wow… eine Stickstoff-Saustoffatmosphäre mit Kohlendioxid. Er könnte belebt sein.«

»Sollte es vernunftbegabtes Leben geben, dann nur präindustriell. Auf allen für Kommunikation relevanten Bereichen herrscht Stille. Oh, Moment…«, Quentin wirkte überrascht. »Hm, da war eben etwas. Eine breitbandige Energiespitze über das gesamte EM-Band, eine Art Blitzlicht. 100ns, nicht länger.«

»Quelle?«

»Aus der Richtung des vierten Planeten. Mehr kann ich nicht sagen. Dafür war der Impuls zu kurz.«

»Gut«, Floyd zuckte mit den Schultern. »Unser Auftrag lautet, eben jenen vierten Planeten zu untersuchen. Mr. Johannson, wärmen Sie den Unterlichtantrieb an. Wenn es Antworten auf unsere Fragen gibt, dann finden wir sie dort.«

Der ungeplante Überlichtsprung hatte die Hyperion bis an den Rand des Planetensystems gebracht. Den Flug bis zum vierten Planeten schätzte Max Friedrich auf ungefähr 36 Stunden, Zeit genug, um das Schiff, aber insbesondere seine Passagiere, darauf vorzubereiten, mit ihrer eigentlichen Arbeit anfangen zu dürfen. Doch zuvor mussten sie den Verräter und Mörder dingfest machen. Denn dass es sich beim Tod Professor Cardigans um einen Mord handelte, war mehr als nur wahrscheinlich. Ein Ausfall eines Stasisanzuges ließ sich als tragischen Zufall erklären, zwei Ausfälle, zumal bei derart wichtigen Personen wie der Leiterin der wissenschaftlichen Abteilung und dem Chefinformatiker des Schiffs schrie laut und deutlich: Vorsatz.

Beim Kurs zum vierten Planeten wollten die beiden zuständigen Offiziere, Max und Quentin, nichts dem Zufall überlassen und prüften ihn dreimal, bevor sie dem Captain ihre Bereitschaft meldeten. Floyd nickte abwesend und gab Otis den Befehl den Unterlichtantrieb zu starten. Seine Gedanken beschäftigten sich mit ganz anderen Fragen. Wie weit ging die Verschwörung? Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr befürchtete Floyd, dass der ganze Einsatz und selbst seine ungewöhnliche Berufung zum Kommandanten der Hyperion mit den Vorfällen an Bord im Zusammenhang standen.

»Verdammte Scheiße!«

Nicht nur Floyd schreckte in seinem Kommandosessel zusammen, als es im Heck der Kommandobrücke polterte und fluchte. Aus einem Serviceschott kam ein vollkommen erschöpfter und nass verschwitzter Jason gekrochen.

»Irgendwann muss ich ein paar ernste Worte mit den Konstrukteuren dieses Schiffes wechseln. Was für ein Glück, dass ich nicht unter Höhenangst leide.«

»Jason!«

Floyds Blick sprach Bände. Am liebsten wäre er aufgesprungen und zu seinem Freund und Liebhaber gerannt, um diesem um den Hals zu fallen und ihn in den Arm zu nehmen. Allerdings war ihm bewusst, dass ein derartiges Verhalten für einen Captain als nicht wirklich angemessen galt. Stattdessen presste er alle seine Gefühle in diesen einen Blick.

»Wow!«, kam es von Floyds Lieblingsindianer, der als Telepath deutlich empfindlicher auf die ihm entgegengebrachten Gefühle reagierte als ein normaler Mensch. Floyds Freude, Erleichterung und Glück darüber, dass sein Liebling noch lebte, waren für diesen schlicht überwältigend. Jason blinzelte und meinte verschmitzt lächelnd: »Ich freue mich auch, dich zu sehen.«

»Du hast uns einen ordentlichen Schrecken eingejagt«, beschwerte sich Quentin scherzhaft, während er Jason ein Handtuch reichte, damit dieser sich den Schweiß abwischen konnte. Aber statt nur nach dem Tuch zu greifen, griff Jason nach dem ganzen Quentin und umarmte ihn. Diese Geste wiederholte er bei allen seinen Freunden, wobei er sich Floyd bis zuletzt aufhob.

»Ruth hat es nicht geschafft, oder?«, wollte Jason wissen. Alle Offiziere nickten niedergeschlagen, gaben aber kein Wort von sich. Es ist eine Sache, jemanden unsympathisch zu finden, dies hieß aber noch lange nicht, dass einem der Tod des betroffenen Menschen nicht nahe ging. Dr. Ruth C. Cardigan mochte für Floyd und die anderen Offiziere den Nervigkeitsgrad einer Hämorride besessen haben, trotzdem machte sie ihr Tod wütend.

»Was ist eigentlich passiert?«, erwiderte Floyd Jasons Frage mit einer Gegenfrage. »Wieso haben die Anzüge versagt?«

»Ich bin mir noch nicht sicher, aber ich vermute, dass sich jemand in die Steuercomputer der beiden Anzüge gehackt hat.« Jason schnaubte. »Das ist verdammt nochmal mein System. Niemand hackt sich da rein. Wenn ich den Arsch erwische, dann… verdammt, ich weiß nicht, was ich dann mache.«

»Warum bist du dir sicher, dass die Anzüge gehackt wurden?«, wollte Otis wissen.

»Du willst Technogebabbel?«, grinste Jason grimmig. »Die Sache ist eigentlich ganz einfach. Bevor das Schiff springt, sendet es ein Signal, einen sogenannten Broadcast an alle Anzüge, sich zu aktivieren. Das ist in etwa so, als würdest du dich mit einem Megafon auf einen Marktplatz stellen. Mit anderen Worten, die Anzüge werden nicht individuell aktiviert, sie melden sich nur individuell am Steuersystem, dass sie den Ruf empfangen haben. Und hier wird es seltsam. Während die Schiffssysteme bei den Anzügen eine Fehlfunktion entdeckten, zeigte das Display meines Anzugs grünes Licht. Klingt verdammt nach einem Softwarebug, oder? Das kann allerdings nicht sein. Ich habe das Betriebssystem geschrieben, womit ich nicht sagen will, dass ich perfekt wäre, aber ich weiß, wie das System funktioniert. Ich war einfach nur gründlich und habe einen mathematischen Korrektheitsbeweis des Systems geführt. War eine Semesteraufgabe für meine Studenten. Was im Umkehrschluss aber heißt, dass auf dem Anzugcomputer nicht mehr meine, sondern eine fremde Software laufen muss, was wiederum heißt, dass die Anzüge gehackt wurden. Q.E.D.«

»Hat von euch jemand unseren Schlaumeier verstanden?«, wollte Quentin wissen.

»Ich befürchte schon«, bemerkte Otis. »Unsere Rothaut hat gerade den Beweis geführt, dass die Cardigan ermordet wurde.«

»Tod durch Überlichtsprung«, meinte Jason trocken und sah plötzlich ziemlich blass aus, als ihm klar wurde, welche Art von Abgang der Mörder auch für ihn geplant hatte. »Durch eine Singularität püriert werden, klingt nicht wirklich angenehm. Wer macht so was?«

»Das wollte ich eigentlich dich fragen«, erwiderte Floyd.

»Oh, natürlich«, Jason nickte wissend. »Die Logfiles der Anzüge müssten registriert haben, wenn neue Software eingespielt wurde. Es sei denn, auch diese wurden manipuliert, was ich nicht glaube. Ich habe eher den Eindruck, dass unser Hacker die Software mit der heißen Nadel gestrickt hat. Der stand wohl unter Zeitdruck.«

»Und was machen wir jetzt?«, wollte Otis wissen.

»Unseren Job?«, schlug Floyd grinsend vor. »Unser unbekannter Freund hat sehr viel riskiert, um an diesen Ort zu gelangen, und ich bin sehr neugierig zu erfahren, warum. Spielen wir also mit.«


Der Plan, soweit sich von einem Plan sprechen ließ, bestand darin, dem Verräter genügend Zeit und Möglichkeiten zu geben, sich zu verraten. Der Anschlag auf Professor Cardigan und Jason, da war sich Floyd sicher, war eine Notbremse, ein letztes Mittel, um eine unmittelbar bevorstehende Enttarnung zu verhindern. Wenn stimmte, was Quentin aus Louis Leclercs Assistenten an Informationen herausgekitzelt hatte, stand die Leiterin der wissenschaftlichen Abteilung kurz davor, das Rätsel der manipulierten Lagerlisten zu entschlüsseln. Diese Listen betrafen exakt die Lagerräume, die aus dem Raumplan der Schiffs-KI verschwunden waren. Zwischen beiden Ungereimtheiten eine Verbindung zu sehen, lag in Floyds Augen ziemlich nahe, was wiederum vermuten ließ, dass hinter beiden Vorfällen die gleiche Person stecken musste. Oder waren es mehrere? Ob es sich nun um einen Einzeltäter oder eine Gruppe handelte, es erklärte zumindest den Angriff auf Jason. Die Cardigan aus dem Weg zu räumen hätte nämlich nicht gereicht. Der Chefinformatiker des Schiffs hätte die von ihr begonnene Untersuchung fortgeführt und wäre vermutlich sogar schneller ans Ziel gekommen, als die fachfremde Professorin.

Was Floyd und seine Offiziere dann doch überraschte, war die Kaltblütigkeit, mit der der Mörder gegen seine Gegner vorgegangen war. Allerdings hatte er mit diesem ziemlich offenen Angriff einen Teil seiner Deckung aufgegeben. Davor bestand immer noch die Möglichkeit, eine andere, weniger konspirative Ursache für die Ungereimtheiten zu vermuten. Mit dem teilweise erfolgreichen Doppelmord hatte der Verräter hingegen klar und deutlich verkündet: »Ja, es gibt mich und ich habe keine Skrupel, zu handeln. Kommt mir nicht zu nahe!«

Wer kam in Frage?

Die unbefriedigende Antwort lautete: Nicht viele Personen, aber immer noch zu viele, um einen heißen Kandidaten zu identifizieren. Floyd bezweifelte, dass eine formelle Untersuchung zum Ziel führte. Er durfte sich nichts vormachen. Floyd trat gegen wahre Intelligenzbestien an. Oder war genau das ihr Schwachpunkt? Ihre latente Hybris und die feste Überzeugung, den Dumpfbacken von der Raumflotte intellektuell haushoch überlegen zu sein, ließ den Täter vielleicht unachtsam oder nachlässig werden. Oder es gelang Jason, seine Identität der Schiffs-KI zu entlocken, was sich bisher aber als ausgesprochen mühsam entpuppte.

Bei aller Verschwörerei galt es aber nach wie vor, ein Schiff zu führen. Zwischenzeitlich hatte Lt. Commander Otis Johannson Kurs auf den vierten Planeten des Systems setzen lassen und den Befehl erteilt, die Sublichttriebwerke der Hyperion zu reaktivieren und warmlaufen zu lassen. Während der Überlichtsprünge wurden diese nicht gebraucht. In den Ruhephasen zwischen den Sprüngen reichten die Manöver- und Steuerdüsen zur Lageregelung voll aus, weswegen die Hauptunterlichttriebwerke nicht nur deaktiviert, sondern ihre Düsen eingezogen und die Triebwerksschächte mit Verschlusskappen verschlossen wurden. Der Kaltstart nach der Deaktivierung benötigte deswegen einige Zeit, währenddessen die für den Antrieb der Unterlichtsysteme erforderlichen Systeme von der Schiffs-KI nach einem vorgegebenen Ablaufplan schrittweise hochgefahren wurden. Auf einem der größeren Kontrollmonitore neben dem Hauptschirm konnte Floyd sehen, wie ein Statusfeld nach dem anderen von Rot für deaktiviert über blau blinkend für Aktivität auf grün wechselte und damit die Bereitschaft des entsprechenden Systems signalisierte. Nach etwa einer halben Stunde war es soweit. Alle Systeme meldeten ihre Bereitschaft und alle Funktionstests und Checks, die nach den Wochen der Inaktivität einfach notwendig waren, wurden ohne Fehler abgeschlossen.

»Captain, das Schiff ist bereit für Unterlichtflug«, meldete dann der XO pflichtbewusst.

»Danke XO«, bestätigte Floyd. »Dann werde ich wohl den Rest informieren müssen. Spätestens, wenn wir beschleunigen, wird auch der Letzte an Bord bemerken, dass wir nicht mehr springen und unplanmäßig unser Zielgebiet erreicht haben.«

Die Ansage war insofern heikel, dass Floyd den Passagieren und Besatzungsmitgliedern erklären musste, dass sie weiter gesprungen waren, als geplant, er dabei aber gleichzeitig verhindern wollte, dass diese Nachricht zu wilden Vermutungen oder Spekulationen führte, die die Ermittlungen behinderten. Floyd entschied sich, ein wenig zu flunkern und den Sprung als Navigationsfehler zu verkaufen.

»Ist das für euch okay?«, wollte er von seinen Offizieren wissen, die in den letzten Wochen zu seinen Freunden geworden waren. Sein Blick richtete sich auf Quentin und Max, die für die FTL-Navigation zuständigen Offiziere. »Ich weiß, dass ich insbesondere euch beide als totale Deppen dastehen lasse.«

»Kein Problem«, meinten die beiden gleichzeitig und grinsten breit. »Ist mal was neues«, fügte Quentin hinzu.

»Also gut«, bemerkte Floyd und drückte den Knopf der Bordsprechanlage, kurz BSA: »Hier spricht nochmals der Captain. Wie Ihnen sicher aufgefallen ist, haben wir den Unterlichtantrieb aktiviert. Bei den Vorbereitungen unseres letzten Sprungs ist es zu einem Missverständnis betreffend unseres Sprungzieles gekommen, wodurch wir bereits unser Einsatzgebiet erreicht haben. Das war zwar nicht geplant, aber ich glaube, niemand an Bord sehnt sich nach einem weiteren Sprung. Zu unserem Status: Die Hyperion befindet sich am Rande eines Sonnensystems aus acht Planeten. Die Sonne ist vom Typ unserer Sonne, das heißt mit 1,07 Sonnenmassen ist sie ein wenig größer. Unser Ziel ist der vierte Planet, der sich nicht nur in der habitablen Zone befindet, sondern nach ersten Spektralanalysen sogar über eine Stickstoff-Sauerstoff-Atmosphäre verfügt. Mit anderen Worten: Der Planet könnte belebt sein. Ich habe einen Kurs auf diesen vierten Planeten setzen lassen, den wir in etwa 40 Stunden erreichen werden. Ich weiß, dass uns allen die letzten Sprünge noch in den Knochen stecken. Erholen Sie sich, ruhen Sie sich aus. In der Zwischenzeit werden meine Offiziere und ich uns um die tragische Fehlfunktion der zwei Stasisanzüge kümmern, weswegen Sicherheitsalarm II vorerst in Kraft bleibt. Sobald wir mehr wissen, werden wir Sie unverzüglich informieren. Und noch etwas. Für die ganz ungeduldigen unter Ihnen sind ab sofort die Gruppen II und IV der Kommandocodes der wissenschaftlichen Abteilung aktiv. Viel Erfolg!«

Partnerwahl und Seelenleid

Fast hätte Floyd die Frage »Kommst du?« an Jason gerichtet. Der Captain der Hyperion war müde. Der letzte Sprung steckte ihm immer noch in den Knochen. Hinzu kam die Sache mit der Cardigan. Eigentlich wollte er nur noch ins Bett steigen und sich an seine wilde Rothaut schmiegen. Doch dann fiel Floyd ein, dass eben jener nordamerikanische Ureinwohner offiziell als tot galt. Mit ihm durch die Gänge des Schiffs zu laufen, wäre dem schönen Plan, den Verschwörer in Sicherheit zu wiegen, eher abträglich gewesen.

Und was jetzt? Soweit Floyd wusste, ließ sich der der Brücke angeschlossene Besprechungsraum zu einer Notunterkunft umbauen. Versenkt in den Wänden steckten Betten, die im Falle einer in den Handbüchern nicht näher spezifizierten Notsituation von der Brückenmannschaft genutzt werden konnten. Das gesamte Brückendeck war als autarke Einheit konstruiert, inklusive einer eigenständigen Notenergieversorgung und Lebenserhaltung. Jason konnte sich hier natürlich verstecken, allerdings gefiel es weder Floyd, noch wirkte Jason wirklich begeistert.

»Ich könnte bei dir unterschlüpfen«, schlug der Chefinformatiker vor. »Ich weiß, wie ich deine Kabine durch die Versorgungsschächte erreichen kann. Allerdings nur, wenn ich danach deine Dusche benutzen darf. Das wird eine ziemlich schweißtreibende Kraxelei werden.«

»Ähm«, mischte sich Quentin ein und bedachte Floyd mit einem fragenden Gesichtsausdruck. »Haben wir eigentlich versucht, die verschwundenen Lagerräume quasi von hinten zu besuchen?«

Der Adressierte reichte die Frage wortlos an seinen Chefinformatiker weiter, der prompt verneinend mit dem Kopf schüttelte.

»Auf die Idee bin ich auch schon gekommen. Da die Sektion aber formal nicht existiert, sah sich unsere Schiffs-KI auch nicht genötigt, in den betroffenen Bereichen für Lebenserhaltung zu sorgen. Wenn jemand von euch das Kunststück beherrscht, ohne Frischluft auszukommen… nur zu. Ihr solltet euch aber warm anziehen. Geheizt wird dort ebenfalls nicht.«

Warum auch? Bereiche, die formal nicht genutzt wurden mit Wärme, Licht und Frischluft zu versorgen, machte aus Sinn eines Schiffsrechners nur bedingt Sinn, weswegen die Schiffs-KI die Lebenserhaltung in diesen Bereichen schlicht deaktivierte. Konkret hieß dies, dass es dort, abgesehen von kleinen Orientierungsleuchten, zappenduster und ausgesprochen kalt war. Es existierte zwar eine Atmosphäre, aber die bestand zu fast hundert Prozent aus Stickstoff. Das Fehlen von Sauerstoff und gasförmigem Wasser sorgte zusammen mit der Kälte für einen effektiven Korrosions- und vorbeugenden Brandschutz.

»Jason?«, hakte Floyd nach und bedachte seinen Freund mit einem sehnsüchtigen Blick. »Willst du dir das wirklich antun?«

»Hey, ich bin ein unzivilisierter Wilder. Wir können alles. Außerdem weißt du doch: Ein Indianer kennt keinen Schmerz.«

Mit diesen Worten verschwand die singende Eidechse wieder in der Wartungsluke, die sich mit Zischen und Schmatzen hinter ihm schloss.

»Sei vorsichtig«, murmelte Floyd, wandte sich ab und kehrte nachdenklich zu seinem Kommandosessel zurück. Dem Vorbild ihres Captains folgend, nahmen die Brückenoffiziere ebenfalls ihre Plätze wieder ein. »Mister Johannson, sind wir bereit?«

»Aye, Captain!«, kam die ebenso prompte wie förmliche Antwort.

»Nun denn. XO, setzen Sie unsere Vorerkundungssonden ab und bringen Sie uns auf Kurs. Viertel Unterlicht.«

Für ein DSRS war es üblich, insbesondere bei aktiviertem Tiefraumprotokoll, dem zu erforschenden Ziel hochspezialisierte Sonden entgegenzuschicken. Diese Flugkörper konnten durch ihre geringe Masse deutlich schneller beschleunigen und deswegen ein Objekt von Interesse um Klassen früher erreichen, als dies die im Verhältnis dazu milliardenfach trägere Hyperion konnte. Vor Ort konnten sie autonom Scans und Bildaufnahmen der Umgebung durchführen und diese zurück an die Hyperion senden. So ließ sich bereits ein Eindruck vom Zielgebiet und dort vorherrschenden Gefahren gewinnen, lange bevor das Schiff es erreicht hatte.

»Aye, Captain, Viertel Unterlicht«, wiederholte der XO Floyds Anweisungen und gab seinerseits Kommandos. »Mr. Harding, Gravitationsanker lösen.«

»Gravitationsanker gelöst. Schiff ist frei, nominaler Drift.«

»Mr. Friedrich, richten Sie uns aus«, folgte der nächste Befehl.

»Schiff wird ausgerichtet«, erwiderte Lt. Commander Max Friedrich. »Initiale RPY-Winkel bei 12, 37 und 47 Grad. Roll-, Pitch- und Yawdüsen zünden. Plasmaausstoß normal.«

Schiff wird ausgerichtet – was nach einer einfachen Prozedur klang, entwickelte bei einem Tiefraumforschungsschiff, wie der Hyperion, eine ganz ungeahnte Komplexität, die die Designer des Schiffs mit einigen komplexen Herausforderungen konfrontierte. Um eine Titanröhre von viereinhalb Kilometern Länge um seine Hoch-, Längs- oder Querachse zu wuchten, wurden nicht nur ziemlich leistungsfähige Manöverdüsen benötigt, deren Auslassdurchmesser locker mehrere Meter betragen konnte, sondern auch gleich eine ganze Heerschar dieser Aggregate. Im Weltraum mochte das Schiff zwar schwerelos sein, Zug-, Druck- und Scherkräfte gab es trotzdem, sodass wieder einmal geballte Rechenkraft benötigt wurde, um die Unzahl der Hilfsantriebe so zu steuern, dass die Hyperion sich weder verbog noch zerriss.

Dass das Schiff überhaupt ausgerichtet werden musste hatte einen anderen, recht einfachen Grund. Der Hauptantrieb befand sich ganz konventionell am Heck. Es beherrschte genau eine Funktion, diese aber ausgesprochen gut: Das Schiff vorwärts treiben. Kurskorrekturen waren zwar durch schwenken der Düsen möglich, aber nur in sehr engen Grenzen. Auf jeden Fall reichte es nicht dazu aus, um die von Commander Friedrich benannten RPY-Winkel zu korrigieren.

Im Prinzip war so ein Überlichtsprung eine feine Sache. Innerhalb eines Wimpernschlags wurden gigantische Entfernungen überwunden. Allerdings hatte die Sache, abgesehen vom allseits geschätzten Sprungkopfschmerz, einen kleinen Nachteil. Nach einem Sprung hing das Schiff irgendwie im Raum. Und hier kamen die RPY- oder Roll-, Pitch- und Yaw-Winkel ins Spiel. Max Werte besagten nichts anderes, als dass die Hyperion 12 Grad in Längsrichtung geneigt war, 37 Grad nach oben und noch 47 Grad zur Seite schaute, immer aus der Sicht des Zielplaneten betrachtet. Bevor also die Haupttriebwerke gezündet werden konnten, musste der Haufen Titanblech erst einmal auf Kurs gebracht werden.

»Schiff dreht ein«, verkündete Quentin. Er und Max bildeten das Steuer- und Navigationsteam. Einer betätigte die Antriebe, während der andere das Resultat überwachte und umgekehrt, weswegen die Konsolen ihrer jeweiligen Arbeitsplätze auch identisch ausgestattet waren. Aber dies war nur Technik, seelenlose Technik, wie ihr Freund Otis meinte. Bei einem viereinhalb Kilometer langen Schiff benötigte es mehr als blindes Vertrauen in Navigationsautomatiken und Navigationscomputer. Max und Quentin verfügten über eine fast schon übersinnliche Intuition für die Hyperion, die sie das Schiff auf den Millimeter genau steuern ließ. Otis und Jason äußerten sogar die nur halb scherzhafte Vermutung, dass die beiden vielleicht über die seltene Gabe der Technopathie verfügten.

»Laterale Bremsdüsen zünden«, fügte Lt. Friedrich hinzu. Das ganze Manöver folgte der Präzision eines schweizer Uhrwerks. Während Floyd staunend die Aktion auf dem Monitor verfolgte, breitete sich auf Otis Gesicht mehr und mehr das breite Grinsen eines stolzen XOs aus, der sehr genau um die Perfektion seiner Freunde und Kollegen wusste. Quentin mochte manchmal eine Krampfader im Arsch sein, aber er war ein verdammt guter Brückenoffizier. Genauso wie Max. Der immer etwas schüchtern wirkende Mann war ein begnadeter Navigator und Steuermann.

»Roll- und Pitchwinkel ausgeglichen. Schiff liegt auf Bezugsebene. Automatische Lageregelung auf neues Inertialsystem eingerastet und aktiviert«, verkündete Quentin, was so viel hieß, dass die Hyperion parallel zur Planetenebene lag. Einzig die Richtung stimmte noch nicht, näherte sich aber mit jeder Sekunde mehr an.

»Schiff ausgerichtet. Abweichung im nominalen Bereich, Captain« verkündete Otis den Abschluss des Manövers.

»Danke, Mr. Johannson, das war perfekte Arbeit. Nun denn, Gentlemen, ein Planet will von uns erkundet werden. Bringen wir die Hyperion mal auf Trab. Sublicht auf 40 Prozent. Lassen Sie das Schiff eine Weile auf diesem Wert. Wenn alles normal läuft, und Ihnen der Chief sein Okay gibt, bringen Sie die Hyperion auf 80 Prozent.«

»Sublicht 40 Prozent, aye Captain!«

Ein paar leichte Berührungen einiger Sensorfelder und hunderte und tausende Meter entfernt erwachten haushohe Aggregate zum Leben, die ein wahres Höllenfeuer entfachten. Die Triebwerksdüsen flammten auf. Blauweißes Plasma schoss in die Leere des Alls, dass Sir Isaac Newton seine Freunde daran gehabt hätte, ein physikalisches Grundprinzip direkt bei der Arbeit zu erleben. Actio gleich Reactio. Der Flammenstrahl hocherhitzten Plasmas begann die Hyperion langsam zu beschleunigen. Floyd betrachtete den großen Hauptbildschirm. Erst schien sich nichts zu bewegen, doch dann begann sich an den Rändern langsam die Perspektive zu verschieben. Einzelne Sterne entwichen dem Blickfeld, um durch andere ersetzt zu werden. Mit jeder Sekunde, die verstrich, nahmen die Veränderungen zu, bis es deutlich augenscheinlich wurde, dass sich das Schiff bewegte und an Geschwindigkeit zunahm. Zufrieden lehnte sich der Captain in seinem Sessel zurück.

Und damit begann der langweilige Teil: die Brückenwachen. Das Problem war, dass nicht wirklich etwas passierte. Die Brückencrew hockte hinter ihren Konsolen und Monitoren, überprüften und verglichen gelegentlich irgendwelche Werte, doch die meiste Zeit drehten sie Däumchen.

»Captain«, erhob sich Quentin von seinem Platz, »erlauben Sie mir offen zu sprechen?«

Was war denn das? Ging es Floyd durch den Kopf, bevor er Quentin erlaubte zu sprechen: »Nur zu, Commander.«

»Gehen Sie ins Bett!«, befahl Floyds Navigator. »Ich weiß, dass ich meine Kompetenz überschreite, aber schauen Sie sich um. Es ist nicht viel los. Es reicht, wenn sich Max und ich langweilen. Sie und auch Otis sollten sich ausruhen.«

»Otis, was meinen Sie?«, wandte sich Floyd an seinen XO.

»Dass Mr. Harding etwas vorlaut sein mag, aber durchaus einen berechtigten Punkt anbringt. Captain, Sie sollten sich für eine Weile schlafen legen. Wenn Sie meine Empfehlung hören wollen, lassen Sie das Schiff auf den regulären Wachzyklus bei aktivem Tiefraumprotokoll gehen. Es wird noch gut siebenundzwanzig Stunden dauern, bevor wir dem ersten Planeten auf unserer Flugbahn nahe kommen werden. Bis dahin durchkreuzen wir nichts als leeren Raum.«

»Ist ja gut. Ihr habt mich überzeugt. Allerdings steht mir zuvor noch eine unerfreuliche Aufgabe bevor. XO, gehen Sie auf regulären Wachzyklus. Mr. Harding, Sie haben es nicht anders gewollt, Sie haben die erste Wache. Und Sie, Mr. Johannson, hauen sich ebenfalls aufs Ohr.«

Wer vermutet hätte, dass Quentin mit seinem Los haderte, täuschte sich. Ganz im Gegenteil pflasterte ein megastolzes Strahlen sein Antlitz, als er sich auf Floyds Kommandosessel niederließ und dabei ein breites, kopfschüttelndes Grinsen von Max erntete.


»Captain? Floyd, darf ich dich begleiten?«

Der Angesprochene wandte sich um und sah, wie ihm Otis hinterher eilte.

»Ich glaube, dass die Bezeichnung gerne in diesem Fall etwas missverständlich interpretiert werden könnte«, erwiderte Floyd gleichzeitig verlegen und dankbar. »Aber ja, für diesen Gang kann ich etwas Gesellschaft gut gebrauchen.«

»Sie… ähm, du musst dir das nicht antun«, gab Otis, halb Freund halb XO, zu bedenken.

»Doch, muss ich. Ich bin der Captain dieses Schiffes und sie war mein Passagier, für dessen Wohlergehen ich verantwortlich war.«

Einige Minuten später hatten die beiden Männer ihr Ziel erreicht: Professor Ruth C. Cardigans Unterkunft. Der neben der Tür Wache haltende Unteroffizier wirkte etwas müde, zuckte aber sofort zusammen und nahm Haltung an, als er die beiden Offiziere bemerkte.

»Entspannen Sie sich, Bootsmann! Wir sind alle ein wenig müde«, entgegnete Otis und klopfte Bootsmann Mendez verständnisvoll auf die Schulter. »Gab es irgendwelche Vorkommnisse?«

»Nein, Sir!«, erwiderte Mendez zackig. »Nach der Alarmmeldung habe ich sofort Posten bezogen und die Unterkunft versiegelt. Ein paar Wissenschafter wollten Professor Cardigan sprechen. Ich habe sie höflich darauf hingewiesen, dass dies zurzeit nicht möglich sei.«

Noch während der Bootsmann seinen Bericht abgab, tauchte Professor Dr. med. Felicitas Rodriguez, die Leiterin der biologischen, xenobiologischen, medizinischen und xenomedizinischen Abteilung auf, die medizinische Belange der Schiffsbesatzung und Passagiere wahrnahm.

»Ich nahm mir die Freiheit, Professor Rodriguez hinzu zu bitten«, erläuterte Otis und erntete ein zustimmendes Nicken seitens Floyd.

»Dann treffen die Gerüchte also zu«, bemerkte die gebürtige Spanierin trocken und fügte sofort hinzu: »Keine Angst. Meine Lippen sind versiegelt, genauso wie die Datenbank der Krankenstation. Von mir wird niemand etwas erfahren.«

Floyd nickte erneut und rang sich sogar ein dankbares Lächeln ab, was aber nicht lange hielt. Dem Captain der Hyperion war alles andere als zum Lächeln zumute. Vor seinem geistigen Auge erschienen wieder die Bilder der ESS Paris nach ihrem Notsprung: Die rote Masse, die auf allen Flächen des Schiffs klebte, hatte sich in Floyds Erinnerung eingebrannt und tiefe Narben hinterlassen. Das Schlimmste war, wie sie, die Überlebenden, durch diese klebrige Masse waten mussten, wohl wissend, dass es die Überreste ihrer Ausbilder, ihrer Kameraden und oft auch ihrer Freunde waren.

Dieses Bild vor seinen Augen, nickte Floyd dem Bootsmann zu: »Öffnen Sie bitte, Mr. Mendez.«

Zögernd und ängstlich hielt Bootsmann Mendez seine DNA-kodierte Identitätskarte vor die Türkontrolle, wartete, bis diese seine Identität bestätigt hatte und gab dann den Übersteuerungscode ein, der die Tür veranlasste, sich zu öffnen, obwohl Professor Cardigan sie zuvor von innen verriegelt hatte. Es gab einen kurzen Quittungston, ein Kontrolllämpchen blitzte auf, die Tür öffnete sich und gab den Zugang zur Kabine frei.

Noch bevor die Augen von Otis, Floyd, Bootsmann Mendez und Professor Rodriguez die sich ihnen präsentierende Szene verarbeitet hatten, schlug ihnen ein markanter Geruch entgegen. Floyd erkannte ihn sofort. Dieser Geruch hatte sich für immer und ewig in seinem Bewusstsein eingebrannt. Es roch stechend metallisch, aber auch nach Urin, Kot und Erbrochenem, eben genau den olfaktorischen Komponenten, die Blut, Magen, Darm und Blase entsprechen.

»Oh Gott!«, stöhnte Bootsmann Mendez, nahm eine grüne Gesichtsfarbe an, presste sich die Hände vor den Mund und eilte hastig in Richtung der nächstgelegenen Toilette. Doktor Rodriguez reagierte hingegen nicht nur wesentlich gelassener, sondern schaltete auch auf eine Form von Professionalität um, die manch einer als abgeklärt missverstanden hätte. In Wirklichkeit war es ein mentaler Selbstschutz, wie er oft bei Medizinern zu beobachten war. Je dramatischer die Situation, desto distanzierter ging die Schiffsdoktorin zu Werke.

Und die Situation war mehr als nur dramatisch. Nur knapp zwei Meter von der Tür entfernt lag Professor Cardigan – oder das, was von ihr übrig war, und das war nicht mehr als eine Lache Biomasse, die sich auf der Höhe des Halses und der Handgelenke ergossen hatte, also genau an den Stellen, an denen der Stasisanzug Öffnungen besaß. Jeder im Raum, Otis, Felicitas und Floyd wusste, was ein Überlichtsprung mit einem lebenden Körper anstellte, allerdings kannten die beiden erstgenannten die Wirkung nur aus Vorträgen, Bildern und Lehrfilmen, was in keiner Weise mit der Realität vor ihnen vergleichbar war. Floyd sah, wie Otis damit rang, seine Fassung zu bewahren und nicht dem Vorbild Bootsmann Mendez zu folgen.

»Es ist das erste Mal, dass ich so etwas sehe«, bemerkte Doktor Rodriguez mit krächziger Stimme.

»Ich nicht«, erwiderte Floyd belegt und fügte frustriert hinzu. »Dabei hatte ich gehofft, es nie wieder sehen zu müssen.«

»Also gut«, murmelte Felicitas, öffnete ihren kleinen Medizinerkoffer und holte einen Handscanner heraus, mit dem sie die Überreste der Cardigan untersuchte. »Verdammt, die DNA ist vollkommen zerstört. Aber trotzdem, dies war Ruth C. Cardigan.« Mit lauter Stimme fuhr sie fort: »Für das medizinische Logbuch: Begutachtung des Leichnams Professor Cardigan, Ruth C., identifiziert mittels DNA-Fragmentsupersampling und chemischer ID. Todesursache: Sprungtrauma in Folge Stasisversagens. Zeitpunkt des Todes: 17:45 Schiffsstandardzeit, entsprechend des Logbucheintrags des letzten Sprungs. Rodriguez, Felicitas MD, Leiterin der medizinischen Abteilung. Ich werde meine Leute bitten, die Überres… Entschuldigung, den Leichnam Professor Cardigans in die Pathologie bringen zu lassen.«

»Danke Doktor«, ließ sich Floyd abwesend vernehmen, was der Rodriguez natürlich nicht entging.

»Captain, geht es Ihnen gut?«

Floyd nickte müde: »Ja, es geht mir gut. Ich bin müde, wie wir alle und dies hier hat ein paar Erinnerungen zurückgebracht, die ich gerne vergessen hätte. Wie dem auch sei. Wir sind hier vorerst fertig. Otis, die Kabine bleibt weiter unter Verschluss und permanentem Monitoring.«

»Aye, Captain!«

Mehr gab es nicht zu sagen. Die drei verließen Professor Cardigans Räumlichkeiten. Otis versiegelte die Tür, aktivierte den gewünschten permanenten Sicherheitsscan und überreichte Felicitas den Zugangscode, damit sie die Überreste der Cardigan später bergen konnte.


Wenn Floyd ehrlich war, musste er Quentin wirklich danken, dass er auf das Offensichtliche aufmerksam machte. Einerseits gab es jetzt, nach der Begutachtung der Leiche der Cardigan wirklich nichts mehr zu tun, anderseits war er hundemüde, um nicht zu sagen, komplett erschlagen. Und dann dürfte da noch eine wilde Rothaut in seiner Kabine auf ihn warten, das heißt, wenn dieser nicht vor Erschöpfung in einer der unzähligen Wartungsröhren eingeschlafen war. Oder hatte Jason die Kabine noch gar nicht erreicht?

In Floyds Unterkunft war es jedenfalls still. Als erstes verriegelte Floyd seine Tür. Niemand sollte zufällig in seine Privaträume stolpern und dabei entdecken, dass die Schiffsrothaut doch noch nicht in die ewigen Jagdgründe eingegangen war. Wenig später begann es im Arbeitszimmer der Kapitänskajüte zu rumoren. Erst gab es ein scharrendes Geräusch, dann surrte es elektrisch, es stöhnte und polterte, um erneut zu surren.

»Was für kranke Geister entwerfen eigentlich Raumschiffe?«

Jason hockte schwitzend und keuchend auf dem Teppichboden des Arbeitszimmers, direkt neben einer Serviceluke, die kaum größer war, als er selbst. Floyd stand im Türrahmen, die Arme vor seiner muskulösen Brust verschränkt und schaute versonnen lächelnd auf seinen erschöpften aber lebenden Freund hinab.

»Was?«, fragte Jason, der ganz gezielt vermied, Floyds Gedanken zu lesen.

Das versonnene Lächeln hatte sich in einen glücklichen und sehr erleichterten Ausdruck verwandelt. Floyd seufzte, ihm wurde erst jetzt richtig bewusst, wie knapp Jason dem Tod von der Schippe gesprungen war. Vorhin auf der Brücke herrschte Anspannung. Tausende Dinge verlangten nach Aufmerksamkeit und machten es leicht, sich abzulenken. Dann der Besuch in CCs Räumen, der Geruch und die Erinnerungen, die er hervorrief. Aber hier, in der privaten Zweisamkeit des Arbeitszimmers, überwältigten Floyd seine Gefühle, dass er zu zittern begann, auf Jason zustürmte, sich zu ihm auf den Boden warf und in den Arm nahm, sich an ihn klammerte.

»Wow, was für ein Tackle. Da schlägt der Footballspieler bei dir durch«, lachte Jason fröhlich, wobei er aber die Umarmung seines Freunds zärtlich erwiderte und leise in sein Ohr flüsterte: »Was ist los?«

»Ich dachte, ich hätte dich verloren«, flüsterte Floyd zurück und ließ seinen Gefühlen freien Lauf, was unter anderem hieß, Freudentränen ebenfalls freien Lauf zu lassen. »Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn… scheiße, Jason, bitte, verlass mich nie.«

»Ich bin hier«, flüsterte Jason mit fester Stimme zurück, bei dem sich ebenfalls kleine Tränen gebildet hatten, die seine Wangen hinunter liefen. »Als der Alarm losging und mein Anzug nicht funktionierte, war der totale Horror. Ich hatte Angst, höllische Angst, sogar Panik. Aber nicht wegen mir. Ich fürchte mich nicht, zu sterben. Glaube mir, während meiner Selbstfindung im Reservat habe ich den Tod gesehen, sogar mit ihm gespielt und in einem schwachen Moment sogar mit ihm kokettiert. Nein, ich habe keine Angst vor dem Tod. Ich hatte Angst um dich. Ich hatte Angst, dich allein zu lassen.«

»Oh Jason!«, seufzte Floyd. »Bis vorhin habe ich nicht gewusst, nicht geahnt, wie sehr ich dich brauche.«

»Floyd Rutherford Grant«, wurde Jason plötzlich sehr ernst. Mit beiden Händen griff er nach Floyds Gesicht, packte seine Wangen und hob sanft den Kopf seines Freundes soweit an, dass sie sich direkt einander in die Augen sehen konnten. »Willst Du mich wirklich? Willst du mit mir zusammen sein? Nicht einfach nur als Freund oder Liebhaber, sondern richtig. Ich weiß, das kommt vielleicht etwas sehr früh, aber willst Du mein Partner werden?«

»Ja, ich will!«

Leider kein Sex

Ein unschätzbarer Vorteil, Captain eines Raumschiffs zu sein, insbesondere eines Schiffs der DSRS-Klasse, bestand darin, eine wirklich geräumige Suite sein Eigen nennen zu dürfen. Neben einem Wohnraum, Schlaf- und Arbeitszimmer verfügte die Kajüte auch über ein geräumiges Esszimmer, an dessen Tisch nun Jason und Floyd saßen, je ein Glas Wein in ihren Händen hielten und sich nachdenklich gegenseitig betrachteten.

»Ja?«, knüpfte Jason an die Unterhaltung von vor dem Weinglas an. »Einfach nur ja?«

»Genau das. Du weißt doch, wie der alte Spruch lautet. Sollte dich das Schicksal mit dem Vornamen ansprechen…«

»…tritt ihm in den Arsch?«, schlug Jason vor.

»So in der Art« Floyd grinste nur halbherzig, was einem Telepathen wie Jason natürlich nicht entging. Er musste keine Gedanken lesen, um zu wissen, dass seinem Freund etwas auf dem Herzen lag.

»Was bedrückt dich?«

»Ich war bisher in Beziehungsdingen nie wirklich erfolgreich«, gestand Floyd. »Meine Partner… ach, wem mach ich etwas vor? Ich kann ihnen nicht wirklich übel nehmen, nicht auf mich gewartet zu haben. Dass sie mit anderen in die Kiste sprangen… mein Gott, ich düse monatelang im All umher…«

»Stopp!«, gebot Jason, den das oberflächliche Gestammel überraschte. Obwohl er es nicht wollte und sich alle Mühe gab, sie zu blocken, konnte er Floyds Gefühle deutlich lesen. »Wovor hast du Angst?«

»Fuck«, knurrte Floyd und atmete frustriert aus. Dieser telepathische Teufel zwang ihn, sich ein paar unerfreulichen Wahrheiten zu stellen, von denen er nicht wusste, ob er sie sich selbst eingestehen wollte. »Also gut. Dir etwas vorzumachen, ist wohl ziemlich witzlos, was? Du willst es also wissen… ich… ich… ich will nicht wieder verletzt werden. Ich versuchte, mir immer einzureden, dass es an meinem Job als Raumfahrer lag, an den Monaten der Abwesenheit, dass es meine bisherigen Partner mit der Treue nicht so genau nahmen. Aber, Jason, es tut so verdammt weh. Inzwischen kann ich es an dem Blick erkennen, mit dem mich meine Verflossenen immer bedachten, wenn sie während meiner Abwesenheit… ach, Scheiß drauf! Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, mich nicht wieder in eine Beziehung zu stürzen, die eh zum Scheitern verurteilt ist. Doch dann kamst du und mein eiserner Vorsatz verwandelte sich in Makulatur.«

»Die wilde Rothaut knackt den Football-Jock?«

»Ein wenig, aber wirklich geknackt hat mich der ernste, tiefgründige Mann, der mich so nahm, wie ich tief in mir bin: unsicher, schüchtern und vor allem verletzlich. Du weißt, was ich meine. Ob du es willst oder nicht, du hast in meine Seele geschaut. Vor dir bin ich nackt. Oh ja, ich will mit dir zusammen sein und dein Partner werden. Aber eine Frage hätte ich schon noch: Warum ich?«

Statt direkt zu antworten, kratzte sich Jason am Kopf, überlegte eine Weile und ließ dabei seinen Blick mehrfach über den geduldig wartenden Floyd wandern »Ich weiß es nicht genau. Du erinnerst dich an unsere erste Begegnung?«

Es war der Tag, als ein gewisser Floyd Rutherford Grant das Kommando der Hyperion übernommen hatte. Otis, sein XO, war mit ihm in die Höhle des Löwen herabgestiegen, um als erstes die Bekanntschaft mit Dr. Ruth C. Cardigan machen zu dürfen, die ihn deutlich an der Gesellschaftsfähigkeit der Wissenschafter zweifeln ließ. Zum Glück wurde sein Glaube an die Menschen im Allgemeinen und die hochgebildeten im Besonderen wiederhergestellt, als ihm als zweiter Vertreter dieser speziellen Menschengattung Jason singende Eidechse vorgestellt wurde. Damals war Floyd nichts Besonderes aufgefallen. Im Rückblick und mit dem Wissen um das spezielle Wesen der Freundschaft zwischen Otis und Jason, musste Floyd nachträglich stutzen.

»Du wusstest nicht, dass Otis die wissenschaftliche Abteilung besuchen kam, oder? Ich dachte, ihr seid mental verbunden.«

Singende Eidechse nickte zufrieden, erhob sich von seinem Platz und begann den Tisch für ein leichtes Essen zu decken.

»Wir können in eine Art Privatmodus wechseln. Das ist eine Fähigkeit, die wir bei meinem Großvater gelernt haben. Wir können unsere gegenseitige Präsenz zwar immer noch fühlen, auch über weite Strecken, aber weder den Ort lokalisieren noch unserer Gedanken lauschen. Otis wollte mich überraschen. Ich war kurz vorher an Bord gekommen und fühlte natürlich seine Präsenz, konnte ihn aber nicht lesen. Inzwischen befinden wir uns die meiste Zeit im Privatmodus. Es ist einfach viel zu ablenkend, Otis Kommandos an Quentin oder Max im Kopf zu haben, wenn ich mich selbst auf Q-Bit-Algorithmik konzentrieren muss«, erläuterte Jason und fügte mit hinterhältigem Grinsen hinzu: »Außerdem glaube ich, dass Mr. Johannson unser Sex nichts angeht.«

»Shit, Jason! Sag sowas nicht. Wie soll ich Otis jemals wieder einen Befehl erteilen, wenn ich befürchten muss, dass er unsere letzte Nummer live miterlebt hat. Diese Art Dreier ist für meinen Geschmack etwas zu bizarr.«

»Och, man sollte immer experimentierfreudig bleiben.«

»a) sind wir experimentierfreudig und b) lenkst du ab«, konterte Floyd. »Du wolltest mir erzählen, was bei unserer ersten Begegnung passierte.«

»Alles«, erwiderte der amerikanische Ureinwohner und programmierte den Speisenverteiler. »Ich sah dich und wusste vom ersten Moment, dass ich dich wollte. Zugegeben, ich wusste auch, dass du mich wolltest. Spätestens bei unserem Händedruck zur Begrüßung konnte ich deine Gedanken nicht mehr unterdrücken. Ich habe dich in ziemliche Gewissensnöte gestürzt, was? Der Captain der Hyperion erlaubte es sich nicht, Gefühle und Verlangen zu zeigen. Wie krank ist eigentlich die Flottenleitung, dass sie der Meinung ist, ein Offizier verliere seine Autorität, sollte er Zuneigung oder auch einfach nur Geilheit empfinden.«

»Ähm, du weißt, was ich damals gedacht habe?« Plötzlich war Floyd die Rothaut, was die singende Eidechse schmunzeln ließ.

»Wenn es dabei um eine naturbraune Wildlederhose ging…«, säuselte Jason, ließ den Satz unbeendet und genoss das entsetzte Gesicht seines Gegenübers. Den ließ er eine Weile zappeln, dann griff er nach Jasons Händen. »Entspann dich. Ich fand es amüsant und ich werde dir diesen Wunsch sogar gerne erfüllen. Du hast keine Ahnung, wie geil es sein kann, auf dem Rücken eines Pferdes über die Prärie zu reiten.«

»Ähm, und deswegen…?«

»Nein, deine vordergründige Geilheit hätte nur für eine lockere Beziehung und eine gelegentliche Nummer gereicht. Aber da war mehr, viel mehr. Bereits bei diesem ersten Kontakt fühlte ich mich zu dir auf eine Weise hingezogen, die über profanem Verlangen stand. Du hast etwas an dir, das ich nicht recht greifen kann. Du weißt, dass wir Telepathen euch Menschen anders wahrnehmen als ihr euch selbst. Es ist intimer, direkter und häufig auch abstoßend. Ich weiß, ich sollte über Tote nicht schlecht sprechen, aber mir fiel es immer sehr schwer, mich mit CC zu unterhalten oder gar zusammenzuarbeiten. Ihre Persönlichkeit wirkte auf mich körperlich abstoßend. Verstehst du? Telepath zu sein, ist Segen und Fluch zugleich. Wenn ich einen Menschen treffe, versucht sich der telepathische Teil meines Bewusstseins auf mein Gegenüber einzustellen, ähnlich einem analogen Radio, an dem du den Abstimmknopf drehst. Meistens stellt dies kein Problem dar. Wenn es gut läuft, gewinne ich in einer Unterhaltung an Empathie. Es kann sich, wie bei CC, aber auch ins Gegenteil verkehren. Begegnungen mit ihr fühlten sich für mich immer dissonant an. Als ob jemand Kreide auf einer Tafel quietschen lässt.«

»Iihhh!«, quiekte Floyd auf. »Auf der High-School hatte ich eine Mathematiklehrerin, die darauf bestand, mit Kreide zu schreiben. Bei ihr quietschte es immer. Ich glaube sogar, dass sie die Kreide mit Vorsatz quietschen ließ.«

»Stick-Slip-Effekt«

»Was?«

»Das Quietschen. Das ist der Stick-Slip-Effekt. Die Kreide gleitet nicht über die Tafel, sondern bleibt immer wieder kurz stecken. Dabei beginnt sie in ihrer Eigenfrequenz zu schwingen, sie gerät in Resonanz. Ein fieses Geräusch. Und ja, deine Lehrerin hat mit Vorsatz gehandelt.«

»Äh, wie jetzt?«, Floyds Augen wurden groß. »Kanntest du Mrs. Henderson?«

»Nein, aber als Mathematiklehrerin hat sie bestimmt gewusst, dass es gereicht hätte, das Kreidestück zu brechen. Kürzeres Stück, höhere Resonanzfrequenz. Es hätte zwar gequietscht, aber wohl nur noch Hunde gestört.«

»Du bist unglaublich«, meinte Floyd, grinste, stutzte, musterte seinen Freund und begann ermahnend mit seinem Zeigefinger zu fuchteln. »Du lenkst immer noch ab.«

»Stimmt!«, gab Jason zu. »Vielleicht lenke ich ab, weil ich nicht weiß, warum ich dich eigentlich mag.« Jason stoppte, schlug beide Handflächen vor den Mund, starrte Floyd entsetzt an und begann will mit seinen Händen zu fuchteln. »Nein, nein, nein. Oh, Shit, das kam jetzt völlig falsch rüber.«

Anders als befürchtet, reagierte Floyd ganz gelassen. Ganz im Gegenteil amüsierte ihn Jasons sprachlicher Lapsus.

»So, so. Du weißt also gar nicht, warum du mich magst?«, zog Floyd die singende Eidechse auf.

»Doch!«, jammerte der. »Nein, aber anders. Ich fühle mich zu dir hingezogen. Einfach so, ohne Grund. Natürlich könnte ich reihenweise Dinge an dir aufzählen, warum du begehrenswert bist. Aber das ist es nicht. Um bei der Kreide zu bleiben. Bei dir quietscht nichts. In deiner Nähe fühle ich mich einfach nur wohl. Der telepathische Teil meines Hirns kommt zur Ruhe. In deinen Armen kann ich mich entspannen, was mir sonst in der Nähe von Menschen nie gelingt. Wenn es nicht so total nach Dramaqueen klänge, würde ich sagen, dass du der Mensch bist, nach dem ich immer gesucht habe. Als Medizinmann kann ich nur wiederholen, was ich dir schon früher gesagt hab: Du hast starke Medizin in dir, Floyd Rutherford Grant. Ich kann dir nicht versprechen, dass es mit uns garantiert klappen wird. Ich kann dir nur versprechen, dich niemals zu verletzen.«

»Ich bin kein Telepath und kann mir meiner Psyche nicht so sicher sein wie du. Deswegen verspreche ich dir, zu versuchen, dich niemals zu verletzen.« Floyd seufzte, stand vom Tisch auf, umrundete ihn, griff sich Jason und zog ihn zu sich hoch, um ihn in seine Arme zu nehmen. »Ja, lass es uns versuchen.«

»Ganz offiziell?«, hakte Jason nach.

»Ganz offiziell. Soll es alle Welt ruhig wissen, dass wir zusammen sind. Warum ist dir das so wichtig?«

»Wegen der Steuern und Zulagen natürlich«, meinte der wilde Indianer ganz ernst, dass Floyd einen Moment brauchte, um zu erkennen, dass ihn sein Schatz aufzog. Telepathen mochten zwar nicht lügen können, was aber noch lange nicht hieß, dass sie immer die ganze Wahrheit von sich gaben.


»Weißt du, dass du müffelst?«

Der gegenseitigen Willensbekundung sich nicht nur emotional sondern auch ganz formal und gesetzeskonform aneinander zu ketten, folgte intensives Gefummel. Die beiden jungen Männer kamen sich im Verlauf dieses Prozesses prinzipbedingt körperlich näher, was dazu führte, dass Floyd der unverkennbare Duft intensiver körperlicher Aktivität in die Nase stieg.

»Hey, ich habe eine umfangreiche Klettertour hinter mir.«

»Du musst dich nicht entschuldigen«, erwiderte Floyd und zeigte dabei ein rattiges Grinsen. »Dein Schweiß riecht frisch. Aber vielleicht hast du Lust, dich davon zu befreien? Ich schrubb dir auch gerne den Rücken.«

Statt zu antworten zog die müffelnde Rothaut ihren Cowboy am Handgelenk mit sich in das Badezimmer des weißen Mannes. Dort angekommen begann er sich ohne weitere Umschweife seiner Arbeitskleidung, der obligatorischen Flugkombi, zu entledigen, woraufhin der schwarzglänzende Stasisunteranzug zum Vorschein kam.

»Das Teil hätte dich fast umgebracht«, kommentierte Floyd. »Außerdem bin ich nach wie vor der Meinung, dass er nach Fetischporno aussieht.«

»Spießer! Was ist gegen einen kleinen Latexfetisch einzuwenden?«, konterte der Träger des Anzugs. »Außerdem trägt nicht der Anzug die Schuld, sondern derjenige, der ihn manipuliert hat. Aber wenn dir das Teil nicht gefällt, kannst du die nächste Zeit darauf verzichten. Wie uns der Captain über die BSA mitteilte, haben wir ja unser Einsatzgebiet erreicht.«

»Stimmt«, schmunzelte Floyd. »Das habe ich gesagt. Ach, dann könnte ich mich doch direkt…«

Statt es auszusprechen, wurde es getan. Floyd entledigte sich seiner Kleidung samt des Stasisunteranzugs, den er natürlich ebenfalls trug, und schlüpfte zu Jason unter die Dusche, der die Tür der Kabine einladend offen hielt. Was als Akt der Körperreinigung geplant wurde, entwickelte sich sehr schnell zu einem der Sinnlichkeit. Die zwei Männer hatten allen möglichen Spaß miteinander. Sie schmusten, alberten herum, nahmen sich in den Arm oder streichelten sanft gegenseitig ihre Körper.

»Komm, lass uns ins Bett gehen«, flüsterte Jason Floyd ins Ohr und erntete ein zustimmendes Gurren. Ein Druck auf den Kopf der Trocknungsautomatik und ein Schwall trockener, warmer Luft vertrieb alle verbliebene Körperfeuchtigkeit. Nackt wie sie waren hopsten die beiden Männer durch die Kapitänskajüte, um im Schlafzimmer unter die weiche Decke des Bettes zu schlüpfen. Sofort ging Floyds Hand auf Wanderschaft. Sanft streichelte er Jasons Brust, neckte ihn an dessen Piercings, um sich langsam in tiefere Gefilde vorzutasten. Doch was er da zu fassen bekam, zeigte sich überraschend schlaff.

»Was?«, fragte Floyd verwundert. Das Vorspiel war so geil, dass er selbst kurz vom Platzen war und auch Jasons Erektion hatte in Dusche keinen Anlass zum Klagen gegeben. Was war passiert?

»Da war etwas«, flüsterte der amerikanische Ureinwohner.

»Wann? Wo?« Schlagartig war Floyds sexuelle Erregung einer völlig anderen gewichen. Sein Instinkt sagte ihm, dass die drei Worte seines Freundes von außergewöhnlicher Bedeutung waren.

»Als mein Anzug ausfiel und ich in den Rechnerkern sprang, spürte ich etwas. Du musst wissen, dass die Stasisgeneratoren des Kerns erst unmittelbar vor dem Sprung aktiviert werden. Alle anderen Systeme, insbesondere die Stasisanzüge wurden etwa eine halbe Sekunde vorher aktiviert. Für einen Wimperschlag war ich quasi allein auf diesem Schiff. Ein Bewusstsein in Stasis kann nichts hören, nichts fühlen, da für das Objekt in der Stasis die Zeit eingefroren ist. Ich hätte also in diesem einem Moment nichts und niemanden spüren können.«

»Aber da war etwas?«, der Gedanke an Sex war bei Floyd komplett verschwunden.

»Ja«, flüsterte Jason und klang dabei fast ein wenig ängstlich. »Ganz schwach. So schwach, dass es sonst von den Bewusstsein der Besatzung und Passagiere vollkommen überdeckt wird. Floyd, wir sind nicht allein an Bord. Da ist noch etwas anderes, und es ist nicht menschlich.«

Blutsbruderschaft mit Spezialeffekt

»Ein Wimpernschlag?«, hakte Senator Nagana abschätzig nach. »Jedem in diesem Hearing dürfte meine skeptische Haltung bezüglich Telepathie und dadurch erworbenes Wissen bekannt sein. Leider wird meiner Kritik in diesem Dingen meist wenig Gehör geschenkt. Aber ich bitte Sie, in der Zeit eines Wimpernschlags will Professor singende Eidechse ein fremdes Bewusstsein bemerkt haben, und das in einer Situation, während der er sich in einer existenziellen Stresssituation befand. Bin ich der einzige, der dies arg weit hergeholt findet?«

»Ich will Ihnen nicht widersprechen, Herr Senator«, wählte Floyd seine Worte vorsichtig. »Allerdings möchte ich darauf hinweisen, dass Jason, ich meine Professor singende Eidechse, seine Entdeckung selbst skeptisch sah. Er beschränkte sich auch darauf, nur mich zu informieren.«

»In Ihrem Bett!«, schnaubte Vizeadmiral Paul S. Henderson verächtlich. »Mann, Grant, Sie sind ein Offizier der Raumflotte. Ist es denn zu viel verlangt, während eines Einsatzes die Hose an zu behalten? Und dann auch noch mit einem Mann.«

»Bei allem gebührenden Respekt, Admiral, aber ich kann mich an keine Verordnung oder Verhaltensregel der Flotte erinnern, die mir untersagt, intime Kontakte zu zivilem Personal zu unterhalten. Wie Ihnen allen aus meiner Personalakte bekannt sein dürfte, haben Professor Jason singende Eidechse und ich inzwischen ein offizielles Partnerschaftsbündnis geschlossen. Entsprechend der Erklärung von Helsinki, die auch die Flotte anerkannt hat, sind wir heterosexuellen Paaren voll gleichgestellt.«

»Ja, ja, ja. Ich kenne das alles. Ich muss es aber nicht gut finden«, knurrte der Vizeadmiral.

»Ähm, ich glaube, dass uns allen die verschiedenen Positionen bekannt sind«, versuchte der Vorsitzende die Wogen zu glätten. »Könnten wir auf das eigentliche Thema dieses Hearings zurückkommen? Captain, würden Sie bitte mit Ihrer Schilderung fortfahren. Was geschah nach der Offenbarung, an Bord könnte sich ein fremdes, nichtmenschliches Wesen befinden?«

»Meine drängendste Frage war natürlich die nach dem Ursprung, die mir Jason aber auch nicht beantworten konnte. Allerdings ging unser beider Vermutung in die gleiche Richtung.«

»Den verschwundenen Lagerräumen?«

»Den verschwundenen Lagerräumen!«


»Muss ich mir Sorgen machen?«, wollte Floyd wissen. Eine nichtmenschliche Lebensform an Bord der Hyperion – Captain Grant wollte sich gar nicht ausmalen, was dies für Konsequenzen nach sich ziehen konnte.

»Ich glaube nicht«, erwiderte Jason und schmiegte sich an Floyd. »Was ich fühlte, war nicht feindselig. Wie gesagt konnte ich nur sehr kurz überhaupt etwas empfangen, und das schien mir…«, der Telepath zögerte, »müde. Ja, das trifft es ziemlich gut. Das fremde Bewusstsein wirkte schläfrig und müde. Frag mich aber nicht warum.«

Floyd fragte nicht, sondern dachte nach. Am Ende dieses Denkprozesses stand eine Frage: »Was meinst du, siehst du eine Chance, dieses fremde Bewusstsein zu entdecken, solltest du in seine Nähe gelangen?«

»Du denkst an die verschwundenen Lagerräume, oder?«

Statt zu antworten, zuckte Floyd nur mit den Schultern.

»Hm, vielleicht. Wenn ich wirklich sehr nahe ran komme. Ich kann es aber nicht versprechen. Telepathie ist seltsam und schert sich einen Dreck um gesunden Menschenverstand oder unsere Vorstellung von Physik. Was glaubst du, wann meine Verbindung zu Otis am stärksten ist?«

»Ich hätte vermutet, wenn er neben dir steht. Aber da du mich fragst, nehme ich an, dass dem nicht der Fall ist, oder?«

»Im CPU-Kern«, erwiderte Jason. »Wenn ich während meiner Forschungsarbeiten in Hyps Kern stecke, kann ich Otis Gedanken auf der Brücke fast klarer hören, als deine Worte hier neben dir im Bett. Ich habe keine Ahnung, warum das so ist. Es gibt zwar Projekte, die Wechselwirkungen zwischen Quantencomputertechnik, KI und Telepathie erforschen und auch erste Ergebnisse, die zumindest die Existenz eines Effekts bestätigen, aber andererseits mehr Fragen aufwerfen, als beantworten. Ähm, ach ja, diese Information wurde vom Wissenschaftsrat als ultraviolett klassifiziert. Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du darüber Stillschweigen bewahren könntest. Ich möchte nicht mein restliches Leben in einem Hochsicherheitsgefängnis verbringen und du wirst es auch nicht schätzen, sollte dir ein Telepath die Erinnerung an diese Information aus dem Gehirn brutzeln.«

Floyd machte die überraschende Erfahrung, dass Sprachlosigkeit Abstufungen kannte. Während ihn sein Freund und Liebhaber gespannt musterte, war der Captain der Hyperion damit beschäftigt, nach Luft zu schnappen. Er ähnelte dabei einem Karpfen.

»Du bist Geheimnisträger der Stufe ultraviolett?«, fand Floyd seine Sprache nach einer ganzen Reihe Schnappvorgänge wieder.

»Ähm«, kam es etwas verlegen von Jason, »genaugenommen double black.«

»Was?«, Floyd war zu entsetzt, um erneut der Sprachlosigkeit anheim zu fallen. »Offiziell soll es diese Stufe überhaupt nicht geben. Ich habe aber Gerüchte gehört, dass es insgesamt nur fünf Geheimnisträger weltweit geben soll, die über diesen Status verfügen.«

»Es sind ein paar mehr, vierundsiebzig, um genau zu sein. Die KI der Hyperion ist eine davon«, korrigierte Jason sanft. »Sie wurde nicht nur als Schiffsrechner entworfen, sondern insbesondere auch als Datenarche des Wissens der Menschheit.«

»Du bist nicht nur Informatiker, oder?«

»Ich bin Telepath. Ein sehr, sehr potenter Telepath«, erklärte singende Eidechse stolz.

»Oh, shit, du bist beim Geheimdienst. Ich hätte es wissen müssen. Otis auch?«

»Er ist ebenfalls ein sehr, sehr potenter Telepath«, wiederholte Jason.

»Überwacht ihr mich?«, fragte Floyd ängstlich.

»Nö!«, schüttelte der telepathische Chefinformatiker der Hyperion den Kopf. »Du weißt, dass ich nicht lügen kann. Weder Otis noch ich sind auf dich oder irgendjemand anderen angesetzt. Soweit ich informiert bin, ist niemand auf dich angesetzt. Unsere Prioritäten sind ganz klar geregelt. Otis ist erst dein Freund, dann dein XO und ganz zum Schluss Vizedirektor des Geheimdienstes. Ich bin erst der Mann der dich liebt, dann dein Liebhaber, der Sex mit dir haben will, dann dein Freund, danach dein Chefinformatiker und ganz am Ende ebenfalls Vizedirektor. Unsere Aufgabe als Agenten ist der Betrieb und Schutz der Datenarche. Was hier an Bord abgelaufen ist und abläuft, überrascht und verwirrt mich mindestens so sehr wie dich.«

»Jetzt bin ich aber doch beunruhigt«, grummelte Floyd und zog den nackten Mann neben sich noch dichter an sich ran. »Da wirst mich wohl beschützen müssen.«

»Hey, ich bin kein Spion. Ich bin Analytiker und Archivar und koordiniere die Entwicklung hochautarker Systeme. Ich klassifiziere, bewerte und interpretiere Informationen«, wiegelte Jason ab. »Beschützen musst du uns. Du bist der Captain.«

»Ich hab’s befürchtet. Dann musst du mir aber zeigen, was ich da eigentlich beschützte.«


Auch wenn da ein Alien an Bord vor sich hinschlummerte, stellte dies noch lange keinen Grund dar, um auf Sex zu verzichten. Ganz im Gegenteil. In der Einsamkeit des Weltraums und nur von dünnem Titanblech und Kunststoff von der lebensfeindlichen Kälte und dem Vakuum des Raums geschützt, entwickelte sich bei fast allen regelmäßig raumfahrenden Menschen die Einstellung, die Redewendung »Carpe Diem – Nutze den Tag«, sehr ernst zu nehmen, was absurd war, denn im All gab es weder Tag noch Nacht. Aber darum ging es nicht. Es ging darum, dass jedem an Bord eines Tiefraumforschungsschiffs wie der Hyperion sehr bewusst war, dass trotz aller Technik, den Sicherheitsprotokollen und der allgemeinen Vorsicht, die Raumfahrerei eine gefährliche und unberechenbare Angelegenheit blieb. Der Vorfall mit dem Strahlungsfeld war das beste Beispiel dafür.

Von allen Menschen an Bord der Hyperion war wohl niemand anderem die Gefährlichkeit des Weltraums mehr bewusst, als Floyd, einem der Überlebenden des Education Space Ship ESS Paris, einem der 137 von insgesamt 450. Wenn es etwas gab, das er aus diesem Albtraum gelernt hatte, dann niemals etwas aufschieben, was einem wichtig war. Es ging deswegen nicht um Sex, das heißt nicht nur um Sex, sondern darum, den Moment festzuhalten. Jason in seinen Armen zu halten, ihm die Brust zu küssen, an seinen gepiercten Nippeln zu knabbern war mehr, als vordergründige körperliche Lust zu befriedigen. Denn niemand konnte wissen oder vorhersehen, ob es nicht das letzte Mal war, dass er seinen Freund liebkoste. Floyds Hände gingen auf Wanderschaft. Tastend, fühlend und streichelnd folgten sie den Linien und Kurven von Jasons Körper. Sie erkundeten die muskulöse Brust, griffen nach den runden Schulterkugeln, strichen über die Wellen des definierten Bauches und schmiegten sich an die schlanke Hüfte.

Floyd tastete sich vor – fordernd, aber auch gebend. Jason entdeckte eine neue Qualität im Wesen seines Freundes und Geliebten: Eine Mischung aus Verzweiflung und Verlangen gepaart mit Verlustangst.

Ich bin bei dir, flüsterte Jason direkt in Floyds Bewusstsein, doch wenn du es wirklich willst und du die Konsequenzen nicht fürchtest, werde ich dich niemals verlassen.

»Was hast du vor?«, flüsterte Floyd zurück. Etwas in Jasons mentaler Stimme ließ ihn ahnen, dass sein Freund etwas im Sinn hatte, das über normale Liebensbekundungen hinausging.

»Hast du jemals ein Foto deines Liebsten in deiner Brieftasche bei dir getragen?«

»So was ähnliches«, knurrte Floyd, als er an Mark, einen seiner Verflossenen dachte. »Ich hatte ein Bild von ihm auf meinem Nachttisch in meiner Kajüte. Während ich von ihm träumte, poppte er mit dem Büroleiter eines Senators.«

»Was ich vorhabe, ist etwas mehr, als ein einfaches Foto. Ich will dir einen Teil von mir geben, im Austausch gegen ein Teil von dir.«

»Ähm… Blutsbruderschaft?«

Jason lachte, als er Floyds entsetztes Gesicht sah.

»Etwas weniger martialisch. Ich möchte dir einen Teil meines Geistes schenken. Ich habe dir erzählt, wie Otis und ich miteinander verbunden sind und dass es uns fast den Verstand kostete, weil wir Gefahr liefen, uns ineinander zu verlieren. Doch wir haben gelernt, unsere Individualität zu schützen und zu bewahren. Und noch etwas mehr. Ich weiß, dass das unheimlich klingt. Aber ich könnte einen ganz kleinen Teil meines Wesens an dich abgeben und du an mich. Es ist… sehr persönlich.« Jason musterte Floyd sehr ernst. »Wenn wir das tun, müssen wir uns absolut sicher sein, dass wir das auch wollen. Es ist eine emotionale Bindung, die sich nicht einfach wieder lösen lässt.«

»Ein Bund fürs Leben?«

»Ein Bund auf Dauer«, relativierte Jason. »Niemand weiß, was die Zukunft für uns bereit hält und ob wir wirklich miteinander klar kommen. Auch wir werden uns zoffen, vielleicht sogar anbrüllen oder, weitaus schlimmer, anschweigen. Aber das ist nichts, was mich abhalten könnte. Ich will dich. Und ich will es fühlen.«

»Ich auch.«

»Bist du dir sicher?«

»Absolut!«


Was dann geschah, blieb Floyd Rutherford Grant stets ein Rätsel. Es war unerklärlich, geradezu magisch. Plötzlich war Jason in ihm. Nicht nur körperlich – der Schiffsinformatiker konnte fantastisch mit seinem Schwanz umgehen – sondern auch in seinem Geist. Es war, als ob ihn Jason von innen streichelte und liebkoste. Gleichzeitig fühlte Floyd aber auch, wie ein kleiner Teil von sich auf Jason überging. Beide Männer verschmolzen miteinander, gaben sich einander hin und wurden eins, ein Erlebnis, das Floyd fast in den Wahnsinn trieb, das er aber auf keinen Fall mehr missen wollte. Er wusste, dass Jasons telepathische Fähigkeiten dafür verantwortlich waren, dass ihr Zusammensein immer zu einem allumfassenden Erlebnis wurde. Doch dieses Mal war es anders. Das Gefühl, Teil des anderen zu sein, blieb und endete nicht mit der schnöden körperlichen Reaktion des Höhepunktes. Es war merkwürdig: Obwohl Floyd glücklich, erschöpft und sehr befriedigt neben Jason lag und nur seine Hand auf dem Körper seines Freundes ruhte, fühlte er etwas in sich. Es war kein konkreter Gedanke, keine fremden Gedanken, die Floyd verspürte, sondern viel mehr das Gefühl einer Präsenz. Wenn er seine Augen schloss und in sich hinein horchte, dann war er da – Jason. Nicht körperlich, nicht einmal als Gedanke, aber als Idee, als Ahnung, als etwas, das Floyd innerlich umarmen konnte und das ihm Glück schenkte.

»Danke«, flüsterte Floyd. Die beiden Männer hatten sich auf die Seite gerollt und schauten einander an. Jason streckte seine Hand aus und begann versonnen mit Floyds Haaren zu spielen und ihm das Gesicht zu streicheln.

»Wofür?«, schmunzelte Jason. »Ich habe dir nur das von mir gegeben, was du mir gegeben hast.«

Unerwartetes Grünzeug

Wie bereits zuvor erwähnt, gab es an Bord der Hyperion keine Gemeinschaftsunterkünfte. Wer Monate oder gar Jahre mit immer den gleichen Leuten verbrachte, brauchte einen privaten Raum, ein Refugium, in das er sich zurückziehen konnte, um ohne Störung Zeit für sich allein verbringen zu können. Dazu zählte auch, dass niemand einfach in die Kajüten und Suiten herein spazieren konnte. Die Türen waren nicht nur elektronisch verschlossen, sie verfügten sogar über eine der wohl größten Erfindungen der Menschheit überhaupt – eine Türklingel.

Eben jene zeichnete dafür verantwortlich, dass Floyds Schlaf vorzeitig, das heißt zwei Stunden vor der von ihm programmierten Weckzeit, sein Ende fand. Das enervierende Piepen des Klingelmechanismus schlüpfte in die Ohrmuschel, ringelte sich um einige Hirnwindungen und besaß die Frechheit, sich in den ebenso erotischen wie sinnlichen Traum zu integrieren, den Floyd gerade erlebte. Die Wirkung war ungefähr so erregend, wie Floyds alte Kunstlehrerin auf der High-School. Knurrend und maulend erwachte der Captain der Hyperion, bemerkte, dass er halb von einer Rothaut bedeckt und mit dieser verknotet war, knurrte erneut und begann sich vorsichtig aus der Umschlingung seines Freunde zu schrauben, ohne die schlafende Schönheit dabei zu wecken.

Der Klingler an der Tür legte eine erstaunliche Renitenz an den Tag. Es piepste erneut und hätte es auch weiter getan, brachte Floyd nicht das Gepiepse an einem der Bedienpanele zum Schweigen, was dem Besucher vor der Tür gleichzeitig signalisierte, dass der Ruf registriert wurde. Für den Captain eines Schiffes, insbesondere eines der Klasse der Hyperion, galt es als nicht wirklich standesgemäß, Besucher nackt und obendrein mit angetrockneten Proteinverkrustungen zu empfangen, weswegen Floyd sich kurzerhand einen auf dem Boden herumliegenden Slip und ein T-Shirt schnappte und sich überstreifte. Mit einem sehnsüchtigen Blick auf den schlummernden Jason, dessen Haare wie ein schwarzer Strom dessen Kopf, Hals und Oberkörper umflossen, zog Floyd die Schlafzimmertür hinter sich zu und schlurfte zur Eingangstür seiner Kapitänssuite.

»Louis?«

Im Gang der Offiziersunterkünfte wartete Professor Louis Leclerc und bedachte Floyd mit einer Mischung aus Verlegenheit, Amüsement und Nachdenklichkeit.

»Oh, Floyd, mein Junge, ich habe dich geweckt. Das tut mir wirklich leid«, entgegnete der Professor entschuldigend. »Ich kann auch später wieder kommen.«

»Nein, nein, komm rein«, grummelte der Captain der Hyperion und deutete seinem Gast einzutreten. »Ich wollte eh aufstehen.«

»Du warst schon immer ein schlechter Lügner. Aber danke, dass du mich trotzdem rein lässt.«

Während Professor Leclerc der Aufforderung schüchtern nachkam und Floyd in dessen Arbeitszimmer folgte, hatte dieser dort bereits den großen Kontrollmonitor aktiviert, auf dem die wichtigsten Schiffs- und Flugdaten visualisiert wurden. So zeigte eine Grafik das Planetensystem, in dem die Position und der Kurs der Hyperion hervorgehoben war.

»Du entschuldigst, wenn ich kurz dusche und etwas anderes anziehe?«, hakte Floyd nach und deutete auf seine spärliche und auch nicht mehr ganz frische Bekleidung.

»Ja, natürlich. Ich warte hier.«

Mit einem Kopfnicken verschwand Floyd erst in Richtung Wohnzimmer, um dann in seinen Schlafraum zu schlüpfen. Den ganzen Weg über spürte er Louis Blick in seinem Nacken. Zum Glück war das Bett aus dem Blickwinkel des Professors nicht einsehbar, sodass ihm Jasons Anwesenheit verborgen bleiben sollte. Dies galt natürlich nur unter der Voraussetzung, dass der Chefinformatiker nach wie vor im Bett lag und nicht mitten im Zimmer stand. Floyd beabsichtigte, Professor singende Eidechses Überleben so lange wie möglich geheim zu halten. Nicht, dass er Louis misstraute, aber je weniger Personen eingeweiht waren, desto größer war die Chance, dass der Status Quo erhalten blieb.

Jason lag nicht mehr im Bett. Stattdessen hielt er sich hinter der Tür verborgen und wartete ab, bis Floyd diese hinter sich schloss. Ein wenig telepathische Nachhilfe seitens der Rothaut und das Bleichgesicht zuckte nicht vor Schreck zusammen, als sich eine Hand auf dessen Schulter legte.

»Es ist Louis«, flüsterte Floyd Jason ins Ohr.

»Ich weiß«, flüsterte dieser zurück.

Während Floyd in seinem Kleiderschrank kramte, um sich mit frischen Klamotten einzudecken, schlich Jason bereits ins Badezimmer. Erst als sein geliebter Captain ebenfalls das Bad betrat und die Dusche anstellte, wagte er mit leiser Stimme eine Frage zu stellen.

»Was will er?«

»Keine Ahnung«, gestand Floyd ehrlich. »Louis war nicht nur mein Doktorvater, sondern ist auch ein guter Freund. Vielleicht will er einfach nur sehen, wie es mir nach dem Desaster mit den Stasisanzügen geht.«

»Hm, das mag jetzt herzlos klingen, aber nach CCs unplanmäßigem Ende wird der ehrenwerte Professor Leclerc mit großer Wahrscheinlichkeit zum neuen Leiter der wissenschaftlichen Abteilung. Da der Tod der Cardigan noch nicht offiziell ist, weiß er natürlich nichts von seinem Glück. Allerdings kenne ich unseren Wissenschafterzoo. Die Spekulationen, wer denn da ins Gras gebissen hat, dürften inzwischen voll entbrannt sein. Obwohl… meine Jungs und Mädels spekulieren nicht, sie folgern und kombinieren. Ich tippe, dass die in irgendeinem Besprechungsraum hocken und auf dem Whiteboard Wahrscheinlichkeiten neben Namen schreiben. Ich wüsste zu gerne, welchen Wert ich wohl habe.«

»Du bist morbide«, bemerkte Floyd, während er Jason den Rücken einseifte.

»Nein, Realist. Ruth fehlt und ich fehle. Aber Ruth fehlt nie. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sie erwischt hat, dürfte bei knapp einhundert Prozent liegen. Bei mir werden sie den Wert nicht so hoch ansetzen. Jeder weiß, dass ich mich entweder im CPU-Kern oder bei dir rumtreibe. Es könnte also auch jemand anderen getroffen haben. Allerdings dürfte nach Louis Besuch mein Wert steigen, wenn er erst meldet, mich bei dir nicht angetroffen zu haben.«

»Junge bist du abgebrüht.«

»Wirklich?«, konterte Jason und gab Floyd einen Klaps auf den nackten Hintern. »Du solltest langsam fertig werden, sonst schöpft der gute Professor noch Verdacht.«

»Du hast Recht.«

Der erwähnte Professor hatte es sich im Arbeitszimmer gemütlich gemacht. Als Floyd frisch geduscht und in ebenso frischer Kleidung gehüllt zurückkehrte, saß Louis auf einem der Stühle und rollte ein Glas mit einer goldenen Flüssigkeit in seinen Handflächen hin und her. Auf dem Schreibtisch stand ein weiteres Glas, das mit der gleichen Flüssigkeit gefüllt war.

»Ich dachte mir, dass du einen guten Schluck gebrauchen könntest«, erklärte Floyds Gast. »Es tut mir wirklich leid, mein Junge, dass dein erstes Kommando gleich mit so einer Katastrophe beginnen muss. Kannst du schon sagen, wer…«

Der Angesprochene schüttelte seinen Kopf, griff zum Glas und nahm einen Schluck.

»Danke für den Stoff. Ich kann ihn wirklich gebrauchen. Aber Louis, du weißt, dass ich dir nichts sagen kann, solange die Ermittlungen laufen.«

»Natürlich, entschuldige, ich wollte nicht indiskret…«, Professor Leclerc unterbrach sich selbst, schüttelte seinen Kopf und meinte dann. »Ach was, natürlich wollte ich. Ich muss dir sicherlich nicht sagen, dass die wildesten Spekulationen ins Kraut schießen. Fürchterlicher Gedanke, so zu sterben. Na ja, zum Glück ging es schnell.«

»Wissen wir das?«, hakte Floyd nach. »Niemand hat je einen Sprung außerhalb der Stasis erlebt. Vielleicht dehnt sich die Zeit… was für eine müßige Diskussion. Wer weiß schon, was wirklich während des Sprungs passiert. Aber wo wir gerade darüber sprechen. Eigentlich wollte ich dich das schon die ganze Reise über fragen. Wie gehen deine Forschungen voran? Was macht das Modell?«

»Es funktioniert immer noch nicht«, grummelte Louis frustriert. »Wir sind sicher, dass wir auf dem richtigen Weg sind und kommen mit unserer Simulation bis auf wenige Nanosekunden an das Ereignis heran, doch dann… totale Divergenz.« Plötzlich funkelte es in Louis Augen: »Aber vielleicht gelingt uns bald ein Durchbruch. Ich kann jetzt noch nicht mehr darüber sagen, nur dass es die Sache von einer völlig anderen Seite beleuchtet.«

Wovon der Professor sprach und als »Sache« bezeichnete, war nichts geringeres, als ein Erklärungsmodel für den Überlichtflug. Sein Team, zu dem auch Floyd während seiner Akademiezeit zählte, arbeitete seit Jahren an diesem Problem und hatte dabei auch einige vorzeigbare Fortschritte erzielt, die sich sogar durch einen praktischen Nutzen auszeichneten. So konnte die Zeit, die FTL-Reisende in Stasis verbringen mussten, drastisch verkürzt werden, was einerseits zu weniger Kopfschmerzen und andererseits zu einem dramatisch verringerten Energiebedarf führte. Die Forschungsergebnisse der Gruppe um Floyds ehemaligen Professor hatten Konzepte wie den Stasisanzug überhaupt erst möglich gemacht.

»Ich weiß, eure Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen, aber was ist eigentlich passiert?«, wollte Louis wissen.

»Zwei Anzüge haben versagt. Wir wissen nur, dass sie den Trägern ein Okay gaben, der Schiffs-KI aber eine Fehlfunktion meldeten.«

»Ein Softwarefehler?«, hakte Louis sofort nach. »Du solltest sie von Jason untersuchen lassen. Er hat die Firmware der Anzüge entwickelt und…« Der Professor stockte, als er bemerkte, wie Floyd nachdenklich in sein Glas schaute. »Oh Gott, Floyd, mein Junge, bitte sag nicht, dass er eines der Opfer war. Mir ist nicht unbemerkt geblieben, dass ihr zwei einander näher gekommen seid.«

»Wie ich schon erwähnte, ich kann noch nichts sagen, aber…«

»Nein, nein. Sag nichts. Aber wenn du möchtest, werde ich die Anzüge persönlich untersuchen. Mein Team war schließlich für die Hardware verantwortlich. Eine derartige Fehlfunktion darf einfach nicht vorkommen. Ich weiß, du bist der Captain, aber vielleicht sollten wir so lange nicht springen, bis der Fehler identifiziert wurde.«

»Das hatte ich auch schon überlegt. Bis auf weiteres habe ich alle Sprünge, außer in absoluten Notfällen, suspendiert. Da wir unser Zielgebiet erreicht haben, sollte es für unsere Arbeit wohl kein Problem darstellen.«

Dass diese Suspendierung der FTL-Sprünge nicht freiwillig erfolgt war, ließ Floyd bewusst unter den Tisch fallen. Eine Erwähnung des Fehlers bei der Koordinatenübertragung des letzten Sprungs hätte den sowieso schon unkontrollierten Spekulationen der Wissenschafter nur noch weitere Nahrung gegeben. Alles, was Floyd zurzeit wollte, war in Ruhe seine Arbeit machen können. So sympathisch ihm auch der Großteil der hochintellektuellen Eierköpfe sein mochte, ihr Hang zum tratschen und dramatisieren wirkte bei der Suche nach dem Verschwörer an Bord ausgesprochen kontraproduktiv.

»Ich habe ja immer gesagt, dass du ein schlauer Junge bist«, lobte der Professor und nahm einen Schluck seines hochprozentigen Getränks. Es bedurfte keines Gedankenlesers, um zu erkennen, dass der Mann nach einem Ansatz suchte, das Thema zu wechseln. Über den Rand seines Glases schielend, fiel Louis Leclercs Blick auf den großen Monitor, auf dem man weiterhin die Position der Hyperion im Planetensystem sehen konnte.

»Und?«, fragte der Professor vorsichtig. »Was macht denn eigentlich unser Auftrag? Kannst du irgendetwas sagen, jetzt, da wir unser Ziel erreicht haben?« Statt eine Antwort abzuwarten, zeigte Louis auf den Bildschirm. »Das mit der Stickstoff-Sauerstoff-Kohlendioxid-Atmosphäre von diesem Planten in der habitablen Zone ist schon der Hammer, oder?«

»Oh ja«, Floyd musste daran denken, wie wenige bewohnbare Planeten bisher erst entdeckt wurden. Jeder, der dazu kam, stellte nach wie vor eine kleine Sensation dar. »Ihr habt doch die Kommandocodes und könnt auf die Daten der Schiffsscanner zugreifen. Habt ihr schon etwas Neues entdeckt?«

»Du weißt es nicht?«, Louis Leclerc strahlte unverhohlen triumphierend. »Es sieht so aus, als wenn sich die Vermutung, dass der Planet Leben beherbergt, bewahrheitet. Wenn wir die Daten richtig interpretieren, scheint es Fotosynthese zu geben.«

»Chlorophyll?«

»Chlorophyll!«

Ein seltsamer Besuch

»Sag das nochmal! Ihr habt tatsächlich Chlorophyll entdeckt?«

»Das ist zwar noch sehr vorläufig, aber die bisher vorliegenden Daten sprechen sehr dafür.«

Floyd war sprachlos. Chlorophyll, das hieß Fotosynthese und Fotosynthese hieß Pflanzen und wo es Pflanzen gab, konnte es auch… So weit wollte Floyd gar nicht spekulieren. Allein die Anwesenheit von Chlorophyll war eine Sensation. Wurde ein habitabler Planet allgemein als Glücksfall betrachtet, entsprach einer mit Vegetation einem Sechser mit Superzahl im Lotto. Habitabel hieß nämlich nicht automatisch, dass der Planet ohne technische Ausrüstung bewohnbar war. Es hieß nur, dass sich die Temperaturen auf dem Planeten in einem halbwegs vernünftigen Rahmen hielten, der Atmosphärendruck sich nicht in absurden Regionen tummelte und auch die Gravitation einen nicht in Plattwürmer verwandelte oder davonschweben ließ. Mit anderen Worten, habitabler Planet hieß nur, dass eine dort herrschende Umwelt einen nicht sofort umbrachte. Dass ein wagemutiger Astronaut einfach landen, sein Helmvisier aufklappen und herzhaft durchatmen konnte, kam ausgesprochen selten vor.

Seit die Bewohner der Erde sich entschieden, ihren Fuß in das Universum zu setzen, hatten sie rund 350.000 Planetensysteme erkundet. Die meisten erhielten natürlich keinen persönlichen Besuch, sondern wurden von automatisierten Sonden analysiert, die systematisch und in Massen in die unendlichen Tiefen des Alls entlassen wurden. Die Ausbeute war ernüchternd, nicht zuletzt, weil es den Erwartungen der Wissenschafter ziemlich genau entsprach. Es gab sogar Meinungen, dass die Kosten der Suche in keinem vertretbaren Verhältnis zur Ausbeute ständen und nicht weiter finanziert werden sollte. Nur rund dreihundertfünfzig Planeten lagen in der habitablen Zone und von denen konnten mit Wohlwollen nur fünfunddreißig als irgendwie erdähnlich betrachtet werden. Dabei durfte man aber auch nicht zu wählerisch sein. Dass etwa die Tageshöchsttemperatur in Äquatornähe nicht über fünf Grad stieg oder sie umgekehrt auf einem anderem Planeten am Pol nicht unter fünfundzwanzig oder ein Planet fast nur aus Wüsten bestand, während ein anderer ins Gegenteil fiel und zu 95 Prozent von Wasser bedeckt war, zählte dabei eher zu den kleineren Unannehmlichkeiten.

Die Zahl der wirklich erdgleichen Planeten mit tropischen, subtropischen, gemäßigten und allen möglichen anderen Zonen, einer zur Erde fast identischen Schwerkraft und von unbedeutenden Abweichungen der atembaren Atmosphäre ließen sich an einer Hand abzählen. Die Aussicht, von nun an eine zweite Hand hinzunehmen zu müssen, ließ auch den abgebrühtesten Wissenschafter an Bord der Hyperion hellhörig werden.

»Nun, es sind noch ein paar Stunden hin, bis wir den Planeten erreichen. Ich will nichts übereilen und werde die Erkundung dieses Systems ganz nach Vorschrift durchziehen. Es soll nicht noch jemand zu Schaden kommen. Insbesondere nicht, weil es irgendjemandem nicht schnell genug gehen kann.«

Hätte es Floyd nicht besser gewusst, wäre er fast auf den Gedanken gekommen, dass Louis für den Bruchteil einer Sekunde enttäuscht, wenn nicht sogar ungehalten frustriert wirkte, sich dann aber sofort wieder fasste.

»Natürlich musst du die Sicherheit in den Vordergrund stellen«, vielleicht hatte sich der Professor doch noch nicht im Griff. Die Frustration war deutlich hörbar, was auch der Sprecher bemerkte und sein Gesicht verzog: »Floyd, mein Junge, weißt du, was das bedeutet? Ein bewohnbarer Planet. Das wäre eine Sensation. Ich kann es einfach nicht abwarten. Ich will diesen Planeten sehen.«

»Also gut. Ich sehe, was ich machen kann. Aber ich werde kein Risiko eingehen, welches das Schiff, seine Besatzung oder euch Wissenschafter in Gefahr bringen könnte.«

»Mehr möchte ich auch gar nicht«, erwiderte Louis kleinlaut, worauf Floyd nickte, sich hinter seinen Schreibtisch klemmte und eine Videoverbindung zur Brücke aufbaute.

»Captain?«, meldete sich Otis.

»Mr. Harding, wollten Sie nicht schlafen gehen?«, fragte Floyd amüsiert.

»Das war ich«, Otis seufzte. »Aber in meiner Kabine hatte ich das Gefühl, dass mir die Decke auf den Kopf fällt.«

Ein paar Tastendrücke und ein Blick ins Schiffslogbuch später wusste Captain Grant auch, warum sein XO wieder auf der Brücke weilte. Otis hatte seine Freizeit abgekürzt, um Quentin etwas wohlverdiente Ruhe zu gönnen, während Ronald Wolf mit Max Friedrich tauschte. Der XO war wirklich ausgebufft. Hatte er es tatsächlich geschafft, ein wenig zu flunkern, ohne wirklich zu lügen, was ihm als Psioniker körperlich nicht möglich war. Natürlich wusste Louis Leclerc um die geistige Verbindung zwischen Jason und Otis und natürlich musste er bei Otis Bemerkung zu dem Schluss kommen, dass diesem die Decke deswegen auf den Kopf fiel, weil Jason zu den zwei Opfern der Anzugfehlfunktion zählte. Entsprechend nachdenklich wirkte die Miene des Professors.

»Gut«, wandte sich Floyd wieder an Otis, »habt ihr schon ein paar mehr Daten über das System? Professor Leclerc sitzt nämlich hier und fragt, ob wir nicht ein Brikett mehr auflegen können.«

»Wir haben einen ganzen Haufen Daten. Wie soll ich es ausdrücken? Wenn wir von unserem speziellen Planeten einmal absehen, habe ich selten ein so langweiliges Sonnensystem gesehen. Keine Gravitationsriffe, keine außergewöhnlichen Strahlungsfelder. Selbst das Spektrum der Sonne ist gähnend langweilig. Das Ding verbrennt seinen Wasserstoff mit einer Gleichmäßigkeit, von der sich selbst unsere Sonne noch eine Scheibe abschneiden könnte. Es spricht also nichts dagegen, etwas mehr Gas zu geben.«

»XO, wenn Ihnen der Chief sein okay gibt, bringen Sie die Hyperion auf 95 Prozent Unterlicht.«

»Aye, Captain.«

»Du scheinst dich in den letzten Wochen ganz gut bei deinen Offizieren eingeführt zu haben. Otis ist kein Mann, der leicht Freundschaften schließt«, meldete sich Louis zu Wort, nachdem Floyd die Verbindung zur Brücke beendet hatte. »Und ich vermute, dass er im Moment einen guten Freund gebrauchen kann.«

»Louis, du weißt, dass ich dazu nichts sagen kann«, erwiderte Floyd und musterte seinen alten Freund und Doktorvater nachdenklich.

»Entschuldige«, wiegelte der Mann ab und schickte sich an, von seinen Platz aufzustehen, »ich muss zurück zu meinem Hühnerhaufen. Ich weiß, dass du nichts sagen kannst, aber die Cardigan ist nirgends aufzufinden und meldet sich auch nicht auf Rufe. Man mag von ihr halten was man will, aber sie fehlt als Dompteur. Halt die Ohren steif, mein Junge. Ich finde selbst raus.«

Schneller als Floyd die letzte Bemerkung Leclercs verarbeiten konnte, war der Professor verschwunden. Irritiert und verwirrt blieb der Captain der Hyperion in seinem Bürostuhl sitzen und grübelte vor sich hin. Erst als Jason im Türrahmen erschien, blickte er auf.

»Was wollte denn unser berühmter Physiker?«, wollte der auch nicht gänzlich unbekannte Informatiker wissen.

»Wenn ich das so genau wüsste«, gestand Floyd seine Ratlosigkeit ein. »Ich bin mir nicht sicher, aber hatte tatsächlich den Eindruck, dass er mich aushorchen wollte, um zu erfahren, wen der vermeintliche Unfall erwischt hat.«

»Ach deswegen«, Jason grinste. »Otis, diese Ratte. Manchmal frag ich mich, ob wir nicht doch fähig sind, zu flunkern.«

»Hat er dich kontaktiert?«, wollte Floyd wissen.

»Ja. Otis war ein wenig verwirrt, Leclerc neben dir auf dem Bildschirm zu sehen und fragte sofort nach, ob der Professor wisse, dass ich überlebt habe. Ich meinte daraufhin, dass dem nicht der Fall sei und es, wenn möglich, auch so bleiben sollte.«

Statt auf diese Erklärung etwas zu erwidern, stellte der Captain der Hyperion erneut eine Verbindung zur Brücke her. Zwei Sekunden später erschien der XO auf dem Schirm.

»Mr. Johannson, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen«, begann Floyd förmlich, um weniger steif fortzufahren. »Ich vergesse ständig, dass du als Psioniker nicht in der Lage bist, zu lügen. Ich habe dich eben in eine schwierige Lage gebracht, was ich nicht beabsichtigte.«

»Captain, Floyd, es gibt nichts zu entschuldigen. Aber trotzdem, danke, dass du daran gedacht hast. Nur wenigen Menschen ist bewusst, wie behindernd es manchmal sein kann, mit der Wahrheit nicht hinter dem Berg halten zu können. Wo wir gerade sprechen, die Hyperion ist bei 95 Prozent Sublicht. Der Chief lässt seinen Dank ausrichten, dass du die Triebwerke nicht gleich auf Volllast hochgezogen hast. Nach den Überlichtsprüngen und unserer unerfreulichen Begegnung mit dem Strahlungsfeld, möchte er noch ein paar Diagnosen fahren, bevor wir den Maschinen volle hundert Prozent zumuten. Aber auch so ist unsere Beschleunigungsrate hoch genug, dass der Professor zufrieden sein sollte. Nach Rons Berechnungen werden wir den Bremspunkt in etwa dreizehn Stunden erreichen.«

Wie bremsen Raumschiffe? Die Frage war unmittelbar mit der Frage gekoppelt, wie Schiffe beschleunigen. Ein Nebenprodukt der Singularität bestand in fast unerschöpflichen Energiereserven. Ein Teil dieser Energie wurde in speziellen Konvertern in Materie umgewandelt. Genaugenommen in die einfachste Form der Materie: in Wasserstoffplasma, also Protonen, die dann in den Triebwerken durch elektrische Felder beschleunigt und am Heck ausgestoßen wurden. Entsprechend dem physikalischem Gesetz, dass eine Kraft immer eine Gegenkraft gleicher Größe zur Folge hatte, stieß sich die Hyperion von ihrem eigenem Wasserstoffplasmastrahl ab. Da es im leeren Raum keine Reibung gab, beschleunigte das Schiff genauso lange, wie die Triebwerke eingeschaltet waren. Um es wieder zu bremsen, musste der Materiestrahl in Fahrtrichtung geblasen werden, was früher einfach dadurch bewerkstelligt wurde, dass das Schiff um 180 Grad gedreht wurde und mit dem Triebwerk voraus flog. Inzwischen hatten Legionen von Ingenieuren die Strahldüsen so konstruiert, dass mit ihnen eine effektive Schubumkehr möglich war, ohne gleich das ganze Schiff zu wenden.

»Geben Sie mir bitte Bescheid, wenn es soweit ist?«, wechselte Floyd zurück auf das Sie, da die Bitte einen formellen Charakter besaß.

»Selbstverständlich, Captain.«


Einmal aufgestanden war natürlich an schlafen nicht mehr zu denken, obwohl sowohl Floyd als auch Jason noch gut ein paar Stunden Ruhe hätten gebrauchen können. Statt also untätig im Bett zu liegen, entschieden beide Männer, die Zeit produktiv zu nutzen. Während der Captain der Hyperion sich zu einem Inspektionsrundgang durch sein Schiff aufmachte, schnappte sich der Chefinformatiker besagten Raumschiffs seinen Stasisanzug und begann diesen zu zerlegen. Genaugenommen demontierte Jason den Steuerungscomputer und verband ihn über zwei Optolinks mit seinem Datenpad.

»So«, richtete der amerikanische Ureinwohner sein Wort an den ohr- aber nicht mikrofonlosen Steuerrechner, »du wolltest mich also umbringen. Ich nehme das ein wenig persönlich. Allerdings muss ich dir wohl zugutehalten, dass dich jemand dazu gezwungen hat. Dann lass uns mal gemeinsam ergründen, wer dich in eine Mordwaffe verwandelt hat.«


»Captain?!«, grüßte eine junge, bestenfalls 19-Jährige Floyd, auf dem Weg zum Maschinenraum. Die Aneinanderreihung zweier Satzendzeichen war deutlich hörbar. Das Ausrufezeichen trat dabei hinter dem Fragezeichen zurück.

»Fähnrich Cox, Sie möchten mich etwas fragen?«, entgegnete Floyd freundlich.

»Ähm, es ist…«, stammelte die Angesprochene unsicher. »Weiß man schon, wer…?«

»Ja«, antwortete er mitfühlend. Er wusste nur zu gut, wie es ist, einen Kameraden während eines Sprungs zu verlieren. Demgegenüber hatte Fähnrich Julia Cox sehr viel Glück, nicht durch die Massen feinen Pürees aus Biomasse waten zu müssen, wie Floyd nach der Katastrophe der ESS Paris. »Wir wissen um die Identität der Opfer und werden sie zu gegebener Zeit bekannt geben. Julia, ich weiß, was in Ihnen vorgeht.«

»Wirklich?«, fragte Julia Cox. Statt einer Antwort erhielt sie einen Blick, der mehr sagte, als tausend Worte. Ja, dieser neue Captain verstand ihre Angst und nahm sie ernst. Julia konnte sehen, dass dieser Mann den Vorfall persönlich nahm und nicht als Betriebsunfall, als unvermeidliches Risiko der Raumfahrerei abhakte: »Danke Captain.«

»Dafür nicht Fähnrich, dafür nicht«, erwiderte Floyd und musterte Cox noch ein wenig. »Es ist keine Schande, Angst zu empfinden und diese zu zeigen. Nur wenn Sie Ihre Ängste akzeptieren, können Sie sie beherrschen und werden nicht von ihnen beherrscht. Scheuen Sie sich nicht, Hilfe zu suchen, wenn Sie welche benötigen. Ich tat es zu spät und wäre fast zerbrochen.«

»Danke Captain«, flüsterte Cox, nickte und eilte zwar immer noch ängstlich aber auch ein wenig beruhigter von dannen.

»Verdammtes Arschloch«, murmelte Floyd wütend, »wer du auch immer bist, der hier die Fäden zieht, gnade dir Gott, wenn ich dich erwische.«


Im Maschinenraum herrschte konzentrierte Geschäftigkeit. Chief Petersons Mannschaft stand geschlossen an ihren Konsolen, überwachte die Daten der brummenden, pulsierenden, tickenden und summenden Aggregate mit einer professionellen Aufmerksamkeit, wie ein Arzt die Lebenszeichen eines Patienten kontrollierte. Der Herr der Maschinen stand vor seinem Hauptsteuerpult und diskutierte mit drei seiner Chefmaschinisten die aktuellen Daten des Schiffsantriebs.

»Die letzte Simulation sieht gut aus«, erklärte einer der drei Techniker, dessen Name, soweit Floyd sich richtig erinnerte, Paul Maurice lautete. Oder war es Maurice Paul? Ganz sicher war er sich nicht. »Der Wirkungsgrad der neuen Konverter ist wirklich um Klassen besser. Von meiner Seite spricht nichts dagegen, auf hundertzwanzig Prozent zu gehen.«

»Ed?«, fragte der Chief den neben Paul stehenden Maschinisten, bei dem es sich damit um Edwin Parson handeln musste.

»Kein Einspruch von mir. Hundertzwanzig Prozent ist völlig in Ordnung. Sowohl die Plasmaleitungen als auch die Strahltriebwerke sind auf das fünffache der bisherigen Maximalleistung dimensioniert. Allerdings sollten wir das mit den IT-Leuten abklären. Ich habe keine Ahnung, ob die Prozess- und Steuerrechner schnell genug sind, um mit den verkürzten Zykluszeiten klar zu kommen.«

Floyd musste lächeln, als er dem typischen Gespräch der Techniker lauschte. Die Typen liebten ihren Job. Aus den Sublichtantrieben der Hyperion zwanzig Prozent mehr Leistung herauszuholen, schien für sie besser als Sex zu sein. Oder schlimmer. Es war Sex.

Einbruch bei einer Toten

»Captain!« Chief Ulysses Peterson hatte Floyd entdeckt, nickte ihm kurz zu, um sich nochmals an seine Maschinentechniker zu wenden. »Gute Arbeit Leute. Wir machen weiter wie geplant. Ed, du checkst das mit den verkürzten Zykluszeiten bei den Computerleuten ab. Sobald ich die Daten durchgearbeitet habe, könnten wir nach einer Abschlussbesprechung in die nächste Phase gehen.«

Damit schien alles gesagt zu sein und die drei Techniker machten sich auf den Weg zu ihren Arbeitsplätzen, natürlich nicht, ohne Floyd vorher gegrüßt zu haben.

»Zwanzig Prozent mehr Unterlicht?«, begann Floyd das Gespräch mit Ulysses. »Das ist ordentlich.«

»Ja, ist es. Und wenn ich es richtig sehe, sind sogar noch mehr drin. Die Triebwerke sind eigentlich vollkommen überdimensioniert. Ich weiß nicht, welcher Teufel die Konstrukteure geritten hat. Muss irgendein Machoding gewesen sein. Wer hat das größte Rohr. Schade nur, dass die Umsetzungsrate unserer alten Energiemateriekonverter nicht annähernd so viel Plasma liefern konnte, um auch nur an der Leistungsgrenze der Triebwerke zu kratzen. Aber deswegen hast du dich sicherlich nicht in die Abgründe des Maschinenraums verirrt, oder?«

»Nein, deswegen nicht«, gestand Floyd. »Ich wollte sehen, wie es um eure Stimmung bestellt ist.«

Ulysses nickte und beschrieb gleichzeitig eine raumumgreifende Geste mit seiner Hand: »Schau dich um. Jedem ist mehr als bewusst, was passiert ist. Was glaubst du, warum es hier summt wie in einem Bienenstock? Sie versuchen sich abzulenken, um nicht an den Vorfall zu denken. Ich gebe zu, dass ich mich ebenfalls in die Arbeit gestürzt habe.«

Floyd wollte gerade etwas erwidern, als plötzlich ein Alarmton erschallte und mehrere Terminals Floyds Aufmerksamkeit einforderten. Der Meldung nach, die auf den Displays erschien, wünschte die Brücke ihren Captain zu sprechen.

»Captain?«, meldete sich Otis, nachdem Floyd eine vertrauliche Verbindung hergestellt hatte. »Vor einer Minute wurde Sicherheitsalarm ausgelöst. Wir registrierten ein unautorisiertes Eindringen in die Räume Professor Cardigans. Jemand hat den Türmechanismus manipuliert und sich Zugang verschafft. Ein Sicherheitsteam ist bereits unterwegs.«

»Die sollen auf mich warten! Ich komme sofort hin.«

Kaum, dass er ausgesprochen hatte, hatte Floyd auch schon einen Hechtsprung in Richtung des nächsten Turbolifts hingelegt und die dort bereitstehende Kabine betreten. Der Maschinenraum der Hyperion nahm in der Hierarchie der Schiffsstruktur, genauso wie die Brücke, eine Sonderrolle ein, als dass hier immer mindestens zwei Kabinen bereitstanden. Doch selbst mit einem Turbolift benötigte Floyd gute vier Minuten, um vom Maschinenraum zum Ausstiegspunkt zu gelangen, der der Unterkunft Professor Cardigans am nächsten lag. Dies lag an der gigantischen Größe der Hyperion. Ein vier Kilometer langes Schiff ließ sich eben nicht in ein paar Sekunden durchqueren, zumal die Antriebsaggregate die Sektionen V bis Z einnahmen, während CCs Unterkunft in Sektion C lag. Der eigentliche Maschinenraum befand sich in Sektion X. So trennte Ausgangs- und Endpunkt schon allein 3250 Meter allein in horizontaler Richtung, da jeder der sechsundzwanzig Sektionsringe gute hundertfünfzig Meter breit war. Allerdings befanden sich Anfangs- und Endpunkt von Floyds Turbolifttour auch auf unterschiedlichen Decks. Es kamen somit noch der vertikale Versatz und die Umsteuerzeiten der Kabine hinzu. Da fielen die 15 Meter Fußweg, die Floyd noch zurücklegen musste, kaum ins Gewicht.

Kurz vor Professor Cardigans Kabinentür wurde der Captain bereits von zwei Obermaaten und Otis empfangen. Letzterer war ihm bereits ein Stück entgegen gegangen. Die zwei Maate standen linker und rechter Hand der Tür, während sich Otis etwas abseits hielt, um mit Floyd leise sprechen zu können, ohne dass die Person in Professor Cardigans Räumlichkeiten davon etwas mitbekam.

»Wisst ihr schon, wer es ist? Ist die Cardigan noch drin?«, wollte Floyd wissen.

»Nein und Nein. Der Leichnam wurde vor einer Dreiviertelstunde von Dr. Rodriguez geborgen. Wer da auch immer drin ist, wissen wir leider auch nicht. Er oder sie hat sein Eindringen sehr geschickt angestellt. Auf jeden Fall wurde das Sicherheitssystem gehackt. Die Manipulation wäre niemals aufgefallen, hätte die Hyperion nicht das Tiefraumprotokoll und gleichzeitig wegen der veränderten Sprungziele das Sicherheitsprotokoll II aktiviert. Im Moment führt Hyp, unsere geschätzte Schiffs-KI, eine erweiterte Selbstdiagnose durch. Dabei werden die Signaturen aller Programme sämtlicher Computersysteme an Bord gegen ihre Referenzwerte verglichen. Nicht, dass sich irgendwo ein Virus, Wurm oder Trojaner eingeschlichen hat und die Systeme verändert. Genau das wurde für das Sicherheitssystem in diesem Bereich entdeckt. Interessant ist der Zeitpunkt der Manipulation: Vor einer halben Stunde wurde ein leicht verändertes Betriebssystem hochgeladen, das unter bestimmten Bedingungen das Sicherheitssystem blind werden lässt.«

»Okay, das habe ich soweit verstanden«, grummelte Floyd. »Dann lassen Sie uns nachschauen, wer meinte, der seligen Cardigan unbedingt einen Besuch abstatten zu müssen. Bei Gelegenheit müssen Sie mir aber verraten, wie es angehen kann, dass jemand einfach die Betriebssysteme unserer Computer austauschen konnte.«

Die letzte Bemerkung des Captains blieb vom XO unkommentiert, von der Andeutung eines verlegenen Grinsens abgesehen, denn Otis wusste, dass Floyd die Frage nicht böse meinte, sie aber mehr als berechtigt war. Die Sicherheit auf einem Tiefraumforschungsschiff stellte immer einen Spagat zwischen dem berechtigten Bedürfnis, bestimmte Schiffsbereiche schützen zu müssen, und der Freiheit der Forschung. So war die DSRS Hyperion zwar ein ziviles Schiff, was aber nicht hieß, dass es keine Bereiche gab, deren Zugang schlicht und ergreifend zum Schutz von Leib und Leben beschränkt werden musste. Zum Beispiel herrschten in Teilen der Antriebssektionen während des Betriebs bestimmter Aggregate tödliche Strahlungsniveaus oder eine mit giftigen Stoffen kontaminierte Atmosphäre. Selbst der Zugang zur Brücke war eingeschränkt, da ungeplanter Besuch schlicht und ergreifend die Konzentration der Offiziere im falschen Moment stören konnte. Und dann gab es noch das ebenso simple wie wichtige Argument der Privatsphäre. Die Suiten und Kabinen der Hyperion waren generell off limits und gingen niemanden etwas an.

»Mr. Gates, öffnen Sie die Tür!«, wies Otis den links neben den Türkontrollen stehenden Obermaat an, der diesen Befehl seines XOs sofort umsetzte und den Öffnungscode in das Türterminal eintippte. Es piepste leise und Kontrolllämpchen wechselte von rot auf grün. Mit einem satten Seufzen glitt die Tür auf und gab den Blick in das Innere frei.

»Kei?«

Otis Gesichtsausdruck zeigte pures Entsetzen, welches insbesondere dadurch befeuert wurde, da er niemals erwartet hätte, dass Kei Yamamoto, der sehr zurückhaltente Marsianer und Leiter der chemischen und geochemischen Abteilung, hinter dem Einbruch stecken könnte. Dem gegenüber zeigte sich der ertappte Übertäter überhaupt nicht entsetzt. Als die Tür aufglitt, sahen Floyd und Otis ihn hinter dem Schreibtisch der Cardigan sitzen und sehr konzentriert mit dem Computer der Verstorbenen arbeiten. Er schien dermaßen in seine Tätigkeit konzentriert zu sein, dass er überhaupt nicht bemerkte, wie sich die Kabinentür öffnete und vier Männer den Raum betraten. Erst als Otis erstaunt seinen Namen rief, schreckte Professor Yamamoto auf, sprang vom Bürosessel und starrte geschockt in die ebenso geschockten Augen des Captains und XOs.

»Stören wir dich bei etwas wichtigem?«, wollte Otis wissen, der den Mann einigermaßen gut kannte, soweit es überhaupt möglich war, Kei Yamamoto wirklich zu kennen. Der Marsianer galt gemeinhin als sehr verschlossen, überaus wortkarg und menschlich ziemlich kühl, wenn auch nicht unkollegial. Er war definitiv kein geselliger Typ. Bösartige Zungen attestierten ihm massive Defizite im Bereich sozialer Kompetenz. Ein Urteil, das Yamamoto völlig kalt ließ und dadurch faktisch bestätigte. Es konnte ihm egal sein, da er wusste, dass ihn die anderen Abteilungsleiter aus einem ganz einfachen aber überaus entscheidenden Grund brauchten. Nur Kei Yamamoto gelang das Kunststück, mit Professor Ruth C. Cardigan reden zu können, ohne dabei innerhalb kürzester Zeit in ebenso blutrünstige wie schmerzhafte Mordfantasie abzudriften. Egal welche Laune CC gerade umtrieb, die sich über die gesamte Bandbreite von gereizt über penetrant ungeduldig bis hin zu unerträglich cholerisch erstreckte, Yamamoto blieb die Ruhe selbst. Manch einer hegte sogar den Verdacht, dass der Marsianer mit japanischen Wurzeln überhaupt nicht zu emotionalen Regungen fähig war.

Genau diese Hypothese schien die Reaktion des Chemieprofessors zu bestätigen. Statt nervös, verärgert oder gar passiv aggressiv zu reagieren, bei einem Einbruch erwischt worden zu sein, runzelte der Mann nur ein ganz klein wenig die Stirn, richtete sich auf und sah Otis, die beiden Obermaate und Floyd fragend an, als ob sie und nicht er bei etwas verbotenem erwischt wurden.

»Mr. Yamamoto, ich glaube, Sie sind uns eine Erklärung schuldig«, legte Floyd seine Position dar.

»Meinen Sie?«, konterte der Befragte und erweckte dabei nicht den Eindruck, Floyds Aufforderung in irgendeiner Weise nachkommen zu wollen. »Ich glaube nicht, dass die Unterlagen Professor Cardigans in Ihren Verantwortungsbereich fallen, Captain.«

»In Ihre aber auch nicht, Professor. Allerdings fallen Fälle unbefugten Betretens versiegelter Schiffsbereiche sehr wohl in meinen Verantwortungsbereich«, entgegnete Floyd. »Wären Sie daher bitte doch so nett, mir den Grund für Ihre… sagen wir… unerwartete Anwesenheit zu geben?«

Trotz der diplomatischen und sehr höflichen Aufforderung seitens des Captains, blieben Yamamotos Lippen versiegelt. Floyd wartete einen Moment, blickte kurz zu Otis, erhielt von diesem ein ebenso kurzes wie zustimmendes Nicken und wandte sich daraufhin wieder an den Professor, der weiterhin eisern schwieg.

»Es tut mir leid, aber Sie lassen mir keine Wahl«, begann Floyd. »Commander Johannson, lassen Sie bitte Professor Kei Yamamoto in Arrest nehmen. Soweit mir bekannt ist, verfügt dieses Schiff über keine Brig. Ich schlage deswegen vor, die Bewegungsfreiheit des Professors bis zur Eröffnung eines formellen Strafverfahrens auf sein Quartier zu beschränken.«

»Aye Captain!«, quittierte Otis den Befehl und schnippte mit den Fingern, worauf die beiden Obermaate sich in Bewegung setzten.

»Moment! Moment!«, zeigte Yamamoto dann plötzlich doch eine Reaktion. Verblüfft und an einen schlechten Scherz glaubend, entgegnete er amüsiert: »Captain, meinen Sie nicht, dass Sie ein klein wenig übertreiben? Vielleicht ermangelt es meiner Anwesenheit einer gewissen Korrektheit, aber mich dafür gleich unter Arrest zu stellen… Captain, könnte es sein, dass Sie überreagieren und sich lächerlich machen?«

»Ach, wie konnte ich nur so nachlässig sein? Entschuldigen Sie, Professor!«, erwiderte Floyd mit tiefstem Bedauern in der Stimme und einem nach Vergebung heischenden Ausdruck, den er auch noch dadurch unterstrich, sich mit der flachen Hand auf die Stirn zu klatschen. »Sie haben natürlich vollkommen Recht. Ich bitte vielmals um Verzeihung, sollte der Eindruck entstanden sein, ich würde Sie wegen des Einbruchs festnehmen lassen. Natürlich nicht. Ich lasse Sie natürlich wegen Mordverdachts unter Arrest stellen. Meine Herren, geleiten Sie den Professor in seine Kabine.«

»Mordverdacht?« Bei diesem Wort verlor Professor Yamamoto dann doch etwas von seiner Coolness. »Das ist doch absurd. Ich habe niemanden ermordet. Ich dachte, es wäre ein Unfall.«

»Er lügt«, meinte Otis knapp.

»Psioniker«, knurrte Yamamoto. »Ist euch nicht verboten, Gedanken zu lesen?«

»Sie wissen, dass ich Ihre Gedanken nicht lesen muss, um eine derart offensichtliche Lüge zu erkennen.«

»Also gut, jeder hat die Gerüchte gehört, dass die Stasisanzüge von CC und dieser Rothaut manipuliert wurden.«

»Diese Rothaut hat einen Namen«, fauchte Otis, der bei rassistischen Bemerkungen sehr sensibel und meist ungehalten reagierte, und das nicht nur bei denen, die gegen seinen Blutsbruder gerichtet waren.

»Sehen Sie«, mischte sich Floyd wieder in das Gespräch ein, »ein geschickt manipulierter Stasisanzug, ein ebenso geschickt manipuliertes Sicherheitssystem… Für mich zeichnet sich da ein Muster ab. Nun, Professor Yamamoto, Sie haben das sicherlich schon in Kriminalfilmen gesehen: Als Beschuldigter haben Sie das Recht zu schweigen. Alles, was Sie ab jetzt sagen, kann in einem Prozess gegen Sie verwendet werden. Sollten die Ermittlungen zu einer Anklage führen, wird der darauf folgende Prozess an Bord nach den Regeln des Tiefraumprozessrechts durchgeführt. Sie haben das Recht unter allen Offizieren einen Verteidiger zu wählen, der Ihre Interessen vertritt. Haben Sie Ihre Rechte verstanden?«

»Ja, das habe ich«, erwiderte der Professor kühl und beherrscht.

»Abführen!«, befahl der XO, worauf die beiden Obermaate Yamamoto griffen und aus der Unterkunft der Cardigan geleiten wollten. Floyd sah den Männern schweigend nach, schaute zu Otis und stutzte. Ein ganz leichtes Kräuseln auf der Stirn des Captains ließ ahnen, dass in dessen Schädel ein paar Zahnräder ineinander gegriffen und sich zu drehen begonnen hatten.

»Einen Moment noch«, rief er den beiden Unteroffizieren zu, die gerade im Begriff waren, Yamamoto durch die Tür zu schieben. »Wären Sie so nett und überlassen uns den Professor für einen Augenblick?«

»Sie sind der Captain«, bemerkte einer der beiden Obermaate, schob den Gefangenen wieder in die cardigansche Unterkunft und schloss, zur Überraschung Floyds, sogar die Kabinentür, sodass die drei Männer allein und ungestört miteinander reden konnten.

»Hyp, bitte Privatmodus und akustisches Dämpfungsfeld aktivieren«, forderte Floyd die Schiffs-KI auf.

»Privatmodus und Dämpfungsfeld aktiviert«, verkündete das Schiff.

»So, jetzt sind wir ungestört«, meinte Floyd zufrieden schmunzelnd, was seinen XO und Freund irritierte. Und auch Yamamoto wirkte verwirrt anlässlich des spontanen Sinneswandels seines Anklägers.

»Und jetzt?«, fragte der Wissenschafter. »Wollen Sie mich ein wenig aufmischen, damit ich rede?«

»Oh, ich glaube kaum, dass das notwendig sein wird, oder Otis?«, entgegnete Floyd und wandte sich mit einem fordernden Gesichtsausdruck an Otis.

»Ähm, ich habe ehrlich keine Ahnung, worum es hier gerade geht und was du von mir eigentlich willst«, gestand der XO offenherzig und rechtschaffend ahnungslos.

»Wirklich nicht?«, schmunzelte Floyd. »Ich dachte, du wärst ein Agent des Geheimdienstes?«

»Jason hat also geplaudert«, verzog Otis verlegen seine Miene. »Was willst du wissen?«

»Ich weiß, dass ihr beide an Bord aus anderen Gründen operativ tätig seid, allerdings dürftet ihr den Titel Vizedirektor nicht aus Jux und Tollerei tragen, oder?«, lavierte Floyd.

»Drucks nicht so rum!«

»Dies ist ein Tiefraumforschungsschiff, unser Auftrag ist ebenso geheimnisvoll wie nebulös. Von den Umständen meiner Beförderung zum Captain will ich gar nicht erst anfangen. Ich habe mich noch während meines Aufenthalts auf der Erde umgehorcht und bin auf eine Mauer des Schweigens gestoßen. Selbst ein paar Gefallen, die du nur ein einziges Mal einfordern kannst, brachten mich nicht wirklich weiter. Das einzige, was ich zu hören bekam, war die nachdrückliche Empfehlung, nicht weiter zu forschen.«

»Klingt nach der Firma«, gestand Otis ein. »Allerdings ist der Geheimdienst groß, komplex und wir, also Jason und ich, nur in einen Bruchteil der Operationen eingeweiht. Aber was hat das mit Yamamoto hier zu… Oh, Shit, nein!«

»Oh doch!«, freute sich Floyd, dass bei seinem Freund der Groschen gefallen war, während ihn Yamamoto ausdruckslos anschaute, weswegen der Captain sich wieder ihm zuwandte. »Professor, Sie werden reden und zwar aus einem einfachen Grund. Ihr Vizedirektor wird es Ihnen befehlen.«

Die Reaktion des Angesprochenen war unterhaltsam und für ihn völlig untypisch, er brach in schallendes Gelächter aus.

»Oh, bitte Captain, machen Sie sich nicht lächerlich. Ich bin doch kein Spion.«

»Oh, doch, das sind Sie.« Floyd schüttelte seinen Kopf und ließ sich in seiner Überzeugung nicht beirren. »Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wer wohl in der Lage sein könnte, das Sicherheitssystem des Schiffs auszutricksen. In den Wochen unserer Reise habe ich mich ein wenig mit den Schiffssystemen vertraut gemacht und weiß, dass es eigentlich unmöglich ist, einfach so das Betriebssystem eines Steuerrechners auszutauschen, egal, ob es sich dabei um den Prozessrechner einer Antriebseinheit oder einer Kaffeemaschine handelt. Die Programmmodule sind verschlüsselt, mehrfach signiert und wer weiß was nicht alles noch. Auf jeden Fall kann man sich nicht einfach an einen Computer setzen, ein Programm zusammenhäkeln und es anschließend hochladen. Dafür wird eine spezielle Signier- und Verschlüsselungseinheit benötigt, von der es aber nur acht Stück an Bord gibt. Zwei auf der Brücke, zwei im Maschinenraum, zwei im Rechnerkern, eine befindet sich in meinem Safe und eine im Safe des XOs. Aber offensichtlich verfügen Sie ebenfalls über eine, oder?«

»Hm…«, entgegnete Yamamoto und verschränkte seine Arme vor der Brust.

»Wissen Sie, Ihr kleines Kunststück wäre tatsächlich niemals aufgefallen, schließlich handelte es sich bei ihrem Softwareupdate um ein korrekt zertifiziertes Programm. Alles andere hätte sofort einen Sabotagealarm ausgelöst. Dumm für Sie, dass aus anderen Gründen Sicherheitsprotokoll II aktiviert wurde. Wie konnten Sie auch ahnen, dass Hyp eine erweiterte Systemdiagnose ausführt und alle Programmbestände mit ihren Referenzwerten vergleicht? Dumm gelaufen.«

»Und das lässt Sie vermuten, ich wäre ein Agent des Geheimdienstes?«, lachte Yamamoto trocken.

»Eigentlich würde der Besitz einer Zertifizierungseinheit als Beweis ausreichen. Derartige Geräte bekommt man nicht an der nächsten Straßenecke gekauft. Und selbst wenn Sie sich so ein Gerät beschaffen könnten, fehlten immer noch die individuellen Schiffscodes. Ein Agent des Geheimdienstes hingegen…« Floyd ließ den Rest unausgesprochen und fuhr lieber mit einem anderen Argument seiner Beweisführung fort: »Aber selbst, wenn Sie wirklich nur ein begnadeter Hacker wären, haben Sie sich trotzdem verraten, nämlich mit der Art und Weise, wie Sie auf den Vorwurf des Mordes reagierten. Ich weiß nicht, ob Sie es wissen, aber mein Vater ist Richter. Er hat mir einiges über das Wesen von Tätern erzählt. Unter anderem, dass er immer weiß, ob ein Angeklagter schuldig war oder nicht. Die Unschuldigen reagieren verzweifelt. In ihren Augen lässt sich die Angst und Panik ablesen, sich dem Staatsanwalt ohnmächtig gegenüber zu sehen. Die Schuldigen hingegen zeigen eine eigentümliche Abgeklärtheit, auch wenn sie alles abstreiten und natürlich behaupten, rein gar nichts mit dem Fall zu tun zu haben. Doch Sie, Professor, reagieren wie jemand, für den es keine Rolle spielt, ob er schuldig ist oder nicht, so, als ob ein Prozess für Sie ohne Bedeutung wäre, weil meine Jurisdiktion hier an Bord für Sie nicht greift.«

»Hm«, wiederholte Yamamoto und wandte sich mit einem fragenden Blick an Otis. Der zuckte mit den Schultern, ging zum nächstgelegenen Schiffsterminal und betätigte die Schaltfläche für Kommandobefehle. Mit Aktivierung des Privatmodus hatte der Schiffscomputer alle Mikrofone im Raum deaktiviert und konnte damit nicht mehr die im Raum gesprochenen Worten hören, um eventuelle Befehle zu erkennen.

»Hyp, bitte eine Identitätsbestätigung. Johannson, Otis 28223 91 Omega 1«

»Stimmabdruck bestätigt, Command Johannson, Otis, Kennnummer 28223 91 Omega 1. Bitte geben Sie Ihr persönliches Kennwort ein und halten sich für einen biometrischen Scan bereit.«

Während Otis ein paar Tasten drückte, flammte ein kleiner Scanstrahl auf und beleuchtete das Gesicht des XOs.

»Ich bestätige die Identität von Vizedirektor Johannson, Otis. Sie verfügen über eine uneingeschränkte Sicherheitsfreigabe und sind gegenüber Agent Yamamoto weisungsbefugt.«

»Shit, damit wäre die Katze wohl aus dem Sack«, kommentierte der Professor die Meldung der Schiffs-KI. »Und was kann ich für Sie tun, Sir?«

Ein enttarnter Schlapphut

»Was suchten Sie im Computer von Professor Cardigan?«, kam Otis ohne Umschweife auf den Punkt.

»Natürlich den Grund, warum sie ermordet wurde.«

Nachdem die Frage nach der virtuellen Schwanzlänge geklärt war, zeigte sich Professor Yamamoto um Klassen gesprächsbereiter und auskunftsfreudiger, was allerdings nicht hieß, dass sich etwas an seiner Nüchternheit geändert hatte. Der Mann blieb genauso trocken und sachlich, wie in den Wochen davor.

»Captain, Sie gehen doch auch davon aus, dass die Stasisanzüge nicht einfach so ausfielen. Das mit Jason tut mir übrigens Leid. Ich weiß, dass er Ihnen nahe stand.«

»Danke«, knurrte Floyd und hoffte, dass ihn seine Reaktion nicht verriet. »Was wissen Sie über die Cardigan?«

»Interessanter ist, was ich über Sie weiß«, wich Yamamoto dem Thema aus. »Sie haben sich doch selbst gefragt, warum ein zwar sehr talentierter, aber auch sehr junger und in weiten Teilen unerfahrener erster Offizier plötzlich zum Captain eines DSRS befördert wurde?«

»War das eine rhetorische Frage?«, erwiderte Floyd leicht gereizt. »Sie wissen doch längst, dass ich vor dem Start ein paar Erkundigungen einholte.«

»Entschuldigen Sie, Captain. Ich wollte Sie nicht provozieren. Es ist nur so, dass Ihre Versuche nicht nur nicht unbemerkt geblieben sind, sondern für einige Aufregung sorgten. Unser Team ist schon seit einer Weile an einer dubiosen Sache dran. Sie haben vielleicht vom Gleiterunfall Professor van Campens gehört, der bei dieser Mission eigentlich statt Doktor Rodriguez die medizinische Abteilung leiten sollte. Ich kann nicht viel darüber sagen, aber der Unfall kam zu einem sehr überraschenden Zeitpunkt und seine Umstände sind mehr als fragwürdig. So soll die Energiezelle zerbrochen sein und tödliche Strahlung freigesetzt haben. Wir haben den Unfall rekonstruiert. Die Energiezelle konnte nicht brechen. Dies wäre rein technisch absolut unmöglich. Dann kam Ihre Beförderung zum Captain hinzu und am Ende die Geheimniskrämerei beim Missionsziel. Wissen Sie inzwischen, was wir hier sollen?«

»Nein. Mein Einsatzbefehl lautete nur, unter absoluter Geheimhaltung den vierten Planeten dieses Systems anzusteuern«, erklärte Floyd. »Wissen Sie mehr?«

»Nein, und das machte uns nervös. Es begann vor ein paar Monaten. Senatorin Monnahan, Vorsitzende des Raumflottenkontrollausschusses, kam auf uns zu und berichtete, dass sie den Eindruck hatte, dass in den Berichten der Flotte Informationen fehlten.«

»Wie meinen Sie das?«, hakte Otis nach.

»Stellen Sie sich die Berichte der einzelnen Stabstellen der Raumflotte als Lichtstrahlen vor. Wenn Sie die auf eine Mattscheibe projizieren, erhalten Sie nur eine mehr oder weniger helle Fläche. Schieben Sie aber eine Linse davor und fokussieren die Strahlen, erhalten Sie ein Abbild der Quelle. Wir analysierten die Unterlagen Senatorin Monnahans, schoben quasi eine Linse davor und entdeckten einen Schatten, einen dunklen Bereich innerhalb des Raumflottenkommandos, der die Senatorin gezielt und sehr konspirativ von bestimmten Informationen abschnitt. Damit war unser Interesse geweckt, worauf wir sofort die Präsidien beider Senatskammern und den Präsidenten informierten, alle drei erteilten uns den offiziellen Auftrag, die Sache diskret aber nachdrücklich zu verfolgen. Je mehr wir gruben, desto mehr verfestigte sich der Eindruck, dass irgendeine Gruppe innerhalb der Raumflotte ein eigenes hochgeheimes Ding dreht und dass dabei alle Spuren in Richtung der Hyperion zeigen. Dieser Einsatz, Captain, wurde der Flottenleitung mehr oder weniger heimlich untergejubelt.«

»Na super und mich lassen Sie und Ihr Verein ins offene Messer rennen«, knurrte Floyd wenig erfreut.

»Entschuldigen Sie Captain, aber das war nicht meine Entscheidung sondern die meiner Chefin.«

»Nein, sagen Sie nicht, die Cardigan war…« Floyd schüttelte den Kopf.

»Sie haben Recht. Ich habe CC mehrfach gesagt, Sie mit in ihre Untersuchung einzubinden. Sie lehnte ab.«

»Lassen Sie mich raten. Sie wollte sich nicht von einem Grünschnabel ins Handwerk pfuschen lassen, oder?«

»Sie hat es weniger freundlich formuliert und meiner Meinung nach damit einen entscheidenden Fehler gemacht, der sie am Ende das Leben kostete. Statt gegen Sie zu arbeiten, hätte Ruth Sie mit in ihre Untersuchung einbinden sollen.«

»Haben Sie etwas in CCs Computer entdeckt?«, wollte Otis wissen.

»Vielleicht«, erwiderte Yamamoto vage. »Captain, Sie erinnern sich bestimmt noch, dass CC erwähnte, dass jemand ihre Lagerlisten verändert hat. Ich glaube, sie ist dem Ursprung der Veränderung auf die Schliche gekommen.«

»Hat sie das irgendjemandem gegenüber erwähnt?«, hakte Floyd sofort nach.

»Ich glaube schon«, bejahte Yamamoto. »Soweit ich weiß, war sie dem Urheber der Manipulation dicht auf der Spur, wollte aber noch eine Informationsquelle treffen. Ich weiß nicht, wer diese war. Ich befürchte aber, dass sie mit diesem Treffen ihr Todesurteil unterschrieben hat. Entweder traf sie mit dem Informanten auch ihren Mörder oder der Informant hat den Mörder unwissentlich aufgeschreckt. Auf jedem Fall vermute ich, dass CCs Tod eine Art Notbremse war. Es erklärt auch, warum Professor singende Eidechse ebenfalls umgebracht wurde. Als herausragender Informatiker wäre es ihm wahrscheinlich möglich gewesen, CCs Arbeit fortzuführen.«

»Das glaube ich auch«, gestand Floyd. »Also gut. Gehen wir die Sache systematisch an. Mr. Yamamoto, Ihr Einbruch stellt einen echten Glücksfall dar. Ich werde Sie offiziell wegen des Mordes an Professor Cardigan anklagen.«

»Sie sind ein böser Mann, Captain Grant.« In den Augen des Chemikers flackerte ein Anflug von Respekt auf. »Gut, spiele ich den Mordverdächtigen.«

»Ich sehe, Sie verstehen mich«, erwiderte Floyd und wandte sich an seinen XO: »Otis, könntest du dich darum kümmern, dass unser Freund hier sehr diskret eine Kopie von CCs Datenpad erhält?«

»Ihnen ist hoffentlich klar, dass mein Leben in Ihren Händen liegt? Wenn unser Mr. X auch nur ahnt, dass ich CCs Daten durchgehe, dürfte ich der Nächste auf seiner Abschussliste sein.«

»Das gilt nicht nur für Sie, Mr. Yamamoto«, gab Floyd zu bedenken.


Die Nachricht von der Verhaftung Professor Yamamotos verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Schiff, dicht gefolgt von den Gerüchten, die sich um den Vorfall rankten. Von der Brücke gab es keine offizielle Erklärung außer der, dass es wegen der laufenden Ermittlungen keine Erklärung gäbe. Weder die Identität der Sprungopfer wurde enthüllt, noch wollte die Brücke auf Fragen antworten, ob die Verhaftung in irgendeiner Verbindung dazu stand.

»Dir ist hoffentlich klar, dass du die Geheimniskrämerei nicht lange durchalten kannst?«, wollte Otis wissen.

Der XO saß zusammen mit Jason, Quentin und Floyd in dessen Arbeitszimmer, wo sie die Lage erörterten.

»Ich weiß, aber wir gewinnen immerhin ein klein wenig Zeit. Jason, hat deine Untersuchung des Stasisanzugs etwas ergeben?«

»Jein«, erwiderte der Informatiker mit deutlich hörbarer Frustration in der Stimme, »ich weiß jetzt, wie der Schadcode in den Steuercomputer meines Anzugs gelangte. In der Logdatei wurde protokolliert, dass der Wartungsmodus aktiviert wurde, womit wir den Kreis der Verdächtigen einkreisen können. Der lässt sich nur in unmittelbarer Nähe des Anzugs aktivieren. Zwei Meter plus minus - mehr nicht. Könntet ihr mir irgendwie CCs Anzug zukommen lassen? Ähm, gereinigt, wenn es geht. Dann kann ich überprüfen, ob bei ihr die gleiche Manipulation vorgenommen wurde.«

»Zwei Meter?«

Floyd überlegte. Wie vielen Menschen waren die Cardigan und Jason zwischen dem letzten und vorletzten Sprung begegnet und dabei bis auf zwei Meter nahe gekommen? Wie vielen Menschen war Floyd selbst so nahe gekommen? Die Zahl war überschaubar. Da waren seine Offiziere auf der Brücke, Jason und… wenige mehr.

»Wie viel Zeit benötigt die Manipulation?«, wollte Floyd wissen. Reichte eine kurze Nähe, etwa eine Begegnung in den Gängen des Schiffs aus? Oder benötigte die Manipulation einen längeren Kontakt?

»Oh Shit, daran habe ich noch gar nicht gedacht. Der Wartungsmodus ist genau das – einfach nur ein Wartungsmodus, der in seiner Leistungsfähigkeit ziemlich eingeschränkt ist. Lass mich kurz überlegen… Verbindungsaufbau, Protokollverhandlung, Download, Verifikation und Reboot… mindestens acht Minuten. Wow, das schränkt die Zahl der Kandidaten deutlich ein.«

»Eben!«

»Schade, dass wir nicht wissen, mit wem sich die Cardigan zwischen den Sprüngen getroffen hat«, seufzte Otis. »Dann könnten wir die mit Jasons vergleichen.«

»Ich glaube, da kann ich weiterhelfen«, meldete sich Quentin zu Wort. »Ihr wisst doch, dass ich mich mit Leclercs schnuckligem Assistenten treffe. Es ist wirklich ein lieber und ziemlich verschmuster Kerl.«

»Oh, oh, das klingt ja ernst«, stichelte Otis freundschaftlich.

»Ähm, ja… aber das ist gar nicht der Punkt. Der Junge hat sich bei mir über seine Chefin ausgekotzt. CCs mag eine brillante Wissenschafterin gewesen sein, aber auf dem Weg dorthin sind ihre zwischenmenschlichen Fähigkeiten arg verkümmert. Ich weiß, man soll nicht schlecht über Tote sprechen, aber nach allem, was ich erfahren habe, war sie cholerisch, zynisch bis sarkastisch, führte ihre Mitarbeiter gerne vor versammelter Mannschaft vor und war obendrein auch noch extrem rachsüchtig. Wie auch immer, Jurek war mit Louis und ein paar Teammitgliedern zu einer Besprechung bei CC. Als sie bei ihr eintrafen, verließen gerade Waldorf und Statler, ich meine Bangs und Buchanen, die beiden Chefs der Konstruktions- und Ingenieursabteilung das Büro der Cardigan. Sie wirkten wohl nicht sonderlich fröhlich. Während des Meetings schaute Yamamoto kurz rein und als Louis und Yurek später gingen, kamen ihnen Dr. Rodriguez und die Xenoanthroplogin Naomi Cantrell entgegen.«

»Na super, CC scheint mit jedem gesprochen zu haben«, knurrte Otis.

»Mag sein. Ich aber nicht«, erwiderte Jason fröhlicher. »Im Gegensatz zu CC haben deutlich weniger Leute meinen Weg gekreuzt. Wenn wir als Arbeitshypothese annehmen, dass es sich zumindest bei der Manipulation der Anzüge um einen Einzeltäter handelt, müsste es reichen, die Schnittmenge aus meinen und CCs Begegnungen zu bilden.«

»Guter Mann!«, lobte Quentin. »Und, weißt du noch, mit wem du zwischen den letzten beiden Sprüngen zusammen warst?«

»Zusammen?«, grinste Jason rattig. »Nur mit einem Mann, wozu es in Anbetracht der knappen Zeit aber nicht kam. Aber wenn du die Fachbesprechungen meinst, dann müssten es zwei gewesen sein. Ich habe beide Sprünge im Rechnerkern mit Messungen verbracht. Nach dem ersten Sprung bin ich zu Louis und seinem Team und habe eine Theorie erörtert. Anschließend bin ich zu Waldorf und Statler, um mit den beiden die Umsetzung zu erörtern. Als wir fertig waren, musste ich auch wieder zurück zum Kern, da der nächste Sprung unmittelbar bevor stand.«

»Dann sprechen wir bei dir von wie vielen Personen?«, wollte Floyd wissen.

»Lass mich nachzählen. Louis Team besteht mit ihm aus sieben Leuten, dann die zwei Ingenieure, macht neun… Stopp, die hätte ich fast vergessen, auf dem Weg von Louis bin ich Naomi begegnet und habe bestimmt zehn Minuten mit ihr geplaudert. Alles in allem waren es gut zehn Personen.«

»Zehn?«, grummelte Floyd. »Das sind zu viele. Versuchen wir es weiter einzuschränken. Wie groß ist die Schnittmenge zwischen dir und CC und wie viele davon hältst du für technisch in der Lage, die Anzüge zu manipulieren?«

»Wirklich ausschließen kann ich eigentlich nur Naomi. Die meisten aus Louis Team waren an der Entwicklung der Anzüge beteiligt und unsere beiden Konstruktionsspezialisten haben die Fertigung geleitet.«

»So kommen wir nicht weiter.« Floyd schüttelte resigniert den Kopf. »Es sind immer noch zu viele. Und ehrlich gesagt kann ich mir bei keinem vorstellen, ein Mörder zu sein. Fragt euch selbst: Bangs? Buchanen? Leclerc? Oder vielleicht Quentins Schnuckel Yurek? Die anderen aus Louis Team?«

»Oder doch die Cantrell?«, wandte Otis, der über einem Datenpad brütete. »Ich sehe gerade in den Akten, dass die Anthropologin einen Abschluss in Informatik hat.«

»Ach?« Jason war sichtlich überrascht. »Das hat sie aber bisher gut zu verstecken gewusst. Gut, damit rückt die gute Naomi mit in den Kreis der Verdächtigen. Ich sehe sie aber nur in der zweiten Reihe. Für die Manipulation wird umfangreiches Detailwissen benötigt, über das eigentlich nur diejenigen verfügen, die an ihrer Entwicklung mitgearbeitet haben.«

»Was ist mit den Leuten aus Bangs und Buchanans Team?«, wollte Quentin wissen. »Haben die an der Besprechung teilgenommen?«

»Nein, nicht als ich mit ihnen sprach«, erwiderte Jason. »Es bleibt dabei. Entweder waren es Waldorf und Statler oder einer aus Louis Team. Naomi würde ich vorerst ausklammern.«

»Bleiben also neun Verdächtige, von denen wir keinem konkret etwas nachweisen können«, überlegte Otis laut. »Können wir den Kreis nicht noch irgendwie eingrenzen?«

»Ich kann mir weder vorstellen, dass Louis, noch die beiden Konstruktionsjungs für die Sache verantwortlich sind. Louis war mein Doktorvater und ist ein Freund. Der Mann lebt einzig für die Wissenschaft. Und die beiden Ingenieure… ich kenne sie erst seit Beginn unserer Mission und kann mir nicht vorstellen, dass einer von ihnen ein Mörder sein könnte. Die bringen sich eher gegenseitig um, bevor sie jemand anderem auch nur ein Haar krümmen. Auf der anderen Seite, wer weiß, was wirklich im Inneren eines Menschen vorgeht. Psioniker ausgenommen«

»Wir kommen also nicht weiter, oder?«, brachte es Quentin auf den Punkt. »Wäre dies nicht der richtige Moment, um an die Öffentlichkeit zu gehen? Wenn wir die Mannschaft und Wissenschafter informieren, könnten wir ganz offiziell Vernehmungen durchführen. Vielleicht verplappert sich jemand.«

»Ich meine auch, dass wir kurzfristig die Geheimhaltung aufgeben sollten«, stimmte Floyd zu. »Spätestens, wenn wir unser Ziel erreichen und die wissenschaftlichen Abteilungen ihre Arbeit aufnehmen, sollten sie den Kopf frei haben und sich nicht mehr um eine Verschwörung Sorgen machen müssen. Auf der anderen Seite wird damit der Täter gewarnt, inzwischen bin ich aber bereit, den Preis dafür zu bezahlen. Auf keinen Fall darf unser Gegner noch einmal die Gelegenheit erhalten, auch nur einem an Bord ein Haar zu krümmen. Wir haben noch ein paar Stunden Zeit, nutzen wir sie.«

Dumpfbacke reloaded

»Ich wusste nicht, dass Yamamoto einer unserer Leute ist«, schnitt Jason unaufgefordert die Mitgliedschaft des Chemieprofessors beim Geheimdienst an. Floyd hatte sich noch ein paar Minuten Zeit genommen, bevor er auf die Brücke zurückkehren und die dort ausharrenden Offiziere ablösen wollte.

»Du musst nicht jeden kennen. Otis wusste es auch nicht. Es spielt keine Rolle. Ich werde dich auch nicht bitten, mir eine Liste aller Agenten an Bord auszufertigen. Yamamoto hat sich erwischen lassen. Sein Pech, aber für uns ein Glücksfall, da wir jetzt nicht mehr gegen- sondern miteinander arbeiten können.«

»Immer der Optimist, was?«, stichelte Jason scherzhaft.

»Auf jeden Fall, und nach dem Attentat auf dein Leben erst recht«, erwiderte Floyd und strahlte seinen Freund verliebt und glücklich an. Nach ein paar Sekunden schlich sich ein leicht betrübter Ausdruck auf sein Gesicht. »Ich muss los. Max wartet auf seine Ablösung.«

»Hey, ich lauf nicht weg. Du wirst mich nach deiner Schicht genau hier wieder finden.«


»Verstehe ich Sie da richtig, Captain«, begann Richterin Sakoviac. »Auf einen bloßen Verdacht haben Sie Vizedirektor Johannson die Identität eines Agenten enthüllen lassen?«

»Erlauben Sie mir eine Gegenfrage, Frau Richterin«, wandte sich Floyd der Fragestellerin zu. »Bitte verdeutlichen Sie sich unsere Situation: Ein vollendeter Mord, ein durch mehr als glückliche Umstände vereitelter Mordanschlag, eine manipulierte Schiffs-KI auf der einen Seite, und all dies mitten im Nirgendwo. Durch die Veränderung der Sprungdaten unseres letzten Sprungs wurde, wie Sie wissen, Schutzprotokoll 17 aktiviert, was hieß, dass wir im Tiefraum, weitab aller Kommunikationsbojen und Relaystationen gestrandet waren. So sah also mein erstes Kommando eines DSRS aus. War ich unerfahren? Natürlich war ich das. Ich hätte dieses Kommando niemals erteilt bekommen dürfen. Aber ich hatte es und musste mit der Situation klar kommen. Und genau in dieser Situation ertappen wir Professor Yamamoto dabei, sich auf höchst konspirative Weise Zugang zum Computer des Mordopfers zu verschaffen. Meine Frage, Richterin, ist ganz einfach: Wie hätten Sie in dieser Situation gehandelt?«

»Ich bin kein Zeuge, Captain. Ich muss mich nicht rechtfertigen«, konterte die Richterin scharf.

»Nein, das müssen Sie nicht«, erwiderte Floyd höflich. »Ich aber auch nicht. Meine Handlungen habe ich vor dem Hohen See- und Raumgerichtshof verteidigen müssen. Wie Sie meiner Akte entnehmen können, konnte an meinem Verhalten kein Anlass für Kritik gefunden werden.«

»Captain, Sie haben keinen Grund zur Tiefstapelei«, ergriff der Vorsitzende Henry Willibal Waterman das Wort. »An Ihrer Schiffsführung wurde nicht nur kein Anlass für Kritik gefunden, Ihr Verhalten in der Krisensituation wurde viel mehr mit Recht ausdrücklich für Ihre Umsicht als vorbildlich gelobt. Die Kammer stand einstimmig hinter Ihnen.«

»Dies ändert nichts daran, dass unter meinem Kommando Menschen gestorben sind. War ich zu leichtfertig? Ich weiß es nicht. Vielleicht war ich es, aber hinterher ist man immer schlauer. Zu jenem Zeitpunkt, mit dem Wissen, das wir, Professor singende Eidechse, Commander Johannson, Harding und Friedrich, und alle anderen Beteiligten hatten, konnten wir unmöglich wissen, was uns erwartete. Hätte ich mit dem Wissen von heute anders gehandelt? Selbstverständlich. Hätte ich mit dem gleichen Wissen von damals anders gehandelt? Nein. Natürlich nicht. Dass ich mit den Konsequenzen leben muss, ist Teil meines Jobs. Es bedeutet aber auch, dass ich mir immer wieder die Frage stelle, ob ich richtig gehandelt habe.«

»Ich glaube, das dürfte Ihre Frage beantworten, Richterin Sakoviac«, beendete Vizeadmiral Henderson das Thema schroff.


»Commander Friedrich, bereit zur Ablösung?«, fragte Floyd einen seiner Navigatoren förmlich, zwinkerte aber dem Mann auf dem Chefstuhl dabei freundlich zu.

»Selbstverständlich, Captain!«, erwiderte Max und sprang vom Stuhl des Kommandanten auf, dem er erstmals in seiner Karriere die letzten vier Stunden innewohnen durfte. So sehr er seinen früheren Captain auch schätzte, bei ihm hatte er nie das Kommando übernehmen dürfen. Floyd pflegte definitiv einen völlig anderen Führungsstil. Er war nicht nur deutlich weniger autokratisch, er forderte im Gegenteil sogar ein, dass seine Offiziere aktiv Verantwortung übernahmen. Im Zweifelsfall hieß dies auch, die Brücke zu übernehmen.

»Irgendwelche ungewöhnlichen Vorkommnisse.«

»Nein, Captain, nicht einmal gewöhnliche Vorkommnisse«, erklärte Lt. Commander Max Friedrich und deutete auf eine Konsole mit Statusdaten. »Alle im nominalen Bereich.«

»Nein, nicht ganz«, korrigierte Floyd und ließ damit seinen Brückenoffizier vor Schreck zusammenzucken. »Du arbeitest nicht im normalen Bereich, sondern siehst sehr müde aus. Geh schlafen!«

»Danke Captain«

Während sich Max müde von dannen schlich, machte es sich Floyd in seinem Kommandosessel gemütlich, kontrollierte diverse Schiffsdaten und richtete sich schließlich mental auf eine langweilige Wache ein. Kurze Zeit später traf auch Commander Johannson ein, welcher Lt. Wolf ablöste. Floyd hatte die Wache auf ein Minimum reduziert. Trotz der immer noch aktiven Schutz- und Sicherheitsprotokolle 17 und II, gab es während der Flugphase wenig zu tun. Sämtliche Schiffsfunktionen liefen vollautomatisch ab, was die Aufgaben der Crew darauf reduzierte, in regelmäßigen Abständen ein paar Parameter zu kontrollieren. Lag das Schiff noch auf dem richtigen Kurs? Arbeitete der Antrieb fehlerfrei? Gab es irgendwelche Anomalitäten im umgebenden Raum, etwa eine überraschende Sonneneruption?

»Du weißt, was du getan hast, oder?«, unterbrach Otis die leise Geräuschkulisse und zwinkerte seinem Chef verschwörerisch zu. »Ich habe Max selten so strahlend gesehen.«

»Wieso?«, schmunzelte Floyd. »Er trägt doch den Dienstrang eines Commanders, oder? Damit hat er seine Befähigung zum Kommandieren bewiesen.«

»Du weißt, wie ich das meine.«

»Ja, ich weiß.« Floyd wurde ein wenig nachdenklich. »Ich glaube aber, dass es richtig ist, wenn jeder Führungsoffizier weiß, was es heißt, ein DSRS zu kommandieren. Dies lässt sich aber nicht theoretisch durch Lehrbücher und Kurse lernen, sondern muss real erlebt werden. Ach ja, und wenn wir gerade dabei sind, ich möchte, dass Ronald die Prüfung zum Commander ablegt. Es wird Zeit.«

»Wow!«, erwiderte Otis. »Du machst keine halben Sachen, was? Also gut. Ich werde einen Lehrplan für Ronald ausarbeiten, allerdings glaube ich, dass nicht ich, sondern du ihm die Nachricht überbringst. Wunder dich aber nicht, wenn er dir vor Freude um den Hals fällt.«

»Ich werde es verkraften.« Floyd grinste breit, runzelte dann aber plötzlich die Stirn und schaute konzentriert auf die Bildschirme vor sich. Er wirkte dabei wie jemand, der etwas suchte, dabei aber nicht genau wusste, was.

»So, wirst du? Dann pass aber auf, dass da nicht jemand eifersüchtig wird. Ich…«, entgegnete Otis, dem die mentale Abwesenheit seines Captains noch nicht aufgefallen war, dann aber selbst über seltsame Werte auf seinen Bildschirmen stolperte. »Hoppla, was ist das?«

Von einer Sekunde zur anderen war Otis in seinem Sessel von einer bequemen Rumlümmelposition zu einer geraden, konzentrierten aufgeschreckt. Flinke Finger wuselten über eine Steuerkonsole und zauberten allerlei Diagramme auf Otis und Floyds Arbeitsbildschirm.

»Eine Energiesignatur? Wieder ein EM-Blitz?«, fragte Floyd rhetorisch, während er die Daten interpretierte.

»Es scheint so.«

»Werden die Sensordaten aufgezeichnet?«

»Ja, werden sie. Hyp hat schon mit der linguistischen Analyse begonnen.«

»Und, stimmt er mit dem EM-Blitz überein, den wir unmittelbar nach dem Überlichtsprung empfingen.«

»Er stimmt exakt überein, nur dieser war deutlich stärker. Gut, wir sind auch näher dran. Der Ursprung ist der gleiche: der vierte Planet.«

»Natürlich oder künstlich?«

»Kann ich nicht sagen. Es könnte beides sein und… es ist weg!«

»Weg?«

»Weg!« Otis prügelte auf seine Kontrollen ein, doch das Ergebnis blieb das gleiche. Es hatte genau ein Ereignis gegeben, danach herrschte wieder vollkommene Ruhe.

»Wenn dies ein U-Boot wäre, würde ich sagen, dass wir gerade angepingt wurden«, meinte Floyd.

»Die Frage ist nur, von wem? Oh, was…« Von einer Sekunde zur nächsten sah Otis benommen aus. Er schüttelte seinen Kopf und massierte gequält die Stirn.

»Ist etwas?«, fragte Floyd besorgt.

»Ich weiß nicht… ahhh… mir war… merkwürdig. Als ob sich mein Geist vom Körper trennen wollte. Ich hatte das Gefühl, als ob mein Verstand an einem Klebeband klebte und… oh, warte… Jason hat das gleiche erlebt.«

»Der Ping?«

»Vielleicht, obwohl… vom Zeitablauf passt es nicht. Als wir den Ping bemerkten, war ich völlig klar. Nein ich glaube nicht, dass da ein direkter Zusammenhang besteht.«

»Und indirekt?«, wollte Floyd wissen.

»Worauf willst du hinaus?«

»Wenn ich das selbst so genau wüsste«, erwiderte Floyd und kratzte sich nachdenklich an der Nase. »Es ist nur so ein Gefühl, aber ich glaube, dass zwischen dem EM-Blitz und deiner Benommenheit ein Zusammenhang besteht. Wenn nicht direkt, dann indirekt. Frag mich aber nicht nach Gründen für meine Vermutung. Ich habe keine. Noch nicht. Haben wir die Zeiten der Blitze?«

»Ja, 23 Stunden, 17 Minuten und 26 Sekunden. wieso?«

»Ich frage mich, ob es nach weiteren 23 Stunden, 17 Minuten und 26 Sekunden erneut blitzt.«


Was jetzt die Ursache für Otis und Jasons seltsame Benommenheit war, ließ sich im Moment nicht feststellen, da sie ebenso plötzlich wieder verschwand, wie sie gekommen war. Ganz so schnell wollte Floyd allerdings nicht zur Tagesordnung übergehen und fragte sowohl Otis als auch über diesen Jason, ob die beiden den Vorfall in irgendeiner Weise für gefährlich hielten. Die Antwort fiel eindeutig aus. Beide Männer dankten ihrem Captain für seine Besorgnis, hielten sie aber für unbegründet. Otis brachte es auf den Punkt, indem er zu bedenken gab, dass ohne Symptome eh keine Möglichkeit bestand, dem Vorfall nachzugehen. Dieser Logik musste sich Floyd geschlagen geben, obwohl es ihm nicht gefiel. Er machte sich eben Sorgen, die während seiner Brückenwache nur langsam abklangen.

»Himmel ist das öde«, maulte Otis nach zwei Stunden ereignislosem Brückendienst rum und wünschte sich fast wieder kopfschmerzerzeugende FTL-Flüge zurück. Zwischen den Überlichtsprüngen gab es wenigstens etwas zu tun. Es mussten Checklisten abgearbeitet, Sprungprotokolle durchgeführt und Kopfschmerztabletten geschluckt werden. Eine halbe Stunde vor einem und eine Viertelstunde nach einem Sprung herrschte operative Hektik und intellektuelle Anspannung. Langweilig wurde es jedenfalls nicht.

Ganz im Gegenteil zum Unterlichtflug. Es gab wirklich nichts zu tun. Der eingeschlagene Kurs wurde peinlichst genau von den Navigationscomputern eingehalten. Die Abweichung vom optimalen Kurs betrug nie mehr als ein paar tausendstel Prozentpunkte. Sämtliche Antriebseinheiten spurten wie ein Uhrwerk. Floyd hatte zuvor noch nie ein Raumschiff erlebt, das dermaßen unauffällig seinen Dienst tat wie die Hyperion. Kein einziger Kontrollbildschirm zeigte eine Warnmeldung oder gar einen Fehler. Sämtliche Anzeigen zweigten grün. Fast, so überlegte Floyd, könnte man vergessen, dass wenige Meter von meinem bequemen Kommandosessel entfernt, sich luftleerer, eiskalter, leerer, lebensfeindlicher Raum befand.

»In einer halben Stunde schalten wir auf Bremsbetrieb um«, meinte Floyd wenig überzeugend enthusiastisch.

»Toll!«, erwiderte Otis ähnlich begeistert, musste dann aber doch grinsen und meinte: »Warum maulen wir eigentlich? Es könnte schlimmer sein, oder?«

»Es war schlimmer«, seufzte Floyd. »Sollte ich mich nicht betroffen fühlen? Die Cardigan ist tot, wurde ermordet. Aber wenn ich ehrlich bin, schäme ich mich nur, dass ich nichts empfinde.«

»Damit bist du wahrscheinlich die absolute Ausnahme an Bord.«

»Wie jetzt?«

»Ich glaube nicht, dass du noch jemand finden wirst, der sich schämt, nichts für CC zu empfinden.«

»Zyniker!«

»Realist.«

In diesem Moment betrat Quentin die Brücke. »Captain, XO«, grüßte er seine vorgesetzten Offiziere und ließ sich umständlich vorsichtig im Sessel seiner Station nieder. Nachdem er sich angemeldet und ein diverse Status überprüft hatte, wandte er sich an den Captain: »Einleitung des Bremsbetriebs in t minus 30 Minuten. Automatischer Check der Verzögerungsantriebe initiiert.«

»Besten Dank, Mr. Harding«, bedankte sich Floyd und fügte hinzu: »Und, ausgeschlafen?«

Der Befragte antwortete auf seine Weise. Er wurde rot und zeigte ein versonnenes, verklärtes, aber auch peinlich ertapptes Lächeln.

Es dauerte genau zwei Sekunden, da hatte Floyd eins und eins zusammengezählt. Nach weiteren zwei Sekunden hatte sich ein hinterhältiges Grinsen in seinem Gesicht ausgebreitet. Eigentlich, das wusste der Captain der Hyperion ganz genau, verstieß er gegen diverse Verhaltenskodizes der Sternenflotte, trotzdem konnte er sich nicht beherrschen.

»Probleme beim Sitzen?«

Während Otis zusammenzuckte, lief Quentin noch ein paar Schattierungen stärker an. In diesem Moment schalteten auch beim XO die richtigen Synapsen, was sich durch ein unterdrücktes »Hmpf!« äußerte. Otis freute sich diebisch, seinen sonst so großmäuligen Freund einmal in der Defensive zu sehen. Doch da hatte er nicht mit Quentin gerechnet. Es dauerte ganze dreißig Sekunden, da hatte er sich gefangen, lehnte sich – vorsichtig – in seinem Sessel zurück und konterte dann: »Wie konnte ich wissen, dass Yurek so gut bestückt ist? Ich habe mich selten dermaßen ausgefüllt gefühlt. Mann, geht der Kerl im Bett ab!«

»Too much information error!«, kreischte Otis. »Bitte Jungs, erspart mir die Details.«

»Ihr seid euch also näher gekommen?«, blieb Floyd beim Thema.

»Ziemlich nahe«, bestätigte Quentin, dem aber durchaus bewusst war, dass Floyd auf etwas anderes hinaus wollte. Trotzdem konnte er es sich nicht verkneifen, seine Arme ebenso relaxed und demonstrativ hinter seinem Kopf zu verschränken. »Diese Wissenschafter sind alles Plaudertaschen. Jurek meint, dass CC ins Gras gebissen hat, ist für alle Fakt. Bei Jason sind sie sich nicht hundertprozentig sicher. Ein paar Leute sind der Meinung, dass die Rothaut, wie sie sich ausdrücken, überlebt hat und sich versteckt hält. Inzwischen sind die meisten der Meinung, dass der Captain, also du, mein Lieber, mit seiner Verschwörerjagd doch recht haben könnte. Aber dass du Yamamoto festgenommen hast, ist wie eine Bombe eingeschlagen. Die Spekulationen schießen ziemlich ins Kraut. Jurek meint, dass ein Drittel der Wissenschafter der Meinung ist, Yamamoto sei der Verschwörer, ein Drittel meint, seine Verhaftung sei ein Trick. Das letzte Drittel hält ihn für unschuldig und glaubt, dass du dich vergaloppiert hast. Im Prinzip ist dagegen… Floyd, hörst du mir überhaupt zu?«

Er tat es nicht sondern starrte gebannt auf sein Kommandoterminal vor sich. Nur an seiner sich mehr und mehr kräuselnden Stirn konnten Otis und Quentin erkennen, dass ihr Captain hochkonzentriert war und nicht nur einfach vor sich hin döste. Irgendetwas schien Floyd zu irritieren. Das leichte Gekräusel gewann immer mehr an Tiefe und verwandelte seine Stirn in eine Furchenlandschaft. Otis wollte gerade aufstehen, als sich plötzlich Floyds mentale Anspannung in einer explosiven Aktion entlud. Mit brutaler Kraft knallte seine rechte Faust auf die Notfalltaste der Bordsprechanalage. Ein schriller, lauter und sehr dissonanter Ton, der selbst Tote erweckt hätte, schallte schiffsweit aus allen Lautsprechern und verkündete eine Dringlichkeitsdurchsage des Captains.

»Jason, Yamamoto, Notfallschutzmasken aufsetzen und raus aus euren Unterkünften, sofort! Quentin, Otis, ihr auch! Notfallatemschutzmasken aufsetzen!«, brüllte Floyd ins Mikrofon und in Richtung seiner Brückenoffiziere, um selbst zur Notfallatemmaske zu greifen. »Medizinische und technische Notfallteams mit Atemschutz sofort auf die Brücke, in meine und Professor Yamamotos Unterkunft! Fatale Störung der Lebenserhaltung in den folgenden Sektionen.«

Brückengespräche

Und wieder vergingen bange Minuten, bis feststand, dass weder Jason noch Yamamoto zu Schaden gekommen waren. In der Zwischenzeit hatten auch Otis und Quentin entdeckt, was Floyd zu seiner Alarmdurchsage veranlasst hatte. Über das gesamte Schiff verstreut war es zu Störungen der Lebenserhaltung gekommen, die zu einer schleichenden und geruchslosen Vergiftung der Raumluft mit Kohlenmonoxid führte. Zum Glück hielten sich von den siebenundvierzig betroffenen Bereichen nur in drei Menschen auf: auf der Brücke, in Floyds und in Yamamotos Unterkunft.

»Das war knapp«, stöhnte Quentin hinter seiner Atemmaske. »Systemdiagnose läuft. Lebenserhaltungssysteme in den gestörten Bereichen werden zurückgesetzt und starten neu.«

Im selben Moment flammten rot pulsierende Warnlichter an den Wandpanelen der Brücke zusammen mit einem durchdringenden Warnton auf. Parallel dazu vernahmen die drei Männer einen kräftigen Luftzug. Die Computer der Lebenserhaltung hatten nach ihrem Neustart die Kontamination der Raumluft erkannt und damit begonnen, sie in allen kontaminierten Sektionen des Schiffes komplett auszutauschen. Nach zwei Minuten intensiven Dauerlüftens schienen die Sensoren kaum noch Kohlenmonoxidmoleküle zu entdecken. Die Warnlichter wurden abgeschaltet und die Ventilation auf normale Werte heruntergefahren.

»Hyp, wärst du so nett und erklärst uns, was gerade passiert ist?«, wandte sich Floyd an die Schiffs-KI nachdem er seine Atemmaske wieder abgenommen hatte.

»Das kann ich nicht«, erwiderte Hyp. »Ich bin noch dabei, meine Protokolldaten auf Anomalitäten zu überprüfen. Soweit ich bisher sagen kann, wurden den Lebenserhaltungssystemen und damit mir nie fehlerhafte Werte gemeldet. Moment… Korrektur… ich habe den Fehler entdeckt. Für die betroffenen Räume wurden abweichende Zielparameter für die Lebenserhaltung aktiviert.«

»Hyp«, hakte Otis nach, »was für Zielparameter? Sind sie dir vielleicht aus früherer Zeit bekannt.«

»Ja, sind sie. Das aktivierte Lebenserhaltungsprofil wurde während der Mission 772.12 unter Habitatprofil 12 abgelegt.«

»Habe ich also richtig vermutet«, knurrte Otis. »Quentin, erinnerst du dich noch an Lumida VII?«

»Scheiß ja, dieser verdammte Mond. Siebzig Prozent Luftfeuchtigkeit, fast 30 Grad und… ja, natürlich… eine toxische CO-Konzentration. Wir haben damals doch in einem der Labore ein entsprechendes Habitat nachgebildet. Aber wie ist das Profil dafür in die Lebenserhaltung geraten.«

»Ich glaube, das kann ich aufklären.«

Alle Augen richteten sich in Richtung der Turbolifttüren, vor denen Jason singende Eidechse stand und dabei alles andere als glücklich wirkte.

»Wenn ich den Protokolldateien der Schiffs-AI glaube, dann habe ich vorhin ein Unterprogramm aufgerufen, das Habitatprofil 12 in diversen Räumen aktivierte. Nach welchen Regeln es diese Räume auswählte kann ich noch nicht sagen. Genauso wenig, warum ich das Programm aufgerufen haben sollte. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, etwas derartiges getan zu haben. Allerdings wurde der Aufruf registriert. Er wurde von der Konsole in Floyds Arbeitszimmer genau zu jener Zeit initiiert, als ich dort arbeitete.«

»Komisch, ich habe dich bisher nicht für suizidgefährdet gehalten«, stichelte Quentin, wurde dann aber ernst. »Nein, du kannst das nicht gewesen sein. Du warst doch auch auf der Mission. Du weißt so gut wie jeder andere, dass die Luft im Habitatprofil 12 absolut tödlich ist.«

»Und wer war es dann?«, hakte Jason frustriert nach.

Bevor Jason oder Floyd etwas antworten konnte, meldeten sich die Schiffssysteme zu Wort. Die Einleitung des Bremsmanövers stand unmittelbar bevor und noch diverse Checklisten abzuarbeiten. Die drei Offiziere waren Profis genug, ihre Diskussion unmittelbar zu unterbrechen und sich den Schiffskontrollen zuzuwenden. Otis ging ganz in seiner Rolle als XO auf und begann die Prüfpunkte abzufragen, während Quentin die Punkte überprüfte und seine okays durchgab. Die Hyperion war bereit zum Abbremsen.

»Antrieb aus in t minus 30 Sekunden auf mein Signal«, gab Otis das Kommando und gab Sekunden später das Signal. Die Uhr begann zu ticken.

»Antrieb aus in 10…9…8…7…6…5…4…3…2…1…0…Antrieb ist aus«, kam es von Quentin. Da es im freien Raum keine Reibung gab, wurde die Hyperion bis zu diesem Zeitpunkt kontinuierlich beschleunigt. Dies bedeutete aber auch, dass das Schiff ohne Antrieb nicht etwa langsamer wurde. Es wurde nur nicht schneller. Dafür musste der Antrieb in Richtung der Flugrichtung gerichtet werden.

»Antrieb wird runtergefahren«, erklärte Quentin, der sich um den Antrieb kümmerte, während Otis parallel dazu die Aufgaben des Navigators übernommen hatte. »Wir sind exakt auf Kurs. Keine Abweichungen durch die Antriebsabschaltung feststellbar. Ein Lob an Ulysses, seine Maschinen laufen wirklich perfekt.«

Ein öfters beobachtetes Problem bei der Abschaltung des Antriebs waren unterschiedliche Brennschlusszeiten. Wie schon erwähnt besaß das viereinhalb Kilometer lange Raumschiff monströs große Antriebe, die sich eben nicht einfach ausknipsen ließen. So musste im gleichen Maße, wie die Leistung der Antriebe heruntergefahren wurde auch die Leistung der Plasmakonvertereinheiten gedrosselt werden, was wiederum hieß, dass die Leistungsabgabe der Arbeitssingularität ebenfalls reduziert werden musste. Bei der schieren Dimension des Schiffs gab es unzählige Möglichkeiten, dass dabei etwas schief ging. Ein recht häufig auftretendes Problem bestand darin, dass das Schiff verzog. Dies passierte immer dann, wenn nicht alle Antriebseinheiten gleichmäßig herunterfuhren und dadurch ein Triebwerk im Verhältnis mehr Leistung abgab als ein anderes. Die Folge: Das Schiff verzog in die Richtung des schwächeren Triebwerks. Aber warum tat es das? Es lag in der Natur der Sache. Keine Düse konnte dermaßen perfekt gefertigt werden, dass nicht kleinste Toleranzen auftraten, die aber bei den gigantischen Kräften, die später darin wüteten, nicht einen ebenso gigantischen Effekt ausmachten. Das gleiche galt für die Plasmageneratoren und anderen Antriebskomponenten. Es gab nur eine Möglichkeit dem Herr zu werden: Die Antriebe mussten präzise geregelt werden. Für die Schiffscomputer, die diese Aufgabe übernahmen, hieß dies Schwerstarbeit. Es brauchte dann auch ganze fünf Minuten, bis die Antriebe abgeschaltet waren.

»Antriebe sind aus und werden umkonfiguriert«, meldete Quentin. »Verzögerungsbetrieb in fünf Minuten.«

Und wieder wurden unzählige Checklisten abgearbeitet. Otis kontrollierte den Kurs, Quentin die Antriebe, während Floyd die Prüfpunkte abfragte. Am Ende stand alles auf Go und dem erneuten Start der Triebwerke nichts entgegen.

»Captain, Antrieb steht bereit«, meldete Otis, der mit Quentin die Rollen getauscht hatte. Statt für die Navigation verantwortlich zu sein, übernahm er nun die Antriebssteuerung. Dieser Aufgabewechsel sollte dafür sorgen, Routine aufkommen zu lassen, was relativ gut funktionierte.

»Danke, Mr. Harding. Lassen wir es langsam angehen. Gegenschubantrieb auf 20 Prozent.«

»Zwanzig Prozent, Aye Captain«, bestätigte Otis, betätigte ein paar Kontrollen und das Schiff begann zu verzögern. Dies tat es zwar nur langsam und war natürlich auch nicht spürbar, da die Trägheitsdämpfer des Schiffes dafür sorgten, dass niemand irgendwelche Beschleunigungs- oder wie in diesem Fall Verzögerungskräfte spüren musste. Der einzige Indikator dafür, dass die Antriebe das Schiff wirklich bremsten, waren die Terminals, wie der Hauptbildschirm, auf dem Beschleunigung, Istgeschwindigkeit und Kurs an prominenter Stelle eingeblendet waren.

»Antrieb ist auf zwanzig Prozent«, verkündete Otis.

»Chief?«, fragte Floyd im Maschinenraum nach.

»Hier steht alles auf grün. Von meiner Seite aus können wir richtig in die Eisen gehen«, antwortete Chief Peterson, der Floyds Rückfrage erwartet hatte. Im Gegensatz zum alten Captain schien sich dieser für die Gemütslage der Maschinen zu interessieren. Und dass seine Aggregate über so etwas wie eine Stimmung verfügten und sich manchmal richtig zickig zeigten, davon war Ulysses absolut überzeugt.

»Gut, Otis, Sie haben es gehört. Bringen Sie die Hyperion auf 80 Prozent Verzögerungsleistung. Aber langsam.«

»80 Prozent. Aye Captain.« Otis betätigte seine Kontrollen und fuhr die Leistung des Antrieb langsam hoch. Fünf Minuten ging alles gut. Die Antriebe hatten etwas mehr als sechzig Prozent der Maximalleistung erreicht, als die ersten Alarmsignale ertönten. Gleichzeitig wechselten reihenweise Anzeigen von grün über gelb auf rot.

»Schiff giert nach Steuerbord. Korrekturdüsen am Maximum«, meldete sich Quentin, der den Kurs im Blick hatte.

»Fehler bei der Leistungsabgabe an den Hauptantrieben auf der Steuerbordseite. Axiale Stresswerte nähern sich strukturellen Stressgrenzen«, wartete Otis prompt mit einer Erklärung auf. »Wie es aussieht, scheinen die Plasmaumleiter nicht richtig umzusteuern.«

»Otis, fahren Sie die Leistung runter und versuchen die Hyperion wieder auf Kurs zu bringen. Notfalls initiieren Sie eine Schnellabschaltung«, ergriff Floyd das Wort und drückte parallel einen Rufknopf an seinem Kommandosessel. »Hier spricht der Captain, Bereitschaftswache auf die Brücke.«

Damit war für Max und Ronald die Freizeit zu Ende. Allerdings handelte es sich bei der Störung des Antriebs um ein echtes Problem, das ungelöst dazu führte, dass die Hyperion das Ziel verpassen würde.

»Quentin, du und Max seid unsere besten Navigatoren. Ihr rechnet mir eine klassische Bremslösung durch. Otis, du, der Chief und Ron, ihr sorgt dafür, dass der Antrieb mitspielt und die Hyperion dabei nicht in Stücke zerrissen wird.«

»Ähm, sagtest du klassische Bremslösung?«, wollte Quentin mit großen Augen wissen, als ihm klar wurde, was für ein Manöver Floyd plante.

»Yupp, wir werden die Hyperion wenden.«

Otis musste grinsend den Kopf schütteln, als er sah, dass Quentin richtig blass wurde.

Wende und Halse

»Er meint das ernst? Er meinst das wirklich ernst?«

Quentin konnte sich kaum einkriegen und zeterte auch noch rum, als Max und Ron die Brücke betraten. Ohne zu wissen, warum sie gerufen wurden und was sie erwartete, schlugen ihnen nur die Worte »Der meint das ernst!« entgegen.

»Was meint wer ernst?«, artikulierte Max seine und Rons Verwirrung.

»Gentlemen, bitte etwas mehr Professionalität!« Lt. Commander Otis Johannsons Stimme war laut und deutlich ermahnend. »Wir haben hier eine ernsthafte Situation zu bewältigen. Der Verzögerungsantrieb funktioniert nicht richtig. Bei etwa 65 Prozent Leistung beginnen die Antriebe zu divergieren und lassen die Hyperion nach Steuerbord ziehen.«

»Strukturelle Schäden?«

»Nein, die Stresswerte näherten sich zwar den konstruktiven Grenzen, blieben aber drunter. Im Moment ist der Antrieb aus, das heißt wir fliegen ungebremst weiter in Richtung Ziel«, ergriff Floyd das Wort und machte deutlich, wer das Kommando auf der Hyperion hatte. »Wenn wir das Schiff nicht bald abbremsen, werden wir das Ziel hoffnungslos verfehlen. Ich habe deswegen entschlossen, das Schiff klassisch zu verzögern. Wir werden die Hyperion wenden und mit den Haupttriebwerken bremsen. Mr. Harding und Mr. Friedrich, ihr rechnet das Manöver durch. Mr. Wolf und Mr. Johannson kümmern sich zusammen mit dem Chief um Antrieb und Strukturlasten. Danke!«

Manchmal braucht es eben klare Ansagen. Kaum hatte der Captain die Aufgaben verteilt, stürzten sich die beiden Teams in die Arbeit. Innerhalb weniger Augenblicke kehrte konzentrierte Ruhe ein, was Floyd die Gelegenheit gab, sich dem ruhig an einem Terminal im hinteren Teil der Brücke hockenden Jason zuzuwenden.

»Ich wusste gar nicht, dass du einen eigenen Arbeitsplatz auf der Brücke hast.«

»Ich benutze ihn selten«, erklärte der Chefinformatiker der Hyperion. »Nenn mich sentimental, aber im Kern fühle ich mich Hyp einfach näher.«

»Womit beschäftigst du dich gerade?«

»Ich versuche immer noch zu ergründen, wie das toxische Habitatprofil aktiviert werden konnte. Schau hier!«, Jason deutete auf eine Liste. »Dies sind alle im System hinterlegten Profile. Insgesamt sind es siebenundzwanzig Stück, die alle Aspekte eines Habitats von der Stärke und spektralen Verteilung der Beleuchtung über Temperatur, Druck, Schwerkraft und Zusammensetzung der Atmosphäre. Nur vier der siebenundzwanzig sind als lebensgefährlich gekennzeichnet. Dies sind die roten Einträge. Die gelben Habitatprofile können gesundheitliche Probleme bereiten, sind aber nicht direkt schädlich. Die grünen sind unproblematisch. Um ein gelbes Profil zu aktivieren, benötigst du eine spezielle Berechtigung, die nur die Leiter der wissenschaftlichen Abteilungen oder die Brückenoffiziere besitzen. Die roten lassen sich nur von Kommandooffizieren, wie Quentin, Otis oder dir auswählen. Ich hatte gehofft, über diese Berechtigung ermitteln zu können, wer für den Vorfall verantwortlich ist, doch das entpuppte sich als Sackgasse. Es war dein Büro, dein Terminal und eben auch deine Zugangsberechtigung. Ich bin ein wenig ratlos.«

»Hm«, erwiderte Floyd, dessen gekräuselte Stirn auf interessante Gedankengänge schließen ließ.

»Hm?«, wollte die singende Eidechse wissen.

»Ich bin mir noch nicht sicher, aber ich glaube, ich habe ein Idee, wer uns den ganzen Ärger bereitet«, meinte Floyd sehr leise. »Jason, ich möchte, dass du bis zum Abschluss des Wendemanövers hier bleibst. Danach kümmern wir uns um unseren Verräter.«

»Du machst das richtig gut.«

»Ähm, ich komme nicht ganz mit. Was meinst du?«

»Das hier. Die Art und Weise, wie du dein Kommando führst. Und glaub mich, ich sage das nicht nur, weil ich mit dir nachher in die Kiste springen will. Unser alter Captain war menschlich total in Ordnung, ein wirklich netter und cooler Typ. Sein Führungsstil war im Vergleich zu deinem aber klassisch. Alles sehr formal und sehr auf die Hierarchien bedacht.«

»Du willst also nachher mit mir in die Kiste springen?«, pickte sich Floyd den für ihn wichtigsten Punkt heraus.

»Worauf du einen lassen kannst!«, erwiderte Jason, deutete dann aber in Richtung der Offiziere. »Ich glaube, du wirst gebraucht. Deine Jungs scheinen einen Plan zu haben.«

Den hatten sie tatsächlich. Obwohl die Hyperion gezielt daraufhin konstruiert war, zum Bremsen nicht gewendet werden zu müssen, verfügte die Schiffskonstruktion über genügend strukturellen Spielraum, um ein klassisches Bremsmanöver durchzuführen. Allerdings wendet niemand ein viereinhalb Kilometer langes Schiff einfach so in voller Fahrt, weswegen das Manöver mehrfach mit verschiedenen Parametern durchsimuliert wurde. Floyd und die Brückenoffiziere ließen sich dann auch noch eine gute Viertelstunde Zeit, bis sie mit dem Ergebnis der Simulationen fertig waren und meinten, die beste Lösung gefunden zu haben.

In allen Modellrechnungen stach ein Manöver stets als beste Variante hervor. Bei ihr würde die Drehachse durch das Heck verlaufen, das heißt der Bug des Schiffs steuer- oder backbordseitig nach hinten schwingen. Chief Peterson meinte, dass dieses Ergebnis sehr plausibel sei, da es exakt der Masseverteilung der Hyperion entsprach. Trotz seiner beeindruckenden Länge konzentrierten sich neunzig Prozent der Gesamtmasse des Schiffs auf das Heck, da hier die Antriebseinheit mit der Arbeitssingularität untergebracht war.

»Lt. Wolf, wären Sie bitte so nett und übernehmen die Position des XOs und führen unser Manöver durch?«

Es mochte wie eine Frage klingen, war aber als zwar höfliche aber ebenso klare Anweisung des Captains zu verstehen. Während Lt. Ronald Wolf erblasste konnte sich XO Johannson nicht eines Schmunzeln erwehren. Offensichtlich meinte es Floyd ernst, als er davon sprach, Ron zum Commander zu befördern, sobald dieser seine notwendigen theoretischen und praktischen Qualifikationen nachgewiesen hatte. Mit ziemlich weichen Knien und ein wenig grünlich um die Nasenspitze trat der Delinquent an den Platz des XOs.

»Ablösung, Sir?«

»Ablösung gewährt, Leutnant.«

Otis tippte sich mit dem Zeigefinger symbolisch an seine imaginäre Offiziersmütze, räumte seinen Platz und nahm einen Standort seitlich von Floyd ein.

»Mr. Wolf, Sie haben das Kommando«, erklärte Floyd.

Die Brückenoffiziere warteten, waren aber professionell genug, ihren Freund nicht anzustarren. Jeder, der die Insignien eines Commanders trug, wusste, wie sich Ron im Moment fühlte.

»Bereit für Manöver entsprechend Simulation 7?«

Rons Stimme klang unsicher, zittrig und anfangs auch ziemlich leise. Allerdings hatte er dabei nicht mit seinen Freunden gerechnet, die professionell einer nach dem anderen die Bereitschaft ihrer jeweiligen Station meldeten. Antrieb, Navigation, Energieversorgung, Strukturüberwachung - sämtliche Anzeigen zeigten ein grünes »Go!«

»Mr. Harding, auf mein Kommando Start der Manöversequenz«, fuhr Ron schon ein wenig sicherer fort. »3…2…1…Start!«

»Sequenz gestartet. Sequenzrechner ist synchron«, bestätigte Quentin.

»Backbordsteuerdüsen zünden in 5…4…3…2…1…Zündung«, kam es von Max Friedrich.

»Mr. Johannson?«, wandte sich Ron an den XO. Von seiner anfänglichen Unsicherheit war nichts mehr zu hören.

»Strukturelle Belastung bei 18 Prozent.«

»Schiff giert«, gab Quentin kund, dass das Manöver begann seinen gewünschten Effekt zu zeigen.

»Brennschluss in 5…4…3…2…1…Manöverdüsen aus«, folgte die Statusmeldung von Max, der für die Triebwerksfunktionen zuständigen war. »Leistungsabgabe und Schub im vorberechneten Rahmen.«

»Bestätige«, kam es nun wieder von Quentin, »Giergeschwindigkeit entspricht ebenfalls dem vorberechneten Wert. Bremszündung in sieben Minuten ab… Jetzt!«

Mit der Zündung der Manöverdüsen war das Schiff in Drehung versetzt worden. Diese Drehung setzte sich natürlich auch nach Brennschluss fort. Dafür sorgte schlicht und ergreifend die gute alte Trägheit der Masse. Dies hieß aber auch, dass zum Ende der Drehung das Schiff durch eine gleichstarke Zündung der entgegengesetzten Manöverdüsen gestoppt werden musste.

»Gierwinkel 90 Grad. Schiff steht quer«, meldete Quentin. Dies bedeutete nichts anderes, dass die Hyperion mit der Längsseite in Richtung Ziel flog, wenn auch nur wenige Sekunden, da sich das Schiff natürlich weiter drehte.

»Bremszündung der Steuerborddüsen in 5…4…3…2…1…Zündung«, kam es erneut von Max Friedrich, doch kaum hatte er seine Meldung verkündet, ertönte ein durchdringendes Alarmsignal. Flinke Finger wieselten über diverse Kontrollen »Leistungsabfall bei Triebswerkseinheiten 5, 17 und 19«

Die Nummern der Triebswerkseinheiten der Hyperion folgten einem ebenso einfachen wie praktischem Schema, welches sich jeder leicht merken konnte. Ungerade Nummern standen für Steuerbordtriebwerke, während gerade denen auf der Backbordseite zugeordnet waren. Unabhängig von der jeweiligen Seite erfolgte die Nummerierung vom Heck zum Bug. Anders ausgedrückt befand sich Manövertriebwerk 1 hinten rechts.

»Okay, nehmen Sie die Leistung moderat weg und versuchen es mit den anderen Triebwerken zu kompensieren. Mr. Johannson, wie sieht die Strukturbelastung aus?«

»Erhöhte Stresswerte in der Mittelsektion. Werte steigen… und normalisieren sich wieder. Die Kompensation Mr. Friedrichs greift.«

»Ja, aber wir werden übersteuern«, gab Quentin seinen navigatorischen Kommentar ab. »Nach meinen Berechnungen werden wir 7 Grad zu weit drehen.«

Statt darauf zu antworten, griff Ron selbst zu einer Konsole und begann etwas durchzurechnen. Nach etwa einer Minute lehnte er sich zufrieden zurück.

»Sieben Grad? Sei's drum. Deswegen werden wir nicht mit einem weiteren Manöver gegensteuern und uns an die Zielmarke heranpendeln. Ich habe das durchgerechnet. Wir können den fehlerhaften Kurs mit den Haupttriebwerken kompensieren in dem wir die Leistungsabgabe leicht asymmetrisch einstellen. Das dauert zwar länger, minimiert aber den Stress auf die Schiffsstruktur und erlaubt es dem Chief, sich um die defekten Manövertriebwerke zu kümmern. Captain?«

Der angesprochene Floyd wedelte mit seinen Händen ab und schüttelte den Kopf: »Mr. Wolf, fragen Sie nicht mich. Sie haben das Kommando. Sie entscheiden. Wenn Sie der Meinung sind, den Kurs mit den Haupttriebwerken kompensieren zu können, dann machen Sie es so.«

»Okay. Mr. Harding, wie lange bis Gierende?«

»Eine Minute und siebenundvierzig Sekunden.«

So locker, wie Ronald seine Idee präsentiert hatte, fühlte er sich bei weitem nicht. Ganz im Gegenteil hätte er am liebsten an seinen Fingernägeln geknabbert. Was war nur in den Captain geraten, ausgerechnet ihm diese Aufgabe zu übertragen? Mit bangem Blick schielte der jüngste Offizier der Brücke auf die Daten seines Kontrollbildschirms. Die Gier- oder Drehgeschwindigkeit nahm kontinuierlich ab. Soweit war alles im grünen Bereich. Leider hatte das Schiff bereits zu weit gedreht. Eigentlich sollte der Bug eine exakte 180 Grad Drehung vollziehen. Inzwischen waren es aber schon 184,7 Grad und wurden immer mehr. Als die Drehbewegung endlich zum Erliegen kam, zeigte das Display 186,2 und damit immerhin noch ein klein wenig weniger als Quentin vorausgesagt hatte.

»Gierrate bei Null. Kursfehler +6,2 Grad«, machte es Quentin amtlich.

»Zündung der Haupttriebwerke vorbereiten. Lassen wir es langsam angehen. 20 Prozent Leistung. Zündung auf mein Kommando. 3…2…1…Zündung!«

»Haupttriebwerke haben gezündet«, bestätigte Max und fügte gleich hinzu. »Leistungsabgabe absolut homogen.«

»Danke, Mr. Friedrich. Ich übertrage Ihnen meine Berechnungen der asymmetrischen Leistungskurve. Sollten sie greifen, können Sie mit der Leistung langsam auf achtzig Prozent gehen. Je höher die Leistungsabgabe ist, desto schneller sollten wir wieder auf Kurs sein.«

Sekunden später waren Lt. Wolfs Parameter übernommen und aktiviert. Die Triebwerke begannen eine leicht asymmetrische Leistungsverteilung anzunehmen. Zuerst schien sich nicht viel zu tun, abgesehen davon, dass die Hyperion tatsächlich langsamer wurde. Max begann die Schubregler hochzuziehen, womit das atomare Feuer der Triebwerke erst richtig entfacht wurde. Gewaltige Kräfte waren am Wirken. Die Hyperion flog mit dem Heck voraus und stemmte sich quasi mit seinen Plasmaflammen gegen das Nichts vor sich.

»Es funktioniert«, rief Quentin, »wir ziehen auf unseren Ausgangskurs. Langsam, aber kontinuierlich. In etwas mehr als einer Stunde sollten wir wieder richtig liegen.«

»Besten Dank, Mr. Wolf«, ergriff Floyd das Wort. »Das war hervorragende Arbeit. Ron, du hast meine Erwartung mehr als erfüllt. Ich habe das schon mit Otis durchgesprochen. Wir haben geplant, dass du während dieser Mission deinen Commander machen solltest. Das Zeug dazu hast du, wie wir eben alle sehen konnten. Und bevor jemand auf falsche Ideen kommt, die Fehlfunktion der Manövertriebwerke war kein Test. Du hast gut reagiert und einen interessanten, unkonventionellen Weg gewählt. Gut, wenn ich auf die Uhr sehe, ist meine Wache vor einer Viertelstunde zu Ende gegangen. Meine Herren, Sie entschuldigen mich bitte. Mr. Harding, Sie haben die Brücke. Mr. Otis, würden Sie mich bitte begleiten. Jason, du auch.«

»Aye, Captain!«

Der Mörder ist immer der Gärtner

»Da kenn ich Ron seit Jahren…« Otis schüttelte verwundert den Kopf. »Der Junge hat ja richtig Talent.«

»Der Junge hatte wirklich Talent zum Navigator. Das ist mir schon mehrfach aufgefallen. Erinnerst du dich an den Kurs durch das Strahlungsfeld. Ron konnte nicht wissen, dass wir da einer Tachionenreflexion aufgesessen sind. Aber sein Kurs war optimal.«

Die drei Männer, Otis, Jason und Floyd, hatten gerade die Brücke verlassen und befanden sich nun auf dem Weg zu Floyds Unterkunft. Nach dem Vorfall mit dem giftigem Habitatprofil, bei dem Jason aus Floyds Unterkunft fliehen musste, gab es keinen Grund mehr, sein Überleben weiterhin geheim zu halten. Mehrere Besatzungsmitglieder hatten ihn bei seiner Flucht gesehen und auch ein paar Wissenschafter hatten danach seinen Weg gekreuzt.

»Ich bräuchte zwei Obermaate. Am besten bewaffnet.«

Diese Bemerkung ließ Otis rechte Augenbraue ruckartig in die Höhe schnellen und seinen Captain mit einem nachfragenden Blick bedenken. Doch der schwieg und zeigte nur ein sybillinisches Lächeln, woraufhin sich auch die linke Augenbraue des XOs hob.

»Es wird Zeit, dass wir die möglichen Kandidaten dieser netten kleinen Verschwörung zusammentrommeln. Wir treffen uns am besten in den Räumen Professor Cardigans. Die beiden Maate sollen Yamamoto mitbringen. Offiziell gilt er immer noch als Beschuldigter.«

Jetzt war es an Otis, ebenfalls hintersinnig zu schmunzeln, was auch noch anhielt, als die drei Männer Floyds Suite betraten. Hier angekommen verschwendete Floyd keine Zeit und begann sofort die betreffenden Wissenschafter anzurufen und zu einer »speziellen Besprechung, die sehr erhellend sein dürfte« einzuladen. Alle nahmen an und wirkten sogar ein wenig enttäuscht, als sie hörten, dass Floyd die Veranstaltung erst in eineinhalb Stunden stattfinden lassen wollte. Diese Zeit wollte und musste er sich für die Vorbereitung herausnehmen, etwa für so profane Dinge wie Sitzgelegenheiten, von denen es in CCs Büro nicht genug gab, über die Sitzordnung, bis hin zu einer speziellen Rückversicherung, die sich Floyd von Dr. Felicitas Rodriguez organisierte. Die Ärztin schaute nicht schlecht, als der Captain der Hyperion seinen Wunsch formulierte und zögerte, ob sie ihm das Gewünschte aushändigen sollte. Doch die Entschlossenheit, mit der er seinen Wunsch äußerte, gab schließlich den Ausschlag.

»Es ist nicht das stärkste Anästhetikum, aber das am schnellsten wirkende«, erläuterte Felicitas und reichte Floyd zwei Spritzen. »Bei einem durchschnittlich konstituierten Erwachsenen setzt die Wirkung innerhalb von zwei bis drei Sekunden ein. Spätestens nach sieben bis zehn Sekunden ist der Empfänger besinnungslos. Wenn Sie mir sagen könnten, wofür Sie das Zeug genau brauchen, könnte ich Ihnen vielleicht eine Alternative anbieten.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich es überhaupt brauche«, erklärte Floyd kryptisch. »Ich hoffe eher darauf, es nicht einsetzen zu müssen. Allerdings könnte es sein, dass mir keine andere Wahl bleibt. Es wäre aber gut, wenn Sie sich bereithalten könnten.«

»Für was bereithalten?«

»Wenn ich das nur wüsste…«


Bereits eine gute Viertelstunde vor dem eigentlichem Termin tummelte sich ein Großteile der eingeladenen Teilnehmer vor dem ehemaligen Büro der Cardigan. Die beiden Ingenieure Bangs und Buchanan waren in ihre Lieblingsbeschäftigung vertieft, sich verbal gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Während Louis Leclercs Team die beiden sich kabbelnden Wissenschafter mehr als kurzweiliges Unterhaltungsprogramm betrachtete und einige der jüngeren Mitglieder sogar begannen, Noten zu verteilten, wirkte auf Xenobiologin Naomi Cantrell das Verhalten ihrer Kollegen eher befremdlich, was sie dazu veranlasste, sich ein wenig räumliche Distanz zu verschaffen und ans andere Ende der Wartenden zu schlendern. Sie war es dann auch, die mit deutlicher Erleichterung aber ebenso deutlicher Verärgerung mit »Das wurde aber langsam Zeit« CCs Büro als Erste betrat, nachdem Otis die Tür zum Einlass geöffnet hatte.

»Captain, was soll das alles?«, polterte Bangs bereits los, während er sich zusammen mit Buchanan gleichzeitig durch den Eingang zwängte. Statt zu antworten zeigte Floyd nur freundlich auf die bereitstehenden Sitzplätze und wartete geduldig, bis alle darauf Platz gefunden hatten und ein wenig Ruhe eingekehrt war. Es war erstaunlich, wie laut und zuweilen unkultiviert sich die Wissenschafter gebärdeten, wo sie doch sonst immer sehr viel Wert auf standesgemäßes Auftreten legten.

»Ich danke Ihnen allen, dass sie bei ihren vollgepackten Arbeitsplänen so kurzfristig kommen konnten«, begann Floyd seine Rede mit ein paar wohlwollenden Floskeln. Von wegen vollgepackte Arbeitspläne – jeder im Raum wusste nur zu gut, dass die Rasselbande nach Neuigkeiten gierte. »Ich will Sie daher auch nicht länger als unbedingt nötig aufhalten. Ich habe dieses Treffen einberufen, weil Sie und Ihre Teams zu Wortführern unter den Wissenschaftern zählen. Ihren Meinungen wird vertraut. Ihnen wird zugehört, wenn es darum geht, Informationen auszutauschen. Genau das ist es, was ich jetzt brauche. In den vergangenen Wochen schossen Gerüchte und wilde Spekulationen um einen vermeintlichen Verräter in unseren Reihen ins Kraut. Genau in dem Moment als wir alle hofften, dass ein wenig Ruhe in die Gerüchteküche einkehrte, kam es zu einem tragischen Unfall in dessen Folge Professor Cardigan ums Leben kam und Professor singende Eidechse nur knapp dem gleichen Schicksal entrann.«

»Darf ich fragen, wie es dir gelungen ist, dem Tod von der Schippe zu hüpfen?«, wandte sich Professor Buchanan direkt an Jason. »Es hieß, dass eure Stasisanzüge versagten.«

»Ich bin in den Rechnerkern gesprungen. Die Wahl, entweder während des Überlichtsprungs püriert zu werden oder ein Bad in Hyps Kühlflüssigkeit zu nehmen, fiel mir nicht wirklich schwer.«

»Schlauer Junge«, lobte Bangs. »Das heißt aber, dass CC wirklich zu Brei verarbeitet wurde? Shit. Ich kann nicht sagen, dass mir der alte Drachen jemals sympathisch war, aber auf diese Art ins Gras zu beißen ist einfach nur Schei… bescheiden«, korrigierte der Ingenieur seine Wortwahl, nachdem ihm Naomi Cantrells pikierte Miene auffiel.

»Jedenfalls müssen die Gerüchte zu meinem Tod als übereilt betrachtet werden«, ergriff Jason erneut das Wort. »Obwohl sich jemand alle Mühe gab, mich von meiner irdischen Existenz zu erlösen.«

»Sie glauben doch nicht wirklich den Quatsch, dass es eine Verschwörung an Bord gibt?«, formulierte Naomi Cantrell ihren Unglauben in einer Frage.

»Ich befürchte doch«, ergriff nun Professor Leclerc das Wort. »Als Floyd vor ein paar Wochen zu mir kam und seinen Verdacht äußerte, es könnte eine Verschwörung geben, wollte ich es auch nicht glauben und habe sogar versucht, es Floyd wieder auszureden. Doch wie es aussieht, müssen wir diese Position überdenken.«

»Und in welcher Weise war dieser Verräter tätig?«, hakte Naomi mit deutlichen Spitzen in der Stimme, die ihre Skepsis unterstreichen sollten, nach.

»Es geht nach wie vor um das Thema der unzugänglichen Lagerräume auf Deck 8 Sektion G von denen wohl jeder an Bord zumindest gerüchteweise gehört haben dürfte«, erklärte Otis und fuhr fort: »Die anfänglich im Raum stehende Erklärung, es könnte sich um eine Fehlbedienung durch das Personal am Raumdock handeln, hat sich inzwischen als falsch erwiesen. Ganz im Gegenteil haben wir in den Logbüchern gezielte Manipulationen entdeckt, die uns genau solch eine Fehlbedienung glauben machen sollten. Aber wenn euch dies nicht als Beweis für eine Verschwörung reicht, solltet ihr euch Jasons Untersuchungsergebnisse hinsichtlich der Fehlfunktion der beiden Stasisanzüge anhören.«

»Sie wurden gehackt«, leitete der Schiffsinformatiker seinen Bericht ein. »Sowohl CCs als auch mein Anzug wurden mit einem manipulierten Betriebssystem versehen.«

»Der Wartungsmodus?«, fragte Professor Leclerc auf den Punkt.

»Genau«, bestätigte Jason. »Die Cardigan wollte dem Verschwörer über einen anderen Weg auf die Schliche kommen und schien dabei eine heiße Spur zu verfolgen, die wohl kurzfristig seine Identität enthüllt hätte. Ich war dabei, die veränderten Protokolldateien des Schiffs zu rekonstruieren und hätte den Verräter ebenfalls bald enttarnt. Beides muss ihm bekannt gewesen sein und ihn zum Handeln gezwungen haben. Wir stellten in seinen Augen eine unmittelbare Gefahr für ihn dar, die beseitigt werden musste.«

»Und, hattet ihr Erfolg?«, wollte Louis wissen.

»Was mich betrifft, nein, leider noch nicht. Die Daten wurden dermaßen fragmentiert, dass es noch Wochen dauern kann, sie zu rekonstruieren. Außerdem mussten wir Hyp in einen Diagnosemodus versetzen, der einen Großteil ihrer freien Rechnerkapazität in Anspruch nimmt. In wie weit die Cardigan Erfolg hatte, wissen wir nicht. Ihre Daten sind verschlüsselt. In wie weit es uns gelingt, sie wieder zu entschlüsseln kann ich ebenfalls nicht sagen. Wenn wir Pech haben, hat sie das Geheimnis mit ins Grab genommen.«

Noch während Jason seinen Bericht abgab, war Floyd aufgefallen, wie Professor Bangs sichtbar aufruckte, sich umsah, die Anwesenden mit seinem Blick durchging und im Kopf etwas durchzuzählen schien. Das Ergebnis dieser Überlegung schien ihn zufriedenzustellen, da sich seine grübelnde Miene nach ein paar Sekunden in eine selbstzufriedene verwandelte. Dass er sich nach Jasons Ausführungen zu Wort meldete, kam dann auch alles andere als überraschend.

»Captain, ich glaube, Sie sind mit Ihrer Einladung zu dieser Besprechung nicht ganz ehrlich gewesen.«

»Inwiefern?«, entgegnete Floyd amüsiert.

»Buchanan und ich haben die Stasisanzüge gebaut, die Jason und Louis konstruiert haben. Wir wissen, wie sie funktionieren. Genaugenommen trifft es auf jeden von uns zu. Sie haben genau diejenigen Personen eingeladen, die über das Wissen verfügen und die Gelegenheit besaßen, die Anzüge zu hacken. Einer von uns muss also der Verräter sein.«

»Stimmt das, was Bangs sagt?«, fragte die Cantrell scharf. »Halten Sie einen von uns für den Mörder CCs?«

»Ich befürchte, dass Professor Bangs die Sache exakt auf den Punkt getroffen hat.«

»Und wer ist es?«, rief nun Professor Louis Leclerc.

»Bitte Louis, lass das Versteckspiel«, erwiderte Floyd matt. »Wir beide, du und ich, wissen doch nur zu gut, dass du es warst, der die Cardigan auf dem Gewissen hat.«

Showdown im Nirgendwo

Damit hatte die Szene den Moment erreicht, in dem eine fallende Stecknadel beim Aufschlag auf dem Fußboden für ohrenbetäubenden Lärm gesorgt hätte. Fast jeder starrte den Captain der Hyperion fassungslos an. Mehr als einer schüttelte ungläubig seinen Kopf und bedachte, nachdem der erste Schock verflogen war, Floyd mit einem mitleidig, nachsichtigem Ausdruck, der wohl ausdrücken wollte, dass der Junge in ihren Augen deutlich übers Ziel hinausgeschossen war. Nur wer genau hinsah, konnte erkennen, dass Otis, Jason und Professor Yamamoto zwar ebenfalls entsetzt waren, sie aber nicht an Floyds Schlussfolgerungen zweifelten. Wenn Floyd derartige Vorwürfe erhob, dann auf keinen Fall leichtfertig, wie Yamamoto aus eigener Erfahrung wusste.

»Ich? Oh bitte, Floyd, mach dich nicht lächerlich.« Louis Leclerc reagierte als einziger im Raum amüsiert, konnte jedoch den aufkeimenden und nur mühsam unterdrückten Ärger in seiner Stimme hören, als er Floyd wie einen seiner Studenten zurechtwies. »Junge, du warst schon immer für spektakuläre und unkonventionelle Ideen berüchtigt. Aber wie früher, muss ich dich fragen, wo deine Beweise sind. Deine Beschuldigung scheint mir auf dünnen Beinen zu stehen. Ich glaube kaum, dass der Verschwörer seine Initialen in den manipulierten Stasisanzügen zurückgelassen hat. Ich hätte es nicht getan. Und wenn ich vorhin alles richtig verstanden habe, sind die Daten CCs verschlüsselt und ist es Jason noch nicht gelungen, die Logdateien der Hyperion zu rekonstruieren. Ich glaube, du solltest ein klein wenig vorsichtiger sein, mit dem, was du sagst. Unreife und haltlose Beschuldigungen können leicht zu unerfreulichen Konsequenzen für denjenigen führen, der sie erhebt.«

Statt auf die kaum verhohlene Drohung zu reagieren, bestand Floyds Antwort nur in zwei Worten, die aber ausreichten, dass sein alter Professor dann doch erblasste: »Habitatprofil 12«

»Habitatprofil 12?«, wollte nun Buchanan wissen.

»Sie haben sicherlich alle den Alarm vor ein paar Stunden gehört«, begann Floyd zu erläutern. »In verschiedenen Sektionen des Schiffs wurde Habitatprofil 12 aktiviert, so auf der Brücke, in meiner Kabine, aber auch in der Unterkunft Professor Yamamotos, den wir wegen eines Einbruchsversuchs in die Räumlichkeiten Professor Cardigans festgenommen hatten. Vielleicht ist es nicht allen bekannt, aber die Atmosphäre des Habitatprofil 12 ist für Menschen in Folge eines signifikanten Kohlenmonoxidanteils hochtoxisch. Derartige Profile können aus verständlichen Gründen nur von einem sehr kleinen Personenkreis aktiviert werden. Nun, diese Aktivierung erfolgte von der Konsole in meiner Unterkunft. Damit kamen eigentlich nur zwei Personen in Frage: Ich selbst und Jason singende Eidechse. Nun hegt keiner von uns beiden selbstmörderisches Gedankengut, was irgendwie nicht dazu passen wollte, dass sowohl Brücke als auch meine Unterkunft vergiftet wurden. Doch dann, mein lieber Louis, fiel mir dein Besuch in meiner Kabine wieder ein. Dein Klingeln hatte mich nicht nur unsanft geweckt, sondern mir auch keine Zeit gelassen, mir etwas Frisches anzuziehen. Während ich kurz duschen ging hast du in meinem Arbeitszimmer gewartet. Dort warst du eine gute Viertelstunde mit meinem Computerterminal allein, das ich, zu meiner Schande, nicht gesperrt hatte.«

»Stimmt, Du hast es mir wirklich leicht gemacht«, grinste Louis diabolisch.

»Dann geben Sie den Mord tatsächlich zu?« Professor Bangs rang mit seiner Fassung und auch sein Kollege und Fachpartner Buchanan schüttelte ungläubig den Kopf: »Dann hat Captain Grant wirklich recht und Sie haben die Mission die ganze Zeit sabotiert?«

»Oh bitte, Buchanan, wann hören Sie endlich damit auf, über Offensichtlichkeiten erstaunt zu sein?«, raunzte Leclerc seinen Vorsprecher an. »Aber in einem Punkt muss ich Ihnen widersprechen. Ich habe nichts sabotiert.«

»Ach nein?«, fauchte daraufhin Bangs, während Louis Teammitglieder mit ihren Stühlen langsam von ihrem Chef wegrückten.

»Ich glaube«, ergriff nun wieder Floyd das Wort, »dass der Vorwurf der Sabotage tatsächlich falsch ist, oder Louis?«

Der knurrte nur verächtlich, doch das anerkennende Funkeln in seinen Augen verriet, dass er trotz seiner Enttarnung von Floyd beeindruckt war.

»Ich bin sogar überzeugt«, fuhr Floyd fort, »dass unser verehrter Herr Professor alles daran setzte, um diese Mission zum Erfolg zu führen, auch wenn dies hieß, über Leichen zu gehen. Oh ja, die Cardigan und Jason töten zu wollen, war für dich eine rein logische Konsequenz. Du hast ihr Bedrohungspotenzial bewertet und entschieden, dass sie für deine Ziele eine Gefahr darstellen. Bleibt die Frage, welche Ziele dies sind. Louis, was befindet sich in den Lagerräumen in Sektion G, Deck 8, Einheiten G-8001 bis G-8027?«

»Das, mein lieber Floyd, werden du und alle anderen noch früh genug erfahren«, erwiderte Leclerc mit einer Selbstsicherheit als ob er niemandem außer sich selbst Rechenschaft schuldete.

»Mag sein, doch Sie, Professor Leclerc werden es nicht erleben. Packt ihn!«

Auf Floyds Zeichen sprangen die zwei Obermaate, um dessen Anwesenheit er Otis zuvor gebeten hatte, auf den verdutzten Leclerc zu und packten ihn an den Armen, sodass er sich nicht mehr rühren konnte.

»Willst du mich etwa umbringen?«, brüllte der Mann rasend vor Wut. »Nein, Floyd, das wagst du nicht. Du hast ja keine Ahnung, worauf du dich einlässt. Die Sache ist viel, viel größer, als du dir auch nur ansatzweise vorstellen kannst. Wenn du mich jetzt tötest, werden andere kommen, die ihre Aufgabe aber nicht so umsichtig angehen, wie ich es tat. Bist du dir sicher, dass du damit leben kannst, wenn das Blut aller hier an Bord an deinen Fingern klebt. Oh ja, dich werden wir am Leben lassen und der Öffentlichkeit als Sündenbock zum Fraß vorwerfen, wenn sie nach Rache giert.«

Mit diesen Worten hatte sich die Absetzbewegung um Leclerc deutlich beschleunigt. Sein Team, das heißt seine Mitarbeiter und Studenten hatten ihre Stühle gepackt und sich erst mehrere Meter entfernt wieder niedergelassen, wenn überhaupt. Ihr Professor stand allein inmitten des Raums, stramm gehalten von zwei kräftigen Maaten der Schiffsbesatzung, denen die Drohungen des Professors als zusätzlicher Ansporn diente.

»Louis, ich bin nicht wie du!« Floyd griff in seine Uniformjacke und holte die Spritze mit dem Anästhetikum hervor. »Als Captain habe ich das Recht, Bedrohungen für die Sicherheit des Schiffs, seiner Besatzung und Passagiere, auszuschalten. Mit welchen Mitteln ich dies tue, ist mir freigestellt. Die meisten anderen in meiner Situation würden wahrscheinlich nicht zögern, dich aus der nächsten Luftschleuse zu werfen. Ich halte solche Maßnahmen für barbarisch. Nein, Louis, ich werde alles dafür tun, damit dir auf der Erde der Prozess gemacht wird. Bis dahin wird dir niemand ein Haar krümmen, allerdings wirst du den Rest dieser Reise im Tiefschlaf verbringen.«

Woraufhin Floyd sehr effektvoll die Schutzkappe der Injektionskanüle der Spritze mit dem Betäubungsmittel entfernte und einer der Obermaate den linken Hemdsärmel des Professors hochschob.

»Mr. Harding, wären Sie so nett und binden Professor Leclerc den Arm ab, damit ich leichter eine Vene finden kann?«

»Aye Captain!«, rief Otis laut und griff den bereitgehaltenen Latexschlauch. Ein paar Sekunden später war der linke Arm abgebunden, eine schöne Vene gefunden und die geplante Einstichstelle desinfiziert.

»Bevor ich Sie jetzt in das Land der Träume versetze, würde mich noch eine Sache interessieren«, meinte Floyd und setzte die Kanüle an. »Wessen Bewusstsein befindet sich außer Louis noch in diesem Körper?«

»Ähm, Floyd…« Otis wirkte verstört und schien um den Geisteszustand seines Captain sehr besorgt zu sein, »ich glaube, jetzt schießt du ein wenig übers Ziel hinaus. Du hast Louis doch schon als den Verräter enttarnt. Aber was du jetzt andeutest ist…«

»Cognac?«, unterbrach Floyd den Redefluss seines XOs. »Louis, der Louis, den ich sehr gut kenne, verabscheut das Zeug. Wie formulierte er es vor ein paar Jahren sehr eingängig? Französische Bauernpisse? Komischerweise hat er mir genau diesen Stoff nicht nur vor ein paar Stunden nach CCs Unfall sondern auch vor ein paar Wochen angeboten.« Und an Louis gewandt: »Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder hat das parasitäre Bewusstsein in deinem Schädel schlampig recherchiert oder es war ein subtiler Hilferuf des wahren Louis, den ich leider nicht rechtzeitig erkannt habe. Otis, du bist Psioniker. Ich frage dich direkt: Ist es möglich, ein zweites oder wie ich es lieber nennen würde, parasitäres Bewusstsein in einem anderen zu installieren, dass dauerhaft oder zweitweise die Kontrolle über seinen Wirt übernimmt?«

Der psionisch begabte Offizier zögerte einen Moment und schaute fragend zu seinem Seelenpartner, ohne dabei ein Wort zu sagen. Floyd wusste inzwischen, dass die beiden einen Dialog führten, den niemand außer ihnen hören konnte. Allerdings ahnte er, welches Thema das Gespräch aller Wahrscheinlichkeit anschlug.

»Eine Implantation eines fremden Bewusstseins ist prinzipiell möglich«, gab Otis zögernd und in einem sehr abwägenden Tonfall zu. »Allerdings ist ein derartiger Vorgang alles andere als einfach und sowohl für den Wirt als auch den Gast nicht ungefährlich. Ganz im Gegenteil. Der entscheidende Punkt ist, dass sich ein Bewusstsein nicht duplizieren lässt. Alles, was in den Wirt übertragen wird, fehlt dem Original. Wenn deine Vermutung tatsächlich stimmen sollte, dass jemand die Kontrolle über Professor Leclerc übernommen hat, dann muss dieser Jemand so viel von seinem eigenen Selbst übertragen haben, dass sein eigener Körper als unbeseelte Hülle zurückgeblieben ist.«

»Hm«, meinte Floyd und wandte sich wieder an Leclerc, »meinen Sie nicht, dass es an der Zeit wäre, uns zu verraten, wer Sie sind?«

»Ich sage nur noch eins: Wenn Sie Ihren geliebten Louis zurück haben wollen, sollten Sie sich genau überlegen, wie Sie mit mir umgehen.«

»Darauf kann ich nur eins erwidern: Gute Nacht Mr. X!«, meinte Floyd und injizierte den Inhalt der Spritze in seiner Hand in die Armvene seines Doktorvaters.

Wie von Dr. Rodriguez prognostiziert, benötigte das Anästhetikum ungefähr sieben Sekunden, bis Louis Leclercs Körper besinnungslos in sich zusammensackte. Die zwei Obermaate fingen ihn sanft auf und legten in auf eine genau für diesen Zweck bereitstehende Trage.


»Stopp!«, rief Vizeadmiral Henderson. »Grant, das müssen Sie erklären. Woher wussten sie von der Implantationstechnik? Sie wurde bereits vom vorletzten Präsidenten als ultraviolett klassifiziert. Die illegale Anwendung ist mit höchsten Strafandrohungen bewährt.«

»Ich wusste rein gar nichts davon. Mir kam die Idee, nachdem mir Professor singende Eidechse einen Teil von sich und ich ihm einen Teil von mir schenkte. Das, was wir miteinander teilen, spielt sich nur auf einer fast unterschwelligen, unbewussten Ebene ab. Trotzdem ist es fast unvorstellbar intensiv, ohne dabei invasiv zu sein.«

»Was wollen Sie damit sagen? Worauf wollen Sie hinaus?«, hakte der Vorsitzende des Senatsausschuss, Senator Henry Willibal Waterman, nach.

»Das Stichwort hatte Jason, ich meine Professor singende Eidechse, gegeben, als er meinte, er wäre für die Aktivierung des Habitatprofils 12 verantwortlich, da es außer ihm und mir niemanden gegeben hätte, der Zugriff auf meine Konsole hatte. Plötzlich war mir klar, wer für alles verantwortlich war und dass Louis nicht Louis sein konnte. Ich weiß nicht, warum mir das mit dem Cognac nicht früher aufgefallen ist. Aber in diesem einen Moment machte es einfach Klick. Vor Commander Harding und Professor singende Eidechse habe ich noch nie mit Psionikern zusammengearbeitet. Doch habe ich durch die beiden Männer mehr über das Wesen der außersinnlichen Wahrnehmung erfahren, als in jedem Lehrbuch steht. Die Sache mit der Bewusstseinsimplantation war einfach nur eine fixe Idee. Dass ich damit ins Schwarze traf, war purer Zufall.«

»War es das wirklich?«


»Captain?« - Die Bordsprechanlage piepte.

Die Überführung Professor Louis Leclerc oder der Person, die seinen Kopf okkupierte, entwickelte sich erwartungsgemäß als echter Downer. Seine Enttarnung warf weit mehr Fragen auf als sie beantwortete. So wurde zwar das Wie geklärt, aber bereits beim Wer wurde es verschwommen. Es war zwar Louis Körper, aber nicht Louis. Ein Teil der Antworten steckte in seinem Körper, doch der lag aus verständlichen Gründen betäubt auf der Krankenstation.

»Captain?« - Quentins Ruf klang dringlich.

Buchanan, Bangs, Cantrell, Leclercs Team und selbst Yamamoto reagierten frustriert. Der Gedanke, einer von ihnen könnte ein Verräter sein, galt eigentlich als undenkbar und erforderte daher eine vollkommene Neubewertung der Situation. Irgendwie war die Luft aus der Besprechung, weswegen sie auch kurze Zeit später endete. Nur Otis und Jason blieben zurück und sahen Floyd sowohl fragend als auch ein klein wenig verärgert an.

»Du hättest uns einweihen können«, meinte Otis.

»Ich hatte gehofft, dass ich mich irre.«

»Dir liegt viel an Louis, oder?«, wollte Jason wissen.

»Er war mehr als nur mein Doktorvater. Zeitweise, als es mir nicht so gut ging, erfüllte er wirklich so etwas wie eine Vaterfunktion. Ja, mit liegt etwas an Louis. Wisst ihr, ob man ihn retten kann? Ich bin mir sicher, dass sein wahres Ich immer noch in seinem Schädel steckt. Es war der wahre Louis, der mir den Tipp mit dem Cognac gab.«

»Wir wissen es nicht«, gestand Jason ehrlich. »Wir könnten ein paar Dinge versuchen, aber wenn wir ehrlich sind, wäre das nur Stochern im Nebel. Und noch etwas. Es besteht die Möglichkeit, dass dieses Implantat über Verteidigungsmechanismen verfügt. Im schlimmsten Fall könnte es Louis Persönlichkeit vollständig zerstören und seinen Körper übernehmen. Oder wir zupfen an der falschen Synapse und es kommt zu einer irreparablen Hirnschädigung. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, ob ich dieses Risiko eingehen möchte.«

Mehr Fragen als Antworten - in einem Raumschiff weitab von Daheim und Zivilisation. Eingepfercht in eine Blechdose und umgeben von Verrat und Verschwörung und der tödlichen Leere des Raums, befiel Floyd die Urfrage aller Raumfahrer: »Was mach ich hier eigentlich?«

»Captain?« Quentins Ruf wurde nachdrücklich und riss Floyd aus seinen dunklen Grübeleien.

»Floyd hier, was ist denn?«

»Ähm, Entschuldigung, wenn ich störe, aber ich glaube ihr solltet so schnell wie möglich auf die Brücke kommen. Da ist etwas, was ihr euch dringend ansehen solltet«, erwiderte Quentin nervös.

»Wir sind schon auf dem Weg«, rief Floyd und machte sich mit Otis und Jason auf den Weg zum nächsten Turbolift. Eine Minute später quollen die drei Männer aus der Lifttür und betraten die Brücke. Auf dem riesigen und die Brücke bestimmenden Hauptbildschirm lief eine Filmsequenz, die nach den Informationseinblendungen an den Rändern von einer der vorausgeschickten Erkundungssonden stammte.

»Könnte mich bitte jemand kneifen«, flüsterte Jason. »Ich glaube nicht, was ich sehe.«

»Glaub es ruhig!«, erwiderte Quentin, der gerade dabei war, den Stuhl des Kommandanten zu räumen, damit Floyd darauf Platz nehmen konnte. »Es ist da.«

Auf dem Bildschirm war ein teils dunkles, teils im Sonnenlicht metallisch glänzendes Objekt zu erkennen, das nach den vom Sondencomputer eingeblendeten Bemaßungslinien gut 15 Kilometer lang und 5 Kilometer breit war.

»Das ist ein Schiff, ein Raumschiff, und es ist nicht von uns.«

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