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Drachenblut

7. Buch - Asche

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Sulogorn

Chrysalis

Flora PLUS, der ultimative Blumendünger mit der Kraft der Helden!
Flora PLUS – Gewonnen aus der Erde ruhmreicher Schlachtfelder! Getränkt mit dem Saft des Lebens!

Werbetext der Firma Flor-O-San

Stille …

Noch nie in seinem Leben hatte Uskav eine derartige Stille verspürt. Lärm, Geschrei, Gebrüll, Flehen, Kreischen, Wimmern. Es gab wohl keinen Laut, kein Geräusch, welches Uskav in den Jahren als General des Königs während einer Schlacht noch nicht vernommen hatte. Er hatte sogar eine private Theorie entwickelt, nach der jedes Gefecht, jedes Scharmützel, jede Schlacht ihren eigenen, unverkennbaren Klang besaß. Allen gemein war nur die Art der Geräusche. Jeder, egal ob Mensch, Elb oder Ork, der je eine Waffe geführt hatte und, unabhängig ob er dies freiwillig oder gezwungenermaßen tat, wusste, welcher Art diese Geräusche waren. Es war ein Klang, den man niemals wieder vergaß, der einen auch nach Jahren und Jahrzehnten nachts aus dem Schlaf aufschrecken ließ und verhinderte, wieder einschlafen zu können. Es waren Geräusche, die sich unlöschbar in die eigene Seele einbrannten: das metallische Klirren von Schwertern, das Sirren von Bogensehnen, das donnergleiche Hufgetrappel der Kavallerie, das Krachen von brechenden Knochen, die Schreie der Verletzten und das leise Wimmern der Sterbenden. Es waren Geräusche und Stimmen, die man vergessen wollte aber nicht konnte. Es waren die Geräusche, die einem lehrten, den Krieg zu hassen. Es war der Klang des Todes.

Doch diese Stille … Unwillkürlich und für einen Uruk mehr als ungewöhnlich hielt Uskav den Atem an. Diese Stille war um ein Vielfaches bedrückender, unheilvoller, ja, auf ihre Art sogar grausamer als jeder Schlachtlärm.

Die Steinbrenner hatten ganze Arbeit geleistet. Mit einem gleißenden Lichtblitz und einer unvorstellbaren Mischung aus Kreischen, Grollen, Pochen, Stampfen, Brechen und Krachen wurde die Stadtmauer Daelbars zermalmt. Manch ein Ohrenzeuge meinte, Zeuge des Weltuntergangs geworden zu sein. Die Steinbrenner pulverisierten das Mauerwerk, als wäre es trockenes Sandgebäck. Die unnatürliche Kraft, mit der das Bauwerk bis auf seine Grundfesten zerstört wurde, konnte man nicht nur hören, sondern sogar fühlen. Der Boden bebte. Schwere Stöße zwangen Freund wie Feind sich abzustützen, um nicht von den Füßen gefegt zu werden. Es folgte eine Druckwelle, die über die sich gegenüberstehnden Heere hinweg fegte. Rauch und Staub hüllte sie ein. Wie ein bleiches Leichentuch senkte es sich über die Landschaft.

Und dann wurde es still.

Der staubige Dunst aus zermalmtem Gestein senkte sich und gab den Blick auf das Schlachtfeld frei. Wo vorher eine massive Stadtmauer stand, ließ nur ein grauweißer Streifen zu Staub zerriebenen Mauerwerks die alte Wehranlage erahnen. Feind und Freund trennte nichts mehr voneinander. Zwei Heere, eins bestehend aus hunderttausenden Orks, das andere aus ein paar Tausend Menschen, einigen Elben und Gnomen und ein paar handvoll Drachen, standen sich gegenüber. Die Chancen konnten nicht ungerechter verteilt sein.

Es war die Stille der Verzweiflung, die Uskav verspürte. Diesem Heer konnte er nichts entgegensetzen. Wie viele Orks konnten er und seine Freunde besiegen? Ein paar Hundert? Natürlich. Ein paar Tausend? Vielleicht. Zehntausende? Mit viel Glück. Doch es waren hunderttausende! Hunderttausend Orks von denen jeder nur eine Aufgabe kannte, einen Lebensinhalt besaß: Töten!

Stille – Es war nichts zu hören. Kein Klirren einer unsicher gehaltenen Waffe, kein Schnaufen eines Pferdes, das die Anspannung seines Reiters verspürt, kein angespanntes Atmen eines Kriegers vor dem Kampf. Selbst der Wind hielt seinen Atem an. Nicht einmal ein Blatt raschelte leise im Lufthauch. Es war, als wenn die ganze Welt den Atem anhielt und lauschte.

Und plötzlich begriff Uskav etwas.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag: Er war frei! Uskav erschloss sich die volle Bedeutung des Begriffs Freiheit. Der Ort für diese Erleuchtung konnte absurder nicht sein, doch war sie umso wichtiger. Er, Uskav, ein Uruk, war frei! Kein König gab ihm den Befehl zu kämpfen. Dieser Kampf war sein Kampf! All die Gründe, die man ihm bisher mit auf den Weg gegeben hatte bevor er in eine Schlacht zog, soweit man es überhaupt für nötig befand, ihm irgendwelche Gründe zu geben, wirkten plötzlich lächerlich, klein, absurd und sogar verlogen. Wofür hatte er bisher gekämpft? Wofür hatte man ihn Kämpfen lassen? Für den König? War es sein König? Für die Freiheit Goldors? War es seine Freiheit? Für die Ehre? War es seine Ehre? Nichts davon hielt einem Vergleich zu dem, wofür er nun kämpfen würde, stand: Für seine Freiheit und sein Leben und für die Freiheit und das Leben derjenigen, die neben ihm standen und ihn als seinen Freund betrachteten. Niemand befahl Uskav zu kämpfen. Kein Kriegsgericht würde ihn verurteilen, sollte er versagen, so wie es die Gerichte Goldors zu tun pflegten. Uskav zog aus freien Stücken in den Kampf.

Natürlich war Uskav nicht frei. Er war seinen Freunden und seinen Mitbürgern gegenüber verpflichtet. Sie hatten ihn zu ihrem Präsidenten gewählt. Sie setzten all ihre Hoffnungen auf seine Kraft und Stärke. Ja, Uskav war nicht frei. Aber diese Art der Unfreiheit war eine ganz andere, als die Versklavung im Dienste des Königs. Diese Verpflichtung war eine, die Uskav frei und bei klarem Willen für sich selbst gewählt hatte. Als freier Uruk, als Uskav!

In diesem Bewusstsein hob Uskav sein Schwert. Wie ein Stern, der vom Himmel herabgefallen war, flammte Lokril in den Händen des Uruks auf. Der Schein des Feuers, dass in dem Stahl der Schneide wohnte, berührte die Daelbaner und drang in sie ein. Es war die Essenz Toldins, die in dieser Glut loderte. Jeder Drache, jeder Reiter verspürte die Präsenz des Drachens, der sein Leben gab, um Daelbar zu retten. Doch eingewoben in diese Präsenz übertrug sich auch Uskavs neu entdecktes Selbstbewusstsein, sein Stolz darauf frei zu sein und für die Freiheit einzutreten. Wie ein frischer Wind vertrieb sie die Angst und ersetzte sie durch eine tödliche Entschlossenheit: Daelbar mochte untergehen, doch auf keinen Fall kampflos.

»Lokril - Fackel der Freiheit!«, rief plötzlich Thonfilas und brach einen Bann, der nach den Steinbrennern über dem Heer von Daelbar gelegen hatte.

»Lokril!«, wiederholte Roderick. »Lokril!«, kam es von Blob, von Xurina, vom Zwerg Tom und von Benedict. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich der Schlachtruf durch das gesamte Heer, bis es wie ein einzige Stimme nur noch Lokril rief.

»Genug Pathos!«, knurrte Uskav, der bei aller moralischen Erleuchtung immer noch ein Uruk war, alles andere als leise »Ich glaube, wir sind hier, um den bösen Jungs den Hintern zu versohlen. Niemand überfällt ungestraft meine Stadt!«

Ein bitterböses Grinsen begann seine Lippen zu umspielen, das Roderick, der neben seinem Freund stand, eine Gänsehaut einjagte. Was für ein Glück, dass dieser Uruk auf seiner Seite war. Uskav wollte man nicht zum Gegner haben.

»Genau«, ließ sich Thonfilas vernehmen, der ganz unelbisch Uskavs Sarkasmus übernahm, »Prügeln wir den Typen etwas Anstand und Benehmen in den Schädel!«

»Worauf warten die eigentlich?«

Diese Frage war berechtigt. Die Stadtmauer war gefallen. Zwischen Daelbar und dem feindlichen Heer befanden sich nur die zahlenmäßig äußerst dünnen Grüppchen der Daelbaner. Eigentlich gab es keinen Grund für die Gegner zu warten. Der Weg war frei. Doch sie griffen nicht an. Sie bildeten nur eine geschlossene Linie, die sich über die gesamte Breite des Talkessels zog.

»Es ist eine Taktik«, erläuterte Uskav, »Die Heerführer wollen uns nicht einfach nur besiegen, sie wollen uns vernichten, erst seelisch, dann körperlich. Passt auf, ihr werdet gleich sehen, was ich meine.«

Noch während sich Uskavs Freunde fragten, was er meinte, setzte sich das Orkheer in Bewegung: Sie traten einen Schritt vor! Ein Schritt, dass mag lächerlich klingen, doch wenn einhunderttausend Paar Beine exakt gleichzeitig einen Schritt vorwärts schreiten, dann kommt dies einem kleinen Erdbeben gleich.

»Ich kenne diese Strategie«, erklärte Uskav, »Sie werden ganz langsam einen Schritt vor den anderen setzen und dazwischen ein paar Sekunden, vielleicht sogar ein paar Minuten regungslos verharren. Es soll uns zeigen, dass wir keine Chance haben. Sie werden uns überrennen, egal was wir tun. Noch bevor sie uns physisch erschlagen, wollen sie uns seelisch schlagen und uns die Hoffnungslosigkeit unserer Situation vor Augen führen.«

»Und warum grinst du?«, fragte Thonfilas, dem Uskavs verschlagener Gesichtsausdruck nicht entgangen war.

»Ach, grinse ich?«, fragte Uskav in sich hineinschmunzelnd, »Ist mir gar nicht aufgefallen. Ich mach’ mir gerade viel mehr Sorgen um meine kleine Narsul. Die Gute muss husten und speit dabei fürchterlich viel Rauch aus. Vielleicht sollte ich ihr einen Eukalyptus besorgen …«

»Narsul hat was …«, weiter kam Thonfilas nicht, dann wurden seine eh schon riesigen Elbenaugen noch größer, als der Funke der Erkenntnis ein paar verklemmte Neuronen in seinem Hirn auf Trab brachten.

»Bei allen Göttern, das scheint sich zu einer regelrechten Epidemie auszuweiten. Dein Drache fängt auch schon an«, wies Uskav Thonfilas breit grinsend darauf hin, dass Lindor plötzlich mit einen fürchterlichen Hustenanfall zu kämpfen hatte. Und als ob dieser eine Initialzündung gewesen wäre, begannen reihenweise Drachen mehr oder weniger stark zu husten und keuchen an. Bei Caransil kam es sogar zu einer Verpuffung, bei der eine Wolke grünlichen Plasmas die Nüstern der Echse verließ.


Weder erfuhren die Heerführer der feindlichen Armee etwas von diesem Dialog noch von den drachenspezifischen Zünd- und Verpuffungsproblemen. Zwar hatten Späher die Unterhaltung beobachtet und sogar mit einer Kombination aus magischem Fernrohr und Lippenlesekunst belauscht, doch zeigte die Heeresleitung keinerlei Interesse, dieser Information nachzugehen. Man war sich des Sieges einfach absolut sicher.

Dieser widerwärtige Verräter von einem Uruk hatte seinen Spaß gehabt. Sollte er doch glauben, er hätte mit seinen bisherigen Aktionen dem Heer einige schwere Schläge versetzt. Gut, zugegeben, sein taktisches und strategisches Können war gut, sogar überragend. Doch handelte es sich bestenfalls um kleine Nadelstiche, die am zwangsläufigen Ausgang der Schlacht nichts, rein gar nichts, ändern würden. Man hatte die besseren und vor allen viel, sehr viel mehr Männer!

»Seid ihr wirklich sicher?«, fragte Naszgrbak, einer der gegnerischen Heerführer, der wegen seiner schmächtigen Figur und seinem häufig grüblerischen Wesen von seinen Kollegen mehr toleriert, als respektiert wurde.

»Natürlich, Naszgrbak, du armselige Entschuldigung für einen Ork. Wer sonst könnte im Moment des Triumphs derart schwachsinnige Fragen stellen?«, höhnte Brazzak, der befehlshabende Heerführer.

»Ich kenne Uskav!«, entgegnete Naszgrbak ruhig und fest, wobei er den herablassenden Ton seines Vorgesetzten überging, »Ich habe bei General Uskav die Kriegskunst studiert. Schaut ihn euch an! Nehmt ein Fernglas und schaut ihn euch an und sagt mir, ob so jemand aussieht, der weiß, dass ihm der Tod bevorsteht.«

Statt zu einem Fernglas zu greifen, griff Brazzak zu einem Dolch und rammte ihn Naszgrbak in die Schulter: »Wenn ich noch ein Wort von dir höre, du schleimiges Exkrement, könnte es geschehen, dass meine Klinge sich an Stellen von vitaler Wichtigkeit für deinen Körper verirrt! Und wage es ja nicht, das Messer rauszuziehen!«

Naszgrbak sagte nichts. Wozu auch, sein Heerführer wollte nichts hören, was eigentlich nicht sonderlich überraschend war. Er war ein Uruk und dafür gezüchtet, jede ihm übertragene Aufgabe umzusetzen. Kritische Reflektion oder gar Zweifel sah die genetische Programmierung dabei nicht vor. Was Naszgrbak stattdessen verwunderte, war, warum er selbst derartige Zweifel hegte, obwohl er doch ebenfalls ein Uruk war.

Und er hegte Zweifel, massive Zweifel. Die ganze Operation war reiner Wahnsinn. Ein Heer von ein paar hunderttausend Orks auszusenden, um eine friedliche Stadt von der Landkarte zu tilgen und ein paar handvoll Flugechsen zu töten, machte in Naszgrbaks Augen überhaupt keinen Sinn, weder ökonomisch, noch strategisch und erst recht nicht politisch. Letzteres hatte mit dem geheimen Zusatzbefehl zu tun, den nur die Heerführer kannten. Wäre erst Daelbar ausradiert und jeder seiner Bewohner getötet, lautete der Befehl eine geheime Beschwörung auszuführen. Jedem General wurde dazu ein versiegelter Umschlag überreicht, der die Zauberformel enthielt.

Dieser Befehl hatte es in sich. Bewirkte die Beschwörung doch nichts geringeres, als dass die Körper der Orks, sämtlicher Orks des Heeres, spontan in Fäulnis übergingen und sich zersetzten. Dass die Betroffenen dies bei lebendigem Leibe erleben durften, war den Genetikern der Zuchtstation egal, in deren Sicht Orks sowieso nur Dinge waren, mit denen man anstellen konnte, was man wollte. Ein Zusatz, der die Orks vor ihrer Verwesung töten würde, wäre kompliziert zu entwickeln gewesen und hätte die Kosten deutlich in die Höhe getrieben, was jeglicher ökonomischer Vernunft widerspräche.

Warum stört mich das? war die simple Frage, die sich Naszgrbak immer und immer wieder stellte. Eigentlich durfte ihn der Gedanke nicht stören, eigentlich durfte er sich noch nicht einmal diese Frage stellen. Dies war in seinem Zuchtprogramm nicht vorgesehen. Stattdessen stellte er sich immer mehr äußerst unuruksche Fragen? Warum alle Drachen töten? Warum Daelbar schleifen? Wer profitiert davon? Welchem Zweck dient es? Wer steckt dahinter?

Die letzte Frage war mit Abstand die interessanteste. Nachdem man Naszgrbak und die andere Generäle vor ein paar Wochen in den Auftrag eingeweiht hatte, begann er diskret Nachforschungen anzustellen. Als erstes stellte sich die Behauptung, der Befehl käme direkt vom König als Lüge heraus. Um dies heraus zu finden, hatte Naszgrbak einige alte Kontakte am Hofe reaktiviert und ein paar Gefallen eingefordert. Niemand am Hof wusste etwas, dabei waren Naszgrbaks Kontakte sehr hochwertig und genossen sogar das Ohr des Königs. Stattdessen zeigten sämtliche Spuren in Richtung Tharbad und dort auf einen Zirkel hochrangiger Beamter, Kirchenfürsten und Wirtschaftsführer. Naszgrbak wusste eine Verschwörung zu erkennen, wenn er sie sah und das, womit man ihn beauftragte, war eine Verschwörung.

Die letzten Zweifel daran fegte schließlich der geheime Zusatzbefehl hinfort, die Orkarmee nach getaner Arbeit zu beseitigen. Die Körper der Orks würden sich zersetzen. Aber nicht nur die. Sämtliche Waffen, die Kleidung der Armee, alle Wagen und alles Kriegsgerät war so präpariert, dass sich die Beschwörung auch auf sie auswirkte. Jemand plante einen Vernichtungsschlag gegen Daelbar, der keinerlei Spuren oder Zeugen hinterlassen würde.

Keine Zeugen? Naszgrbak fragte sich, ob er der Einzige war, der begriff, was dies bedeutete. Jemand, der hunderttausend Orks tötet, würde nicht den Fehler begehen und am Ende bei den Heerführern Zurückhaltung üben. Nach der Schlacht, hätten sie alle ihre Nützlichkeit überlebt und waren Madenfutter.

Du bist anders! Naszgrbak begriff, dass sich etwas in ihm verändert hatte. Er wollte und konnte dem Befehl nicht folgen. Du bist wie Uskav! War er es wirklich, ein Verräter? Oder war Uskav das Gleiche widerfahren? Waren auch Uskav Zweifel über die Rechtmäßigkeit seiner Befehle gekommen?

Du bist anders! – Die Erkenntnis setzte sich mehr und mehr in Naszgrbaks Geist fest. Sein Kommandeur war nicht dumm, er kannte die Befehle genau so gut wie Naszgrbak selbst und musste zur gleichen Erkenntnis gekommen sein: Am Ende der Schlacht würde sie alle sterben. Doch Brazzak schien dies nicht zu stören, sondern es sogar als finalen Triumph anzusehen. Naszgrbak konnte im Tod keinen Triumph mehr erkennen, weder in dem seiner Mitbrüder, noch im sinnvollen Tod der Drachen und ihrer Reiter und am allerwenigsten in seinem eigenen. Naszgrbak wollte nur noch eins sein: ein freier Uruk.

Showdown

»Wir sind der Oberbefehlshaber unserer königlichen Streitkräfte. Niemand wird jemals einen Befehl ausführen, den Wir nicht gegeben haben.«

König Antharon von Goldor II

»Oh ja, ich bin es. Dein alter Freund Eusebius Markendorfer!«, verkündete Eusebius Markendorfer mit sicht- und hörbarem Triumphgefühl, »Suman, mein alter Freund, wir haben uns viel zu lange nicht mehr gesehen. Freust du dich auch so sehr wie ich?«

»Ich bin begeistert«, entgegnete Suman zurückhaltend. Sein Verstand wusste nicht so recht mit welcher gruseligen Erkenntnis er sich als erstes beschäftigen sollte. Auf der von Sumans PDA gepflegten imaginären Liste potentieller Erzfeinde belegte Eusebius Markendorfer eher einer der hinteren Plätze, was, wie sich nun zeigte, einer eklatanten Fehleinschätzung gleich kam. Markendorfer war ein Erzfeind oder präziser, der Erzfeind. Er hatte nicht nur Suman in seine Gewalt gebracht, sondern war nebenbei auch im Begriff, Daelbar von der Erdoberfläche zu radieren, während er gleichzeitig Ole Olson, Ivo, Anger und mich in eine Falle tappen ließ. Wenn sich jemand mit dieser Leistung nicht als Erzfeind Nummer 1 qualifizierte, wie dann?

Suman verfluchte plötzlich gefesselt zu sein. Liebend gerne hätte er sich am Kopf gekratzt und seinem Hirn auf die Sprünge geholfen. Das hieß nicht, dass Suman prinzipiell damit einverstanden war, in einer Folterkammer an Händen und Füßen festgekettet zu sein. Allerdings entsprach dies vermutlich den allgemeinen Konventionen für Gefangene und war somit situationsbedingt unvermeidlich. Trotzdem, sich kratzen können, wäre verdammt hilfreich gewesen.

Dabei entsprang der Wunsch sich am Kopf kratzen zu wollen keinem physischen Juckreiz sondern einem psychischen. Sumans Unterbewusstsein wollte ihm auf diese indirekte Weise etwas mitteilen. Die Frage war nur: was?

»Das freut mich!«, erwiderte Markendorfer Sumans Bemerkung. Der fette Mann schnappte sich einen dreibeinigen Hocker, stellte ihn in etwa eineinhalb Meter Entfernung direkt vor Suman hin und setzte sich drauf.

»Ich würde lügen, würde ich sagen, dass mir dieser Anblick nicht ausgesprochen gefallen täte«, begann Markendorfer. Das Jucken in Sumans Schädel nahm zu.

»Ich enttäusche Sie hoffentlich nicht, wenn ich von mir nicht das Gleiche behaupten kann?«, begann Suman auf Markendorfers Unterhaltung einzusteigen.

»Aber bitte, nein, natürlich nicht«, billigte Markendorfer zu, »Mir ist ihre Lage durchaus bewusst. Zu wissen, dass alle meine Freunde den Tod finden werden oder inzwischen gefunden haben dürften, ist sicherlich wenig erbauend, aber trösten Sie sich, mein Freund, Sie werden sich ihnen bald anschließen.«

Unter Trost stellte sich Suman etwas anderes vor, doch musste man wohl akzeptieren, dass mache Leute andere Sichtweisen vertraten. Allerdings war Trost in jenem Moment auch nicht, wonach es Suman im Moment verlangte. Ihm schwebten eher Begriffe wie Rache und Vergeltung vor. Außerdem fand er es an der Zeit, einen Kassensturz zu machen. Wie sah seine Lage wirklich aus?

Zuerst das Offensichtliche: Er war ein Gefangener, doch war er Markendorfers Gefangener. Der Anschein sprach dafür, aber der konnte täuschen. Gleiches galt für Daelbar und seine Freunde. Was hatte er auf dem Bildschirm wirklich gesehen? Einen Steinbrennerangriff auf die Stadtmauer von Daelbar. Doch waren die Bilder echt? Suman erinnerte sich daran gehört zu haben, dass sich Bilder der Scann-O-Matic Augen nachträglich verändern ließen. Vielleicht spielte ihm Markendorfer nur etwas vor, um seinen Widerstand zu brechen. Das gleiche galt für die Bilder von Ole, Ivo und mir. Wobei Suman nicht wusste, dass Ivo Ivo war, da er seine menschliche Gestalt noch nicht kannte.

Doch selbst wenn die Bilder die Wirklichkeit zeigten, zeigten sie dann auch die Wahrheit? Es machte keinen Sinn darüber nachzudenken. Verzweiflung und Trauer waren keine guten Ratgeber. Markendorfer spielte Psychospielchen mit Suman, was eigentlich nur bedeuteten konnte, dass er sich seiner Sache nicht ganz so sicher war, wie er vorgab zu sein. Das ganze gestelzte Gelaber Markendorfers war eine einzige Nebelkerze. Und wieder juckte es Suman auf dem Schädel, stärker denn je.

»Ich habe so etwas befürchtet«, entgegnete Suman mit ausgesucht nonchalanter Stimme, »Ich vermute, mein Ableben wird nicht sonderlich angenehm sein, oder?«

»Alles eine Frage des Standpunktes, mein Guter. Ich werde sehr viel Spaß dabei haben«, jubilierte Markendorfer, um dann mit geheuchelter Anteilnahme fortzufahren, »Aber ich gebe Dir recht, Du wirst es vermutlich weniger angenehm empfinden, weswegen mir die Sache umso mehr Freude bereiten dürfte.«

Markendorfer erfüllte in Sumans Augen schon immer alle Attribute eines ausgemachten Ekelpakets. Er war fett und zeigte stets eine ungesunde Hautfarbe, die einen immer an kleine Ferkel denken ließ, was meist zu einem schlechten Gewissen gegenüber den Ferkeln führte. Die Borstentiere waren weitaus sympathischer als Eusebius. Und deutlich sauberer. Markendorfer pflegte zum Thema Körperhygiene eine eher laxe Einstellung, was seine Kleidung mit einschloss. Nach einem Aufenthalt Markendorfers im Gildehaus von Xengabad bestand regelmäßig die Notwendigkeit das von ihm genutzte Gästezimmer einer anschließenden Grunddesinfizierung zu unterziehen. Anders war dem säuerlichen Geruch, den Zimmer und Einrichtung regelmäßig bei ihm annahmen, nicht beizukommen.

Wie hab’ ich es nur ausgehalten, mit diesem Kotzbrocken zu schlafen? fragte sich Suman rein rhetorisch. Er wusste die Antwort. Das Geheimnis bestand in einem Zauberspruch, der auf die eigene Person angewendet, jegliches Ekelgefühl beseitigte.

»Wie mir scheint, halten Sie alle Trümpfe in der Hand«, schmeichelte Suman Markendorfers Ego, wobei er, ohne den passenden Zauberspruch, arg mit aufkeimender Übelkeit zu kämpfen hatte, »Nun, da mein Schicksal besiegelt scheint, erfüllen Sie mir doch eine Bitte, ja?«

Markendorfer sog Sumans Bauchpinselei wohlwollend auf: »Ja?«

»Worum geht es bei alle dem? Warum Daelbar? Warum Vaughan, Boldin und Szwang? Was ist ihr Ziel?«

Statt direkt zu antworten, zog Markendorfer eine abschätzige Grimasse, riss Suman mit unerwarteter Brutalität die Kleider vom Leib, schnappte sich eine neunschwänzige Peitsche und versetzte ihm zehn Hiebe. Suman wollte losbrüllen, doch seine Gildemeisterausbildung ging tiefer als der Schmerz. Suman riss sich zusammen, bis sich auf die Lippen und stöhnte nur leise. Nachdem sich Markendorfer ausgetobt hatte, konzentrierte sich Suman und fragte mit ausgewählter Höflichkeit: »Entschuldigen Sie, ich wollte Sie mit meiner Frage nicht …«

Weiter kam Suman nicht. Markendorfer begann Suman mit seinem fetten Wurstfingern sanft die Wange zu streicheln: »Suman, bitte … Für wie blöd hältst du mich? Wenn du vorerst weitere Bestrafungen vermeiden möchtest, dann versuch bitte nicht, mich für dumm zu verkaufen, ja? Glaubst du ernsthaft, ich weiß nicht, was dieser Verräter Vaughan deinem Liebling zugesteckt hat? Vaughan … Eigentlich habt Ihr die Vernichtung Daelbars ihm zu verdanken. Dieser arrogante, überhebliche Mensch. Wie konnte er glauben, dass ich mir die Pläne nicht zurückholen und jeden töten würde, der mit ihnen in Kontakt kam?«

»Klingt ein klein wenig extrem, oder?«, wandte Suman ein und bereute es sofort, als Markendorfer erneut zur Peitsche griff. Doch statt ihre Enden auf Sumans Körper niedersausen zu lassen, legte er sie nur um seinen Hals: »Wieso? Korrigiere mich, Suman, aber verlangt eure Omegadirektive 2 nicht das Gleiche?«

In Sumans Hirn macht es fast hörbar Klick, als ihm klar wurde, worum es Markendorfer ging: »Die Beschwörungsglyphen! Sie wollen das namenlose Böse zurück in diese Welt bringen. Markendorfer, sie sind wahnsinnig! Das kann nicht ihr Ernst sein. Es wird sie ebenso vernichten wie alle anderen auch.«

»Oh du kleiner dummer Mensch …«, lachte Markendorfer, »Hast du es immer noch nicht begriffen. Nun ja, dass kommt noch.«

Immer noch nicht begriffen? Sumans Verstand arbeitete auf Hochtouren oder hätte auf Hochtouren gearbeitet, wäre da nicht dieses nervige Jucken gewesen. irgendetwas stimmte nicht, wollte einfach nicht zusammen passen.

Irgendetwas stimmte nicht! Das war die Antwort! Suman begriff, was ihn die ganze Zeit irritierte: Markendorfer. Dieser Markendorfer sah aus wie Markendorfer, stank wie Markendorfer, war fett wie Markendorfer und trug die gleiche siffige Kleidung wie Markendorfer. Doch er sprach nicht wie Markendorfer. Der Mann, der ihm gegenüber stand, wirkte gebildet, intelligent, dachte taktisch und schien in der Lage zu sein, Strategien zu entwickeln. Keines dieser Wesenszüge hätte man ernsthaft mit jenem Eusebius Markendorfer in Verbindung gebracht, den Suman kannte, denn jener zeichnete sich durch einen Intelligenzquotienten knapp über der Raumtemperatur aus.

Markendorfer galt nicht unbedingt als Mann großer Worte, sondern eher in seinem Vorgehen als ausgesprochen straight. Wo andere Geschäftsleute Strategien und Gegenstrategien entwickelten und versuchten, durch geeignete Manipulation ihr Gegenüber dazu zu bringen, das zu tun, was man von ihnen wollte, krempelte Markendorfer einfach seine Ärmel hoch und ließ Fäuste sprechen; nicht persönlich, das verbot schon sein Übergewicht, doch hatte er seine Leute. Hier und da ein gebrochener Arm oder, wenn die Botschaft nicht verstanden wurde, ein Loch im Schädel, wirkt zuweilen weit überzeugender als tausend Worte.

Dieser Markendorfer sprach nicht nur intelligent, er konnte sich sogar gewählt artikulieren, was bedeutete, dass er entweder ein begnadeter Schauspieler war, der seiner Umwelt seit Jahren erfolgreich die fette Dumpfbacke mimte, oder aber jemand anderes hatte Markendorfers Platz eingenommen und gab sich für ihn aus. Wie dies technisch möglich sein konnte, war Suman noch nicht klar, doch akzeptierte man es als Arbeitshypothese, begann die ganze Sache plötzlich Sinn zu machen: Plante man eine großangelegte Verschwörung, wie die Wiedererweckung des namenlosen Bösen, kreuzte man fast zwangsläufig Markendorfers Bahnen. Offiziell betrieb er einen Großhandel für Technologiegüter. Man könnte ihn aber genau so gut als Schmuggler der obersten Kategorie bezeichnen. Es war bekannt, dass Markendorfer alles besorgen konnte, entscheidend war nur, dass man keine Fragen stellte und wie viel man bereit war zu zahlen.

Suman und sein PDA-Implantat gingen nochmals alle Informationen über Markendorfer durch. Wieso war das bisher noch niemandem aufgefallen? Wenn man Markendorfers bekannte und vermutete Kontakte betrachtete, entfaltete sich das Bild einer fetten Spinne in ihrem Netz. Er unterhielt sowohl Verbindungen zur Kirche der unifizierten Technokratie wie zur unabhängigen technischen Union. Seine Kontakte reichten bis weit in den königlichen Hof. Sogar die Gilde pflegte Geschäftsbeziehungen zu Markendorfer, wenn man auch ungerne darüber sprach und es noch ungerner zugab.

»Die Spinne im Netz …«, murmelt Suman und rechnete fast mit neuen Schlägen, doch stattdessen erntete er ein zufriedenes Lächeln.

»Obwohl ich den Vergleich mit einer Spinne als nicht sonderlich schmeichelhaft empfinde, so ist er im Großen und Ganzen zutreffend«, benebelt von seinem vermeintlich alles überragenden Intellekt begann Markendorfer dermaßen selbstzufrieden und triumphierend zu lachen, dass jeder Erzschurke eines Schmierenromans vor Neid verlangt hätte, aus seiner Geschichte herausgeschrieben zu werden.

»Oh, wie köstlich hat mich eure Selbstüberschätzung amüsiert«, schwelgte Markendorfer, »Eure maßlose Arroganz hat euch dermaßen blind gemacht, dass es fast schon peinlich leicht war, euch dazu zu bringen, das zu tun, was ich wollte. Der König: Ab und zu eine kleine, zufällige Bemerkung hier und da, um seine Panik vor einer Invasion zu schüren, und schon marschierten seine Truppen in die richtige Richtung. Er glaubt immer noch, die Macht über das Reich in seinen Händen zu halten, dabei sind es seine Minister, Generäle, Berater aber insbesondere die unterbezahlten Beamten, die die wirkliche Macht besitzen, Dinge in Bewegung zu bringen. Es ist überhaupt nicht nötig, einen König zu beeinflussen, wenn einem seine Beamten aus der Hand fressen. Nur die Päpstin war noch leichter zu manipulieren: Ihr Wunsch alles und jeden kontrollieren zu können, öffnete mir fast jede Tür.«

»Die Gilde? Daelbar?«

Diese Fragen quittierte Markendofer mit einem mildtätigen Blick, der andeuten wollte, dass er sich so leicht nicht austricksen ließ, um dann, den Kopf leicht abwinkelnd, doch noch zu antworten: »Nun gut, was soll’s, du wirst kaum noch die Chance besitzen, etwas von deinem Wissen auszuplaudern. Ach ja, warum dir nicht alles erzählen? Es gibt ja sonst niemanden, den ich an meiner Genialität teilhaben lassen könnte.«

Suman ertappte sich plötzlich bei dem verwegenen Gedanken, Markendorfer zu bitten, mit der Folter zu beginnen, da diese vermutlich weniger quälend wäre, als sich seine unerträgliche und selbstgefällige Überheblichkeit anhören zu müssen. Allerdings widerstand Suman dem Versuch, diese Idee laut auszusprechen.

»Ich muss gestehen, Ihr Gildejungs wart eine wirklich harte Nuss«, begann Markendorfer, »So viel penetranter Aufrichtigkeit und Integrität auf einem Haufen, ist wirklich nicht leicht beizukommen. Aber wo es vor Tugenden wimmelt, sind die Laster nicht fern. Oh ja, ich weiß, dass ihr, du und dein Freund, Graumeister seid. Ich weiß auch, dass Erogal D’Santo den Grad eines Großmeisters belegt. Es war schon sehr schlau von euch, sich nicht auf die modernen Wege der Kommunikation zu verlassen. Datenpads, die kann ja fast schon jeder Ork abhören. Ja, ja, eure Meisterbücher waren eine echte Herausforderung und ich muss gestehen, dass es mir nie gelungen ist, den Inhalt einer eurer Unterhaltungen in Erfahrung zu bringen. Allerdings war dies auch überhaupt nicht nötig. Womit ihr nämlich nicht gerechnet habt ist, dass mir zwar das Was nicht aber das Wer verborgen blieb. Boldins Wissenschaftler sind schon schlaue Köpfe. Ist es ihnen doch tatsächlich gelungen, ein Gerät zu entwickeln, mit dem man eure Meisterbücher anpeilen kann. Als ich schließlich wusste, wer in welchem Haus ein Meister war und wer nicht, war es ein Leichtes, euch von innen heraus zu zerstören.«

»Ja, ja, die Gildemeister«, fuhr Markendorfer fort, »In der Öfentlichkeit spielt ihr immer die Unauffälligen. Mal ist es ein Sekretär, dann ein Butler oder wie du, ein Zimmerboy. Den Betrieb eurer Häuser überlasst ihr den Präfekten, kleinen Halbgöttern ohne wirkliche Macht und darüber sehr frustriert.«

Suman ahnte, worauf es in Markendorfers im munteren Plauderton vorgetragenen Bericht hinaus lief. Schließlich hatte er es selbst erlebt. Der Präfekt seines Heimatgildehauses in Crossar, der Repräsentant in Xengabad, ja selbst der Präfekt in Minas Rochsir waren Männer, die unbewusst zu Arroganz, Überheblichkeit und Selbstgefälligkeit neigten. Suman empfand es schon damals als einen Fehler, die Leiter der Häuser wie mächtiges Gildepersonal wirken zu lassen, ihnen häufig freie Hand beim Wirtschaften und Bewirtschaften der Häuser zu geben, um dann, zumeist aus wichtigen Gründen, ihnen nicht erklärte Befehle zu erteilen, die sie einfach frustrieren mussten. Es war ein offenes aber nicht öffentlich diskutiertes Geheimnis, dass manche Präfekten ihr eigenes Ding durchzogen und die Gildemeister nur als lästiges Übel empfanden.

»Gerade eure Präfekten zeigten sich sehr empfänglich für diskrete Geschäfte. Waren sie doch davon überzeugt, dass es ihren Einfluss auf die Weltpolitik steigerte. Dabei war es genau umgekehrt. Hier ein Wort von mir, dort eins meiner Vertrauten, vielleicht mal ein besonderes Geschenk oder ein kleines Geheimnis des Gegners und schon lief euer ganzer Verein in die Richtung, in die ich euch haben wollte.«

»Und Daelbar?«

»Daelbar?«, man konnte sehen, dass Markendorfer versuchte seine Verärgerung zu verbergen, doch blieb es beim Versuch, »Ich habe zwar meine Spione in der Stadt, aber die verfluchten Drachen scheinen es zu riechen, wenn man sie belügt oder versucht auszuhorchen. Verdammte Flugechsen … Nun, da sie sich als wenig nützlich erwiesen habt, blieb mir nichts anderes übrig, als sie zu entsorgen.«

Markendorfer hatte Recht, als Drache konnte man seine Lügen riechen. Suman war ein Drache und es stank penetrant nach Lüge. Daelbar mochte für Markendorfers Zwecke wenig nützlich sein, aber das war nicht der Grund, warum er die Stadt und ihre Bewohner auslöschen wollte. Markendorfer hatte Angst. Suman wagte sogar die Hypothese, dass er Daelbar sogar fürchtete, weil sie, genau genommen ihre Bewohner, wohl die einzigen waren, die Markendorfer stoppen konnten.

»Es wird nicht funktionieren!«, wagte Suman eine Provokation, »Gegen Daelbar zu ziehen, war ein Fehler. Alle werden Angst vor einer Macht bekommen, die es gegen unsere Stadt aufnimmt und diese Angst wird selbst Gegner einen. Sie mögen uns besiegen, aber wenn sich die Kirche, Gilde, der König und sogar die U.T.U. zusammen schließen, haben Sie eine Streitmacht gegen sich, der sie nicht widerstehen können. Alle Ihre Ränkespiele werden auffliegen.«

Markendorfer grinste, was Suman einen eisigen Schauer einjagte. Der Wahnsinnige schien nichts von dem, was Suman prophezeihte, zu befürchten.

»Suman, mein Freund«, begann er, »Du magst ein schlauer, sogar sehr schlauer Kopf sein, aber dein Hirn und dein PDA-Implantat sind leider nur so gut, wie die Informationen, über die ihr verfügt. Ich möchte dir etwas zeigen.«

Auf ein Zeichen Markendorfers wurde ein Ork in die Folterkammer geführt und einige Meter vor Suman festgekettet.

»Pass jetzt gut auf!«, bemerkte Markendorfer bevor er zu einem Pergament griff und eine Beschwörungsformel davon ablas. Was dann passierte, ließ Suman erschüttern. Es begann im Gesicht des Orks: seine Haupt bekam Blasen, begann sich blubbernd und rauchend zu verflüssigen und zu Boden zu tropfen. Der Ork begann vor Schmerzen zu brüllen, dass es Suman fast die Trommelfelle zerriss. Innerhalb weniger Minuten zersetzte sich der Ork, wobei er selbst für ein Wesen wie ihn unerträgliche Qualen erlitt. Am Ende blieb nur etwas Asche zurück, doch selbst die löste sich beim leisesten Lufthauch in nichts auf.

»Ach ja! Der gute Boldin beschäftigt wahrlich begnadete Genetiker. Was ein kleiner intellektueller Schubs in Form einer überraschenden archäologischen Entdeckung alles bewegen kann. Nun ja, die archäologische Entdeckung gab es nie, aber es schien als Erklärung zu reichen, als ich Boldins Leuten ein paar alte Zuchtrezepte und Beschwörungen überreichte. Der Rest war pure Adaption. Das Orkheer, das gerade deine Stadt einäschert, wird sich nach getaner Arbeit genau so in Luft auflösen, wie unser Freund eben. Nett was?«

Suman hielt wenig davon Leben zu nehmen. Er war zwar dazu in der Lage, verabscheute diesen Teil seines Lebens als Drachenreiter und Gildemeister aber. Allerdings gab es Ausnahmen und Markendorfer hatte es soeben an die Spitze dieser Ausnahmen geschafft.

Drachenfeuer

Regel 1 der Kriegskunst: Es gibt keine Regeln.
Regel 2 der Kriegskunst: Sollte es doch welche geben, ignoriere sie.

Handschriftlicher Kommentar in einem Lehrbuch der Kriegskunst, Urheber unbekannt

»Wie lange sind sie jetzt drin?«

Man musste kein Drache sein, um die Nervosität in den Gesichtszügen Tingalens zu erkennen. Die Drachendame wippte unruhig von einer Klaue auf die andere.

»Eineinhalb Stunden«, antwortete Mithval, »Ich weiß, du hast Angst. Wir haben alle Angst. Trotzdem, geben wir unseren Freunden noch etwas Zeit. Es ist wahrscheinlich nicht einfach, sich im Barad Baul zurecht zu finden.«

»Und wenn ihnen etwas zugestoßen ist?«

»Hätten wir es als erstes erfahren«, entgegnete Sulomile. Sein Zwillingsbruder Sulogorn fügte gleich hinzu: »Wir leben doch noch, oder?«

Tingalen grunzte frustriert. Die laxe Haltung ihrer Drachenbrüder war alles andere als hilfreich.

»Ich weiß, wie du dich fühlst«, versuchte Eargilin Tingalen zu beruhigen, »Wir wussten alle, dass es ein Risiko war. Aber ein Risiko, das es auf jeden Fall wert ist, einzugehen. Ich bin mir sicher, dass unsere Reiter Suman retten werden. Schließlich haben sie jemanden mit Verstand und den nötigen Muskeln bei sich, der im Notfall ein paar klare Takte Klartext sprechen kann.«

Tingalen musste wider ihrer schlechten Stimmung kichern. Eargilin hatte Recht, wenn jemand die notwendigen Muskeln mitbrachte, um gegebenenfalls ein paar Schädel zu spalten, dann war es Ivoricalad. Selbst Sulogorn hatte Recht. Sie waren nicht tot, also lebten ihre Seelen noch. Die Frage war: wie lange?

»Aber wir müssten doch etwas mehr tun können, als hier abzuwarten!«, ein roter kleiner Feuerball entwich Tingalens Nüstern, »Ich ertrage dieses Warten einfach nicht mehr! Nicht zu wissen, was vorgeht, macht mich noch wahnsinnig!«

»Du könntest losfliegen, um den Turm kreisen und seinen Zinnen ein wenig einheizen.«

»Witzbold!«, knurrte Tingalen über Mithvals dummen Scherz leicht angesäuert, bis ihr plötzlich ein Licht aufging, »Einheizen? War ich das gerade mit dem Feuerball?«

»Willkommen im Club, Schwesterherz!«, grinste Eargilin Tingalen an. Obwohl sie nicht im eigentlichen Sinne Geschwister waren, fühlten sie sich doch durch die enge Beziehung ihrer Seelen sehr nahe.


»Das klappt nie!«, fluchte Ole.

»Also bitte, von einem Mann deiner Profession hätte ich etwas mehr Zuversicht erwartet«, stichelte Ivoricalad.

»Ruhe, hier wird nicht gesprochen!«, fauchte ein vermummter Wärter, der den Gefangenentrupp der Drachenreiter abführte, »Auch nicht mental!«

»Das klappt nie!«

»Ruhe, hab’ ich gesagt!«


»Was meinst du?«, fragte Thonfilas.

Mit ausgesuchter Gelassenheit betrachtete Uskav das schrittweise heranrückende feindliche Heer.

»Och, ich glaube, wir sollten nichts übereilen«, meinte der Präsident Daelbars und bedachte seinen Drachen mit einem sehr zufriedenen Blick. So wie es aussah, hatten sie vielleicht doch noch eine Chance mit dem Leben davon zu kommen. Das Mittel gegen die Orkallergie erfüllte nicht nur seinen Zweck, die Nebenwirkungen, wie der Verlust der Fähigkeit Feuer zu speien, ließen offenbar ebenfalls nach. Turondurs Opfer war vielleicht doch nicht vergebens, sinnierte Uskav, vorausgesetzt er handelte besonnen und übereilte nichts. Worauf es jetzt ankam, war, den richtigen Zeitpunkt für den Gegenangriff zu finden.

Alle bisherigen Scharmützel waren bestenfalls Vorgeplänkel, lästige, aber auf keinen Fall entscheidende Nadelstiche. Mit dem Einsatz der Steinbrenner hatten die Generäle des Orkheeres gezeigt, welche Macht sie wirklich besaßen, nämlich Massen, schier unerschöpfliche Massen an Orks. Allerdings hatten sie, soweit es Uskav betraf, auch ihre Hosen runter gelassen, in dem sie ihre Strategie enthüllten, nämlich viele gegen wenige. Ihr Angriffsplan war simpel: Erst die Drachen durch die Züchtung der drachenabstoßenden Orkarmee ausschalten, dann Daelbar durch die schiere materielle Überlegenheit überrennen. Nur hatte sich der erste Vorteil arg relativiert. Die Heerführer gingen nach wie vor von falschen Voraussetzungen aus, obwohl, so fragte sich Uskav, würden sie wirklich ihre einmal eingeschlagene Strategie ändern? Es war zu bezweifeln. Mit einem so großen Heer war wenig anderes anzufangen, als ein Sieg durch Überrennen. Für eine langanhaltende Belagerung Daelbars war es nicht ausreichend ausgerüstet. Außerdem gab die Region um Daelbar nicht genügend Nahrungsmittel her, um derartige Massen an Orks versorgen zu können. Selbst bei einem Sieg über Daelbar dürfte der Rückweg für das Heer schwer werden. Uskav beschlich sogar eine unbestimmte Ahnung, dass ein Rückweg auch gar nicht geplant war.

»Eigentlich müssten sie wissen, dass unsere Drachen nicht mehr von der Orkallergie befallen sind«, meinte Thonfilas.

»Du denkst an unsere erste Angriffswelle?«, griff Uskav die Frage auf.

Noch bevor die Orkarmee die Stadtmauer Daelbars erreichte, hatte Uskav das Heer von mehreren Flugstaffeln aufmischen lassen. Wie der Bauer seinen Acker, durchpflügten die Drachen die Reihen der Orks. Eigentlich hätte jedem General mit etwas Grips in seinem Schädel von dem Moment an klar sein müssen, dass die tolle neue Geheimwaffe nicht so funktionierte, wie von den Genetikern versprochen. Doch Uskav kannte die Denkweise vieler Urukgeneräle. Sie waren Geiseln ihrer genetischen Programmierung. Wenn ihre oberen Befehlshaber sagten, dass die Drachen das Orkheer nicht angreifen könnten, dann konnten sie es auch nicht. Anderslautende Berichte mussten also zwangsweise Lügen der gegnerischen Propaganda sein.

»Sie glauben nicht, was sie sehen«, erläuterte Uskav, »Man hat ihnen gesagt, dass die Drachen sich den Orks nicht nähern können, also können sie es auch nicht.«

»Aber das ist doch Wahnsinn!«, meinte Thonfilas entsetzt, schränkte dann allerdings ein, »Nicht, dass ich mich darüber beschweren würde. Jeden Fehler, den unser Gegner begeht, nehme ich dankbar an.«

»Rechne nicht mit zu vielen Fehlern!«, warnte Uskav, »Ihre unbestreitbaren Schwächen machen sie mit einer fast unglaublichen Effektivität und Kaltblütigkeit wett. Die Orks, die du vor uns siehst, sind nichts wert. Es sind keine edlen Kämpfer, zu deren Verteidigung man eilen würde, wären sie bedroht. Ihre Generäle würden keine Sekunde zögern zwanzigtausend von ihnen zu opfern, um dadurch einen minimalen taktischen Vorteil zu gewinnen. Die Orks sind nichts weiter als lebende Munition. Was meint ihr, warum uns noch keine Bogenschützen unter Beschuss genommen haben? Sie wären teurer.«

»Wer denkt so?«, stöhnte Roderick.

»Böse, sehr böse Menschen, die einem Schlachtfeld niemals nahe kommen werden«, erwiderte Uskav, »Die Ork- und Urukzucht ist ein sehr profitables Geschäft. Einen Ork aus industrieller Massenfertigung bekommt man bei Abnahme von 1000 Einheiten zu einem Stückpreis von einem Silberdukaten. Bei 10.000 Einheiten gibt es nochmals Rabatt.«

»Widerlich!«, spie Roderick seine Abneigung aus, »Wie kann man nur so über Lebewesen denken?«

»Wenn der Profit stimmt, ist man leicht bereit, über derartige Details hinweg zu sehen«, grummelte Uskav verbitterte, »Schließlich sind es ja nur ein paar Orks. Doch sei gewarnt. Diese Orks kennen kein Erbarmen. Sie mögen billiges Kanonenfutter sein, aber sie sind ebenso tödlich, wie eine Kanonenkugel, eher noch tödlicher.«

Uskav packte sein Schwert noch etwas fester, Thonfilas und Roderick, die neben ihm standen konnten sehen, dass ihrem Freund diese Schlacht alles andere als leicht fiel, insbesondere, als er mit versteinerter Mine verkündete: »Ihr dürft kein Erbarmen zeigen. Wenn ihr gegen einen Ork kämpft, tötet ihn. Lasst ihn auf keinen Fall am Leben. Wenn auch nur ein Funke Leben in ihm steckt, wird er weiter kämpfen. Selbst mit abgeschlagenen Beinen würde er über die Erde robben und versuchen euch in die Füße oder Beine abzuhacken.«

Jeder, der Uskavs Anweisungen hörte, musste schlucken. Man begann langsam zu ahnen, dass es langsam ernst, todernst wurde. Bisher fand der Krieg auf Distanz statt. Direkten Feindkontakt, abgesehen von den Drachen, die durch die Orkreihen gepflügt waren, hatte bisher niemand.

Das Orkheer rückte weiter unerbittlich voran. Uskav begann langsam aber zielsicher, seine eigene Streitkraft umzugruppieren. Die Drachen rückten langsam und möglichst unauffällig in die erste Reihe vor, während ihre Reiter sich hinter sie zurück zogen. Der Uruk erteilte, unterstützt durch Thonfilas, Roderick und die mentale Kommunikation der Drachen, auf sehr diskrete Weise seine Befehle, um den nahenden Orks so wenig Anhaltspunkte wie möglich zu geben, was er plante.

»Nur noch fünfzig Meter!«, rief Uskav, »Ab jetzt wird es ernst. Achtet auf Speerwerfer, die auf die Drachen zielen und schaltet sie aus.«

Es mag nur sehr wenige Bogenschützen im Orkheer gegeben haben, weswegen die Daelbaner auch von Pfeilhageln verschont blieben. Ganz anders sah es mit Speerwerfern aus, da deren Speere, mit entsprechenden schwarzmagischen Spitzen ausgestattet, durchaus einigen Schaden bei den Echsen anrichten konnten. Und so nahmen die besten Bogenschützen Daelbars das heranrückende Heer ins Visier und versuchten die zwischen den Reihen verborgenen Drachenjäger ausfindig zu machen.

»Es geht los!«, schrie Akira Yamato als Seregsil unter Beschuss genommen wurde. Ein Speer mit bösartig funkelnder Stahlspitze sauste nur wenige Zentimeter an der feuerroten Echsendame vorbei. Sofort sprangen die Bogenschützen herbei und nahmen den Abschussort unter Beschuss. Doch schon kamen weitere Speere angeflogen. Einer steuerte direkt auf Lindor zu und hätte ihn auch getroffen, wäre Caransil nicht zur Stelle gewesen, der ihn unmittelbar aus der Luft wegschnappte. Mit einem lauten Krachen zersplitterte der Schaft, als ihn die Echse durchbiss.

»Danke, Alter!«, bedankte sich Lindor.

»Für dich doch immer, du Laubfrosch!«

Doch nicht alle Drachen hatten so viel Glück wie Lindor. Bei dem Versuch seinen Zwillingsbruder Kifirin mit einem Stoß in die Flanke aus der Flugbahn eines Speeres zu schubsen, übersah Kifilan das gegen ihn selbst gerichtete Projektil. Die magisch vergiftete Eisenspitze des Speeres prallte zwar an seinen Schuppen ab, doch hinterließ sie eine böse, tiefe Schramme durch die ein Teil des Giftes in Kifilans Blut gelangen konnte. Die Wirkung war zwar nicht tödlich, dafür hätte es ganz anderer Waffen bedurft, doch reichte es aus, um den Drachen kampfunfähig zu machen. Der Speer besaß die gleiche Wirkung wie die Jagdlanzen, mit denen Lindor verletzt wurde, als sie vor Jahren Mithval und Gilfea nach Daelbar geholt hatten. Sie verursachten unerträgliche Schmerzen, so dass die Echsen vor Agonie nur noch zitternd am Boden liegen konnten.

»Verdammt!«, fluchte Uskav, der gehofft hatte so früh in der Schlacht noch keinen Ausfall beklagen zu müssen, »Nur ein kleines bisschen näher. Bitte, kommt noch ein kleines bisschen näher!«

Das Orkheer kam näher. Und je näher es kam, desto bedrohlicher wurde es. Es war eine Übermacht, der man mit normalen Mitteln niemals widerstehen könnte. Meter um Meter kroch es voran, bis die Daelbaner nichts anderes als blutdurstige Orks vor sich sahen. Doch dann erhob Uskav sein Schwert, Lokril, die Fackel der Freiheit.

»Feuer!«

Feuer? Professor Bogenhausen und Xelmachus von Emd hatten Uskav gewarnt, dass es beim Mittel gegen die Wirkung des neuen Orkzuchtstamms zu Nebenwirkungen kommen könnte. Es kam zu Nebenwirkungen, zu sehr extremen Gegenwirkungen. Normales Drachenfeuer ist heiß, sogar so heiß, dass man damit selbst den härtesten Stein schmelzen könnte. Allerdings darf man niemals vergessen, dass Drachen magische Wesen sind, was recht interessante Auswirkungen auf ihr Feuer hat.

Auf Uskavs Befehl begannen alle Drachen in der erste Schlachtreihe Feuer zu speien, dass heißt, sie versuchten es. Narsul bekam einen Hustenanfall, der darin endete, dass statt eines schönen gleichmäßig heißen Strahls unzählige kleine Feuerbälle den nahenden feindlichen Orks entgegen geschleudert wurden. Statt wie beabsichtigt eines zwar unerwünschten, aber zumindest schnellen Tods durch spontanes Verdampfen zu erliegen, begannen die vom Feuer Narsuls getroffenen Orks sich aufzublähen, in die Luft zu steigen und in einiger Höhe mit lautem Knall zu platzen. In unmittelbarer Folge regnete es eklige Orkfleischfetzen.

»Unappetitlich!«, knurrte Roderick.

»Entschuldigung!«, rülpste Narsul, der die Wirkung ihres Feuer sehr peinlich war, was es nicht musste. Das Feuer ihrer Drachenbrüdern und -schwestern zeigt nicht minder spektakuläre Wirkungen. Lindors Feuer war dunkelgrün und verwandelte Orks in knorrige, verästelte Büsche, Sträucher und sogar Bäume. Sobald die grüne Glut einen Ork berührte, wuchsen ihm Äste gen Himmel oder Wurzel, die sich sofort in den Boden bohrten.

»Müssen wir die später noch angießen, damit sie richtig anwachsen?«, fragte Thonfilas sarkastisch, der nicht so recht wusste, ob er lachen oder entsetzt sein sollte. Der Elb verabscheute die Kriegskunst. Und selbst wenn der Gegner öfters mit grausamen, geradezu lebensverachtenden Mitteln kämpfte, war Thonfilas davon überzeugt, dass man mit seinen Feinden nicht spielen sollte. Doch was sich aber gerade auf dem Schlachtfeld tat, sprach eine ganz andere Sprache.

»Ich glaube, dass mit dem Angießen können wir uns schenken«, erwiderte Uskav Thonfilas Bemerkung knapp und machte ihn auf Ythlingas, Xurians blauen Seedrachen, aufmerksam. Auch sein Feuer besaß einen ungewöhnlichen Effekt. Seine blaue Flamme verwandelte die Orks spontan in Flüssigkeit, »So hab’ ich mir das nicht vorgestellt.«

Entsetzt und entgeistert mussten die Daelbaner mitansehen, wie das Feuer ihrer Drachen die Schlacht in einen ebenso zynischen wie tödlichen Witz verwandelte. Mehr als ein Kämpfer biss sich schockiert auf die Lippen und beobachtete das Schauspiel mit einer Mischung aus Unglaube, Unverständnis und Verzweiflung. Wie soll man zu den Guten gehören, wenn man derart mit dem Gegner umging? Doch blieb ihnen überhaupt eine Wahl? War es Filondas Schuld, dass ihr Feuer die Orks zu Stein erstarren ließ? Oder dass Seregsils Flammen den Feind in bizarre Kristallgebilde verwandelte?

»Stop!«, rief Uskav, der eine Bewegung im Orkheer ausgemacht hatte, die ihn irritierte. Auf Uskavs Befehl hin, erstarb das Drachenfeuer und eine ungewöhnliche Stille setzte ein. Der Vormarsch des Orkheeres war zum Erliegen gekommen, mehr noch, es war um einige Meter zurückgewichen. Die Drachen hatten in der kurzen Zeit ihres Angriffs ganze Arbeit geleistet. Auf gut dreißig Reihen waren die feindlichen Linien entweder vernichtet oder kampfunfähig, wie man wohl versteinerte, kristallisierte, metallisierte, in Wasser oder festverwurzelte Bäume verwandelte Orks bezeichnen musste. Interessanter war, was sich in den Reihen hinter der Front tat. In der Armee gärte es, Meuterei lag in der Luft. Die Urukoffiziere hatte alle Mühe ihre Orks auf Spur zu halten, in dem sie ihre Peitsche sprechen ließen. Doch schien dies nicht überall zu fruchten. Vor die Wahl gestellt von einer Peitsche geschlagen oder in einen struppigen Busch verwandelt zu werden, zogen die Orks die Peitsche vor.

»Die, die, die rebellieren!«, stammelte Roderick, der nicht glauben wollte, was er sah, »Die ziehen sich zurück!«

»Freu dich nicht zu früh …«, murmelte Uskav, der sich mit Orkheeren und der Art, wie man sie befehligte, leidlich auskannte. Mit finsterer Mine fügte er hinzu: »So leicht siegt man nicht gegen ein Orkheer.«

Jeder General, der jemals ein Orkheer befehligt hatte, wusste, dass Rebellionen, Meutereien und Aufstände ein ständiger Begleiter waren. Orks waren aggressiv, schließlich wurden sie zum Kämpfen gezüchtet. Fehlte ein Gegner, richtete sich ihre Aggressivität auch schon mal gegeneinander. Doch als Befehlshaber einer solchen Streitkraft besaß man Mittel und Wege, damit klar zu kommen. Wozu auch zählte, notfalls einige Orks töten zu müssen.

Und genau dies geschah. Plötzlich loderten mitten im Orkheer Flammenwerfer auf, die gegen die Orks gerichtet wurden, um sie gegen den Feind, die Daelbaner zu treiben. Und wie nicht anders zu erwarten, zeigte diese Maßnahme sofort Wirkung. Das Heer setzte sich wieder in Richtung Daelbar in Bewegung.

»Es geht wieder los«, rief Uskav, dem die Kriegsführung auf Distanz sehr missfiel. Mann gegen Mann, mit einem Schwert in der Hand, dass war sein Ding. Sich richtig zwischen den Feinden austoben können und dabei auch das eigene Leben riskieren, so wollte er kämpfen. Ein Kampf, in dem man nicht mal einen kleinen Dolch in einen Körperteil gerammt bekam, war einfach nicht ehrenvoll. Außerdem, wo blieb der Spaß?

Auf der anderen Seite stand zu viel auf dem Spiel. Wollte Daelbar überleben, mussten sie jeden Vorteil nutzen, der sich ihnen bot. Dies war kein sauberer netter Krieg, keine Schlacht mit ehrvollen Rittern. Uskav wusste es, denn es war schon immer so gewesen. Kriege und Schlachten waren nie nett, auch nicht sauber und auf keinen Fall ehrenvoll. Es ging ausschließlich darum zu überleben, was hieß, dass der Andere nicht überleben durfte. Das war die ekelhafte, schmutzige Wahrheit, eine Wahrheit, die die vom Frieden verwöhnten Daelbaner gerade auf die harte Tour erfuhren.

»Jungs und Mädels, ihr wisst, was ihr zu tun habt. Mischt sie auf, aber seid vorsichtig!«, befahl Uskav mit versteinerter Mine.

Mit diesem Befehl schwangen sich die Reiter auf ihr Drachen, erhoben sich in die Lüfte und begannen ihr Vernichtungswerk in den Reihen der Feinde. Sie flogen so dicht wie möglich kreuz- und quer über das Heer und ließen ihren Drachen freie Hand beim großzügigen Verteilen ihres Feuers.

Thonfilas und Roderick blieben bei Uskav. Regungslos beobachteten sie die Schlacht. Mit jeder Sekunde die verging, musste Uskav seine Einschätzung mehr und mehr revidieren: Nicht die Daelbaner waren chancenlos, sondern das Orkheer wirkte so. Es gab so gut wie keine Gegenwehr. Hier und da blitzte vereinzelt eine Jagdlanze oder ein Speer auf, doch von einer effektiven Boden-Luft-Verteidigung konnte man kaum sprechen. Die Drachen und ihre Reiter hatten leichtes, fast zu leichtes Spiel.

»Das geht zu leicht! Kein Orkheer lässt sich derart leicht besiegen«, zischte Uskav durch zusammengepresste Zähne, die Augen nachdenklich zu Schlitzen verengt.

»Rückzug!«

Lauter als der Uruk, konnte niemand einen Befehl geben. Uskav brüllte ihn sowohl verbal als auch mental. Die Drachenreiter reagierten sofort, und drehten ab. Ihre Drachen stiegen in die Höhe, legten sich in die Kurve und kehrte in engem Bogen auf schnellstem Wege hinter die eigenen Linien zurück. Sie taten dies wohl gerade eben rechtzeitig, denn während noch die Drachen abdrehten, flammten hinter den Reihen des feindlichen Heeres Sprengfeuer auf, die den Start unzähliger kleiner Flugkörper einleiteten.

»Kampfflugkörper!«, brüllte Uskav.

Auf Messers Schneide

Warum haben die Bösewichte eigentlich immer das zwanghafte Verlangen, ihren Widersachern ihre Pläne in allen Einzelheiten zu erklären?
Ich glaube, sie tun es aus Respekt und Hochachtung, da sie nur ihre Gegner für fähig halten, die Genialität ihres Handelns zu würdigen.

Profitius Spax, Philosoph 2. Klasse

»Hey, wer wird den jetzt schon schlapp machen?«, rief Eusebius Markendorfer amüsiert und riss Sumans Kopf an dessen Haaren sehr unsanft hoch. Die letzten Minuten war Sumans »Gastgeber« damit beschäftigt gewesen ihn nach Strich und Faden zusammen zu schlagen, wobei er sich mit Inbrunst insbesondere Sumans Brustkorb und Gesicht widmete. Aus einer Platzwunde an der linken Augenbraue und zwei Rissen in seiner Oberlippe sickerte Blut.

»Oh, entschuldigen Sie bitte. Ich muss einen Moment abgelenkt gewesen sein«, nuschelte Suman und spuckte etwas Blut aus.

Markendorfer knurrte wütend. Da gab er sich redlich Mühe, Suman nach allen Regeln der Kunst zu foltern, und wie reagierte dieser Typ? Er blieb höflich und aufmerksam. Suman war kein einziger Schmerzschrei zu entlocken, nicht mal ein leises Jammern. Der Typ tat einfach nichts und steckte alles mit einer extrem enervierenden stoischen Ruhe ein. Wie soll man sich bei solch einem unkooperativen Verhalten amüsieren?

»Ihr verschissenen Gildebrüder und eure verfluchte Selbstbeherrschung!«, fauchte Markendorfer, und griff zur Peitsche. Doch selbst ein Satz brutalster Hiebe ließen Suman nicht zusammenzucken.

Sie konnten es auch nicht. Ein wesentlicher Bestandteil der Ausbildung zum Gildemeister war die Immunisierung gegen physische Folter. Suman verspürte zwar, dass seinem Körper schwerer Schaden zugefügt wurde, doch er fühlte keinen Schmerz. Dafür sorgte zum einen sein PDA-Implantat, das einfach die betroffenen Nerven selbsttätig blockierte, zum anderen hatte Suman gleich zu Anfang mehrere Zaubersprüche auf sich angewendet, die ihn einerseits ebenfalls schmerzunempfindlich machte, aber auch andererseits seine Zellregeneration beschleunigte. Während also Markendorfer noch damit beschäftigt war, sich neue Qualen auszudenken, war Sumans Körper bereits damit beschäftigt, die bisherigen Verletzungen mit rasanter Geschwindigkeit wieder zu heilen. Die Sache hatte nur einen Haken: Suman und sein PDA-Implantat operierten am Limit. Lange würde er Markendorfer nicht mehr widerstehen können. Doch andererseits, so dachte Suman, so lange er noch atmen und einen halbwegs klaren Gedanken fassen konnte, gab es Hoffnung. Irgendeinen Fehler würde Markendorfer schon noch begehen, den er ausnützen könnte. Er müsste nur erreichen, dass sich der fette Eusebius sicher fühlte, von seiner Überlegenheit überzeugt war. Wer weiß, vielleicht wurde er dann unvorsichtig und …

Der Einfall traf Suman wie ein Schlag. Es war so einfach, so einfach, dass er zu dumm war, früher daran zu denken. Er war nicht wehrlos! Er müsste nur …


»Nein!«, stöhnte Tingalen gedämpft. Sumans Drache wankte von der Dachkante, an die sie sich bisher wie ein Wasserspeier gekrallt hatte zurück. Taumelnd musste sie sich hinhocken.

»Suman?«, fragte Mithval besorgt und eilte zu Tingalen. Die Drachendame nickte matt und niedergeschlagen.

»Ja! Er lebt, aber er leidet. Sie foltern ihn. Ich kann es spüren. Sie quälen seinen Körper!«

Mithval wollte etwas erwidern, doch es fiel ihm nichts ein. Es gab nichts, was er sagen oder tun konnte. Tingalen war, wie jeder Drache, auf Gedeih und Verderb mit seiner Seele verbunden. Was der Seele widerfuhr, widerfuhr auch dem Drachen. Was für Tingalen hieß, dass wenn man Suman quälte, sie es spürte. Sie verspürte zwar nicht Sumans Schmerzen, doch litt sie seelisch. Das Band zwischen Drache und Seele war in erster Linie ein emotionales. Es war der Geist der beiden Persönlichkeiten, die miteinander verbunden waren.

»Wir müssen doch etwas unternehmen können, oder?«, rief Sulogorn, »Hier einfach nur rumsitzen und auf den Tod warten halt ich nicht für sonderlich erstrebenswert!«

»Ihr habt Recht«, erwiderte Mithval.

»Aber?«, hakte Eargilin nach, der Mithval nur zu gut kannte.

»Also gut …«, begann Mithval, »Aber haltet mich bitte nicht für verrückt.«

Eargilin lachte: »Wer würde schon auf die Idee kommen, ein überdimensionaler Mithrildrache könnte verrückt sein?«

»Wie auch immer!«, überging Mithval Eargilins Stichelei, »Ich habe das unbestimmte Gefühl, dass wir uns vorerst nicht zeigen sollten. Je mehr ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich, dass das Ganze ein Falle ist.«

»Na toll!«, knurrte Sulogorn, »Und warum haben wir die Jungs trotzdem in den Barad Baul rennen lassen?« Sulogorn knurrte noch mehr: »Sag es nicht! Ich weiß, warum wir es machten. Trotzdem, ich mag es nicht, hier tatenlos rumzuhocken!«

»Ich auch nicht …«, stöhnte Mithval niedergeschlagen, »Ich auch nicht.«


»Ah, da kommen ja auch unsere anderen Gäste«, jubilierte Eusebius Markendorfer, als Ivo, Ole, Anger und ich von einem Trupp martialisch gekleideter und schwer bewaffneter Gefängniswächter in eine finstere Folterkammer geführt wurden. Eusebius Markendorfer – dass dieser fette und ausgemacht stupide Typ im Hintergrund die Fäden zog, war schwer zu glauben.

»Führt die Gefangenen rein. Sollten sie Widerstand leisten oder irgendwelche Spielchen versuchen, erschießt sie!«, kommandierte Markendorfer die Wächter, worauf wir unsanft in Richtung Raummitte geschoben wurden, wo ich meinen Schatz hin Ketten hängend entdeckte. Markendorfer musste ihn gefoltert, wahrscheinlich geschlagen und ausgepeitscht haben. Sumans Gesicht war blutig, sein sonst so makellos schöner Oberkörper war mit blutigen Striemen und blauen Flecken übersät. Ihn so zu sehen, schnürte mir Brust und Hals zusammen. Unwillkürlich musste ich schlucken und alle Kraft zusammen nehmen, um nicht auf Markendorfer zuzurennen, um ihm das anzutun, was er meinem Schatz angetan hatte. Stattdessen konzentrierte ich mich und begann zu pokern.

»Suman! Gut das wir dich endlich gefunden haben. Entschuldige, wenn es etwas länger gedauert hat«, rief ich meinen Schatz unverschämt fröhlich zu. Der hob deutlich erschöpft seinen Kopf, quälte sich ein Lächeln ab und meinte ebenso fröhlich: »Kein Problem. Eusebius war so freundlich, mich während der Wartezeit zu unterhalten. Entschuldige bitte, wenn ich dich nicht umarme. Du siehst ja, ich bin, ähm, ein wenig gebunden und würde mich vorher auch gerne etwas frisch machen.«

Ich wusste schon vorher, dass mein geliebter Suman ein wirklich beeindruckender Typ war, der es faustdick hinter den Ohren hatte, doch in seinem Zustand eine derartige Kraft aufzubringen, mich trotz seiner Verletzungen in munterem Plauderton zu begrüßen, verschlug mir die Sprache.

»Hochnäsig und anmaßend bis zum Ende«, bemerkte Markendorfer und wandte sich mir zu, »Willkommen in meinem kleinen Reich, Stellvertretender Sekretär Segato G’Narn. Es freut mich, dass Sie meiner Einladung nachgekommen sind. Ich hoffe, sie war nicht zu aufdringlich.«

»Nun ja«, erwiderte ich mit ausgewählter Freundlichkeit, »Uns einen Dämon zu schicken, war schon ein bisschen dick aufgetragen.«

»Oh, haben sie mich doch glatt ertappt. Touché! Ich gebe zu, ich neige ein wenig zur Theatralik. Ich hoffe Bruder Sebastian konnte etwas Tod in Ihre Reihen bringen.«

»Ich enttäusche Sie nur ungerne, Markendorfer, aber ein so lieber Kerl, wie Sebastian, ist gar nicht fähig Böses zu tun, geschweige denn, jemanden zu töten.«

Es war offensichtlich, dass diese Antwort nicht die war, die Markendorfer hören wollte. Statt etwas zu erwidern ließ er mich deswegen stehen und wandte sich Ole Olson zu.

»Ich hatte eigentlich gehofft, Eure Dienste noch einmal in Anspruch nehmen zu können«, begann Markendorfer, »Es ist ein Jammer, dass Sie sich für die falsche Seite entschieden haben. Ich hatte soviel Hoffnung in Sie gesetzt. Bei Ihren Fähigkeiten stand Ihnen eigentlich eine grandiose Zukunft offen. Schade …«

Markendorfer verstummte und dachte nach, musterte Ole Olson eine Weile und meinte dann: »Ach, ich bin einfach zu weichherzig. Ole, alter Freund, ich möchte Ihnen ein Angebot machen. Arbeiten Sie für mich, nur für mich und ich verschone Ihr Leben. Was halten Sie davon?«

Ole Olson hielt seinen Kopf schräg, bedachte Markendorfer mit einem skeptischen Blich und fragte dann: »Und der Preis?«

Markendorfer kicherte albern, was die Vermutung nahe legte, dass der Typ nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte: »Na ja. Ich weiß ja nicht, wie weit ich Ihnen noch trauen kann … Ein kleiner Dämon in ihrem Körper, nichts großes, nur gerade so mächtig, dass Sie genau das machen, was ich will, der aber Ihre Fähigkeiten nicht beeinträchtigt … Bedenken Sie, sie würden hier lebend rauskommen …«

»Ich glaube, ich muss dieses großzügige Angebot ablehnen. Tut mir Leid, Markendorfer. Aber meine Freiheit ist mir wichtiger.«

Markendorfer musste verrückte sein. Anders waren seine spontanen Stimmungsumschwünge kaum zu erklären. Eben noch schleimig freundlich, entgleisten ihm bei Oles Antwort die Gesichtszüge und er begann zu keifen: »Freiheit? Ich gebe dir Freiheit! Du geleckter Kleiderständer hast die Freiheit zu krepieren! Mit dir werde ich mir besonders viel Zeit nehmen. Ich werde dir langsam, ganz langsam das nehmen, worauf du so unendlich stolz bist: Ich werde deinen Körper, den du immer so gockelhaft und eitel zur Schau stellst, Stück für Stück zerstören, bis du mich anbettelst, dich zu töten.«

Ole grinste breit: »Na, dann zeigen Sie mal, was Sie können!«

Mir schien, als wenn Markendorfer zusehends wütender wurde. Seine Gefangenen verhielten sich nicht so, wie es sich für Gefangene gehörte. Ein Gefangener hatte gefälligst in Erwartung eines qualvollen Todes verzweifelt zu sein und sollte um Gnade winseln, doch wir taten nichts davon. Ganz im Gegenteil vermittelten wir Markendorfer das Gefühl, ihn nicht wirklich ernst zu nehmen. Ich ahnte und wurde von meinem PDA-Implantat mit einer Wahrscheinlichtkeitsquote von 83% darin bestätigt, dass Markendorfer einen gigantischen Minderwertigkeitskomplex mit sich herumschleppte. So wie er Ole Olson betrachtete und auf ihn reagierte, schien er gut gebaute, muskulöse Männer zu verabscheuen. Ich ahnte warum, verstand aber nicht, wieso. Es gab genug Typen, auch gut gebaute, muskulöse Typen, die auf wuchtige Kerle, wie Markendorfer, standen. So ganz wollte ich daher dem, was ich sah und hörte, nicht trauen. Markendorfer spielte uns etwas vor.

»Und wen haben wir den hier?«, fragte unser Gastgeber, der sich meinem Drachen in Menschengestalt zugewandt hatte.

Wir standen in einer Reihe, Markendorfer und der angekettete Suman uns gegenüber. Hinter uns standen die Wächter mit entsicherten Waffen im Anschlag. Unsere Situation konnte man beim besten Willen nicht als hoffnungsvoll bezeichnen. Trotzdem bedachte Ivo Markendorfer mit einem entwaffnenden und lasziven Lächeln. Mein Drache konnte es sich einfach nicht verkneifen, mit Markendorfer einen tödlichen Flirt zu beginnen.

»Oh, ich? Ich bin Ivo, Segatos bessere Hälfte«, zwitscherte Ivo und präsentierte sich mal wieder als Sex pur. Der Angezwitscherte bekam einen Schweißausbruch und begann schwer zu atmen. Andererseits schien er sich von Ivo auch angezogen zu fühlen, was kein Wunder war. Selbst ein Backstein würde lüstern hecheln, bedächte ihn Ivo mit seinem provozierenden Charme.

Außer Markendorfer fühlten sich noch zwei andere Anwesende angezwitschert: Suman und ich. Beiden zuckten wir zusammen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Ich zuckte zusammen, weil ich Ivos Umschreibung seiner Beziehung zu mir als »Bessere Hälfte« für gewagt, wenn nicht sogar riskant hielt. Nicht, dass Markendorfer auf die gleiche Idee, wie Suman kam. Der zuckte zusammen und zeigte sich, soweit das unter dem blutverschmierten Gesicht zu erkennen war, verletzt.

»Gibt es da etwas, von dem wissen sollte?«, fragte Suman scharf, dem natürlich nicht entgangen war, dass Ivo überirdisch gut aussah. Natürlich hätte ich meinen Schatz mit einer mentalen Nachricht über Ivos wahre Natur aufklären können, doch verzichtete ich darauf, da mich die unbestimmte Ahnung beschlichen hatte, dass in diesem Gebäude diskrete mentale Kommunikation vielleicht gar nicht so diskret war.

»Also wirklich?«, versuchte ich mich in direkter Kommunikation, »Suman, Schatz, für wen hältst du mich? Du weißt doch, dass ich mit Ivo nie etwas anfangen könnte.«

Suman wollte gerade etwas erwidern, als sich sein säuerlicher Gesichtsausdruck aufhellte. Offenbar hatte Suman begriffen, dass Ivo Ivo war. Ganz kurz blitzte die Ahnung eines Grinsens auf, dann kehrte, jetzt aber offenbar eine gespielte, Säuerlichkeit zurück.

»Lügner!«, fauchte mich Suman an, ganz der perfekte Schauspieler, »Du scheinst ja schnell jemanden gefunden zu haben, der dich über unsere Trennung hinweg tröstete«, ätzte Suman und spielte geschickt auf meine Flucht aus Daelbar an.

Ich hatte keine Ahnung, ob Markendorfer auch nur ein Wort von dem glaubte, was wir ihm vorspielten. Auf jeden Fall schien es ihn zu amüsieren, soweit sich sein breites Grinsen richtig interpretieren ließ. Während Suman und ich uns also verbal zofften und meiner Meinung nach eine schöne Show hinlegten, widmete Markendorfer sich Ivo.

»Schade um dich«, bemerkte der fette Schmuggler mit Bedauern in der Stimme, dabei strich er Ivo verspielt mit seinem wurstigen Zeigefinger über Wange, Schläfe und Stirn, »Ich glaube, ich hätte viel Spaß mit dir haben können. Nun ja, gewissemaßen werde ich schon haben, allerdings wird er etwas anders ausfallen.«

»Oh!«, flötete Ivo gleichsam, wobei er Markendorfer tief in die Augen schaute, »Willst du schlimmer Junge mich etwa zu Tode foltern? Macht dir sowas etwa Spaß?«

Eine Art schiefes, entschuldigendes Lächeln umspielte Markendorfers Mund: »Jeder braucht ein Hobby.«

Von Sekunde zu Sekunde kam mir die ganze Szene irrealer vor. Niemand verhielt sich so, wie man sich üblicher Weise in Situationen wie unserer verhalten sollte. Mir blieb allerdings keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, weil ich dem Dialog zwischen Ivo und Markendorfer folgen wollte, der einen weiteren Sprung auf der nach oben offenen Irrealitätsskala machte.

»Wissen Sie was?«, flüsterte Ivo mit verschwörerischer Stimme so leise, dass sich Markendorfer zu ihm vorbeugen musste, um ihn zu verstehen »Ich werde Sie töten! Ich werde Sie mit meinen eigenen Händen zerfetzen und in klitzekleine Schnipsel zerlegen. Das ist ein Versprechen!«

Wenn man wusste, dass es sich bei Ivo in Wirklichkeit um einen Drachen handelte, hätte man diesem Versprechen wesentlich mehr Glauben geschenkt als Markendorfer es tat. Der begann hingegen laut zu lachen und musste sich sogar seinen fetten Bauch halten: »Ivo, ich weiß ja nicht, unter welchem Stein du hervorgekrochen bist, aber ich glaube, du verkennst ein wenig die Lage. Ich bin hier derjenige, der bestimmt, wer hier stirbt und wer nicht.«

»Wenn du meinst«, erwiderte Ivo knapp, was Markendorfer stutzen ließ. Sein überhebliches, selbstgefälliges Grinsen verschwand und wurde durch einen konzentrierten Ausdruck ersetzt. Markendorfer begann Ivo wesentlich genauer zu studieren, als er es bisher getan hatte. Ich konnte einen Blick in seine Augen erhaschen, was mich erschauern ließ. Markendorfers Blick fehlte jegliche Menschlichkeit. Seine Augen waren eiskalt, was umgekehrt mein PDA-Implantat heiß laufen ließ, um nach einer Deutungsmöglichkeit zu fahnden. Das abstrakte Gefühl der Irrealität, welches mich seit Betreten der Folterkammer begleitete, verstärkte sich und erreichte schwindelerregende Höhen. Wir alle spielten Theater. Suman, Markendorfer, die Wachen, Ivo, Anger und Ole führten ein Stück auf, wobei ihnen dummerweise niemand verraten hatte, welche Rollen sie darin belegten. Jeder trug eine unsichtbare Maske, die Wachen sogar tatsächlich, hinter denen sich die wahren Gesichter verbargen.

»Wachen!«, schrie Markendorfer, dessen Augen sich zu schmalen Schlitzen verengt hatten, während er Ivo scharf und lauernd betrachtete, was dieser nachäffte und schmunzelnd Markendorfer aus übertrieben zusammengekniffenen Augen ebenfalls betrachtete, »Legte die anderen in Ketten, um den hier werde ich mich selbst kümmern.«

Die Wachen traten in Aktion. Ohne ein Wort zu sagen, wurden wir gepackt und zu ein paar von der Decke herabhängenden Ketten befördert, an die man uns festbinden wollte. Wollte, doch es kam ganz anders. Ivo schien Markendorfer massiv zu verunsichern, so dass er Ivo nicht aus den Augen ließ, während die Wächtersoldaten sich mit uns beschäftigten. Dadurch entging es ihm, dass eine der Wachen an Sumans Fesseln rumfummelte.

»Wer bist du?«, fragte Markendorfer. Seine Überheblichkeit, seine Selbstgefälligkeit war verschwunden. Beides war, wie ich vermutet hatte, pures Theater. Die Eiseskälte, mit der er Ivo fast schon sezierte, zeigte den wahren Markendorfer vermutlich wesentlich mehr als alles, was er uns bisher präsentiert hatte.

»Was bist du?«

Der Mann kam der Wahrheit gefährlich nahe. Markendorfer ahnte, dass Ivo kein Mensch war. Noch ein paar Gehirndrehungen weiter und er hätte die Lösung des Rätsels. Das wusste auch Ivo, der auf seine Art reagierte. Er erwiderte Markendorfers Blick und betrachtete ihn mit ähnlich forschendem Interesse.

»Gegenfrage: Was sind sie?«

Mir lief es heiß den Nacken runter. Ivos Frage, von der ich nicht wusste, ob sie ernst gemeint oder einfach nur Provokation war, ließ tausende Alarmglocken in mir aufschrillen. Doch bevor ich der Sache nachgehen konnte, überschlugen sich die Ereignisse. Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich ein riesiger Wolf auf. Mit weit aufgerissenem Maul, in dem reihenweise messerscharfe Reißzähne aufblitzten, sprang er auf Markendorfer zu, dessen Kehle fest im Visir. Suman war frei und hatte sich in einen Werwolf verwandelt.

Mit einer Geschwindigkeit und Präzision, die ihm niemand zugetraut hätte, wich Markendorfer dem Angriff aus. Suman sprang ins Leere. Kein Mensch besaß solche Reflexe, erst recht nicht ein fetter Typ wie Markendorfer. Kein Mensch?

Was oder wer Markendorfer auch immer war, er war nicht perfekt. Während er Sumans Attacke parierte, konnte er Ivo nicht mehr im Auge behalten, was mein Drache für eine spontane Rückverwandlung in seine wahre Gestalt nutzte.

»Sind wir also ein Lycanthrop?«, verhöhnte Markendorfer meinen Liebling, »Nette Idee, wirklich eine nette Idee. Doch um es mit mir aufzunehmen, musste du schon etwas mehr bieten, mein kleiner Straßenköter!«

Mit einer triumphierenden Miene wandte sich Markendorfer wieder Ivo zu, doch statt in ein menschliches Gesicht zu schauen, glotzte ihn die Fratze eines grinsenden Drachens an. Ivo hob seine linke Drachenklaue, klappte seine sichelförmigen, messerscharfen Krallen aus und meinte: »Versprochen ist versprochen!«

»Nein, Ivo nicht. Markendorfer ist ein …«

Es war zu spät. Ivos Krallen hatten Markendorfers Körper aufgeschlitzt. Meine Warnung kam zu spät. Jedem im Raum war schlagartig klar, was Markendorfer wirklich war.

Überleben

Die Hoffnung stirbt zuletzt? Dann sollte sie jetzt aber einen Zahn zulegen!

Piratenkapitän Feuerbart auf dem Weg zum Galgen

Kampfflugkörper, kleine Geschosse mit den unterschiedlichsten Sprengköpfen, galten als besonders verheerende Waffen, weswegen ihr Einsatz eigentlich allgemein geächtet war – eigentlich. Die Realität sah anders aus. In den meisten Staaten, die regelmäßig mit anderen Staaten im Clinch lagen, wurde der Krieg als etwas heroisches und ehrenvolles verkauft. Die Bilder der Nachrichten zeigten entweder geschönte aber meistens gestellte Schlachten in denen edle Kämpfer Mann gegen Mann antraten. Dieses Bild hatte ungefähr so viel mit der Realität gemein, wie die Werbebilder der Firma Meisterschnitzel.

Das Markenlogo des Familien- und Traditionsmetzgerei Meisterschnitzel zeigte eine lächelnde Sau, die glücklich über eine blühende Wiese hoppelte. Es liegt vermutlich in der Natur des Menschen, dass er dieses Bild der Realität vorzieht. Wer wollte schon so genau wissen, wie das Kotelett den Weg auf den Mittagstisch gefunden hatte oder im Fall des Krieges, was wirklich auf den Schlachtfeldern der Welt vorging.

Dabei war die Realität nicht einmal sonderlich kompliziert und leicht zu verstehen, sie zeichnete sich sogar durch erschreckende Schlichtheit aus, was aber noch lange nicht hieß, dass der Großteil der Bevölkerung die Realität verstehen wollte: Um ein Kotelett braten zu können, mussten Schweine sterben, für viele Koteletts entsprechend viele Schweine. Gleiches galt für den Krieg: Um eine Schlacht zu gewinnen, mussten Soldaten sterben, notfalls eben auch verdammt viele Soldaten. In beiden Fällen ging es somit um die Optimierung eines Tötungsprozesses. Je effektiver dieser erfolgte, umso besser, wenn auch nicht für die armen Schweine, aber immerhin für diejenigen, die sie verzehrten oder in die Schlacht schickten. Und so ersann man Werkzeuge, mit denen man dieses Ziel besonders effektiv erreichen konnte. Kampfflugkörper waren eine Sorte davon.

Dieses Waffensystem galt sogar als besonders effektiv. Ihre einzige Aufgabe bestand darin, eine bestimmte Fläche vom Feind besetzten Landes von eben jenem zu befreien. Die findigen Entwickler der Firma Boldin Dynamics hatten wieder einmal ganze Arbeit geleistet und gezeigt, zu was die Kombination von schwarzer Magie und klassischer Ingenieurskunst fähig war: Flugkörper, die perfekt töteten. Das Wie spielte dabei keinerlei Rolle. Manch einer, der auch über das süße Schweinchen auf dem Etikett seiner Kotelettpackung hinaus blickte, stellte sich früher oder später die Frage, ob vielleicht ein Zusammenhang zwischen der lebensverachtenden Wirkung derartiger Waffensysteme und der Tatsache bestand, dass Boldins Ingenieure nie ihre Erfindungen im Echteinsatz gesehen hatten. Allerdings behielt man solche Gedanken besser für sich, wollte man nicht irgendwann selbst einmal auf einem Schlachtfeld oder schlimmerem landen.

Uskav kannte sich mit Kampfflugkörpern gut aus. Zu seiner Schande musste er zugeben, dass er sie sogar sehr gut kannte. Als treuer Gefolgsmann des Königs, als sein General, der den Kampf gegen einen erbarmungslosen Feind zu führen hatte, gab es keinen Zweifel daran, derartige Waffen einzusetzen. Der Feind setzte sie schließlich ebenfalls ein. Am Ende gab es zwar nur einen Gewinner namens Boldin Dynamics, aber das war, zuchtbedingt, nie Uskavs Problem, jedenfalls nicht, bis er sich von seiner Konditionierung befreite. In diesem Zusammenhang war es interessant zu wissen, dass sich Boldin als lupenreiner Demokrat betrachtete. Schließlich belieferte er vorurteilsfrei und gleichberechtigt jeden, der seine Produkte bezahlen konnte.

»Schutzschilde! Jetzt!«, brüllte Uskav und gab den Zauberern und Magiern Daelbars damit das Zeichen das eigene Heer vor den Flugkörpern zu beschützen. Der Uruk hatte sie sich an strategischen Punkten auf dem Schlachtfeld postieren lassen. Je nach Art ihrer Magie oder Zauberkraft, waren sie in der Lage eine Art Schirm über sich und die Leute in ihrer Nähe zu bilden. Die Sache hatte allerdings ein paar Haken. Der Schutz war nicht allumfassend und sein Radius auch nicht sehr groß, so dass man sich eng um den jeweiligen Zauberer scharen musste. Außerdem war es sehr anstrengend einen derartigen Schutz lange aufrecht zu erhalten. Es gab nur einen Weg, das Problem zu beseitigen: Angriff. Die Streitmacht Daelbars musste vorrücken und sich in den direkten Kampf begeben. Dies zwang den Gegner sein Feuer einzustellen, wollte der nicht seine eigenen Streitkräfte gefährden. Kampfflugkörper unterschieden nicht zwischen Freund und Feind.

Kaum hatte Uskav den Befehl für die Schutzschirme erteilt, prasselten die ersten Kampfgeschosse auf sie nieder. Seltsam, dacht Thonfilas, als er sah, wie die Sprengkörper über seinen Köpfen gegen die ihn schützende Schutzhülle prallten, dort explodierten und ihr tödliches Feuer wie Wasser am unsichtbaren Schirm herabfloss, Wider aller Vernunft entbehrt der Anblick nicht einer gewissen Schönheit. Dies ist wahre Perversion. Lange konnte sich Thonfilas allerdings nicht mit dem Anblick befassen, da er seine ganze Konzentration auf den Schutzschirm richten musste. Als Elb verfügte er über genügend Magie, selbst einen Schutzschirm zu erschaffen, mit dem Uskav, Roderick, sich und die anderen Freunde und Bewohner Daelbars abdeckte. Er war ein kräftiger, gesunder Mann, mit der Stärke eines Drachen, doch selbst für ihn, waren die Einschläge alles andere als leicht zu ertragen. Ein einzelner Flugkörper entsprach bestenfalls einem zwar lästigen aber harmlosen Insektenstich, doch in der Masse zehrten sie einen aus.

»Uskav, wenn du etwas vor hast, dann solltest du es jetzt tun. Lange kann ich den Schirm nicht halten!«

»Dann wird es jetzt ernst!«, knurrte Uskav, blickte noch einmal zu seinen Freunden und rief, »Vorrücken!«

Und so begann die Schlacht um Daelbar. Wie Uskav erwartet hatte, verstummte der Beschuss in dem Moment, als für den Gegner die Gefahr bestand, die eigenen Leute, genau genommen Orks, zu gefährden. Kurz darauf trafen die beiden Frontlinien aufeinander. Ein erbitterter Kampf Mann gegen Mann entbrannte.

Natürlich war Uskav an vorderster Linie mit dabei. Er war kein Heerführer, der sich gut abgeschirmt im Hintergrund hielt und seine Truppen wie Schachfiguren umherschob. Dieser Uruk war ein Kämpfer, immer gewesen. Doch dieses Mal war er einer, der das erste Mal in seinem Leben für ein reales Ziel stritt: Um das Recht in Frieden und Freiheit leben zu können, was sich als außerordentlich motivierend auswirkte. Wie ein verirrter Stern wirbelte Lokril, die Drachenflamme, umher und streckte einen feindlichen Ork nach dem anderen nieder.

Hätte Uskav die Zeit gehabt, auch nur eine Sekunde inne zu halten, er hätte einen merkwürdigen Effekt an sich beobachtet: Jeder besiegte Gegner macht ihn stärker, kräftiger und sogar wacher. Es war ein Geschenk Toldins, Turondurs Drachens, das dafür verantwortlich war. Lokril die Drachenflamme war nicht nur ein fast unbesiegbares Schwert, es besaß zudem die Fähigkeit, die Kraft der erschlagenen Gegner aufzunehmen und seinem Träger zukommen zu lassen. Und so fräste Uskav fast im Alleingang eine Schneise in die feindlichen Reihen. Furchtlose, grausame Orks, deren gesamte Existenz nur aufs Töten ausgerichtet war, wichen vor ihm aus schierer Angst zurück. Uskav wurde zur Ein-Mann-Armee, tödlicher als tausend Ritter auf mächtigen Schlachtrössern.

Doch Uskav war nicht allein. Ganz Daelbar stürmte in den Kampf. Verbissen und unerbittlich trieben sie die Orks zurück. Obwohl die Drachen das feindliche Heer erheblich dezimiert hatten, standen den Daelbanern immer noch eine deutliche Übermacht gegenüber. Auf einen Daelbaner kamen immer noch weit mehr als fünfzig Orks. Um so erstaunlicher war der Raumgewinn, den man innerhalb kürzester Zeit erzielte.

Man hätte stutzig werden müssen und ahnen, dass etwas nicht stimmte. Es ging zu einfach. Doch vielleicht lag es daran, dass die Orks so verbissen und erbarmungslos kämpften, niemals aufgaben und nicht einmal dann ungefährlich waren, wenn sie tot am Boden lagen, dass man nicht merkte, wie sich langsam aber sicher eine Falle um sie schloss. Selbst Uskav realisierte viel zu spät, welch perfide Taktik die feindlichen Heerführer verfolgten. Dabei hätte ihm der Verlauf der Schlacht eine Warnung sein sollen.

Langsam und unbemerkt wurden die Daelbaner eingekesselt, bis es schließlich zu spät war. Erst als sich der Ring feindlicher Orks hinter ihnen schloss begriffen sie, in welche Falle sie getappt waren. Der Gegner hatte mehrere tausende seiner Orks an der Frontlinie geopfert, nur damit der dahinter verborgene Hauptteil des Heeres die Daelbaner heimlich um- und einkreisen konnte.

Zufrieden zündete sich Brazzak, der oberste Heerführer der Orkarmee, eine Zigarre an und inhalierte ihren kräftigen Rauch. Mit einem Ausdruck unerschütterlicher Selbstsicherheit ging er auf Naszgrbak zu, griff nach dem Messer, dass immer noch in der Schulter seines untergebenen Generals steckte, und drehte genussvoll an dessen Griff: »Oh Naszgrbak, könnte es sein, dass du deinen geliebten Uskav ein klein wenig überschätzt hast?«

Naszgrbak hielt es für geschickter, nichts auf die eh nur rein rhetorisch gemeinte Frage zu erwidern. Stattdessen dachte er sich seinen Teil. Uskav mochte unvorsichtig in eine Falle geraten sein, doch so leicht, davon war Naszgrbak überzeugt, ließ sich der ehemalige General des Königs nicht beeindrucken.

»Die Bogenschützen sollen anfangen!«, gab Brazzak seinen nächsten Befehl. Sekunden später begannen daumendicke Pfeile mit verhexten und vergifteten Spitzen auf die eingekesselten Daelbaner niederzuregnen. Die Zauberer und Magier hatten alle Mühe, ihre Schutzschilde aufzubauen und aufrecht zu halten. Eng zusammengedrängt, störten sie sich teilweise gegenseitig, so dass der eine oder andere Pfeil einen Weg ins Ziel fand.

»Verdammt!«, schrie Xurina, die von einem vergifteten Pfeil am linken Arm gestreift wurde und dabei noch sehr viel Glück hatte, dass nur sehr wenig Gift in ihre Blutbahn geraten war. Ihr Arm wurde gelähmt, aber sie war am Leben. Ein Zwerg namens Bondil aus der Stahlschmiede Daelbars hatte weniger Glück, ihn traf ein verhexter Pfeil direkt in die Brust. Das verfluchte Fluggeschoss drang vollständig in ihn ein, tötete ihn aber nicht. Stattdessen entwickelten sich in rasender Geschwindigkeit eklige, grüngelbe Eiterbeulen auf Bondils Haut, die irgendwann platzten und giftigen, ätzenden Auswurf versprühten. Ein junger Bronzedrache, Baranang, sah die Qualen des Zwergs. Ihre Blicke trafen sich und der Drache verstand. Mit einem kurzen kontrollierten Feuerstoß verdampfte er Bondil. Mit feuchten Augen und gesenktem Kopf wandte sich die Echse wieder der Schlacht zu. Baranang hasste den Krieg.

»Drachen nach vorne!«, Uskav gab nicht auf – niemals!

Trotz der dramatischen Lage, in der sich die Truppen Daelbars plötzlich wiederfanden, ließ Uskav nicht locker und organisierte seine Streitmacht neu. Die Drachen wanderten in die erste Reihe, ihr Feuer sollte die Feinde auf Distanz halten, was ihnen auch sehr schnell gelang. Um die Daelbaner bildete sich ein Streifen von gut 25 Metern, der frei von Feinden war. So kam es zwar nicht zu direkten Kämpfen, doch prasselten nach wie vor Pfeile auf sie nieder und forderten mehr und mehr Opfer.

»Wir müssen ausbrechen!«, rief Roderick seinem Freund zu, »Hier werden wir aufgerieben.«

»Ja, ich weiß«, rief Uskav zurück und zog sich beiläufig einen Pfeil aus dem Oberschenkel, »Ich habe da eine Idee.«

Natürlich wusste Uskav, dass sie eingekesselt nicht lange standhalten konnten. Früher oder später würden die Schutzschirme zusammenbrechen, wahrscheinlich eher früher als später. Ein Schirm war sogar bereits ausgefallen. Ein verhexter Pfeil traf einen Daelbaner, der, von Wahnsinn erfasst, wild um sich schlug und dabei einen Zauberer am Kopf traf, worauf dieser die Kontrolle über seinen Schutzschirm verlor. Dem Zauberer ging es soweit gut, für den vom Pfeil getroffenen kam hingegen jede Hilfe zu spät. Uskav wusste, dass nur eine Gewaltaktion sie retten konnte.

Schnell auf sich ändernde Gegebenheiten reagieren zu können gehört zu den Grundfähigkeiten, die ein jeder Heerführer beherrschen sollte. Uskav galt als Meister der besonnenen Improvisation. Selbst in schier ausweglosen Situationen handelte er ruhig und wohlüberlegt. Selbst stark von Feinden bedrängt, entwickelte Uskav noch Gegenstrategien, so wie jetzt auch. Auf sein Zeichen begann die Drachen feuerspeiend sternförmig auszuschwärmen und breite Gräben in die Reihen der Gegner zu fräsen. Ein risikoreicher Schachzug, da zum einen die zurückbleibenden Daelbaner nicht mehr von ihren Drachen geschützt waren und gleichzeitig die Gefahr bestand, dass die geflügelten Daelbaner abgeschossen wurden. Hinzu kam, dass Uskav mit diesem Manöver den Gegner kaum über seine Absichten täuschen konnte. Da den Daelbanern nur eine Fluchtrichtung möglich war, nämlich in Richtung ihrer Stadt, war offensichtlich, in welche Richtung der Ausbruchsversuch zielen würde. Was Uskav aber erreichte, war, dass er das feindliche Heer in voneinander entkoppelte Teile trennte. Die Schneisen, die die Drachen mit Klauen und Feuer in die feindliche Armee rissen, verlangsamte den Gegner erheblich. Die Kommunikation zwischen den isolierten Teilen war zäh und band Ressourcen, was sich auch darin zeigte, dass sich der Pfeilregen deutlich abschwächte.

»Durchbrechen!«, war konsequenter Weise Uskavs nächster Befehl.

In drei breiten Strömen brachen die Daelbaner durch und erschlugen auf ihrem Marsch weite Teile der zwischen ihnen und Daelbar liegenden feindlichen Streitmacht, die allerdings erbittert kämpfte.

»Geschafft!«, rief Roderick, als Uskav und er mit der Nachhut freies Gelände erreichten. Sofort waren die Drachen zur Stelle und schufen mit ihrem Feuer eine unüberwindliche Bannmeile. Genau so natürlich nahm der Gegner sie wieder unter Beschuss. Die Magier und Zauberer waren wieder damit beschäftigt, ihre Schutzschirme aufzuspannen.

»Ja, aber zu welchem Preis!«, fauchte Uskav, »Wir haben fünf Drachen verloren! Von den Gefallenen Männern und Frauen will ich gar nicht erst anfangen. Und das nur, weil ich zu übermütig war! Verdammt, wie konnte ich solch einen dummen Fehler begehen? Ich hätte wissen müssen, dass man uns eine Falle stellen wollte! Ich …«

»Uskav!«, brüllte Thonfilas mit unelbischem Zorn in der Stimme, »Halt’s Maul!«

»Was?«

»Halt’s Maul! Ich will kein Selbstmitleid von dir hören, klar? Du hast getan, was du für richtig hieltst. Wer handelt, macht auch Fehler. Doch was wäre die Alternative gewesen? Zusammengekauert auf den Tod warten? Wir wussten alle, dass es Opfer geben würde. Das hat aber niemanden davon abgehalten, dir zu folgen!«

Uskav fauchte Thonfilas wütend an. Auf diese Weise hatte noch niemand gewagt mit, ihm zu sprechen, es sei denn, man legte es darauf an, vom Uruk den Kopf abgebissen zu bekommen. Uskav kochte vor Wut, so sehr, dass er platzen konnte. Dabei war er gar nicht auf Thonfilas sauer, sondern auf sich selbst.

»Knurr hier nicht so rum!«, kam es von Roderick, »Spar dir dein Selbstmitleid. Wenn wir überleben, kannst du dich später immer noch darin suhlen. Im Moment, haben wir eine Schlacht zu gewinnen. Also, was sollen wir machen?«

Uskav tobte, brüllte, wirbelte herum, griff plötzlich nach einem Dolch, rammte ihn sich in den linken Handrücken und begann erneut markerschütternd zu brüllen. Dann wurde er ruhig.

»Geht’s dir jetzt besser?«, fragte Thonfilas, den der uruksche Charakter immer wieder überraschte.

Der Ansatz eines Grinsens schlich sich auf Uskavs Lippen: »Ja … Etwas … Schauen wir mal, wo wir jetzt stehen.«

In Wirklichkeit brauchte Uskav das Schlachtfeld nicht betrachten, er wusste auch so, dass sie verloren hatten. Uskav wusste es, Thonfilas wusste es, Roderick wusste es. Ein Blick in die Augen seiner Freunde sprach mehr als tausend Worte. Körperlich mochten sie noch am Leben sein, aber in Wirklichkeit waren sie tot. Es war nur noch einer Frage der Zeit. Natürlich konnten die Drachen weiter versuchen, das Orkheer zu dezimieren. Natürlich konnten die Magier und Zauberer Daelbars versuchen, die eigene Streitmacht vor Luftangriffen zu schützen. Doch in letzter Konsequenz war die Lage hoffnungslos. Uskav konnte rechnen. So vorsichtig die Drachen ihre Angriffe auch flogen, es kam zwangsweise zu Verlusten. Es war wirklich simpelste Mathematik: Bei ihren momentanen Verlustraten würden am Ende, wenn der Gegner alle Drachen erschlagen hatte, immer noch mehr als zwanzigtausend feindliche Orks übrig bleiben. Das war sie, die abartige Arithmetik des Krieges. Am Ende ging es nur um eine Frage: Wer hatte mehr Männer. Die Frage, ob ein Kämpfer ein Uruk, ein Drache, ein Ork, ein Mensch, Troll oder Elb war, war fast nebensächlich. Es gab Tabellen, mit deren Hilfe man die Kampfkraft der einzelnen Gattungen ineinander umrechnen konnte. Uskav brauchte diese Tabellen nicht, als erfahrener Stratege hatte er sie im Kopf und egal wie er rechnete: Es reichte nicht.

»Die Drachen und ihre Seelen sollen sich fertig machen und hier verschwinden!«

Der entschlossene Blick, den Thonfilas in Uskavs Augen entdeckte, ließ den lebenserfahrenen Elb zusammenzucken und schlucken, um dann ebenso entschlossen zu lächeln: »Nein, mein Freund! So leicht wirst du uns nicht los.«

»Verdammt, geht, solange ihr noch könnt!«, knurrte Uskav, »Die Schlacht ist …«

»Wir wissen, was mit der Schlacht ist!«, unterbrach Roderick, »Wir sind nicht blind! Doch es ist egal. Wir werden kämpfen! Wir alle! Vergiss nicht, wir sind Drachen! Wir sehen nur aus wie Menschen, Elben oder auch Uruks. Hast du mal versucht einen Drachen von etwas abzubringen?«

Uskav schaute forschend in Rodericks Augen und fand dort nichts anderes, als kalte Entschlossenheit. Aber nicht nur bei ihm. Jeder Bürger Daelbars, egal ob Bäcker, Drache, Klempner, Zauberer oder Zeitungsverkäufer, jeder, ob Mann, Frau, Elb, Gnom, Drache oder Mensch, trug den gleichen zu allem entschlossenen Ausdruck im Gesicht. Dies war ihre Stadt, ihre Freiheit, die sie verteidigten.

»Nun denn, lasst es uns zusammen zu Ende bringen …«, verkündete Uskav, mit der gleichen Entschlossenheit in der Stimme, die diejenige auszeichnet, die nichts mehr zu verlieren haben.

Drachenkampf

Der größte Trick des namenlosen Bösen war, den Menschen einzureden, es würde nicht existieren.

Sprichwort

»Nein, Ivo nicht! Markendorfer ist …«

… ein Dämon – Diese Erkenntnis durchzuckte Ivoricalad im gleichem Moment, in dem seine rasiermesserscharfen Klauen durch Markendorfers Körper fuhren. Statt das Fleisch eines fetten, feisten Mannes aufzuschlitzen, platzte eine dünne Hülle, aus der sich ein schwarzer, feucht glänzender, geflügelter Dämon schälte. Da Magie, insbesondere die Schwarze, wenig mit Naturgesetzen gemein hatte, verwunderte es niemanden, dass Dämon Markendorfer gut dreieinhalb Meter groß war und eine Flügelspannweite von etwa viereinhalb Metern besaß.

»Überraschung!«, rief der Dämon, der bisher auf den Namen Markendorfer hörte, fröhlich und schüttelte den letzten Rest seiner menschlichen Haut wie eine alte Wurstpelle ab.

»Ich glaube, wir wurden uns noch nicht richtig vorgestellt«, entgegnete Ivo völlig unbeeindruckt von diesem Auftritt, »Gestatten, Ivoricalad, Kristalldrache.«

»Nein, die alte Kristallechse«, höhnte Markendorfer beziehungsweise das schwarze Etwas, was in Markendorfer enthalten war, »Ihr Drachen müsst ziemlich verzweifelt sein, in diese Welt zurückzukehren. Ich schätzte, dein Blechbruder kreist hier auch irgendwo in der Nähe rum, oder?«

Das war interessant. Der Dämon kannte nicht nur Ivocarilad, er wusste auch, dass Mithval sein Bruder war. Mich beschlich ein wenig der Verdacht, dass uns die Drachen nicht die ganze Wahrheit über ihre Herkunft erzählt hatten.

»Wir hätten es eigentlich wissen müssen. Es konnte nur ein Dämon hinter der ganzen Sache stecken. Haben wir euch also doch nicht alle vernichtet?«, knurrte Ivo, wobei seine Kristallschuppen auf bedrohliche Weise zu funkeln begannen. Ich hatte meinen Drachen noch nie so angespannt erlebt. Jede seiner Bewegungen zeugte von äußerster Konzentration und Körperbeherrschung.

»Oh doch!«, lachte der Dämon, »Das habt ihr. Ihr ward ja so überaus gründlich und habt alle meine Brüder ermordet, wofür sie sich zu gegebener Zeit noch persönlich bedanken werden. Eine Sache habt ihr aber übersehen: Menschen sind schwach. Du glaubst gar nicht, wie unersättlich ihre Gier nach Macht sein kann. Typen wie Markendorfer, würden alles tun, um …«

Es klang wie Smalltalk, sehr höflich und im leichten Plauderton geführt, doch spürte jeder im Raum, dass sich zwischen dem Dämon und Ivoricalad etwas wesentlich Bedrohlicheres entwickelte. Allein, wie die beiden sich belauerten und umeinander herumschlichen, sprach Bände. Ivo und der Dämon ließen sich keinen Bruchteil einer Sekunde aus den Augen. Ich kannte meinen Drachen. Er war nicht einfach nur ein mit mir verbundenes Wesen, sondern ein Teil von mir. Doch anders als alle anderen Drachenseelen wusste ich, wie man sich im Körper eines Drachens fühlte. Und so sah ich mehr als jeder andere. Ich sah, unter welchem körperlichen Stress Ivo stand, konnte erkennen, dass fast jeder Muskel gespannt war. Ivo war bereit zum Angriff. Eine falsche Bewegung des Dämons und Ivo würde über ihn herfallen. Oder der Dämon über ihn.

»Sag mal, Scherbenkröte, wer von den Wichsern muss dir sein Hirn leihen?«

Billig! Ich war fast beleidigt. Wollte der Dämon uns wirklich mit derartig abgestandenen Sprüchen provozieren?

»Scherbenkröte? Mann, dass war ja fast einfallsreich!«, mischte sich unerwartet Suman ein, der sich von seinem Sprung ins Leere erholt und in einen Menschen zurück verwandelt hatte. Mit dem Handrücken seiner rechten Hand wischte sich mein Liebling folterbedingte Blutreste vom Mund, »Aber Respekt, Markendorfer oder wie immer du auch heißen magst, mit einem Dämon hätte ich als Letztes gerechnet. Einfach widerlich. Mir wird jetzt noch schlecht, wenn ich daran denke, mit dir geschlafen zu haben.«

»Ach Suman, was soll ich denn sagen?«, ätzte der Dämon, »Was meinst du, wie mich meine Brüder aufziehen werden, wenn sie erfahren, dass ich es mit einem Straßenköter getrieben habe. Mist, ich hätte dich doch kaltmachen sollen.«

Dies gesagt habend, fiel Markendorfers Blick auf die untätig in der Gegend herumstehen Wachen: »Hallo, wollt ihr nicht endlich mal euren Job tun und die Typen abknallen? Keine Angst, um die Echse kümmer ich mich schon.«

»Ähm, nein, ich glaube nicht …«, erwiderte eine der Wachen und nahm seine Kampfmaske ab. Gilfea kam zum Vorschein: »Es tut mir ausgesprochen Leid, aber ich befürchte, dass deine Wachen wohl verhindert sind.«

Mit diesen Worten nahmen auch die restlichen Wachen ihre Masken ab, worauf Gildofal, Erogal und Sebastian zum Vorschein kamen.

»Oh nein, nicht der auch noch!«, heulte der Dämon und ließ gespielt frustriert seine Schwingen hängen, »Erogal D’Santo, der Übervater der Gutmenschen! Und, gefällt dir, was ich mit deinem Orden angestellt habe? Oh, wie werde ich es vermissen, deinen jämmerlichen Haufen selbstgerechter Weltenretter gegeneinander auszuspielen.«

»Ich glaube, das reicht«, meinte Ivo, »Bereit deine Brüder wiederzusehen?«

»Was?«, lachte der Dämon, »Willst du mich etwa herausfordern? Komm, geh’ im Sandkasten spielen, du Zwerg!«

Provozieren gehört zum Handwerk, insbesondere, wenn man ein Dämon war. Mein Drache ließ sich nicht provozieren. Mit einem gewaltigen Satz und einer Geschwindigkeit, mit der nicht einmal Markendorfer gerechnet hatte, trat Ivo seinen rechten Drachenfuß gegen die Brust des Dämons. Der Aufprall war so kraftvoll, dass das schwarze Monster quer durch den Raum flog, gegen eine Wand knallte und zusammen mit ein paar abgeplatzten Kristallen des Barad Bauls zu Boden fiel.

»Aua, das tat weh!«, schrie Markendorder und rappelte sich wieder auf, »Na dann, schauen wir mal, was du davon hältst!«

Noch während er sprach schleuderte der Dämon Ivo rasiermesserscharfe Stahlnadeln entgegen, die seinen Händen entströmten. Doch unmittelbar, bevor die ersten Nadel meinen Drachen trafen, veränderten sich dessen Kristallschuppen. Es sah aus, als wenn Ivo versteinerte. Der transparente Glanz seiner Drachenhaut verschwand und machte einer dunkelgrauen undurchsichtigen Färbung Platz, zudem schien ihre Struktur gröber und kantiger zu werden, als wenn sich Glas in Granit verwandelt hätte.

Die Stahlnadeln trafen ihr Ziel, erzielten aber keinerlei Wirkung. Unter lauten Klirren und Geklimper prallten sie von Ivo ab und landeten verbogen oder zerbrochen vor ihm auf dem Boden.

»Schiebung!«, rief der Dämon, »Du schummelst! Wie soll ich töten, wenn du nicht mitspielst?«

»Oh, entschuldige!«, erwiderte Ivo, der zu einem neuen Ganzkörperangriff ansetzte, »Aber deine Attacke stand auch nicht auf der Liste der erlaubten Kampfzüge.«

Dieses Mal war Markendorfer vorbereitet und wich mit einem Satz aus dem Stand in Richtung Decke aus. So sprang Ivo zwar ins Leere, hatte aber offenbar mit einem derartigen Ausweichmanöver des Dämons gerechnet. Wie aus dem Nichts tauchte der mit scharf gezahnten Kristallspitzen besetzte Schwanz Ivos auf und knallte Markendorfer quer auf die Brust. Schwarzes Dämonenblut tropfte herab, wo es sich unter Rauchentwicklung in den Boden fraß.

»Aua! Verdammt! Du sollst mich doch nicht angreifen«, stöhnte der Dämon gespielt auf, »Mich beschleicht der Eindruck, dass du mich wirklich umbringen willst.«

»Wenn es dir nichts ausmacht, genau das war der Plan!«, antwortete Ivo und setzte nach. Jedenfalls versuchte er es, doch diesmal war der Dämon schneller. Er packte Ivos zutretenden Fuß an dessen Gelenk und riss den daranhängenden Körper zu Boden. Krachend knallte mein Drache auf den Grund. Doch genau so schnell, wie er fiel, war er auch wieder auf den Beinen und ließ mit einer Kombination von Schwanzattacke und linker Schwinge gegen Markendorfers Seite den Gegner zurückweichen. In eine Ecke gedrängt, begann nun wieder Markendorfer Ivo anzugreifen, sodass sich ein ständiges hin und her von Angriffen und Gegenangriffen entwickelte. Dabei nahmen die beiden Kontrahenten wenig Rücksicht auf die Umgebung. Nach und nach zerlegten sie die gesamte Einrichtung der Folterkammer. So brach eine hölzerne Streckbank krachend unter Ivo zusammen, nachdem er von Markendorfer gepackt und quer durch den Raum geschleudert wurde. Der Dämon wiederum musste sich nach einer ähnlichen Aktion mit umgekehrten Vorzeichen aus den Trümmern einer schweren Truhe befreien. Wir, die hilflosen Zuschauer, waren permanent damit beschäftigt, den beiden nicht in die Quere zu kommen.

Je länger der Kampf andauerte, desto deutlicher wurde, dass die beiden Kontrahenten einander ebenbürtig waren, was mir überhaupt nicht gefiel. Bestand damit die konkrete Gefahr, dass Ivo unterlag und nicht nur sein sondern auch mein Schicksal besiegelt war. Denn ganz im Gegensatz zum fröhlich-spitzzüngigen Ton, den die beiden Gegner nach wie vor miteinander pflegten, ging es bei ihrem Kampf um nichts Geringeres als Leben und Tod.

Sollte der Dämon obsiegen, wäre nicht nur Ivos und mein Leben zum Untergang verdammt. Bei diesem Kampf ging es um viel mehr, als nur darum Suman aus den Klauen Markendorfers zu befreien. Sein Ausgang entschied über die Zukunft: Meiner Zukunft, die meiner Geliebten, meiner Freunde, Daelbars, der Gilde, Kirche und sogar Goldors, Harraslands und Crossars. Der Dämon in Markendorfer verfolgte ein Ziel.

»Komm, Ivo, gib auf«, flötete Markendorfer gönnerhaft, während er erschreckend elegant einer Attacke auswich, »Ich bin gnädig und gewähre dir und deinem Schätzchen einen schnellen Tod. Warum die Sache unnötig rauszögern? Du weißt doch, dass du gegen mich nicht gewinnen kannst!«

Verdammt! Markendorfers Worten beschrieben tatsächlich einen möglichen Ausgang des Kampfs. Ich war Ivo und Ivo war ich. Wir waren ein Wesen mit zwei Körpern. Ich konnte fühlen, welche Kräfte auf Ivo einschlugen, auch wenn mein Drache dies vor mir zu verbergen suchte. Vor unseren Augen kämpften nicht einfach ein kleiner Drache und ein geflügelter Dämon sondern Naturgewalten. Wenn Ivo Markendorfer einen Schlag versetzte und traf, flog der Dämon nicht nur quer durch den Raum, sondern hätte beim Aufprall auch jede Wand durchschlagen, wäre der Barad Baul nicht aus seinem schwarzen, wahrscheinlich magischen Kristall erbaut. Stattdessen krachte und knirschte es infernalisch. Teile der Wand splitterten bei jedem Aufprall ab.

Wie lange konnte der Kampf noch andauern? Ich fühlte, dass Ivo schwächer wurde, während der Dämon keinerlei Anzeichen von Erschöpfung zeigte. Nur, wie sollten wir helfen? Wir hatten schon Mühe in Deckung zu bleiben und nicht zwischen die beiden Kämpfer zu geraten. Kein Mensch, nicht einmal ein Elb wie Gildofal, hätte auch nur einen Schlag Ivos oder des Dämons heil überstanden.

Kein Mensch?

Eine wahnwitzige Idee formte sich in meinem Schädel. Als Mensch konnte ich Ivo nicht helfen, aber vielleicht als Drache. Ivo hatte mir zwar erklärt, dass ich auch in meiner Drachenform ein Mensch blieb, allerdings hatte er vergessen zu erwähnen, was dies genau bedeutete. Ich hoffte, dass sich dies nicht auf die Stärke eines Drachen bezog. In dem Fall würde sich meine Idee als eine ausgesprochen dumme herausstellten. Andererseits wusste ich, dass Ivo als Mensch wesentlich empfindlicher und schwächer war, als als Drache. Vielleicht funktionierte dies auch umgekehrt und ich war als Drache wesentlich stärker, als als Mensch?

Wer nichts wagt, der nichts gewinnt. Ich verwandelte mich in meine Drachengestalt. Das Geräusch, mit dem meine Bekleidung ihr Missfallen zu meinen neuen Körperproportionen kund tat, erregte zum Glück nur die Aufmerksamkeit meiner Freunde, die mich etwas verwundert anstarrten. Und so war Markendorfer ziemlich überrascht als sich ihm plötzlich zwei Drachenklauen in den Rücken bohrten.

»Scheiße!«, brüllte der Dämon, der gerade Ivo an eine Wand gepinnt hatte, »Wo kommst du Viech plötzlich her?«

Mehr sagte Markendorfer nicht, denn zu mehr war er nicht mehr fähig. Von meiner Attacke abgelenkt, vergaß er für einen Moment, auf seine Deckung zu achten.

»Nach rechts!«

Zwei Worte Ivos und ich wusste, wie ich mich verhalten sollte. Markendorfer musste unsere Gedankenkommunikation ebenfalls gehört haben, denn sein Kopf, den er mir zugewandt hatte, drehte sich blitzschnell wieder Ivo zu. An dem, was dann geschah, ließ mich mein Drache direkt teilhaben. Ich sah durch Ivos Augen, wie Markendorfer die seinen weit aufriss, als ein schwarzer Schatten auf ihn zuraste. Mit einer Geschwindigkeit, die ich nicht für möglich gehalten hätte, raste die kristallene Schwanzspitze meines Drachens auf Markendorfer zu. Wie ein Lanze durchbohrte Ivos Schwanz den Brustkorb des Dämons und trat am Rücken wieder aus. Wäre ich nicht nach rechts ausgewichen, hätte mich mein eigener Drachen ebenfalls aufgespießt.

»Aber …«, stammelte Markendorfer ungläubig, während schwarzes Blut aus seinem Mund quoll, »Das hätte nicht passieren dürfen!«

»Glaub’s ruhig. Du bist tot!«, verkündete Ivo.

Der Schwanz meines Drachens bestand aus unzähligen messerscharfen Kristallen, die wie Zähne eines Sägeblattes angeordnet waren. Doch im Gegensatz zu einem Sägeblatt konnte Ivo diese Zähne verstellen. Als er Markendorfer durchbohrte hatte er sie wie Widerhaken leicht angewinkelt. Jetzt spreizte er sie weit auf, was beim Rausziehen des Schwanzes aus Markendorfer dem Dämon den Rest gab. Leblos fiel sein Körper zu Boden.

»Ekelhaft!«, knurrte Ivo, »Kann mir jemand verraten, wie ich jetzt meinen Schwanz wieder sauber bekomme?«


»Segato? Bist du das?«

Suman, mein Suman, kam auf mich zugehumpelt. Erst jetzt, als er direkt vor mir stand, konnte man das wahre Ausmaß seiner Verwundungen erahnen. Das linke Auge meines Lieblings war vollkommen zugequollen, beiden Augenbrauen und die Unterlippe war aufgeplatzt. Sumans Kleidung bestand nur noch aus blutgetränkten Fetzen. Wie alte schmierige Lumpen klebte sie an seinem Körper. Doch das war nicht das Schlimmste. Durch die Risse im Stoff konnte ich Sumans Haut sehen. Ich musste schlucken, mein Hals schnürte sich zusammen und ich Rang um Fassung. Der Körper meines Lieblings war mit tiefen Striemen übersäht. Dieses Schwein von einem Dämon hatte meinen Schatz schwer gefoltert. Ich war versucht dem toten Markendorfer nachträglich seinen Kopf abzubeißen. Als Drache unterliegt man gewissen Charakterveränderungen.

»Ja …«, antworte ich und versuchte mich in einem Lächeln, wobei ich nicht sicher war, wie dies bei meiner Drachenschnauze wirklich rüber kam, »Ich dachte, wenn ihr, du und Gildofal, die Hunde in unserer Kleinfamilie gebt, dann könnte ich die Echse spielen. Du weißt, dass der Trend zum Zweithaustier geht.«

Suman lachte! Trotz seiner Verletzungen schlich sich ein überglückliches Strahlen auf das Gesicht meines Lieblings, dass ich fast vor Freude losgeheult hätte. Doch plötzlich schlich sich ein Schatten auf Sumans Gesicht und er begann zu husten, beruhigte sich dann aber wieder.

»Alles in Ordnung?«

»Ja, es …«, begann Suman bis ihn ein weiter Hustenanfall unterbrach. Er begann zu würgen und plötzlich hustete Suman Blut.

»Segato, mir wird …«

Weiter kam er nicht. Suman sackte zusammen und wäre zu Boden gestürzt, hätte ich ihn nicht aufgefangen.

»Gilfea, ich brauch deine Hilfe! Sofort!«

Eitelkeit

Bescheidenheit ist die jämmerliche Entschuldigung der Schwachen für Feigheit.

Marschall Brazzak

Krieg - Wer auch immer die Behauptung aufgestellte, der Krieg sei die Mutter aller Dinge, der hatte noch keinen erlebt. Krieg war das Ende alle Dinge.

Die Daelbaner führten einen tapferen, aber letztlich verlorenen Kampf gegen die Orkarmee. Verschanzt hinter Felsblöcken und Trümmern der Stadtmauer verteidigten sie ihre Stadt. Welle um Welle liefen die Orks gegen ihre Linie an und wurden bisher auch immer wieder zurückgeschlagen. Doch der Preis war hoch. So gut sie auch kämpften, die Daelbaner waren nicht unverwundbar. Ein verirrter Pfeil, eine kurze Übermacht von Feinden, bevor Unterstützung herbeieilen konnte, und schon war wieder ein tapferer Mann oder Frau gefallen.

Ähnliches galt für die Drachen. Unermüdlich waren Sie dabei mit ihrem Feuer größere Orkverbände zurück zu drängen. Doch hatten sie damit immer weniger Erfolg. Die feindliche Streitmacht hatte sich dann doch auf die neue Bedrohung eingestellt. Überall lauerten versteckte Angreifer, die sie mit Jagdlanzen vom Himmel holen wollten. Der Vorteil den Himmel kontrollieren zu können, schwand zusehends dahin. Insbesondere als die Orks ihre Strategie änderten und ihre Angriffstrupps durch konzentriertes Sperrfeuer schützten. Nur ausgesprochen erfahrene Drachen mit jahrhundertelanger Flugerfahrung gelang es hin und wieder dem Feind einen empfindlichen Schlag zu versetzen. Doch der Preis war hoch. Fünfzehn Drachen wurden schwer verletzt oder trugen Lähmungen durch Jagdlanzen davon, konnten sich aber noch in Sicherheit bringen. Für drei Drachen kam jede Hilfe zu spät. Mehrere Jagdlanzen hatten sie weit im feindlichem Gebiet erwischt. Die Drachenjäger des Orkheeres besorgten dann den grausamen Rest.

Uskav war überall. Der Uruk leistete übermenschliches, wenn nicht sogar überorksches. Immer dort, wo ein Daelbaner in Bedrängnis geriet, war Uskav zur Stelle. Er allein erschlug tausende Orkhäuptlinge. Doch auch für Uskav galt, was für alle Daelbaner galt, seine Kraft war letztendlich begrenzt, trotz der belebenden Wirkung Lokrils.

»Wir werden aufgerieben«, stellte Roderick fest.

»Ja …«, erwiderte Uskav matt. Müde und erschöpft, stütze er sich auf sein Schwert. Diverse blutende Wunden zierten seinen Körper.

»Du musste dich etwas ausruhen.«

Thonfilas war herangetreten und verband einige der tieferen Schnitte in Uskavs Körper.

»Ich kann nicht«, stöhnte Uskav matt, »Daelbar verlässt sich auf mich. Ich habe versprochen mein Leben für diese Stadt zu geben, sollte es nötig sein.«

»Wem würde solch ein Opfer nützen?«, fragte Roderick, »Wir brauchen dich lebend. Solange es noch etwas zu verteidigen gibt, brauchen wir deine Kraft und Erfahrung. Nur du weißt, wie man gegen ein Orkheer kämpft.«

Aus den Augenwinkeln schielte Uskav von Roderick zu Thonfilas und wieder zurück: »Ihr werdet nicht aufgeben, oder? Wollt ihr es euch nicht nochmal überlegen und euch mit den Drachen in Sicherheit bringen?«

»Niemals!«, kam es gleichzeitig von Roderick und Thonfilas.

»Erwarte nicht, dass auch nur ein Daelbaner fliehen wird. Wir kämpfen! Notfalls bis zum Ende! Da sind wir wie du.«

Usakav lachte. Im Erwartung der sicheren Niederlage musste Uskav lachen. Es war zwar ein bitteres, aber trotz allem ein Lachen: »Jungs, ihr habt keine Ahnung, wie sehr ich euch liebe. Ihr zwei habt mir etwas gegeben, von dem ich nie gewagt hätte, auch nur zu träumen: Eine Familie! Ich …«

Uskav sprach nicht weiter. Stattdessen begann er zu lauschen. Zuerst verstanden Roderick und Thonfilas nicht, was Uskav stocken ließ, doch dann bemerkten sie es ebenfalls. Stille. Die Waffen des Feindes schwiegen. Die Orks hörten auf zu brüllen und zogen sich sogar ein Stück zurück.

»Was …?«, begann Roderick, doch Uskav deutete ihm mit einer Handbewegung zu schweigen.

»Spinnenreiter!«, murmelte Uskav grüblerisch. Der Uruk schloss seine Augen und lauschte in sich hinein. So verharrte er einen Moment bis sich sein Ausdruck aufhellte, »Brazzak! Natürlich, ich hätte es wissen müssen. So, wie dieser Feldzug geführt wurde, konnte nur Brazzak der Befehlshaber sein.«

»Und das bedeutet?«, fragte Thonfilas.

»Etwas Gutes!«, erwiderte Uskav hoffnungsvoll, »Ich ahne, was Brazzak will. Er wird uns zur Kapitulation auffordern. Brazzak ist ein wirkliches Monster. Er suhlt sich gern im Schmerz seiner Gegner, doch noch lieber ist er der Verursacher der Schmerzen. Ich sage es ganz offen. Sein Kapitulationsangebot wird darin bestehen, uns allen einen schnellen und schmerzfreien Tod zu gönnen. Er weiß ganz genau, dass wir ein derartiges Angebot nicht annehmen werden. Aber genau das will er auch. Er will uns quälen, bevor er uns langsam tötet. Und das will er uns wissen lassen.«

»Ähm, Uskav, Schatz«, begann Roderick etwas verlegen, »Was ist daran gut?«

»Er kommt her«, Uskavs Mine hellte sich noch weiter auf, »Der alte Brazzak. Eitel und geltungssüchtig wie kein anderer, wird er persönlich kommen, um uns die Kapitulation vorzuschlagen. Er hasst mich. Er hat mich schon immer gehasst, weil Anathorn mich zu seinem obersten Urukgeneral ernannt hatte und nicht ihn. Brazzak ist der Überzeugung, dass er dieses Amt verdient hätte. Ja, er wird kommen, um seinen lang ersehnten Triumph über mich auszukosten. Er will mich demütigen, bevor er mich tötet. Er will sich an meiner Niederlage weiden.«

»Und das …«, Roderick zögerte und zog skeptisch eine Augenbraue hoch, »ist gut?«

»Es ist fantastisch!«, Uskav grinste breit, »Brazzaks Geltungssucht und Gier nach Vergeltung ist sein Schwachpunkt. Machen wir uns nichts vor. Brazzak ist, so wie ich, ein Meister des Mordes. Er weiß, wie man tötet, aber nicht wann. Wenn ich kämpfe, dann töte ich und spiele nicht erst noch mit meinem Gegner. Brazzak ist da ganz anders. Er lässt seine Opfer nicht nur zappeln, er muss ihnen auch immer noch seine Überlegenheit zeigen, um sich dann an ihrer Verzweiflung zu ergötzen. Welch gefährlicher Schwachsinn! Man weiß nie, über welche versteckten Waffen ein selbst angeschlagener Gegner noch verfügt. Selbst tot, können sie noch gefährlich sein.«

»Du hast einen Plan?«, fragte Thonfilas neugierig.

»Vielleicht …«, erwiderte Uskav vage, »Brazzak will mich demütigen? Mir seine Überlegenheit zeigen? Nur zu. Schauen wir mal, mit welchem Angebot er uns locken will.«


Ein paar Minuten später wurde Uskav gemeldet, dass sich Unterhändler näherten wovon einer auf einer gigantischen Spinne reiten würde. Roderick, Thonfilas und Uskav griffen nach ihren Schwertern und bezogen Position für den Empfang der Truppe, wobei Roderick alles andere als glücklich wirkte: Reitspinnen, schon beim Gedanken daran wurde ihm schlecht. Dabei war er bisher einem derartigen Tier noch nie begegnet. Hätte er es, es hätten ihn keine zehn Pferde dazu gebracht, den Viechern ein weiteres Mal gegenüber zu treten.

Brazzaks Reitspinne nahm es größenmäßig locker mit einem kleinen Grasdrachen auf. Acht stark behaarte Beine entwuchsen einem fetten schwarzen ebenfalls dicht behaarten Körper, der einen mit sechs Augen besetzten Kopf trug. Auf der Spinne war ein Reitsitz befestigt, ähnlich einem Thron. Zügel benötigte ein Reiter nicht. Reitspinnen und Drachen hatten nämlich noch etwas anderes gemein. Ihr Reiter kommunizierte auf mentalem Weg mit seiner Spinne. Anders als bei Drachen war dies kein symbiotisches und auf Harmonie und Respekt angelegtes Bündnis sondern erfolgte in einem Akt der Unterwerfung. Ein Uruk, der eine Spinne reiten wollte, musste ein Jungtier von einer Zuchtmutter rauben, was an und für sich bereits ein lebensgefährliches Unterfangen darstellte. Reitspinnen sind tückisch, extrem kräftig, zäh und tödlich giftig. Von zehn Reiterkandidaten endete im Schnitt einer in der Nahrungskette.

Gehörte man hingegen zu den glücklichen neun, stand man vor der Aufgabe den Willen der Spinne zu brechen. Dies erforderte einiges an schwarzer Magie und Beschwörungen. Dann kam der heikelste Teil. Wie erwähnt, waren Reitspinnen ausgesprochen tückisch und verschlagen. Ob die Beschwörung funktioniert hat, zeigte sich nur dadurch, dass man anschließend nicht gebissen wurde, was in drei von fünf Fällen der Fall war. Hatte man die Spinne allerdings bezwungen, verfügte man über eines der gefährlichsten, treusten, schnellsten und universellsten Reittiere, das man sich denken konnte. Für eine Reitspinne stellten senkrechte Abgründe, Felsspalten, unebenes Gelände keinerlei Hindernis dar. Mit ihrer Spinnseide verfügten sie sowohl über eine Waffe, mit der Gegner eingefangen und gefesselt werden konnten, als auch ein universell einsetzbares Seil. Die Kraft ihrer Beinmuskeln war so groß, dass sie aus dem Stand locker Sprünge von über dreißig und mehr Metern durchführen konnten, was eine beliebte Angriffstechnik darstellte. Nichtsahnende Opfer wurden einfach mit dem fetten Leib zermalmt.

Und solch einem Monster sah sich Roderick nun gegenüber stehen. Mindestens zwei der sechs Augen musterten ihn mit unverhohlener Mordlust. Nur die Anwesenheit Uskavs und Thonfilas bewahrten den an sich tapferen Neovikinger davor, schreiend davon zu laufen.

»Wenn das nicht der Verräter Uskav ist …«, begann Brazzak maliziös.

»Brazzak, was verschafft uns das Missvergnügen deiner Anwesenheit?«, erwiderte Uskav, ohne auf Brazzaks Beleidigung einzugehen.

»Ich weiß nicht, was dich das angehen würde«, antwortete Brazzak und wandte sich Thonfilas zu, »Du, Elbenschwuchtel, bist du der Chef dieses Echsenclubs?«

Statt sofort zu antworten, musterte Thonfilas Brazzak erst einen Moment: »Ich kann mich nicht erinnern, dass du dich uns vorgestellt hättest.«

»Oh, du legst Wert auf Etikette. Die kannst du haben«, rief Brazzak, »Ich bin Marschall Brazzak und befehlige diese Armee. Unser Auftrag lautet, euch alle zu töten.«

»Du wirst sicherlich verstehen, dass wir mit deinem Auftrag nicht wirklich einverstanden sein können.«

»Mann!«, brüllte Brazzak, »Kneif dir keinen ab! Mich interessiert es einen Scheißdreck, ob ihr mit meinem Auftrag einverstanden seid. Wenn ich es richtig sehe, haben wir euch besiegt. Es ist nur eine Frage der Zeit. Vielleicht könnt ihr noch ein paar Stunden durchhalten, aber euer Ende ist unausweichlich. Ihr habt verloren und werdet die Konsequenzen tragen. Natürlich könnten eure Echsenreiter auf die Idee kommen, sich klammheimlich aus dem Staub zu machen, doch das würde ich euch nicht anraten. Die Zurückbleibenden würden teuer, sehr teuer dafür bezahlen. Wie gesagt, mein Auftrag lautet euch alle zu töten. Niemand hat mir gesagt, wie ich das anstellen soll. Hast du schon mal erlebt, wie eine Reitspinne ihr Opfer mit einem Biss erst lähmt und dann ihr Verdauungsgift injiziert? Oh, mein Baby liebt ihre Nahrung frisch und lebendig. Während sich die Muskeln langsam zu einem Nahrungsbrei verflüssigen, bleiben die Organe noch lange am Leben, auch das Gehirn. Du bekommst bei vollem Bewusstsein mit, wie du ausgesaugt wirst.«

Die von Brazzak mit unüberhörbarem Genuss vorgetragene Beschreibung reitspinnenspezifischer Ernährungsgewohnheiten gab Roderick den Rest, er übergab sich.

»Oh, ist der kleine Nordmann ein klein wenig zart besaitet?«, lachte Brazzak amüsiert.

»Brazzak, komm zur Sache: Was willst du?«, brachte Uskav die Unterhaltung auf den Punkt.

»Ich will dich!«, Brazzak beugte sich auf seinem Reitthron zu Uskav vor, »Dein Verrat hat Schande über die Uruks gebracht. Wegen dir vertraut man uns nicht mehr …«

Als hätte man das je getan, fügte Uskav in Gedanken hinzu.

»Dafür sollst du büßen!«, fuhr Brazzak fort, »Du lieferst dich uns aus.«

»schadow wedsch?«, fragte Uskav mit einem wissenden Funkeln in seinen Augen.

»Was hast du erwartet? Dass wir dich für dein Verbrechen, für deine unaussprechliche Schande auch noch mit einem leichten Tod belohnen?«, Brazzaks Augen zogen sich zu engen Schlitzen zusammen, »Nein, mein Freund! Es wurde beschlossen, an dir das schadow wedsch zu vollziehen. Jeder Ork, jeder Uruk soll wissen, was es bedeutet, seine Brüder zu verraten!«

Dies war einer jener Momente an denen Roderick bedauerte nicht der orkschen Sprache mächtig zu sein. Dem blassen Gesicht Thonfilas zu Folge musste es sich beim schadow wedsch um etwas ausgesprochen unerfreuliches handeln. Selbst die orksche Eskorte Brazzaks schaute verstört zu ihrem Anführer. Nur Uskav grinste breit.

»Sag mir, Brazzak, warum sollte ich deinen Vorschlag annehmen?«, entgegnete er amüsiert, »Nein, antworte nicht. Ich kenne die Antwort. Wenn ich mich ausliefere, versprichst du meinen Freunden einen schnellen, schmerzlosen Tod. Sollte ich mich weigern oder wir es vorziehen weiter zu kämpfen, gedenkst du die Sache wirklich ekelhaft zu gestalten.«

»Du hast es, wie immer, genau erfasst!«, erwiderte Brazzak, »Ich persönlich würde mich sehr freuen, würdest du dich weigern und ihr weiterkämpfen. Aber das Angebot steht.«

Uskav musste sich arg zusammen nehmen, um Brazzak nicht direkt ins Gesicht zu brüllen, wohin er sich sein Angebot stecken durfte, zumal er einen ganz anderen Plan verfolgte.

»Und wie lautet deine Antwort? Ergibst du dich oder kämpft ihr weiter?«

Spätestens als Brazzak Uskavs breit grinsendes Gesicht sah, ahnte er, dass er einen Fehler begangen haben könnte. Doch erst Uskavs Antwort gab ihm Gewissheit.

»Weder noch! Brazzak, du kennst die Regeln des schadow wedsch so gut wie ich. Als Überbringer des Urteils habe ich das Recht dich zu fordern.«

»Irrtum, Uskav. Du bist kein Gefangener. Ich bin nur ein Unterhändler, der dir einen Vorschlag unterbreitet«, argumentierte Brazzak.

»Du irrst dich, Brazzak. Du hast es selbst gesagt: ›Es wurde beschlossen, an dir das schadow wedsch zu vollziehen.‹ Ihr habt ein Urteil gefällt. Das Gesetz ist eindeutig. Ein Urteil wurde verkündigt. Es spielt keine Rolle, ob ich dein Angebot annehme oder nicht. Ich fordere dich! Entsprechend den Regeln werden wir in sechs Stunden gegeneinander antreten!«

Das lief alles andere als geplant. Wieso diktierte plötzlich Uskav die Bedingungen? Brazzak spürte hunderte Blicke auf sich ruhen. Seine Eskorte, seine Generäle, seine Orks, selbst die Daelbaner erwarteten seine Antwort und die konnte nur Zustimmung lauten. Er konnte sich kaum auf die Gesetze der Uruks berufen und sie dann selbst nicht achten. Uskav hatte ihn ausgetrickst.

»Nun gut …«, gab sich Brazzak jovial, »Gesetz ist Gesetz. In sechs Stunden.«

»In sechs Stunden!«, bestätigte Uskav. Brazzak wendete seine Reitspinne und der gesamte Tross kehrte zurück auf die eigene Seite des Schlachtfeldes. Eine angespannte Ruhe senkte sich über die Landschaft.


»Könntest du mir bitte erklären, was das eben sollte?«, Roderick tobte vor Wut, »Wie kannst du dich auf einen Kampf mit diesem Typen einlassen? Hast du gesehen, auf was dieser Brazzak reitet? Auf einer Spinne, auf einer riesigen, fetten, giftigen Spinne! Und was zum Teufel ist schadow wedsch

Uskav ließ seinen Freund sich austoben. Er wusste inzwischen, dass es wenig Sinn machte an Rodericks Verstand zu appellieren, wenn dieser sich gerade im Ausnahmezustand befand. Ein Seitenblick auf Thonfilas zeigte, dass sich der Elb ebenfalls seinen Teil dachte. Mit nachsichtigem Lächeln warteten Uruk und Elb einfach darauf, dass sich ihr Freund wieder beruhigte.

»In einem Punkt muss ich Roderick beipflichten. Was sollte das eben?«, fragte Thonfilas in sachlich besorgtem Tonfall, »Ich beherrsche zwar etwas Orkisch und habe eine ungefähre Idee, was die Worte bedeuten, doch … Ich kann nichts damit anfangen. Mir fiel auf, dass selbst Brazzaks Generälen die Farbe aus ihren Gesichtern wich.«

»Schadow wedsch beschreibt eine Form der Hinrichtung, die selbst von uns Uruks als extrem grausam betrachtet wird. Nichts für schwache Nerven. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass in den letzten hundert Jahren der schadow wedsch jemals verhängt oder gar vollstreckt worden wäre. Ich hätte nicht gedacht, dass Brazzak mich dermaßen ins Herz geschlossen hat«, erläuterte Uskav quietschvergnügt.

»Und was hat es mit der Herausforderung auf sich?«

»Da wird die Sache interessant«, grinste Uskav, »Der gute Brazzak war so sehr darauf fixiert, meine Vernichtung zu planen, dass er ein paar Details des Rituals übersehen hat. Mit dem schadow wedsch ist auch eine Entehrung verbunden. Einem Uruk seine Ehre abzusprechen ist … Nun, sagen wir mal, wer sein Leben liebt, sollte nicht mit der Ehre eines Uruks experimentieren. Wir reagieren in dieser Hinsicht ein klein wenig sensibel. Aus diesem Grund muss derjenige, der das schadow wedsch fordert es auch gegenüber dem Delinquenten vertreten. Er muss das Urteil persönlich überbringen. Der Verurteilte hat dann das Recht, seinen Ankläger auf einen Kampf auf Leben und Tod zu fordern. Das ganze Verfahren läuft sehr ritualisiert ab. Wenn es ums Töten geht, haben wir Uruks eine erstaunlich reichhaltige Kultur erschaffen. Brazzaks Aufgabe wird es sein, mich im Kampf zu schlagen, allerdings nicht zu töten. Schließlich soll ja der schadow wedsch an mir vollstreckt werden. Es wäre wenig sinnvoll, könnte sich ein Delinquent durch einen leichten Tod im Kampf vor seiner Exekution drücken. Deswegen tötet der Ankläger nicht. Ihm reicht es, wenn er den Delinquenten kampfunfähig macht. Ich werde hingegen alles daran setzen, Brazzak von seiner Existenz zu erlösen.«

Im ersten Moment wussten Roderick und Thonfilas nicht, was sie zu Uskavs Erklärungen sagen sollten. Es war dann Thonfilas, der als erstes seine Sprache wiederfand: »Du wirst versuchen, Brazzak zu töten? Ich kann mir denken, was passiert, wenn du unterliegst. Doch was, wenn du siegst?«

»Wir sind uns einig, dass aufgeben nicht in Frage kommt, oder?«, fragte Uskav.

»Was? Uns wie Vieh abschlachten lassen? Du kennst die Antwort«, entgegnete Thonfilas. In der Zwischenzeit hatten sich weitere Daelbaner zu Uskav, Thonfilas und Roderick gesellt. Unter ihnen Akira, Xurina und Xelemachus von Emd. Es war Professor Bogenhausen, der plötzlich das Wort ergriff.

»Niemand wird aufgeben. Wir kämpfen bis zum letzten Atemzug. Sollen die Orks ruhig kommen.«

»Gut!«, Uskav nickte, »Ihr wollt wissen, was passieren wird? Ich werde gegen Brazzak einen Kampf Mann gegen Mann führen. Dieser Kampf wird nach orkschen Regeln geführt, was bedeutet, dass es keine Regeln geben wird. Brazzak wird jeden noch so schmutzigen Trick versuchen, mich zu besiegen. Nun, ich beabsichtige mich davon nicht beeindrucken zu lassen. Ich will niemandem falsche Hoffnungen machen. Brazzak ist stark, sogar sehr stark. Man sagt, wir seien einander ebenbürtig. Es besteht die reale Gefahr, dass ich im Kampf unterliegen könnte, doch sollte ich gewinnen … Die Orkarmee stände ohne Führung da. Brazzak hat keinen Stellvertreter. Niemanden, der seinen Platz einnimmt, sollte er fallen. Es ist ganz einfach. Sollte ich Brazzak besiegen, werden die anderen Generäle ihren eigentlichen Auftrag uns zu bekämpfen vertagen. Sie werden ihn solange aufschieben, bis das entstandene Machtvakuum gefüllt ist. Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass jeder einzelne bereits jetzt dabei ist, Vorkehrungen für den Fall zu treffen, sollte ich den Kampf gewinnen.«

»Sie werden gegeneinander antreten?«, fragte Bogenhausen ungläubig.

»Auf jeden Fall. Es sind Uruks. Jeder ist darauf scharf Brazzaks Position zu erlangen. Der einzige Grund, warum noch niemand versucht hat Brazzak herauszufordern, ist seine Reitspinne. Sie bewacht ihn, sie beschützt ihn und tötet jeden, der es wagt, ihren Herren zu bedrohen.«

Kristall

Freiheit wird überschätzt.

Päpstin Paula Sylvestra II

»Wie geht es ihm?«

Ich wusste, dass meine Fragerei kontraproduktiv war und Gilfea von seiner Aufgabe abhielt.

»Du musst ihn machen lassen.«

Gildofals langgliedrige Elbenfinger legten sich sanft auf meine Schulter. Eigentlich hätte mich niemand dazu bewegen dürfen, Suman zu verlassen und Gilfea seine Arbeit machen zu lassen. Doch Gildofal gelang es, einfach nur durch seine sanfte Berührung.

»Gilfea weiß, was zu tun ist.«

Gildofal schaute mich mit seinen großen Elbenaugen an, deren Magie ich mich noch nie widersetzten konnte. Verzweifelt versuchte ich an ihm vorbei zu blicken, wo Suman bewusstlos auf dem kalten Boden der Folterkammer lag, doch der Elb hielt meinen Blick gefangen. Ich wusste auch so, was passierte. Gilfea hatte sich neben ihn gehockt. Seine Hände ruhten auf Sumans Körper, strichen sanft aber forschend, zuweilen tastend über ihn.

»Gilfea hilft ihm!«, versicherte mir Gildofal.

Ich nickte: »Ich weiß. Es ist nur …«, mehr musste ich nicht sagen. Gildofal verstand es auch so. Suman war in den richtigen Händen, in Gilfeas. Wenn ihm jemand helfen konnte, dann er.

Gilfea hatte sich verändert. In den paar Wochen meiner Flucht und Trennung von meinen Freunden hatte sich sein gesamtes Wesen gewaltig weiterentwickelt. Oberflächlich betrachtet, schien er reifer geworden zu sein. Man könnte sagen, seine Persönlichkeit hatte ihren Babyspeck abgelegt. Aus Gilfea war ein junger Mann geworden, den eine Aura von Weisheit, Entschlusskraft, Güte, Führungsstärke ja sogar Autorität umgab. Allerdings hatte ich das unbestimmte Gefühl, als wenn diese Veränderung wesentlich tiefer ging. Wüsste ich es nicht besser, ich hätte Gilfea für den König eines längst vergessenen Reiches gehalten.

Doch all dies war im Moment nebensächlich, denn Gilfea verfügte noch über eine weitere Fähigkeit, die alles andere in den Schatten stellte. Er war ein Heiler. Gildofal hatte mir berichtet, wie er einen Neovikinger namens Lars von den Verletzungen eines Gefechts geheilt hatte und auch Schiefergrau, der Wolf, der ihn begleitete, wäre ohne ihn nicht mehr am Leben. Und war es nicht ebenfalls Gilfea, der Uskav aus seiner geistigen Versklavung befreite?

»Übrigens, als Drache siehst du niedlich aus. Süße Stubsnase.«

Gildofals Bemerkung brachte mich aus dem Konzept, lenkte mich von meinen Sorgen um Suman ab. »Was?«

»Schau dich an«, schlug der Elb vor.

Ich schaute an mir herunter, schaute auf meine Hände und zuckte erschrocken zusammen. Bei der ganzen Aufregung hatte ich völlig vergessen, mich in meine menschliche Gestalt zurück zu verwandeln und lief immer noch als Drache umher.

»Oh!«, kommentierte ich verlegen meinen Zustand, »Ich sollte wohl besser …«

Gildofal schüttelte verlegen grinsend seinen Kopf: »Keine gute Idee. Es sei denn, du beabsichtigst nackt aus diesem verfluchten Turm zu fliehen.«

Mein Blick folgte der Zeigerichtung, in die einer der schlanken Elbenfinger meines Freundes deutete. Ein weiteres verlegenes »Oh!« entwich meinem Maul. Erst jetzt wurde mir klar, was mit meiner Kleidung geschehen war, als ich mich in einen Drachen verwandelt hatte. Ich hatte sie praktisch abgesprengt. Nun lag sie in Fetzen zerrissen gleichmäßig verteilt überall in der Markendorfschen Folterkammer herum.

»Na toll! Jetzt darf ich auch noch ungelenk auf Drachenklauen durch den Barad Baul hopsen.«

»Willkommen im Club!«, knurrte Ivo, der sich zu uns gesellt hatte, »Segato?«

»Ja?«

»Danke!«, Ivo schaute mir tief in die Augen, »Ohne dich hätte ich Markendorfer nicht besiegen können. Dieser Dämon war stark, sogar sehr stark. Ich glaube nicht, dass ich ihn ohne dein Eingreifen bezwungen hätte.«

»Freunde?«, Gilfeas Stimme unterbrach alle Gespräche. Im Bruchteil einer Sekunde stand ich neben ihm: »Wie geht es Suman?«

»Er ist jetzt stabil, aber wir müssen ihn dringend aus diesem verfluchten Turm bringen. Irgendetwas scheint meine Heilkräfte zu dämpfen. Es ist ähnlich, wie bei der Verbindung zu Mithval. Ich fühle, dass er da draußen ist, aber ich kann ihn nicht ansprechen. Versteht ihr, was ich meine?«

»Es ist der Barad Baul!«, erwiderte Ivo, »Ich kann es ebenfalls fühlen. Er ist … böse Er dämpft nicht nur die Verbindung von Seele und Drache. Er schwächt mich. Er … Ich kann es nicht besser beschreiben. Er ist böse …«

»Du meinst, er lebt?«, fragte Gildofal entsetzt.

Ivo schloss seine Augen und begann zu lauschen. Nach ein paar Momenten öffnete er sie wieder. Mein Drache wirkte nicht glücklich: »Du hast recht. In gewisser Weise lebt er … Moment … Er scheint irgendwie zu erwachen. Als wenn … Moment!«

Mit einem Satz sprang Ivo zu der Stelle wo die Leiche des Dämonens lag … Oder liegen sollte! Stattdessen konnte man gerade eben noch eine leicht erhabene Struktur erkennen, die mit dem schwarzen Material des Barad Bauls verschmolz. Sie trug die unverkennbaren Konturen des Dämons.

»Verdammte Scheiße!«, brüllte Ivo, wie von der Tarantel gestochen, »Wir müssen hier so schnell wie möglich raus!«

»Wieso? Was ist los?«, kam es als unvermeidliche Frage.

»Markendorfer … Der Dämon … Ich hätte es wissen müssen. Es ging viel zu leicht«, Ivo zeigte auf den Boden, »Der Dämon und der Barad Baul, sie scheinen …«

Weiter kam Ivo nicht. Ein gewaltiger Stoß erfasste den Barad Baul und riss uns fast von den Beinen.

»Es ist Markendorfer oder besser, der Dämon, der in Markendorfer verborgen war. Er ist jetzt ein Teil des Barad Bauls«, rief Ivo.

»Raus hier!«, brüllte Gilfea und wandte sich an Ivo und mich, »Ihr zwei seid Drachen und kräftiger, könnt ihr Suman tragen?«

Ivo nickte: »Ich kann ihn tragen. Segato mag aussehen wie ein Drache, doch glaub mir, er hat mit seinem Körper noch genug zu kämpfen, als dass er auch noch jemanden tragen könnte.«

So recht mein Drache mit seiner Erläuterung auch haben mochte, ich fühlte mich ein klein wenig bloßgestellt. Ivo erriet meine Gedanken und grinste mich breit an: »Och komm, Seggi, ist doch so.«

Seggi? Mein Kopf lief rot an. Ich wollte gerade etwas entgegnen, als ein weiterer, wesentlich heftigerer Stoß den Barad Baul erschütterte.

»Ich störe eure Unterhaltung nur ungern, aber sollten wir nicht langsam?«, gab Ole Olson zu bedenken.

Der Neovikinger hatte Recht. Wir setzten uns in Bewegung. Die Vorhut übernahmen Ole, Gilfea und Anger. Ihnen folgte Ivo, der Suman sanft in seinen Armen hielt, seine Flügelhäute schützend über meinen Schatz gelegt. Zusammen mit Gildofal, Erogal und Sebastian übernahm ich die Nachhut.

Vorsichtig und möglichst geräuschlos öffnete Ole die Tür zum Gefängnisflur und lugte hinaus. Der Gang war leer. Hatten wir befürchtet, von schwer bewaffneten Wachen empfangen zu werden, zeigte sich diese Sorge als unbegründet.

»Die Luft ist rein. Los!«

Einer nach dem anderen verließen wir die Folterkammer und suchten sofort Deckung in Nischen oder Mauervorsprüngen. Gefängnisse sind keine Freizeitparks in denen jeder rumlaufen kann, wie er will, weswegen es im Allgemeinen eine gute Idee ist, sich möglichst unauffällig zu verhalten. Möglichst keine Geräusche zu verursachen gehört dazu. Ole und Gilfea signalisierten uns mit Handzeichen, wohin wir gehen oder uns in Deckung begeben sollten.

»Stehen bleiben!«

Man kann noch so vorsichtig agieren, gegen dumme Zufälle ist man nie gefeit. Wir hatten gerade eine Kreuzung passiert und befanden uns in einem breiten Hauptgang, der uns in Richtung eines der beiden zentralen Treppenhäuser führen sollte als hinter uns ein Wachtrupp auftauchte und uns anrief.

Ich dachte gar nicht nach, sondern rief nur »Deckung!«. Gildofal, Erogal und Sebastian warfen sich zu Boden oder sprangen zu Seite. Im gleichem Moment riss ich mein Drachenmaul auf. Tief aus dem Inneren meines Rachens quoll etwas empor, drang nach draußen, das ich selbst zuerst nicht deuten konnte. Ich spürte nur, dass es heiß, brennend heiß war. Der Feuerball den ich ausspie, überraschte mich dann wesentlich mehr als den Trupp Wächter, der sich ebenfalls in Sicherheit gebracht hatte und abgesehen von ein paar angesengten Haaren mit dem Schrecken davon kam. Ungebremst raste die Feuerkugel den Gang hinunter, um am Ende an eine Wand des Barad Bauls zu prallen. Eine starke Erschütterung durchlief den Turm.

»Entschuldigung!«, rief ich den fliehenden Soldaten hinterher.

»Interessant …«, bemerkte Ivo verblüfft, »Bist du sicher, dass du in einem früheren Leben nicht schon mal ein Drache warst?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Nicht, dass ich wüsste. Wieso?«

»Och«, erwiderte Ivo auf eine Weise schmunzelnd, die nur ich mit meinem Drachenaugen erkennen konnte, »nur so …«

Wir gingen weiter, wenn auch in leicht veränderter Formation. Gildofal, Erogal und insbesondere unser kleiner Aushilfsmörderlehrling Sebastian meinten, dass es doch wohl besser sei, wenn ich die Nachhut allein übernehmen würde.

»Hey, ich wollte das nicht!«, rief ich entschuldigend, »Das war purer Reflex.«

»Eben!«, entgegnete Erogal knapp.

Ich knurrte frustriert. Hatte ich plötzlich die Pest? Menno, ein kleiner Feuerball, was ist das schon? Es war ja nicht so, dass ich Feuerwehrmann werden wollte. Leicht geknickt trottete ich unserem Trupp mit hängenden Schultern hinterher.

Ich wusste zwar nicht, als was der Barad Baul ursprünglich konzipiert worden war, doch ein Kerker oder Gefängnis schien man dabei nicht im Sinn gehabt zu haben. Der Turm war ein dreidimensionaler Irrgarten. Selbst Schiefergrau, der vor der Folterkammer auf uns gewartet hatte, verlor die Orientierung. Erschwert wurde unsere Flucht durch die ständigen und immer heftiger werdenden Stöße und Erschütterungen des Turms, die uns mehrfach von den Beinen rissen.

»Ich wiederhole mich ungern, aber wir sollten so schnell wie möglich einen Ausgang finden«, ließ sich Ivoricalad verlauten. Mein Drache klang nervös, was wiederum mich nervös machte. Ivo war noch nie nervös gewesen.

»Ich weiß!«, fluchte Gilfea, »Ich versteh das nicht. Die Folterkammer haben wir doch auch sofort gefunden, wieso finden wir den Ausgang nicht? Es ist wie verhext!«

Gilfea hatte kaum ausgesprochen, als wir durch einen Torbogen traten und uns an der Balustrade einer Galerie wiederfanden.

»Mit verhext liegst du verdammt richtig!«, entfuhr es mir.

Ungläubig schauten wir uns um. Dass der Barad Baul riesig war und Tharbad weit überragte war uns bekannt, aber der Schacht, in den wir jetzt schauten, war einfach gigantisch – und sprengte jede Realität …

Es begann damit, dass er höher, tiefer und breiter war, als es die Außendimensionen des Turms zuließen. Wie Querstreben einer Gitterkonstruktion eines wahnsinnigen Architekten kreuzten und querten Treppen und Brücken den freien Raum. Das wäre an sich nichts erwähnenswertes, hätten sie sich dabei halbwegs an die Naturgesetze im Allgemeinen und der Gravitation im Speziellen gehalten. Direkt über unseren Köpfen überspannte eine Brücke den Schacht, auf der ein Trupp seltsamer vielbeiniger Wesen von einem Ende zum anderen rannte. Von unserer Warte aus gesehen, klebten sie dabei an der Decke und hätten eigentlich herunter fallen müssen. Doch das taten sie genau so wenig, wie der Trupp Wachen, der eine Treppe entlang einer Wand hoch stieg. Die Begriffe oben, unten, vorne, hinten, links und rechts schienen in diesem Schacht keine Gültigkeit zu besitzen.

»Er ist ein Portal!«, flüsterte Ivo entsetzt, »Versteht ihr nicht? Der Barad Baul ist Knoten zwischen der realen Welt und den Welten der Geister und verdammten Seelen. Jetzt wird mir alles klar. An diesem Ort will es zurück in unsere Welt kommen!«

»Es?«, fragte Sebastian.

»Das namenlose Böse, das die Mächte des Lichts vor mehreren tausend Jahren besiegt und verbannt hatten«, erklärte Erogal D’Santo fassungslos.

»Und Markendorfer? Der Dämon?«, fragte ich.

»Ist Teil des Barad Bauls. Dieser Turm lebt wirklich«, Ivo sah sich besorgt um. Die Erschütterungen wurden immer stärker, sogar so stark, dass der schwarze Kristall, aus dem der Turm zu bestehen schien, knirschte und beängstigend knackte, »Ich glaube sogar, dass Markendorfer die geistige Essenz des Barad Bauls darstellte. Er war der Gedanke, der Geist, der ihn existieren ließ.«

»Ließ?«

Statt zu antworten, zeigt Ivo auf eine der Brücken schräg unter uns. Während der letzten Stoßwelle hatten sich Risse in ihr gebildet, die jetzt immer größer wurden. Einzelne Stücke brachen heraus und flogen in alle möglichen Richtungen davon.

»Stirbt er?«, fragte ich ängstlich.

»Ich befürchte, nein!«, entgegnete Ivo, »Der Brad Baul verändert sich. Fühlst du es nicht?«

Ivo hatte Recht. Ich fühlte es. Er war, als wenn ein gigantische Macht aus einem jahrtausende währenden Schlaf erwachen würde. Was mich richtig nervös machte, war dabei die beunruhigende Frage, was so ein Turm wohl nach seinem Erwachen anstellte.

Ein Teilaspekt dieser Frage wurde sogleich beantwortet. An den Wänden des Turms begannen extrem spitze Stalagmiten zu wachsen. Der Turm baute sich selbst um und schien im Nebeneffekt uns dabei kurzerhand aufspießen zu wollen.

»Wir müssen hier wirklich raus, sofort!«, rief Ole Olson, »Jetzt, oder wir werden eingeschlossen.«

»Hier lang!«, schrie Gilfea und deutete auf Schiefergrau. Der Wolf schien eine Spur entdeckt zu haben, vielleicht einen Hauch frischer Luft. Was es auch war, wir folgten, was von Sekunde zu Sekunde schwerer wurde. Der Barad Baul veränderte sich immer schneller. Die Wände der Gänge, durch die wir eilten, rückten zusammen. An allen Ecken und Enden hörten wir, wie Einbauten zerdrückt wurden. Hier gab eine Holztür nach und zersplitterte, dort zerbrach unter lautem Krachen ein Schrank.

»Hilfe! Bitte helft uns!«

Ein Seitengang war durch mehrere herabgestürzte Balken versperrt und schnitt ein paar Wächtern den Weg ab.

»Bitte, helft uns!«, flehte ihr Anführer, »Der Gang will uns zerquetschen!«

»Versuch’s mit deinen Klauen«, schlug mir Ivo trocken vor, »Du willst die Jungs ja nicht durchknuspern.«

Ein guter Hinweis, hätte ich doch fast mein neu entdecktes Drachenfeuer eingesetzt. Stattdessen klappte ich die Klauen meiner Füße aus. Ein eisiger Glanz ging von ihnen aus, der ahnen ließ, wie scharf ihre sichelförmigen Klingen waren. Und tatsächlich, innerhalb weniger Sekunden hatte ich die Balken zu Holzspänen zerfetzt. Es war schon erstaunlich, zu was man als Drache fähig war.

»Danke! Ihr habt uns das Le …«, weiter kam der Anführer des Wächtertrupps nicht. Mit weit herunter geklapptem Kiefer glotzte er mich an. Ich grinste und zeigte ihm zwei Reihen wunderschöner Drachenzähne.

»Wie kommen wir hier raus?«, unterbrach Ole die Starre des Wächters, »Der Turm …«

»Hier lang!«, antwortete der Wächter und deutete einen Gang entlang, »Es ist nicht mehr weit!«

Auch Soldaten scheint zuweilen die eigene Haut näher zu sein, als danach zu fragen, was zwei Drachen im Barad Baul trieben. Zielsicher und schnell führte er uns durch die Gänge des Turms. Dessen Veränderungen wurden immer dramatischer. Wänden, Decke und Boden brachen auf. Rasiermesserscharfe Spitzen entwuchsen den Rissen und behinderten unser Vorankommen. Zudem wurde es schmerzhaft laut. Der Kristall kreischte. Irgendwo krachte es. Splitter flogen durch die Luft und trafen einen der Wächter an Schulter und Gesicht.

»Ürrrggghhhh …«

Entsetzt mussten wir zusehen, wie der Wächter zusammenbrach. Die Splitter rissen ihn von den Beinen. Dort, wo die Schulter sein sollte, befand sich nur noch eine undefinierbare Masse aus Fleisch, Knochen und Gewebe. Die Verletzung seines Gesichts war noch schlimmer, obwohl es nicht so aussah. Statt alles zu einer matschigen Masse zu zermalmen, hatten die Splitter einfach das halbe Gesicht weggerissen.

»Scheiße! Scheiße! Scheiße!«, schrie der Anführer der Wächter hysterisch, »Wir gehen alle drauf! Der verdammte Turm bringt uns um!«

»Auf die Idee bin ich auch schon gekommen«, grummelte Ivo leise, so dass nur ich es hören konnte. Was zynisch klang, war alles andere als zynisch gemeint. Ich konnte es am Klang seiner Stimme hören. Ivo war kurz davor vor Wut loszubrüllen und auszurasten. Nur die Sorge um Suman, den er mit äußerster Vorsicht, trug, hielt ihn davon ab.

»Weiter!«, rief Ole, »Wir müssen weiter, sofort!«

Wir hetzten weiter. Links und rechts brachen Splitter aus der Wand und flogen uns um die Ohren. Die Flucht entwickelte sich mehr und mehr zu einem Höllenritt. Unwillkürlich verspannte sich mein Körper, wurde steifer und auch härter – Zum Glück. Nach einer Biegung explodierte plötzlich die Wand neben mir. Splitter flogen in alle Richtungen und hätten Gildofal und Erogal vermutlich zu feinem Püree zermalmt, hätte ich nicht dazwischen gestanden.

»Umpf!«, mir war, als hätte mich eine Dampframme getroffen. Doch im Gegensatz zur allgemeinen Erwartung, blieb ich unverletzt. Meine Drachenhaut schien eine ähnliche granitharte Struktur angenommen zu haben, wie Ivos während Markendorfers Stahlnadelangriff.

»Wirklich interessant …«, murmelte Ivo. Erogal und Gildofal sagten nichts. Dazu waren sie auch überhaupt nicht in der Lage. Erweckten sie doch eher den Eindruck, als wäre ihr bisheriges Leben an ihnen vorbeigezogen.

»Wie weit ist es noch?«, erkundigte sich Ole beim Anführer der Wächter.

Der sah sich um. Schaute nach links und rechts, hielt seinen Kopf schräg und antwortete dann: »Ich bin mir nicht sicher. Der Gang hat sich verändert … Ich … Nein … Doch, da lang. Da vorn … Das ist die Hauptschleuse …«

Wir eilten hin. Doch was einmal eine Personenschleuse gewesen sein mochte, entpuppte sich als ein Ansammlung verbogenen Metalls. Von einem Weg ins Freie war nichts zu erkennen. Markendorfer oder wie auch immer der Dämon hieß, der den Barad Baul beseelte, beabsichtigte nicht, uns in die Freiheit zu entlassen. Er schien uns eher umbringen zu wollen. Die Wände begannen auf uns einzudrängen.

»Sing!«, rief mir Ivo plötzlich zu. Singen? War mein Drache völlig durchgedreht?

»Sing! Du kennst unsere Melodie!«, rief Ivo mit einer Ernsthaftigkeit, dich mich nachdenken ließ. »Unsere Melodie! Du kannst sie fühlen. Sie ist immer da. Sie begleitet dich. Sie ist ein Teil von dir. Sing, sing. Sing!«

Und ich begann zu singen.

Atempause

Liebe ist wie Krieg, nur weniger kultiviert.

Leitsatz 5 des Ordens der Neovikinger

»Sie greifen tatsächlich nicht mehr an«, Professor Bogenhausen zeigte sich erstaunt, »Kein Pfeilregen. Keine Truppenbewegung. Es herrscht absolute Ruhe.«

Auf der daelbanischen Seite hatte man in Windeseile ein paar Zelte errichtet, um sich zum einen in Ruhe besprechen zu können, aber auch um den Heilern einen Raum zu geben, die Verwundeten zu versorgen, von denen es mehr als reichlich gab. Dabei stellten echte Wunden noch das geringste Problem dar, mit denen sich die Ärzte konfrontiert sahen. Viel ernster waren die Fälle von Vergiftungen, Flüchen und anderen Verletzungen durch magische Waffen. Uskav, selbst ein Geschöpf schwarzer Magie und bewandert in dieser Kunst, ignorierte seine eigenen Verletzungen und half stattdessen bei der Diagnose und Behandlung.

»Sie werden die Waffenruhe nicht brechen«, versicherte Uskav, während er von Krankenbett zu Krankenbett ging, »Eine Verletzung der Regeln des schadow wedsch wäre ein Wortbruch und könnte eine Entehrung nach sich ziehen. Zur Zeit sind wir sicher.«

»Und du willst wirklich gegen diesen Brazzak antreten?«, fragte Bogenhausen.

Uskav beendete die Untersuchung des letzten Verletzten und wandte sich Bogenhausen zu: »Oh ja! Ich beabsichtige nicht herauszufinden, ob der schadow wedsch wirklich so grausam ist, wie man allgemein sagt.«

»Dann solltest du dich ausruhen und deine Kräfte schonen«, schlug Xelemachus von Emd vor, »Uskav, du bist seit Stunden ohne Pause auf den Beinen! Ruh dich aus!«

Im ersten Moment wollte der große Uruk entgegnen, dass er keine Pause bräuchte, doch dann besann er sich anders. Xelemachus hatte Recht. Er war erschöpft und konnte gut etwas Ruhe vertragen, insbesondere, wenn er Brazzak besiegen wollte. Statt also laut zu protestieren, nickte Uskav nur stumm und seufzte.

»Komm mit. Wir haben ein Zelt für dich vorbereiten lassen«, erläuterte Bogenhausen zufrieden.

Es war zwar ein kleines Zelt das man für Uskav hergerichtet hatte, aber mehr als zweckdienlich eingerichtet. Neben einem wirklich großen Bett stand ein von Thonfilas und Roderick vorbereitetes heißes Bad für Uskav bereit.

»Ihr müsst Gedanken lesen können!«, seufzte Uskav erfreut.

»Komm, Kleiner«, nahm Thonfilas den deutlich größeren Uruk in Empfang, »Lass dir das Kettenhemd abnehmen.«

Uskav widersprach weder der Formulierung »Kleiner«, noch leistete er Widerstand als der Elb begann ihm das silberne Kettenhemd abzuknüpfen.

»Junge«, bemerkte Roderick, während er über Uskavs Oberkörper strich, »Du hast einiges abbekommen.«

Uskav knurrte, knurrte sogar noch etwas mehr, als Roderick vorsichtig auf die Wunden drückte, sie mit Desinfektionstüchern abtupfte und anschließend mit Salbe bestrich. Als Roderick dann Uskavs lederne Hose öffnen wollte, damit dieser ins Bad steigen konnte, packte der Uruk ihm fest ans Handgelenk.

»Nicht!«, flüsterte Uskav fast schüchtern.

»Aber …«, entgegnete Roderick, schwieg dann aber, als er Uskavs verlegenen Blick sah.

»Ich …«, stammelte der sonst so aggressive Uruk, »Ich bin erregt.«

Thonfilas, der die Szene mitbekommen hatte, musste grinsen, »Durch und durch ein Uruk. Komm, Uskav, lass Roderick machen. Ich glaube, er weiß, wie dein steifer Schwanz aussieht.«

Uskav gab seinen Widerstand auf. Roderick und Thonfilas waren nicht nur seine Freunde und seine Lebenspartner, sie waren viel mehr seine Familie. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, empfand er Dankbarkeit dafür, dass ihm seine beiden Freunde beim Entkleiden halfen. Die letzten Stunden hatten Spuren hinterlassen. In etwas mehr als vier Stunden würde er nach allem, was er von Brazzak wusste, seinem bisher schwersten Gegner gegenüberstehen. Es war ein Diktat der Vernunft, sich auszuruhen und neue Kraft zu sammeln.

»Wir kennen dich ja inzwischen ganz gut. Ich hoffe, fünfzig Grad sind dir nicht zu kalt.«

Uskav musste grinsen. Er hatte eigentlich nie den Eindruck, besonders heiß zu baden, jedenfalls nicht für einen Uruk. Genussvoll ließ er sich in die dampfenden Fluten gleiten. Thonfilas hatte an alles gedacht. Das Wasser duftete nach Uskavs Lieblingskräutern, die, erstaunlich genug, sogar Roderick und Thonfilas als angenehm und belebend empfanden. Treiben, entspannen, die Augen geschlossen begann sich Uskav zu erholen. Er hatte es wirklich dringend nötig. Nichts war anstrengender als die Kriegskunst.

Wie lange hatte er nicht geschlafen? Uskavs Gedanken wanderten rückwärts: die Schlacht, die Zerstörung der Stadtmauer durch die Steinbrenner, die Belagerung … Ja, während der Belagerung hatte er für ein paar Minuten ruhen können, doch wirklicher Schlaf war dies nicht. Noch während er nach drüber nachdachte, wann er das letzte Mal in einem wirklichem Bett gelegen hatte, schlummerte Uskav erschöpft ein.


»Wie spät ist es?«

Uskav schreckte verwirrt auf. Hatte er nicht eben noch in einer Badewanne gelegen? Doch statt in feuchten Fluten zu treiben lag er in einem Bett und war mit Felldecken zugedeckt.

»Es ist noch Zeit. Der Kampf ist erst in zwei Stunden.«

Thonfilas stand am Eingang des Zeltes und schaute nachdenklich hinaus.

»Gut!«, knurrte Uskav, der sich erstaunlich frisch und erholt fühlte. Gestärkt begann sich Uskav im Bett zu räkeln und ließ seinen Blick schweifen.

»Es ist so ruhig.«

Thonfilas Stimme ließ Uskav einen eisigen Schauer über den Rücken laufen. Der Elb sprach nicht sonderlich leise. Er wandte Uskav sogar seinen Rücken zu. Trotzdem hatte Uskav das Gefühl, als wenn nur er die Worte hören konnte. Roderick hatte es sich auf einem Sessel bequem gemacht und döste vor sich hin. Eigentlich hätten ihn Thonfilas Worte aufwecken müssen, doch stattdessen schmatzte er nur, grummelte etwas und drehte sich um.

»Die Welt verändert sich. Und auch wenn es schwer fällt, müssen wir lernen, loszulassen. Ich werde es lernen, obwohl ich es nicht will. Ich liebe dich und werde es immer tun.«

Thonfilas war in Uskavs Kopf. Doch anders als bei Narsul oder den anderen Drachen, fehlte der Stimme jede Körperlichkeit. Wenn Narsul zu Uskav sprach, dann mit warmer, fast heißer Stimme. Man konnte sie regelrecht fühlen: ein irdenes Grollen, saftig, lebendig, ein grüne Wiese übersät mit Tautropfen, so greifbar und real. Thonfilas klang anders: überirdisch, geisterhaft, kalt, wie das Licht der Sterne, pur und klar wie ein Gebirgsbach. Doch das war nicht, was Uskav beunruhigte. Es waren Thonfilas Worte, die ihn nervös machten. Konnte sein Freund wissen, was er vorhatte?

»Die Zukunft ist im Fluss. Die Kapitel unseres Lebens sind noch nicht geschrieben«, Thonfilas dreht sich herum und schaute Uskav an, »Fürchtest du die Zukunft?«

Uskav Mund fühlte sich trocken an und er musste schlucken. Dieser Elb, den er so sehr liebte, öffnete seine tiefsten und verborgensten Gefühle: »Nein, ich fürchte die Zukunft nicht. Sie geschieht, ob ich es will oder nicht.«

»Was fürchtest du?«

»Ich fürchte, was ich bin. Ich bin ein Uruk. Ich bin eine Perversion, ein Ding, geschaffen, um zu töten.«

»Können Dinge atmen? Können Dinge fühlen? Können Dinge lieben?«, Thonfilas Worte klangen so rein wie poliertes Kristalleis, »Du bist Uskav. Du atmest, du fühlst und du liebst. Du bist kein Ding. Du entscheidest, was du sein willst. Dein Leben gehört dir! Fürchte dich nicht vor dir selbst. Du bist Uskav!«


»Wie spät ist es?«

Uskav schreckte verwirrt auf. Hatte er nicht eben noch in einer Badewanne gelegen? Doch statt in feuchten Fluten zu treiben lag er in einem Bett und war mit Felldecken zugedeckt. Oder nein, hatte Thonfilas nicht eben noch zu ihm gesprochen?

Oder war alles nur ein Traum?

Es muss ein Traum gewesen sein. Uskav schaute sich um. Roderick lag zusammengerollt in einem Sessel und döste vor sich hin. Thonfilas stand am Eingang des Zeltes und schaute hinaus.

»Es ist noch Zeit. Der Kampf ist erst in zwei Stunden«, beantwortete Thonfilas Uskavs Frage leise und drehte sich zu seinem Freund um. Oder war es doch kein Traum? Uskav konnte es in Thonfilas Augen sehen. Der Elb blinzelte und zeigte den Ansatz eines Kopfnickens.

»Wie fühlst du dich?«, fragte der Elb mit warmer, herzlicher Stimme.

Welch peinliche Frage. Uskav errötete, was man bei seiner tiefschwarzen Orkhaut glücklicher Weise nicht sehen konnte. Das Problem war, dass er sich sauwohl fühlte. Genau genommen kochte die totale Geilheit in ihm.

»Ich …«, stammelte der Uruk peinlich berührt.

»Ha!«, kam es unerwartet aus Rodericks Ecke, »Er ist rattig! Schau dir das Zelt in seiner Felldecke an!«

»Oh, du bist wach?«

Uskavs sehr durchschaubarer Versuch vom Thema abzulenken scheiterte. Roderick begann sich zu recken.

»Ja, ich bin wach. Auf diesem Sessel kann man nicht schlafen.« Der Neovikinger erhob sich, knackte mit seinen Gelenken und begann mit ein paar Lockerungsübungen: »Du bist rattig, oder?«

Uskav zuckte mit den Schultern: »Ja. Es ist die Geilheit, die ich vor jedem Kampf empfinde.«

»Eindeutig ein Uruk«, kommentierte Thonfilas.

»Ich habe nie behauptet, etwas anderes zu sein«, verteidigte sich Uskav.

»Hey, warum versuchst du dich dafür zu entschuldigen, was du bist?«, fragte Roderick.

»Ja, warum eigentlich?«, Uskav kratzte sich am Kopf, »Vielleicht, weil man Geilheit in unserer Situation als unpassend empfinden sollte? In den letzten Stunden habe ich ein paar tausend Orks abgeschlachtet, viele meiner Freunde, Drachen, Menschen und Zwerge wurden schwer verletzt oder sogar getötet, in knapp zwei Stunden trete ich gegen Brazzak in einem Kampf auf Leben und Tod an, doch alles, woran ich momentan denken kann ist Sex!«

Thonfilas lachte fröhlich auf: »Ich wiederhole mich: ›Eindeutig ein Uruk!‹«

»Und?«, kam es sowohl von Uskav als auch von Roderick.

Thonfilas machte eine abwehrende Handbewegung: »Bitte, Uskav, versteh mich nicht falsch. Das war alles andere als böse gemeint. Bei allen Göttern, ist es so schwer zu verstehen?« Thonfilas zog den Vorhang des Zeltes zu und ging auf den im Bett liegenden Uskav zu: »Mein lieber Uruk, muss ich es wirklich sagen? Ich liebe dich. Nicht weil du ein Uruk bist und ich ein gelangweilter Elb bin, der sich davon einen exotischen Kick verspricht.«

»Wer sagt sowas?«, unterbrach Roderick empört.

Thonfilas zog den Kopf schief: »Schau mal in die Klatschnachrichten der Datennetze Goldors. Wir drei haben es zu zweifelhafter Popularität gebracht. Wusstest ihr nicht, dass ihr zwei meine Sexsklaven seid?«

»Hey!«, rief Uskav gespielt wütend, »Die müssen eine Gegendarstellung bringen! Ich bin Uskav, der Uruk! Ihr zwei seid meine Sexsklaven!«

Roderick musste lachen: »Ihr seid Spinner! Alle beide!«

»Was ich eigentlich sagen wollte«, begann Thonfilas seinen ursprünglichen Faden wieder aufzunehmen, »Uskav, ich liebe dich und nicht das Bild, das andere von dir haben. Ich liebe dich, deiner selbst willen, für deine Stärke, für deine Selbstlosigkeit und für deine Güte.«

»Nur, damit das klar ist, für mich gilt das Gleiche!«, warf Roderick ein.

»Interessant, oder? Könnte Brazzak eure Worte hören, er würde kotzen!«, ein grüblerisch, verträumter Ausdruck schlich sich auf Uskavs Mine, »Doch ich kann nicht genug davon hören. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie glücklich mich eure Liebe macht und wie sehr ich mich danach sehne, sie zu erwidern. Vielleicht bin ich nicht mehr so sehr ein Uruk, wie meine Erscheinung vermuten lässt?«

»Wir drei, sind all das, was Brazzak nicht ist!«, Thonfilas Mund begann ein sinnliches Schmunzeln zu umspielen, »In den nächsten Stunden wird sich unser Schicksal entscheiden. Wenn es jemals einen Zeitpunkt gab, an dem man absolut ehrlich zueinander sein sollte, dann wohl jetzt. Uskav, alles, was ich über meine Liebe zu dir gesagt habe, war wahr. Aber da ist mehr … Ich finde dich einfach nur geil!«

Roderick konnte nicht an sich halten und prustete laut los: »Schaut euch diesen Elben an! Stille Wasser sind also wirklich tief!« Ein verlegenes Zucken erfasste Rodericks Mundwinkel: »Aber wo er Recht hat, hat er Recht. Du sagst, du bist vor jedem Kampf rattig?«

»Brunftig, scharf, geil … Alles was du willst«, erwiderte Uskav, dessen Erektion während der gesamten Unterhaltung keinen Millimeter nachgelassen hatte, »Ich muss mich verdammt zusammenreißen, nicht über euch herzufallen!«

Roderick begann leicht zu schwitzen, seine Atmung wurde tiefer: »Ich glaub es nicht, aber das Gerede macht mich ebenfalls scharf.«

»Es könnte sein …«, begann Uskav betörend, »Dass ich den Kampf verliere … Wir würden uns nie wiedersehen. Man wird mich hinrichten, ohne, dass ich noch einmal mit euch zusammen sein kann.«

»Du versuchst nicht gerade, uns auf subtile Weise zu verführen?«

»Wieso subtil? Ich dachte, der Versuch wäre offensichtlich«, flüsterte Uskav.

»Oh ja!«, erwiderte Roderick, wobei er Uskav mit lüsternen und Thonfilas mit schüchternen Blicken bedachte.

Der Elb zuckte erneut mit seinen Schultern: »Warum eigentlich nicht? Es ist Wahnsinn, aber was ist in Zeiten des Krieges kein Wahnsinn?«

Roderick öffnete den Verschluss seines Schwertgürtels und ließ ihn zu Boden fallen. Die Augen fest auf Uskav gerichtet, entledigte sich der Neovikinger seiner Schutzweste und zog sein Kampf-T-Shirt auf. Mit entblößtem Oberkörper stand er vor dem im Bett liegenden Uruk.

»Womit hab’ ich euch nur verdient?«, flüsterte Uskav mit leicht glasigen Augen, während er die Felldecke zur Seite schlug und sich in seiner ganzen Nacktheit präsentierte. Uskavs Körperphysik war Substanz gewordene Kraft. Angefangen beim Kopf, dessen wilde Dreadlocks Uskav wie einen Heiligenschein umkranzten, über einen kräftigen Hals, die breiten Schultern und der muskelbepackten Brust. Dieser Uruk war Leben pur, obwohl er als ein Werkzeug des Todes gezüchtet wurde. Sein ganzer Körper pulsierte vor Lebendigkeit, was insbesondere auf seinen Schwanz zutraf. Der stand senkrecht wie ein Ausrufezeichen in die Höhe, die Eichel feucht glänzend im Schein der Zeltlaterne.

»Verdammt Uskav, du bist …«, flüsterte Roderick und musste schlucken. Wie in Trance entledigte sich Roderick seine letzten Hüllen. Zielstrebig näherte er sich dem Bett und kletterte, ohne weitere Worte von sich zu geben, hinein. Mit einer Zärtlichkeit, die niemand bei einem Ork geschweige denn bei einem Uruk erwarten würde, nahm Uskav seinen Freund und Liebhaber in den Arm. Zwei Orkklauen fuhren durch Rodericks Haare, packten sanft seinen Kopf und zogen ihn zu Uskavs eigenem heran. Von diesem einen besonderen Uruk geküsst zu werden, war jedes Mal wieder ein besonderes Erlebnis. Zu behaupten, es käme einer Naturgewalt gleich, war gleichermaßen zutreffend als auch falsch. Uskavs Küsse waren überwältigend, voller Kraft und Leidenschaft, aber gerade nicht gewalttätig, ganz im Gegenteil.

»Darf ich?«, ließ sich Thonfilas vernehmen, um dann ohne weitere Nachfrage zu seinen beiden Freunden ins Bett zu schlüpfen. Eine Antwort war auch gar nicht notwendig, erfolgte sie doch in einer sofortigen zärtlich, kraftvollen Umarmung Uskavs.

Zärtlichkeiten mögen nett sein, doch manchmal steht einem der Sinn nach etwas handfesterem, insbesondere dann, wenn es um die körperlichen Bedürfnisse eines Uruks geht. Selbst Elb und Neovikinger, erst mal auf Touren gekommen, verlangte es nach mehr. Die drei Freunde kannten ihre gegenseitigen Vorlieben, die ebenso vielfältig wie füreinander bereichernd waren. Sie wussten, wie sie einander ihre Liebe zeigen konnten. Doch dieses Mal war es anders. Jeder wusste, worum es wirklich ging. Uskavs bevorstehender Kampf würde über ihrer aller Schicksal entscheiden.

Ohne sich abzusprechen, begannen Thonfilas und Roderick ihren Freund und Partner auf eine Weise zu verwöhnen, die Zweifel aufkommen ließ, ob sie noch an ein gemeinsames Morgen glaubten. Roderick war leidenschaftlich, wild, kraftvoll und fast animalisch. Thonfilas präsentierte ein Kontrastprogramm voller intensiver elbischer Sinnlichkeit. Ihrer beider körperliche Liebe übertrug sich auf Uskav. Es war, als wenn ihn seine Freunde mit Kraft und Energie vollpumpen würden. Selten hatte er derart intensiven Sex erlebt. Roderick hatte keine Sekunde gezögert und sich sofort auf Uskavs steinharten und vor allen überdimensionalen Schwanz niedergelassen. Er wusste, wie sehr sein urukscher Freund sich danach sehnte, in ihn einzudringen und eins mit Roderick zu werden. Gleichzeit bot Thonfilas sein elbisch elegantes Fortpflanzungsorgan Uskav zum Kosten und Verschlingen an, was dieser willig, lüstern und hemmungslos tat.

Die Körper der drei Freunde verschmolzen, die Grenzen zwischen ihnen lösten sich auf und Uskav, Thonfilas und Roderick wurden eins.

Selten lassen sich Elben beim Sex wirklich gehen. Ein Rest ihres Verstandes sorgt dafür, dass sie niemals wirklich die Kontrolle über sich verlieren. Elben, insbesondere Hochelben wie Thonfilas, sind willensstarke, sich streng beherrschende Wesen; aus gutem Grund.

Thonfilas ließ sich gehen und öffnete sich Roderick und Uskav, wie er sich noch nie geöffnet hatte. Mit den entsprechenden Folgen.

Ein gleißend weißer Blitz erhellte das Zelt. Er war so hell, dass seine Strahlen durch jede Naht und jeden Spalt drangen. Thonfilas Höhepunkt hatte nicht nur seinen physischen Körper erfasst, sondern auch sein magisches Selbst, den Teil eines jeden Elben, der in der Welt der Geister und der Magie lebte. Jeden anderen hätte diese unkontrollierte Eruption elbischen Wesens in einen zwar glücklichen aber auch unrettbar lallenden Schwachkopf verwandelt. Man kann als einfacher Mensch oder auch Uruk nicht erwarten, den magischen Höhepunkt eines Elben zu erleben ohne dabei massive Hirnschäden davonzutragen. Doch zum Glück waren weder Uskav noch Roderick normal, sondern wie Thonfilas selbst Drachenreiter und somit selbst teilmagische Wesen. Dies änderte aber nichts an der emotionalen Wirkung, sondern verstärkte das Erlebnis eher noch, da ihre Neuronen die Empfindungen weiterleiteten und verarbeiteten, statt sich überlastet in Wohlgefallen aufzulösen. Und so erreichten auch Roderick und Uskav einen Höhepunkt, der sie in weit entfernte Welten verschlug und für einen kurzen Moment ihre irdische Existenz vergessen ließ.

»Bingo!«, kommentierte Narsul, Uskavs Drachendame, das Ereignis.


»Ich glaube, es ist soweit.«

Erschöpft, benommen und nicht ganz sicher, wo er eigentlich war, versuchte Roderick, sich aus einem Knäuel von Armen und Beinen zu befreien, wovon je ein Paar auch noch seine eigenen Extremitäten waren.

»Ja!«, knurrte Uskav und begann an der Enthedderung aktiv teilzunehmen, »Thonfi, könntest du vielleicht deinen Arm …? Danke!«

»Ich glaube, du solltest nochmal baden«, bemerkte Roderick mit einem Seitenblick auf Uskav dessen Oberkörper von etlichen angetrockneten Proteinresten strotzte.

»Oh, ich glaube nicht«, erwiderte der Uruk mit einem diabolischen Grinsen auf den Lippen, »Brazzak soll ruhig sehen, dass ich gerade fantastisch guten Sex hatte. Es wird ihn wahnsinnig machen!«

»Euer Zweikampf hat wohl schon begonnen?«, fragte Thonfilas nach.

»Er begann bereits mit der Herausforderung. Brazzak dürfte seine Zeit genutzt haben, um sich vorzubereiten. Erwartet nicht, dass der Kampf auch nur ansatzweise fair verläuft. Obwohl wir unbewaffnet gegeneinander antreten werden, kann man davon ausgehen, dass mein alter Freund vor versteckten Waffen nur so strotzen dürfte. «

»Und warum hast du nichts dergleichen vorbereitet?«, reif Roderick entsetzt.

»Trickwaffen sind Kinderkram«, entgegnete Uskav trocken, »Versteckte und mit Gift überzogene Klingen, Draht zum Erdrosseln in den Haaren, Kontaktgiftpflaster, Blendpuder … Das ist meiner Meinung nach überflüssiger Quatsch. Das Risiko, sich selbst damit zu verletzen ist viel zu hoch. Außerdem lenkt es im Kampf ab. Wenn ich ein Messer suchen muss, kann ich mich nicht auf meinen Gegner konzentrieren. Es hat auch schon Fälle gegeben, bei denen ein Kämpfer sein eigenes Blendpuder abbekommen hat und nur dadurch verlor.«

»Blendpuder?«

»Ach, dass so eine Tablette die man irgendwo versteckt, etwa im Stiefel oder hinterm Gürtel. Die Idee ist, dass man sie heimlich hervor holt, in der Hand zu Pulver zerreibt und dann dem Gegner ins Gesicht schleudert. Das Zeug brennt in den Augen wie Feuer und man sieht nix mehr. Alles Kappes!«

»Und wenn Brazzak sowas versucht?«

»Glaubst du ernsthaft, ich müsste meinen Gegner sehen?«, antwortete Uskav mit einer Gegenfrage, »Ich kann auch mit verbundenen Augen kämpfen. Augen kann man täuschen. Ich verlass mich da lieber auf ein paar mehr Sinne. Uruks wie Brazzak kann man ganz gut fühlen. Unsere Körper sind sehr viel heißer als die der meisten anderen Lebewesen.«

Während Uskav noch erzählte, begann er sich anzukleiden. Die Regeln verlangten, dass im Kampf keine Waffen verwendet werden durften, das heißt keine zusätzlichen Waffen, die über die körpereigenen hinaus gingen. Alles was der Urukkörper hergab, war erlaubt einzusetzen, seien es Klauen und Zähne, aber auch Zunge und Penis, die durch Züchtung zu effektiven Mordwerkzeugen umfunktioniert waren. Aus diesen Gründen bestand die Kampfbekleidung auch aus nicht viel mehr, als Stiefel, ledernen Armbändern und Lendenschurz.

Roderick musste Schlucken, als ihm dämmerte, warum Uruks vor Kämpfen eine Erektion bekamen.

Zweikampf

»Der Barad Baul - Schlimmer gehts nimmer«

Muriels Reiseführer Anhangsband 1, Anmerkungen zu Kapitel 1 »Tharbad«

Die sechs Stunden vor dem Kampf hatten Orkkrieger dazu genutzt, eine Arena aus dem Boden zu stampfen, die ziemlich genau den Vorgaben des schadow wedsch entsprach. Zumindest zeigte sich Uskav gegenüber Brazzaks Abgesandten mit den Gegebenheiten einverstanden. Der Kampf konnte beginnen.

Die Arena wurde genau zwischen den beiden Armeen angelegt. Man hatte sich darauf geeinigt, dass jede Seite 50 Zeugen zum Kampf entsenden durfte. Die daelbanische Seite bestand in erster Linie aus den Mitgliedern des Rates, ein paar Drachen und Uskavs engsten Freunden und Mitarbeitern. Brazzak ließ seine Heerführer antreten, da er genau wusste, dass es mit Loyalität der Uruks nicht sonderlich weit her war, bot sich ihnen die Möglichkeit einen Vorgesetzten durch sich selbst zu ersetzen. Es wunderte somit auch niemanden, dass Brazzaks Reitspinne eher die eigenen Leute als die Daelbaner argwöhnisch beobachtete. Augen genug hatte sie ja.

»Und nun, Naszgrbak«, meinte Brazzak und packte seinen Heerführer am Messer, dass nach wie vor in dessen Schulter steckte, »werd Zeuge des Untergang deines großen Vorbilds.«

Das Protokoll verlangte, dass beide Kämpfer einen Sekundanten benannten, die für ihren Mann sprachen. Uskav wählte Thonfilas. Ein kleiner Nadelstich in seiner Strategie. Brazzak hasste Elben.

»Du, Uskav, wurdest schuldig befunden die Ehre der Orks auf das schändlichste beschmutzt zu haben. Das Urteil lautet auf shadow wedsch!«, begann der Meister des Protokolls das Kampfritual.

Von beiden Sekundanten wurde aus den Reihen der Uruks ein Uruk benannt, der den Ablauf des nachfolgenden Kampfes leiten sollte. Thonfilas war sich nicht sicher, wen er da überhaupt wählte, doch hatte ihm Uskav vorher erklärt, dass das Wer keine Rolle spielte. Jeder Uruk würde sich peinlichst genau an die Regeln des shadow wedsch halten.

»So ist es!«, bestätigte Brazzaks Sekundant das Urteil.

»Shadow wedsch wurde verkündet. Uskav forderte Kampf!«

»So ist es!«, bestätigte wiederum Thonfilas als Uskavs Sekundant.

»Die Forderung wurde angenommen!«

»So ist es!«, erklärte Brazzaks Seite.

»Sind Forderer und Geforderter bereit!«

»Sie sind es!«, kam es gleichzeitig von beiden Sekundanten.

Die Arena war nicht mehr als eine kreisrunden flache Sandfläche von etwa 15 Metern Durchmesser. Gräser, Sträucher und Büsche, aber auch Steine und Felsen hatte man entfernt, so dass der Boden ausschließlich aus feinen ockernem Sand bestand. Die Umrandung bestand aus gekreuzten Schwertern, deren Griffe man einfach eingegraben hatte. An zwei sich gegenüberliegenden Stellen waren Öffnungen ausgespart, durch die nun Brazzak und Uskav traten. Beide Kontrahenten waren ähnlich gekleidet. Doch während Uskav sich auf Stiefel, Lendenschurz und ein Paar schützenden Armbänden beschränkt hatte, zierte Brazzak noch ein nietenbesetztes Ledergeschirr, welches Brust, Bauch und Lenden überspannte. Zudem glänzte Brazzaks Haut von etwas, das Roderick im ersten Moment als rote Farbe gehalten hatte. Als ihm dann aber der typische metallische Geruch frischen Bluts in die Nase stieg, wurde ihm klar, womit sich Brazzak beschmiert hatte: Orkblut war schwarz, es konnte sich somit nur um das Blut daelbanischer Gefangener handeln. Vor Wut und Hass auf Brazzak kochend, ballte Roderick die Fäuste. Zu gerne wäre er über Brazzak hergefallen.

»Ganz ruhig!«, flüsterte Uskav seinem Freund zu, »Ich verspreche dir: Brazzak wird für seine Taten büßen.«

»Schließt die Tore!«, befahl der Meister des Protokolls.

Orks kamen und verschlossen die beiden Zugänge hinter Brazzak und Uskav.

»Auf mein Kommando beginnt zu kämpfen. Der Kampf endet erst mit dem Tod oder Kampfunfähigkeit. Kämpft!«

Der Kampf begann. Uskav und Brazzak begannen sich vorsichtig zu umkreisen. In dieser ersten Phase studierte jeder Kämpfer seinen Gegner und suchte nach Anzeichen körperlicher Schwächen. Dazu dienten unter anderem Scheinangriffe, bei denen man die Reaktion seines Gegenübers beobachtete. Wohin wich er aus? Wie schnell reagierte er. Versuchte er zu kontern. Neben diesem physischen Abklopfen versuchte man auch die Konzentration des anderen zu schwächen, indem man ihn gezielt provozierte.

»Riechst du das, Uskav?«, rief Brazzak und wischte mit einer Hand über sein blutverschmiertes Gesicht, »Ich habe mich ein wenig an deinen Freunden gestärkt. Menschenfleisch, lecker Menschenfleisch! Was meinst du, sollte ich deinen kleinen Elben hinterher zum Essen einladen?«

Billig, dachte sich Uskav, und so voraussehbar! Statt auf die Provokationen einzugehen, musterte Uskav lieber Brazzaks Bewegungen. Der große Uruk mochte kräftig, vielleicht sogar deutlich kräftiger als er selbst sein, doch setzte er seine Kraft nicht effektiv ein. Brazzak schien nicht viel von einem überlegten Vorgehen zu halten, sondern schien sich auf seine körperliche Überlegenheit zu verlassen.

»Oh, du redest nicht mit jedem, was?«, versuchte Brazzak Uskav zu einer Reaktion zu bewegen, »Weißt du, ich freu mich schon darauf, dein Scharfrichter zu sein. Ich beabsichtige die bisher erreichte Dauer des shadow wedsch zu überbieten und baue voll auf deine Mitarbeit.«

Statt zu Antworten bedachte Uskav seinen Gegner mit einem mitleidigen Schmunzeln, was Brazzak natürlich nicht auf sich sitzen lassen konnte.

»Dein selbstgefälliges Grinsen wird dir noch vergehen!«, schnaubte Brazzak.

Uskav grinste weiter, während er seinen Kontrahenten keine Sekunde aus den Augen ließ. Die Frage, die sich Uskav stellte, war, wie viel von Brazzaks Gehabe echt und wie viel Theater war. So, wie er sich momentan präsentierte, erweckte er den Eindruck mit Muskeln fehlende höhere Hirnfunktionen zu ersetzen. Nur wird man kein Marschall einer hunderttausend Ork starken Armee mit dem geistigen Niveau einer gemeinen Stubenfliege. Brazzak mochte kein Stratege und Taktiker wie Uskav sein, aber dumm war es deswegen noch lange nicht.

»Hallo, Uskav?«, rief Brazzak, »Bist du schon so sehr Mensch geworden, dass du mit deinesgleichen nicht mehr sprichst?«

Verdammt! durchzuckte es Uskav noch, bevor sein Sprachzentrum ohne Erlaubnis loslegte: »Ich bin kein Mensch! Ich bin ein Uruk! Ich werde es dir beweisen und dein Herz mit bloßen Händen aus der Brust reißen!«

»Ach komm!«, höhnte Brazzak, »Du bist noch so viel ein Uruk, wie ein Elb ein Dämon ist. Du riechst ja nicht einmal mehr nach einem Uruk, du riechst …«

Brazzaks Nüstern wölbten sich, als er unter großer Geräuschentwicklung Luft einsog. Er hätte vorsichtiger sein sollen, denn kaum hatte seine Lungen gefüllt, bekam er einen Hustenanfall. Sein Gesicht lief, soweit man dies bei seiner dunklen Haut erkennen konnte, rot an und die Halsschlagader trat deutlich sichtbar hervor. Voller Ekel spuckte Brazzak Uskav vor die Füße.

»Du bist … Mit fehlen die Worte!«, fauchte Brazzak, »Das schadow wedsch ist eine viel zu milde Strafe für dein Verbrechen. Man sollte dich …«

Dieser Zorn war echt. Uskav konnte es sehen. Der Geruch Thonfilas’ Sperma auf seinem Körper hatte genau das erreicht, was Uskav beabsichtigt hatte. Brazzak war rasend vor Wut. Sein angezüchteter Ekel und Hass auf Elben war so stark, dass er sich nicht beherrschen konnte und spontan zu einer ungeplanten und ziemlich schlampigen Attacke gegen Uskav ansetzte. Uskav sah sie kommen und wich ihr aus. Um so überraschter war er, als ihn trotzdem Brazzaks Fuß am Kopf traf und dessen Krallen zwei tiefe Schnitte hinterließen. Brazzak war schneller, kräftiger und gelenkiger als Uskav erwartet hatte. Er hatte geahnt, dass es kein einfacher Kampf werden würde, doch musste er zugeben, dass er seinen Gegner falsch eingeschätzt hatte. Brazzak war sehr kräftig und verdammt schnell.

»Oh, du blutest ja!«, rief Brazzak, »Sollen wir dir ein Pflaster holen?«

Uskav grunzte verächtlich, spuckte in seine rechte Handfläche und schmierte seinen Speichel in die Kopfwunde, die sich rauchend und zischend schloss.

»Sind wir also doch noch ein bisschen ein Ork?«, fragte Brazzak gespielt anerkennend.

»Mehr als du je sein wirst!«, antwortete Uskav, »Du bist doch nur das Schoßhündchen deines Meisters!«

»Brachhaaaa!«, fauchte Brazzak.

Der Kampf ging in die nächste Phase, in der es darum ging, den anderen zu ermüden. Brazzak und Uskav versuchten dem jeweils anderen harte Schläge zu versetzen, ohne dabei selbst etwas einzustecken. Das Problem bestand darin, dass so etwas kaum möglich war. Um den Gegner zu treffen, musste man sich ihm nähern und geriet damit in dessen Einflussbereich. Ein guter Kämpfer war in der Lage derartige Manöver vorauszusehen, um den Angriff des Gegners nicht nur zu parieren, sondern sogar für einen eigenen Angriff zu nutzen.

Uskav war genau in solch eine Falle gelaufen, als er versuchte mit einem Sprung Brazzak einen Fußtritt auf die Brust zu setzen. Doch sein Gegner erkannte das Manöver und wich zur Seite aus, packte Uskavs Bein und verdrehte es, wodurch der Uruk unkontrolliert über die Arena flog. Obendrein gelang es Brazzak seinem Gegner auch noch einen Kinnhaken zu versetzen. Krachend landete Uskav im Staub.

»Zu einfach!«, lachte Brazzak, »Ist das alles, was du drauf hast? Uskav, du bist so jämmerlich, dass du nicht mal des shadow wedsch würdig bist!«

Uskav stöhnte. Brazzak hatte ihn kalt erwischt und versuchte nun, seine Schwäche auszunutzen und in die Offensive zu gehen. Doch dieses Mal war Uskav schneller. Brazzak sprang nicht nur ins Leere, Uskav holte ihn sogar von den Beinen, indem er Brazzak gegen dessen Fußknöchel trat.

»Argh!«, knurrte Brazzak wütend, wirbelte herum und rollte sich schnell aus Uskavs Nähe.

Jedem Beobachter des Kampfes dämmerte langsam, dass sich zwei ähnlich erfahrene Krieger gegenüberstanden. Was Brazzak an Kraft und Stärke Uskav voraus hatte, glich dieser mit Technik und Intelligenz aus. Niemand konnte sagen, wer am Ende als Sieger dastehen würde.

»Wir sollten für alle Fälle Vorbereitungen treffen«, flüsterte Roderick Thonfilas zu, »Sollte Uskav unterliegen, werden wir kaum Zeit haben, uns neu zu formieren. Alles muss bereit sein, um sofort wieder zuschlagen zu können.«

»Hab’ ein wenig Vertrauen in Uskav«, entgegnete Thonfilas, »Brazzak mag der Stärkere sein, doch langfristig wird ihm das nichts nützen.«

»Ich hoffe, du hast Recht. Ich hoffe es wirklich!«, erwiderte Roderick, »Ich liebe unseren Uruk. Ich liebe ihn wirklich, doch befürchte ich, dass er sich mit Brazzak übernommen hat.«

In der Arena war in der Zwischenzeit nicht viel mehr passiert. Weder Uskav noch Brazzak zeigten Ermüdungserscheinungen. Gelegentlich gelang einem der beiden ein Treffer, aber für echte Uruks entsprachen sie bestenfalls einem leichtem Klaps. Derartige Kämpfe konnten über Stunden gehen. Im Prinzip ging es darum, auf den einen entscheidenden Fehler des Gegners zu warten, doch die gab es, wenn überhaupt, sehr selten, weswegen man sie provozieren musste. Dies hatte aber umgekehrt den entscheidenden Nachteil sich selbst zu exponieren. Bei einem Kampf auf Leben und Tod kein ungefährliches Unterfangen.

»Komm her!«, brüllte Brazzak Uskav an, »Lass mal was sehen!«

Uskav tat es; weniger, weil ihn Brazzak dazu aufgefordert hatte, sondern weil es die einzige Möglichkeit war den Kampf zu beenden. Wollte er Brazzak besiegen, musste er Körperkontakt aufnehmen. Unter dieser Vorgabe begann er Brazzak zu umkreisen. Dieser folgte jeder von Uskavs Bewegungen. Plötzlich und von Uskav völlig unerwartet, sprang Brazzak auf Uskav zu, packte ihn an den Waden und riss ihn zu Boden. Ein Ellenbogen bohrte sich in Uskavs Flanke und traf dessen Nieren, dass ihm vor Schmerz die Luft weg blieb. Brazzak zeigte plötzlich eine verborgene Schnelligkeit, mit der niemand gerechnet hätte. Noch bevor sich Uskav berappeln konnte, war Brazzak aufgesprungen und sprang nun, Knie voran, direkt auf Uskav drauf. Uskav konnte hören, wie mehrere seiner Rippen knirschend zerbrachen.

Roderick biss sich auf die Lippen. Die Hände zu Fäusten geballt musste er zusehen, wie Uskav unterzugehen drohte. Doch da unterschätzte er seinen Freund. Ein paar gebrochene Rippen hatten noch nie einen Ork von irgendetwas abgehalten. Während Brazzak versuchte mit seinen Händen Uskav am Hals zu packen, gelang es dem, eines seiner Beine hinter eines von Brazzaks zu klemmen und als Hebel zu benutzen. Uskav verlagerte sein Gewicht, drückte etwas und rollte sich zur Seite. Einklemmt rollte Brazzak mit und fand sich plötzlich unter Uskav wieder.

»Ich werde dich töten!«, flüsterte Uskav Brazzak leise ins Ohr, als er neben seinem Kontrahenten zu liegen kam, »Ich werde nicht zulassen, dass du Daelbar und alles wofür es steht vernichtest.«

Ein Hauch von Zweifel beschlich Brazzak. Bestand wirklich die Möglichkeit, dass ihn Uskav besiegte? Diese kompromisslose Entschlossenheit in der Stimme seines Feindes klang beunruhigend. Eine beunruhigende Erkenntnis kroch in Brazzaks Hirn: Was wäre, wenn es Uskav nicht für sein eigenes Leben, sondern für die Freiheit seiner Freunde kämpfte? Ein Uruk, dem egal war, was mit ihm geschah, war vollkommen unberechenbar.

Die Situation wurde unübersichtlich. Die Körper der beiden Uruks hatten sich vollkommen ineinander verkeilt. Während Uskav seinen Arm auf Brazzaks Kehle drückte, versuchte dieser seine Klauen in Uskavs Genitalien zu rammen, was Uskav wiederum zwang, seine Lage zu verändern, was den Druck von Brazzaks Kehle nahm.

»Was macht er da?«, flüsterte Roderick entsetzt, den Uskavs kompromissloser Kampfstil gegenüber sich selbst begann zu irritieren.

»Er wird sich Opfern«, antwortete Thonfilas leise und gefasst.

»Was?«, Roderick konnte seinen Schrei gerade noch unterdrücken. Auf keinem Fall wollte Uskav ablenken.

»Er wird alles tun, um Brazzak zu besiegen, auch wenn das bedeutet …«

Thonfilas sprach nicht weiter, sondern schaute nur mit feucht glänzenden Augen in Rodericks erschüttertes Gesicht. Schlagartig wurde dem Neovikinger klar, warum Uskav unbedingt noch einmal mit ihnen schlafen wollte. Er hatte Abschied genommen, weil er nicht davon ausging, den Kampf mit Brazzak zu überleben.

»Du wusstest es, oder?«, fragte Roderick fast stimmlos.

»Ich habe befürchtet, dass Uskav diesen Weg wählen könnte. Doch verzweifele nicht. Selbst Uskavs Zukunft ist noch nicht geschrieben.«

Inzwischen war auch Brazzak von Uskavs Motivation überzeugt und wusste, dass er anders kämpfen musste. Jetzt wurde ihm auch klar, warum Uskav ihn herausgefordert hatte. Uskav hatte Brazzaks unbedingten Willen, an ihm das shadow wedsch zu vollziehen, in seine Kampfstrategie eingeplant. Er wusste, dass Brazzak nicht mit voller Kraft kämpfen konnte, wollte er Uskav nicht töten. Brazzaks Wunsch nach Rache und Vorfreude darauf, Uskav zu Tode quälen zu dürfen, war seine Schwäche. Wie er Uskav hasste!

Aber nicht mit mir! Brazzaks Hass hatte einen Pegel erreicht, an dem er Uskav nur noch tot sehen wollte. Zum Teufel mit dem shadow wedsch, von nun an ging es um alles.

Von einer Sekunde auf die andere wechselte Brazzak sein Vorgehen. Statt zu versuchen, Uskav nur kampfunfähig zu machen, setzte er nun alles daran, seinen alten Feind zu töten. Jeder Schlag wurde härter, jeder Griff zupackender. Uskav spürte, wie Brazzaks Kampftechnik sich veränderte, begriff aber zu spät, warum. Schneller als Uskav reagieren konnte, hatte Brazzak das Handgelenk seines Gegners gepackt und brutal verdreht. Das Geräusch mit dem Uskavs Handgelenk brach, konnte man in der ganzen Arena hören.

Uruks waren zwar Beidhänder, doch stellte eine gebrochene Hand eine nicht unerhebliche Behinderung dar. Uskav wusste, dass es alles andere als gut für ihn aussah. Sein Plan darauf zu setzen, dass Brazzak ihn nicht töten sondern nur kampfunfähig machen wollte, war nicht aufgegangen und mit einer gebrochenen Hand hatte er sich ein ernsthaftes Handicap eingefangen. Seine Möglichkeiten waren arg beschränkt und Brazzak witterte zudem Oberwasser.

»Jetzt siehst du alt aus, was?«, höhnte Brazzak, sprang auf und ließ sich, Ellenbogen voraus, auf Uskav fallen. Dem Uruk wurde kurzzeitig schwarz vor Augen. Keuchend und Blut spuckend versuchte er seine Kräfte zu sammeln und sich auf Brazzaks nächsten Angriff vorzubereiten, doch der kam nicht. Stattdessen stolzierte Brazzak in der Arena umher.

»Schau ihn dir gut an, Naszgrbak!«, rief Uskav einem Uruk außerhalb des Rings zu, »Da liegt er, dein so vergötterter Uskav!«

Brazzak und sein übergroßes Ego – Uskav sandte ein Stoßgebet des Danks an alle seiner Götter. In einer alles oder nichts Aktion konzentrierte er seine gesamte verbliebene Kraft in einen Angriff. Ohne Rücksicht auf seinen eigenen Körper sprang er seinen Gegner an, die gestreckte Gerade der unverwundeten Hand voraus. Der Faustschlag traf Brazzak am Unterkiefer der prompt zerbrach. Der folgende Aufprall von Uskavs’ Körper riss den völlig überraschten Brazzak zu Boden. Krachend landeten beide Uruks im Sand. Ein wilder, brutaler Ringkampf entbrannte zwischen den beiden. Ihr Körper waren dermaßen mit Endorphinen vollgepumpt, dass sie sich jenseits jeglicher Schmerzempfindung befanden. So gelang es Uskav Brazzak einen Arm auszurenken, während der umgekehrt Uskav mehrere klaffende Wunden verpasste.

Und dann passierte das, was Uskav erwartet hatte: Brazzak begann schmutzige Tricks anzuwenden. Aus dem Augenwinkel konnte Uskav gerade eben noch erkennen, dass aus den Nieten von Brazzaks Brustgeschirr mehrere vergiftete Nadeln hervorblitzten, da bohrten sie sich auch schon in Uskavs eigene Brust. Brazzak hielt Uskav eng umklammert, bis er sicher war, dass die Nadeln ihre Aufgabe erfüllt hatten.

»Entspann dich, Uskav!«, flüsterte Brazzak Uskav ins Ohr, »Ich werde gnädig sein und dir das shadow wedsch ersparen. Empfang meinen Kuss!«

Uskav fühlte, wie sich das Gift in seinem Körper ausbreitete. War es jetzt Glück oder Fluch, dass ihn das Gift nicht töten sondern nur lähmen sollte? Von Brazzak den urukschen Kuss des Todes empfangen zu müssen; ein demütigenderes Ende konnte man sich kaum vorstellen.

»Uskav, fang!«, eine unverwartete Stimme drang an Uskavs Ohr. Ohne nachzudenken fing Uskav das ihm zugeworfene Objekt auf … und Brazzak starb!

Mond und Sterne

»Ich lese immer das letzte Wort eines neuen Buches zuerst.«

Profitius Spax, Philosoph 2. Klasse

Singen?

Wer war ich, dass ich meinem Drachen widersprechen täte? Ich begann zu singen. Genau genommen begann ich die Melodie zu summen, jene Melodie, die Ivoricalad mit mir auf ewig verband. Erst summte ich sie leise und unsicher, dann immer lauter und mit fester Stimme. Ivo fiel mit ein. Zusammen schwollen unsere Stimmen zu einem kräftigen Klang an und plötzlich tat sich etwas. Die Kristallwände des Brad Bauls begannen zu vibrieren. Knirschende, kreischende Geräusche begannen mit uns zu konkurrieren, wehrten sich gegen die Kraft unserer Melodie – und versagten. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen explodierte die Wand vor uns. Sie platzte einfach auf, von uns weg, so dass uns kein einziger Splitter traf. Sofort sprangen wir nach draußen, den verhassten Barad Baul hinter uns lassend.

»Mithval, schnell! Kommt her!«, hörte ich Gilfea die Drachen rufen.

»Wir sind schon unterwegs!«, kaum hatte Mithval geantwortet, konnten wir bereits eine Gruppe Drachen über uns ausmachen, die direkt auf uns zusteuerten, während wir so schnell wie möglich rannten, um möglichst viel Abstand zwischen uns und den Turm zu bekommen. Dass uns bei dieser Flucht niemand aufhielt, war verwunderlich, aber nichts, worüber wir uns Sorgen machten. Wir waren eher froh, dass kein Kugelhagel auf uns niederregnete. Während Ole, Erogal und die anderen zu Fuß rannten, sprangen Ivo und ich in die Luft und flogen.

»Kannst du Suman tragen?«

Eine dumme Frage, schließlich flog Ivo, wenn er auch wie eine pummelige Hummel schwer in der Luft hing.

»Nur ein kleines Stück«, antwortete mein Drache, »Wir müssen ihn in Sicherheit bringen!«

Nicht nur ihn! Ein schwerer Stoß erschütterte die Erde und riss unsere fußläufigen Freunde zu Boden. Als ich mich zu ihnen umdrehte, sah ich mit Schrecken, wie der Barad Baul hin und her wankte. Im Boden brachen Spalten auf. Risse fraßen sich durch den Asphalt des Gefängnisvorplatzes.

»Vorsicht!«, brüllte Erogal. Vor mir begann sich einer der Wachtürme, die den Barad Baul umgaben, zu neigen. Der letzte Erdstoß musste zu einem Riss im Fundament geführt haben. Sein Einsturz war nicht mehr aufzuhalten.

»Da sind noch Wachen drin!«, schrie Erogal.

Von der Spitze des Wachturms schallten uns Hilferufe entgegen und ich meinte winkende Figuren ausmachen zu können. Ein grausiger Anblick. Jedem war klar, dass die Männer nicht zu retten waren.

Doch da täuschten wir uns. Ein großer schwarzer Schatten näherte sich, zwei paar Drachenklauen packten zielsicher zu und schon hingen panisch zappelnde Wächter an Mithvals Füßen, die der Drache sanft am Boden absetzte. Typisch Mithval, immer zur Stelle wenn es darum ging Pluspunkte zu sammeln.

Ein weiterer Stoß erschütterte den Boden, doch dieser war um ein Vielfaches stärker. Gebäude in der Nähe des Barad Bauls bekamen Risse. Teile ihrer Fassaden brachen ab und stürzten zu Boden.

»Es ist ein Erdbeben!«, rief ich Gilfea zu. Wir hatten die Grenzmauer des Gefängnisgeländes erreicht, nur dass von der Mauer nach dem letzten Stoß nur noch Trümmer übrig waren, »Der Turm! Er zerreißt die ganze Stadt!«

Kaum in relativer Sicherheit und Distanz zum Barad Baul, begann sich Gilfea um Suman zu kümmern. Vorsichtig entfernte er die zerfetzten und blutigen Kleider und legte dann seine Hände vorsichtig und sehr sanft auf Sumans Brust.

»Nein!«, erwiderte Gildofal an Stelle von Gilfea, »Es ist schlimmer. Wir haben den Barad Baul erweckt. Jetzt verstehe ich, was mir der Text sagen wollte!«

»Welcher Text?«, fragte ich nach. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wovon mein elbischer Freund sprach.

»Der Kristall aus der Höhle der Wölfe«, erinnerte mich Gildofal an ein Ereignis, von dem er mir nach unserem Wiedersehen erzählt hatte. Auf der Suche nach mir, waren meine Freunde kurzzeitig in die Gefangenschaft eines Rudels Wölfe geraten. Nach einer Auseinandersetzung mit Steinschlag, einem Mitglied dieser Meute, in dessen Verlauf Steinschlag als Verräter enttarnt wurde, nahm der Häuptling des Rudels meine Freunde in ihre Sippe auf; ehrenhalber, wie ich anmerken muss. Wie sich zeigte erfüllten die Wölfe eine Aufgabe, nämlich die Bewachung eines großen Kristalls, der versteckt in einer Höhle verborgen lag. Dieser Kristall war nicht nur magischer Natur, sondern durchzog das gesamte Gebirge mit feinen Adern. In der Höhle bildeten diese Adern Linien in der Form elbischer Schrift. Die gesamte Höhle überzog fast unendlich langer Text, in dem es um eine Prophezeiung ging.

Gildofal hatte versucht den Text zu übersetzten, war aber nur sehr langsam voran gekommen. Die Sprache des Textes war zwar Elbisch aber der Dialekt entstammte einer längst vergessenen Zeit. Und selbst die mühsam übersetzten Teile brachten einen nicht weiter, sondern warfen nur noch mehr Fragen auf, da er in Allegorien oder Rätseln sprach. Die einzige sichere Erkenntnis war hingegen kaum zu glauben, sprach der Text doch von niemand anderen als von uns: Suman, Gilfea, Gildofal und mir.

»Ja, natürlich! Alles macht Sinn!«, rief Gildofal und erntete damit Gilfeas und meine Aufmerksamkeit, »Der Text … Ich kann es kaum glauben … In ihm wurde genau dies beschrieben!« Gildofal zeigte auf den wankenden Barad Baul und begann zu rezitiren: »Das abscheuliche Mal des Einen wird erwachen. ›Das Mal‹, das ist der Barad Baul und ›der Eine‹, dass ist das namenlose Böse.«

Gildofal starrte die schwarze Nadel an. Der Turm knackste, knirschte und krachte, schwang hin und her. Teile splitterten ab. An diversen Stellen des Turms bildeten sich Auswüchse.

»Wir müssen ihn vernichten!«, Gildofal wandte seinen Blick keine Sekunde ab, »Er wird wachsen. Ja, jetzt verstehe ich den Text.« Gildofal wirbelte herum und sah uns todernst an: »Wir müssen ihn zerstören, jetzt! ›Sein Mal wird die Erde beflecken und sich nähren von allem was ist, um sich zu öffnen für den Einen.‹ Versteht ihr, was das heißt. Es wird alles Leben in Tharbad vernichten. Der Turm ist ein Portal mit dem das namenlose Böse in unsere Welt zurück kehren will. Er saugt das Leben auf, um zu wachsen und das Portal bilden zu können. Seht ihn euch an! Diese Auswüchse, die Erdbeben … Er wächst im Boden in die Stadt hinein, kriecht durch Ritzen und Spalten in die Häuser. Es ist ein gigantisches Gespinst feiner Kristallfäden, die wie Wurzeln eines Baums Nährstoffe aufsaugen. Nur, dass diese Nährstoffe nicht aus dem Boden stammen und sondern das Leben aller Bewohner Tharbads ist.«

Ein eisiger Schauer lief mir über den Rücken. Obwohl es eigentlich recht warm war, fröstelte mir. Wie vernichtet man einen Turm aus schwarzen magischem Kristall?

»Versuchen wir es mit Feuer!«, meinte Mithval und schwang sich in die Lüfte. Der große schwarze Mithrildrache begann den Barad Baul zu umkreisen, nahm eine Kampfposition ein, riss sein Maul auf und spie dermaßen viel Feuer, dass wir es noch am Boden in rund dreihundert Metern Entfernung auf unseren Gesichtern spüren konnten. Im Gegensatz zum Barad Baul, der reagierte überhaupt nicht, jedenfalls sahen wir keine schädliche Reaktion. Ganz im Gegenteil nahmen die Erdbeben sogar noch zu.

»Mithval, hör auf!«, schrie Gildofal panisch, »Kein Feuer! Das macht den Turm nur noch stärker!«

Mithval stoppte sofort seinen Angriff. Zu spät, ein gewaltiger Stoß riss uns von den Beinen. Der Boden platzte auf und weitere schwarze Kristalladern quollen hervor.

»Gildofal!«, rief ich meinem Freund entsetzt zu, »Was sollen wir tun? Was sagt dein Text, wie wir gegen diese Abscheulichkeit ankämpfen sollen?«

»Ich … ich …«, stammelte Gildofal und blickte zwischen uns und dem Turm hin und her, »Ich bin mir nicht sicher. Ich … ich weiß es nicht. Der Text wurde in einer sehr alten hochelbischen Sprache verfasst, die seit tausenden Jahren nicht mehr gesprochen wird. Die Worte formulieren eher Bilder und Allegorien. Es ist sehr schwer, sie richtig zu deuten.«

»Es gibt Probleme!«, ließ sich plötzlich Mithval vernehmen, »Die Stadt, Tharbad, wird eingeschlossen. Ich kann sehen, wie an den äußeren Rändern undurchdringliche Kristallwände emporwachsen, die die Stadt vollständig umgeben.«

»Gildofal, bitte, denk nach!«, flehte ich meinen Freund an, »Dieses Ding macht ernst. Wir müssen etwas tun und das schnell! Zigtausend Leben hängen von uns ab!«

»Schön, dass du mich nicht unter Erfolgsdruck setzt«, lachte Gildofal schief, bevor er seine Augen schloss. Man konnte sehen, wie er angestrengt nachdachte. Ab und zu murmelte er ein paar Worte in einem elbischen Dialekt, den ich nicht kannte, aber in meinen Ohren sehr altertümlich klang. Wir anderen verhielten uns während der ganzen Zeit still und versuchten Gildofals Konzentration nicht zusätzlich zum knacken und knirschen zu stören.

»Gwae Mith’Raca«, murmelte Gildofal und schaute nachdenklich zu Mithval, um dann den Blick auf meinen Drachen zu richten, »Ivoricalad«

»Ist dir etwas eingefallen?«, fragte ich leise nach.

»Mehr oder weniger«, antwortete Gildofal vage, »Es gibt dort eine Textstelle ›Die ungleichen Brüder, Sternenhimmel und Mond, Hüter der Hoffnung‹. Die ungleichen Brüder … Wenn ich nicht völlig falsch liege, dann sind das Ivo und Mithval. Ich bin überzeugt, dass die beiden der Schlüssel sind. Nur habe ich keine Ahnung, wie man ihn verwendet.«

»Schaut uns nicht an, wir sind nur zwei dumme Echsen. Für’s denken seid ihr zuständig!«, kommentierte Ivo unsere fragenden Blicke.

»Ich …«, weiter kam ich nicht. Ein kreischender Ton, tausendmal schmerzhafter als Kreide auf einer Schiefertafel, erfüllte die Luft. Es war, als wenn etwas eisiges einem alle Kraft aussaugte. Ich konnte fühlen, wie ich schwächer wurde. Sämtliche Farbe, das Leben selbst, schien, aus der Welt um uns herum zu schwinden.

»Das ist der Turm!«, brüllte Gilfea gegen den Lärm an, »Gildofal, bitte …«

»Ich …«, so wie ich, verstummte auch Gildofal, doch war sein verstummen anders. Er wandte sich mir zu und schaute mich an. Doch obwohl es Gildofal, mein geliebter Elb war, dessen Gesicht ich sah, fühlte ich den Blick eines anderen auf mir ruhen, »Segato, erwache!«

Etwas erwachte in mir. Das gleiche silberne Funkeln erwachte in mir, wie damals, als ich Suman vom Projektil des Todesigels rettete, zumindest von dessen magischen Anteil. Das magische Funkeln gab mir Kraft und Stärke. Ohne zu wissen, was ich tat und warum, vollführten meine Hände Bewegungen einer magischen Beschwörung. Blauweiße Blitze entströmten meinen Fingern und fuhren Richtung Himmel. Ein Grollen erfüllte die Wolken, die über dem Barad Baul und weiten Teilen Tharbads hingen. Blitze zuckten an ihrer Unterseite entlang. Dann brach die Wolkendecke auf und ein einzelner Sonnenstrahl schien auf uns herab.

»Das ist es!«, schrie Gildofal, »Ivo flieg ins Licht!«

Ivo flog. Mein Kristalldrache flog direkt in den Sonnenstrahl. Und wie jedes Mal, wenn ihn die Sonne bestrahlte, wurden seine Schuppen klar wie Kristallglas. Ivo wurde zu einem Prisma, aus einem Strahl wurden tausende glänzende Lichtstrahlen.

»Mithval, fang Ivos Licht auf. Richte sein Licht auf den Turm!«

Mithval erhob sich und nahm eine Position ein, die ihn in einer geraden Linie vor Sonne und Ivo brachte. Dort entfaltete er seine Flügel und enthüllte seine wahre Gestalt. Mithval, der schwarze Drache wurde zu Mithval dem Mithrildrachen. Seine Schuppen wurden glasig und nahmen jenen magischen Glanz an, wie nur Mithval ihn besaß. Im gleichen Moment begriff Ivo seine Aufgabe, seine Bestimmung. Er war die Linse, das Objektiv, das die Strahlen der Sonne bündelte. Ivo konzentrierte sich, wandte sich und veränderte seinen Körper so, dass der eine Sonnenstrahl aufgefächert auf tausende einzelne Strahlen Mithvals Schuppen beschienen.

Und dann passierte es. Vollkommen lautlos entflammte eine Explosion puren Lichts. Mithvals Schuppen glühten auf, wurden heller, strahlender, gleißend und entluden sich in einer gigantischen Eruption reinen magischen Lichts, welches er auf den Barad Baul fokussierte.


Es ist schwierig zu beschreiben, was als nächstes geschah, da Begriffe wie Zeit und Raum aufhörten zu existieren. Die Lichtstrahlen trafen den Barad Baul und die Welt hörte auf zu existieren. Für einen kurzen Moment befanden wir uns an einem Ort jenseits jeglicher körperlicher Existenz. Ich fühlte die Präsenz meiner Freunde, Drachen, Menschen und Elben gleichermaßen, ein warmes Gefühl von Zuneigung und Liebe. Aber da war auch etwas anderes, dunkel und kalt und voller Boshaftigkeit. Für einen kurzen Moment, soweit es überhaupt Momente gab, erschien dieses andere übermächtig und unbezwingbar.

»Weiche zurück! Der Weg ist verschlossen«, hörte ich mich sagen.

»Ich weiche … Dieser Weg mag verschlossen sein. Aber ist gibt andere.«

»Wir werden wachen!«

»Ja, das werdet ihr.«


»Was …?«, rief Gildofal verwirrt. Von einem Moment zum anderen kehrte die gewohnte Welt zurück.

»Es ist vorbei«, meinte ich und sah mich um. Im ersten Moment schien sich nichts verändert zu haben, doch dann sah ich es. Der Barad Baul, Inbegriff des Schreckens, Quelle von Leid und Schmerz, war besiegt. Er war nicht verschwunden, doch der Schrecken, der von ihm ausging war es. Das schwarze, undurchdringliche und bedrohliche Material, aus dem er erschaffen war, veränderte sich. Es begann an seiner Spitze, die im Schein der Sonne zu glänzen begann. Die schwarze Färbung verblasste und hinterließ einen glasklaren, funkelnden Kristall. Immer mehr wurde von dieser Veränderung erfasst. Wie ein Lauffeuer verbreitete sie sich über den gesamten Turm, drang in den Boden ein und erreichte sogar die Kristalladern, die bis zu den Wällen führten, die die Stadt einschlossen.

Eine leichte Brise kam auf, sie wehte vom Meer den Fluss hinauf. Die ewigen grauen Wolken über Tharbad wurden fortgerissen und eine strahlende Sonne beschien das Land.

»Es ist Eis!«, rief Sebastian, der ehemalige Mörderlehrling der Kirche.

Zuerst verstanden wir nicht, was er meinte, bis er auf den Turm zeigt. Der Kristall war nichts weiter als klares Eis, das nun begann zu schmelzen. Wasser tropfte herab.

»Du hast recht«, hörte ich plötzlich Suman sprechen. Er war aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht. Noch schwach lag er an Tingalen gestützt am Boden. Ein glückliches Lächeln lag auf seinem Gesicht: »Es ist vorbei!«

Schadensbegrenzung

»Ich shoppe, also bin ich.«

Lebensmotto der Liga der höheren Töchter

Brazzak starb durch sein eigenes Messer.

Uskav hörte die Worte. Er fühlte, wie das lähmende Gift aus Brazzaks Brustgeschirr seine Wirkung entfaltete. Er hatte noch 10 Sekunden, bestenfalls, und Brazzak hätte ihn besiegt.

»Uskav, fang!«

Es war der pure Reflex des Kriegers, der Uskav dazu brachte seine Hand nach dem blitzenden Messer auszustrecken und es zu fangen. Es war der gleiche Reflex, mit dem er einem völlig überraschten Brazzak die Kehle durch schnitt. Uskavs Körper, unbewusst wissend, dass er kaum noch Zeit hatte zu reagieren, konzentrierte alle Kraft in diesen Schnitt, dass es den Kopf fast vom Rumpf getrennt hätte. Dunkelheit umfing Uskav. Brazzaks letztes gegurgeltes Wort Wort blieb von ihm ungehört.

Und so bekam der tapfere Uruk Daelbars auch nicht mit, wie sich die Ereignisse mit seinem Sieg über Brazzak überschlugen. Alles begann damit, dass Naszgrbak etwas begriff, was er bisher nie verstanden hatte: das Wesen der Freiheit. Naszgrbak erkannte, dass Uskavs Kampf, sein Opfer für Daelbar, keinem Befehl entstammte. Es war Uskavs eigene Entscheidung. Er hatte die Wahl! Und er tat es aus Überzeugung und nicht, weil ihm jemand einen Befehl dazu gab. Uskav war bereit, für die Freiheit, für seine und die seiner Daelbanischen Freunde, zu sterben.

Diese Erkenntnis traf Naszgrbak wie ein Donnerschlag und das ausgerechnet in dem Moment, als Brazzak seine versteckten Giftnadeln aktivierte. Genauso reflexartig wie Uskav das Messer fing, hatte ihm Naszgrbak das Messer zugeworfen. Es war genau das Masser, was seit Stunden in seiner Schulter steckte. Es war Brazzaks Messer.

Im gleichem Moment in dem Naszgrbak das Messer warf, sprang Brazzaks Reitspinne in die Luft, bereit den Mörder ihres Herren zu zermalmen. Doch dazu kam es nicht. Kaum in der Luft verwandelte ein gezielter Feuerstrahl konzentrierten Drachenfeuers das Reittier in Asche.

»Hab’ dich!«, meinte Narsul zufrieden, hüstelte und ließ ein paar schwarze Rauchwölkchen seinen Nüstern entfleuchen.

Mit einer Vermutung behielt Uskav recht, auch wenn er es in Folge seiner Besinnungslosigkeit nicht mit bekam. Kaum waren Brazzak und seine gefährliche Reitspinne Geschichte, brach ein erbarmungsloser Kampf um die Führerschaft unter den Urukgenerälen aus. Der einzige, der sich nicht beteiligte, war Naszgrbak. Der Uruk sprang in die Arena und eilte zu Uskav.

»Hände weg von unserem Freund!«, schrie Thonfilas, der ebenfalls in den Ring gesprungen war. Mit gezücktem Schwert lief er auf Naszgrbak zu, bereit den feindlichen Uruk zu erschlagen.

»Hab keine Angst, Elb! Ich will Uskav nichts böses«, erklärte Naszgrbak und rollte Brazzaks Kadaver von Uskav herunter, untersuchte dann die Stiefel des toten Körpers, wurde fündig und überreichte Thonfilas einen versiegelten Umschlag.

»Was ist das?«, fragte Thonfilas und nahm den Umschlag zögerlich entgegen. Inzwischen war auch Roderick hinzugestoßen, der mit gezücktem Schwert die Szene sehr genau beobachtete.

»Die ultimative Waffe. Gib sie auf keinen Fall aus der Hand«, erläuterte Naszgrbak, »Dieser Umschlag enthält eine Beschwörung mit der alle Orks unseres Heeres auf einen Schlag vernichtet werden.«

»Warum gibst du mir das?«, Thonfilas zeigt sich schockiert und war sich alles andere als sicher, was er von der Sache halten sollte.

»Wir sind Opfer, so wie ihr, auch wenn unsere Orks keine Ahnung davon haben«, erklärte Naszgrbak, »Vielleicht solltet ihr wissen, wie unsere Befehle lauten. Wir sollen euch vernichten. Jeden einzelnen von euch. Niemand soll überleben. Aber das habt ihr sicherlich schon vermutet. Was ihr nicht wisst, wir haben auch den Befehl erhalten, alle Orks nach dem Sieg zu vernichten. Brazzak, seine Generäle, wir alle hinterfragen unsere Befehle nicht. Wir sind Orks. Wir hinterfragen keine Befehle. Jedenfalls … War es bisher so … Ich … Ich glaube … Ich will das nicht mehr.«

Thonfilas und Roderick sahen sich mit fragenden Blicken an.

»Bitte, lasst mich Uskav helfen. Brazzak hat ihn mit einem Gift gelähmt.«

Roderick zögerte mit einer Antwort. Genauso wie Thonfilas fragte er sich, was er von Naszgrbak halten sollte. War er ein Uruk wie Uskav, der sich seiner mentalen Versklavung entledigt hatte oder spielte er irgendein perverses Spiel? Uskav war bewusstlos und konnte keine Antwort geben.

»Bitte!«, flehte Naszgrbak, »Ich kann ihm helfen!«

Thonfilas nickte, packte aber gleichzeitig sein Schwert: »Gut, versuch es! Aber Vorsicht, wenn du ihm auch nur ein Haar krümmst …«

Der Uruk nickte sein Verständnis, hockte sich neben Uskav hin und holte einen kleinen Lederbeutel hervor, dem er ein Kraut entnahm, das er über Uskav zerbröselte. Dabei murmelte er Worte die in Thonfilas feinen Elbenohren schmerzhaft scharf klangen.

»Uuhhh!«, stöhnte Uskav plötzlich und schlug seine Augen auf, »Thonfilas! Roderick! Oh … was …? Naszgrbak, du?«

»Hallo Bruder!«, Naszgrbak zeigte etwas, das eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Lächeln besaß.

»Bruder?«, fragte Roderick überrascht nach.

»Brüder, wie noch ein paar hundert andere Uruks«, erklärte Uskav, »Naszgrbak und ich entstammen dem gleichen Zuchtstamm. Brazzak, ist er …?«

»Tot?«, vollendete Naszgrbaks Frage, »Ja, du hast gesiegt … Mit etwas Hilfe.«

»Danke«, Uskav nickte und richtete sich auf, »Hab ich sonst noch was verpasst?«

Für seine letzte Frage erntete Uskav belustigtes Schmunzeln. Wechselweise brachten Thonfilas, Roderick und auch Naszgrbak Uskav auf den aktuellen Stand der Dinge. Als Naszgrbak auf das Thema des zweiten Befehls kam, horchte Uskav auf.

»Kann ich den Umschlag einmal sehen?«

Naszgrbak nickte und gab Uskav seinen Umschlag, den der Uruk sofort öffnete und schweigend studierte.

»Wir werden zwar gegen jeden kämpfen der versucht, uns unsere Freiheit zu nehmen«, meinte Uskav schließlich mit einem Ausdruck von Ekel in Stimme und Mine, die weder Thonfilas noch Roderick bei ihrem Freund vorher erlebt hatten, »Aber das … Das ist … abscheulich!«

»Wir sollten uns zurück ziehen. Uskav, kannst du gehen?«, fragte Thonfilas vor, während er sich umsah. Das Orkheer hatte sich weit zur Mündung des Daelbartals zurück gezogen. Und wenn ihn seine elbischen Augen nicht täuschten, dann befanden sich Teile des Heers im Kampf miteinander.

Uskav versuchte aufzustehen, zuckte aber sofort mit schmerzverzerrter Mine zusammen und schüttelte den Kopf. Doch da war bereits Narsul zur Stelle und hob ihre Seele sanft auf. Obwohl Thonfilas schon seit ein paar Jahrhunderten ein Drachenreiter war, erstaunte es ihn jedes Mal aufs neue, wie vorsichtig und sanft die Echsen mit ihren Seelen umgingen. Als wenn Narsul genau wusste wo Uskav verletzt war, legte sich ihre Krallen dermaßen vorsichtig und überlegt um den Uruk, dass sie ihn so schmerzfrei wie irgend möglich tragen konnte. Thonfilas und Roderick folgten auf ihren eigenen Drachen, von denen sich Lindor zusätzlich noch Naszgrbak krallte und ihn ebenfalls mitnahm.

Alle, die für die anstehenden Entscheidungen wichtig waren, fanden sich kurze Zeit später in Uskavs Zelt wieder, das ihm als provisorische Kommandozentrale diente. Dort brachten sich die Teilnehmer auf den aktuellen Stand der Ereignisse. Die Leiter der Häuser der Heilung berichteten, dass die Versorgung der Verwundeten in vollem Gange war. Man war sehr guter Hoffnung, helfen zu können. Es gäbe aber auch Fälle, bei denen die Heilkunst an ihre Grenzen stieß. Manche Verletzungen waren so schwer, dass wenig Hoffnung bestand und man in den nächsten Stunden mit dem Schlimmsten rechnen musste. Doch daneben gab es auch Opfer, bei denen man völlig ratlos war, woran sie eigentlich litten, da sie eigentlich nur unter eher geringen Verwundungen litten, die man problemlos versorgen konnte. Doch brachen die Wunden nach einiger Zeit wieder auf und fingen erneut an zu bluten. Manche Patienten bekamen sogar Fieber und Wahnvorstellungen, um wenig später die Besinnung zu verlieren.

»Naszgrbak?«, fragte Uskav den anderen Uruk, der von den anderen Daelbanern etwas unsicher beobachtet wurde. Wusste man nicht so recht, ob er ein Gefangener, ein Überläufer oder etwas völlig anderes war.

Naszgrbak nickte und machte sich auf, zu gehen: »Ich glaube, ich könnte da behilflich sein. Zeigt mir eure Verwundeten.«

»Warte!«, rief ihm Uskav hinterher, »Ich glaube zwar, dass ich die Antwort kenne, aber siehst du eine Chance, dass das Heer den Angriffsplan aufgibt?«

Der Angesprochene sagte nichts, sondern bedachte Uskav mit einem Blick, der mehr sagte als mit Worten möglich wäre.

»Ich dachte es mir«, bemerkte Uskav frustriert, »Es ist nur, dass sie trotz allem, meine Brüder sind. Ich will nicht mehr gegen sie kämpfen müssen, aber wir werden es tun, wenn sie uns dazu zwingen.«

Bevor er antwortete, hielt Naszgrbak einen Moment inne: »Du hast selbst gesehen, wer die Streitmacht anführt. Du hast früher mit ihnen zusammen gekämpft. Du weißt, wie sie denken.«

Die um die Vorherrschaft kämpfenden Generäle waren Teil von Brazzaks’ Tross und hatten Uskavs Kampf verfolgt. Die Meisten waren ihm aus seiner Zeit als General des Königs noch wohl bekannt. Womit klar war, dass die Chance für ein gütliches Ende der Schlacht eher gering war. Eine fest in ihrer Psyche verankerte Gehorsamkeit gegenüber ihrem Machthaber verhinderte alternative Denkprozesse.

»Ich sollte mich wohl lieber um eure Verwundeten kümmern …«, merkte Naszgrbak an, wofür er von Uskav ein zustimmendes Nicken erntete. Uruk und Heiler eilten aus dem Zelt.

Ratlosigkeit breitete sich unter den zurückgebliebenen Entscheidern Daelbars aus. Mit Uskavs Sieg über Brazzak hatte man in erster Linie Zeit gewonnen. Man hatte sich ausgeruht, neue Kräfte gesammelt, aber auch die Zeit genutzt, um beschädigte oder schartige Waffen zu reparieren oder auszutauschen. An der grundsätzlichen Situation hatte sich relativ wenig geändert. Nach wie vor stand Daelbar einem übermächtigen Feind gegenüber. Der war zurzeit zwar führungslos, doch dieser Zustand war aller Voraussicht nur vorübergehend. Sobald sich die Generäle des Feindes auf einen neuen Anführer geeinigt haben, rückte ihre eigentliche Aufgabe, Daelbar zu vernichten, sofort wieder in ihren Blickpunkt.

»Wenn jemand eine Idee hat, wäre jetzt ein günstiger Zeitpunkt sie uns mitzuteilen.«

Diese Aufforderung besaß etwas von einem Weckruf, schreckte er die meisten der in katatonische Starre verfallenen Anwesenden aus ihrer mentalen Endlosschleife.

»Uskav, könnte ich den Beschwörungsbrief einmal sehen, den dir Naszgrbak gegeben hat?«

Kommentarlos wurde Thonfilas der Brief von Uskav ausgehändigt. Man hatte sogar den Eindruck, dass der Uruk froh war, das Dokument los zu werden. Jeden Fall sah es so aus, als wenn er sich vor dem Ding ekelte.

»Danke!«

Thonfilas holte das Pergament mit der Beschwörung aus dessen Umschlag und breitete es auf einem Tisch aus. Anschließend holte er den Beschwörungsbrief hervor, den ihm Naszgrbak gegeben hatte, als Uskav noch bewusstlos war und legte ihn neben den anderen.

»Das ist interessant«, begann der Elb, »Der erste Brief ist Naszbraks. Der zweite stammt von Brazzak. Beide sollen die gleiche Beschwörung enthalten, nämlich das Orkheer vernichten. Ich stimme mit Uskav überein, dass wir diese Art Beschwörung nicht nutzen dürfen. Daelbar wäre nicht mehr Daelbar, griffen wir zu den Mitteln des Feindes. Wir würden unsere Ideale, unsere ethischen Grundsätze, einfach alles verraten, woran wir glauben und was wir ehren. Massenmord kann nicht die Lösung sein. Was ich mich allerdings fragte war, warum unser Feind seinen Heerführern derartige Befehle mitgibt.«

»Es soll weder Spuren noch Zeugen geben. Niemand soll wissen, was Daelbar zugestoßen ist«, schlug jemand vor.

»Genau!«, bestätigte Thonfilas, »Die Sache hat nur einen Haken. Was ist mit den Heerführern? Sie wären Zeugen. Ich kann mich täuschen, aber ich glaube, dass sich selbst ein Urukgeneral einem Befehl widersetzen würde, der seinen eigenen Tod zur Folge hätte.«

»Worauf willst du hinaus?«, fragte Uskav.

»Ich vermute, dass die Beschwörungen nicht nur das Heer sondern auch die Generäle vernichtet. Wenn man keine Zeugen hinterlassen willen, macht es wenig Sinn, sie am Leben zu lassen, oder? Uskav, könntest du dir die beiden Beschwörungen einmal ansehen?«

Der Uruk humpelte zum Tisch und schaute sich beide Pergamente sorgfältig an.

»Fällt dir etwas auf?«, fragte Thonfilas.

»Nein, wieso?«

»Entdeckst du irgendwelche Unterschiede?«, hakte Thonfilas nach.

»Nein, beide Pergamente sehen vollkommen identisch aus.«

»Könntest du mir den Gefallen tun, und mir sagen, wieviele Symbole du siehst?«

»Ich weiß zwar nicht, wozu dies gut sein soll, aber es sind 38 Beschwörungsrunen.«

»Danke, Uskav!«, sagte Thonfilas und wandte sich dann an Xelemachus von Emd, »Könntest du dir die Dokumente einmal ansehen?«

Der altehrwürdige Magier zog effektvoll seine linke Augenbraue hoch, räusperte sich laut, rückte seine Brille zurecht und beugte sich dann über die vor ihm ausgebreiteten Papiere. Erfolgte das Studium zuerst mit vornehmer Zurückhaltung, verlor sich diese schnell und wurde durch erstaunte Aufgeregtheit ersetzt.

»Ahhh!«, ließ sich Xelemachus vernehmen, »Ich sehe was du meinst. Das ist teuflisch! Kein Wunder, dass unser Freund keinen Unterschiede sehen konnte.«

»Hallo!«, rief Uskav, »Könntet ihr eurem gewählten Chef mal verraten, was los ist?«

»Auf dem Pergament befinden sich nicht weniger als 82 Runen- und Glyphen«, erklärte Xelemachus, »Außerdem unterscheiden sich die beiden Pergamente deutlich voneinander. Diese Beschwörung wird nicht nur die Orks der Armee töten, sondern die gesamte Streitmacht, inklusive ihrer Generäle. Selbst das Material, wie Waffen und Schilde, würden sich auflösen.«

»Etwas derartiges würde ein Urukgeneral niemals tun, jedenfalls nicht die Generäle, die uns gegenüberstehen. Ich kenne sie. Sie mögen grausam, skrupel- und erbarmungslos sein und jede Schlacht schlagen, in die man sie schickt. Sie würden sich sogar opfern, um nicht in Gefangenschaft zu geraten. Aber diese Beschwörung sollte nach einem Sieg erfolgen! Nein, einem derartigen Befehl würden sie sich widersetzen.«

Thonfilas nickte: »Genau was ich vermutete. Ich vermute, dass man Orks und selbst Uruks züchten könnte, die selbst solche Befehle exekutieren?«

»Sicher!«, nickte Uskav, »Solche Zuchtstämme gibt es. Gelten aber nicht als sonderlich verlässlich und effektiv. Für Selbstmordkommandos optimal, aber nicht für komplexe Strat … Oh, ich verstehe, worauf du hinaus willst. Man brauchte genau diese Generäle, um gegen uns in den Krieg zu ziehen. Natürlich …! Ihr müsst wissen, dort drüben, auf der anderen Seite des Tals, ist die creme de la creme der Kriegskunst versammelt.«

»Die Pergamente enthalten Symbole, die Orks und Uruks nicht sehen können«, griff Thonfilas das Ausgangsthema wieder auf, »Wie ich schon sagte, unterscheiden sich die beiden Dokumente deutlich voneinander, was den Verdacht nahe legt, dass sie sogar personalisiert sind.«

»Bringt uns das irgendwie weiter?« Uskavs Sorge galt der feindlichen Streitmacht, die immer noch vor den Toren Daelbars lagerte und früher oder später angreifen würde. Abgesehen von Brazzaks Tod hatte sich Daelbars Lage nicht sonderlich verändert.

Xelemachus von Emd, Thonfilas und ein paar andere schlaue Köpfe der Drachenreiterschule wechselten vielsagende Blicke miteinander: »Vielleicht. Ich glaube, ich habe da eine Idee.«

Die letzte Bemerkung stammte von Professor Bogenhausen, der damit eine wissenschaftliche Diskussion einleitete. Roderick, der etwas hilflos daneben stand, winkte ab und wandte sich an Uskav: »Ich glaube, wir sind hier im Moment überflüssig. Wie fühlst du dich? Ehrlich!«

»Beschissen!«, erwiderte Uskav in erschreckender Offenheit, »Rippen und Handgelenk sind gebrochen. Das wird zwar wieder, schmerzt aber wie Teufel. Brazzak konnte ziemlich gut austeilen. Ich …«

Weiter kam Uskav nicht. Ein junger Daelbaner kam aufgeregt ins Zelt gestürmt.

»Sie greifen wieder an! Die Orks, sie rücken wieder vor.«

Aufräumarbeiten

»Schicksal ist etwas für Schwächlinge, die Zukunft will erobert werden«

Päpstin Paula Sylvestra II

Völlig unbehelligt von Soldaten, Wächtern oder Geheimpolizisten erreichten wir unseren Unterschlupf in Ole Olsons geheimer Lagerhalle. Obwohl Drachen eigentlich nicht zu Tharbads üblichem Stadtbild zählten, nahm niemand von uns Notiz. Überhaupt lag eine eigentümliche Stimmung auf der Stadt. Wie jemand, der nach durchzechter Nacht völlig verkatert seine schmerzenden Augen zukniff, um einer vorwitzig in die eigenen schmerzenden Augen scheinende Morgensonne abzublocken, sahen wir die Bewohner der Stadt durch Straßen und Gassen torkeln. Uns war es einerlei und umso erfreuter, nicht beachtet zu werden und direkt unser Ziel ansteuern zu können.

Professionalität ist etwas wunderbares. Kaum in der Lagerhalle angekommen, kehrte die gleiche konzentrierte, unaufgeregte Geschäftigkeit ein, mit der wir unsere bisherigen Aktionen geplant und umgesetzt hatten. Anger und Erogal nahmen sich sofort Sumans Verletzungen an. Sebastian und Ole prüften die Nachrichtenlage, indem sie die lokalen Meldungsnetze durchforsteten. Gildofal und Gilfea kümmerten sich um die Drachen, nahmen ihnen die Sättel ab und bürsteten ihre Schuppen. Nur ich stand blöd in der Gegend rum und hatte nichts zu tun.

»Hast du mal ’nen Taler?«

Mein Drache hatte seine menschliche Form angenommen. Er trug sogar Kleidung, was bei Ivo nicht selbstverständlich war. Meine Echse war nicht nur dauerlüstern, sondern zeigte auch gerne seinen zugegeben überirdisch attraktiven Körper.

»Wozu?«, fragte ich nach.

»Ich schnapp mir Mithval und die anderen und besorge uns ’was zu futtern. Die Soluzwillis sind so hungrig, dass sie noch den Putz von der Wand knabbern, was Ole nicht gefallen dürfte.«

Mein Magen bewies Gespür für Timing und knurrte genau in dem Moment als Ivo das Wort »hungrig« aussprach. Kommentarlos händigte ich ihm meinen Geldbeutel aus. Sekunden später schwang sich Ivo auf Mithvals ungesattelten Rücken und hob mit der Drachenstaffel in die anbrechende Dämmerung des Abendhimmels ab. Und wieder wusste ich nicht recht, was ich tun sollte. Jeder andere schien sinnvoll beschäftigt zu sein, nur ich nicht. Aus lauter Frust fing ich schließlich an, unsere Ausrüstung zu ordnen.

Eine dreiviertel Stunde später, ich war gerade fertig geworden und hatte alles gereinigt, zusammengelegt und weggeräumt, kehrten die Echsen mit reichlich Nahrung, sowohl für Drachen als auch für Elben und Menschen zurück. Mit offenem Mund staunte ich unsere Drachen an, die frech zurück grinsten, aber eine Herde Flugechsen mit Einkaufsnetzen an den Klauen war einfach ein Bild, das außerhalb meines Erwartungshorizonts lag.

»Es hat etwas länger gedauert«, bemerkte Ivo schmunzelnd, während er von Mithval kletterte, »Man könnte meinen die Händler des Großmarkts hätten noch nie Drachen beim Einkaufen erlebt.«

»Gab es Schwierigkeiten?«

»Nicht direkt …«, erläuterte Mithval, »Statt uns etwas zu verkaufen, meinten die Händler mich die ganze Zeit regungslos anstarren zu müssen. Keine Ahnung wieso.«

»Ähm, nein, dazu fällt mir auch nichts ein …«, erwiderte ich vorsichtig, nicht sicher ob dies nun Mithvals legendäre Drachenironie war, »Und was habt ihr dann gemacht?«

»Ich habe mir einfach alles geschnappt, was wir brauchen, es abgewogen und die entsprechende Summe hingelegt«, meinte Ivo trocken, »Mithi war schon immer ein Poser!«

»Gar nicht wahr!«

»Und ob!«

»Schrumpfechse!«

»Weißblechschuppe!«

Ich gab auf. Einen derart eindeutigen Fall von Bruderliebe sollte man sich selbst überlassen und so wandte ich mich, zusammen mit Anger und Sebastian, der Zubereitung des Abendessens zu.


Der nächste Morgen hielt eine ganze Reihe Überraschungen für uns bereit. Es begann mit Suman, der dank Gilfeas Heilkunst und der Pflege Anger und Erogals sich fast vollständig genesen zeigte. Bis auf ein paar bunte Blutergüsse und verschorfte Wunden, die wohl ohne Narben zu hinterlassen abheilten, waren alle andere Verletzungen verschwunden, zumindest die körperlichen. Welche seelischen Wunden Markendorfer hinterlassen hatte, konnte niemand sagen. Sie zu heilen, war insbesondere meine Aufgabe, der ich mich gerne widmete. Doch vorher galt es, eine Schuld einzugestehen.

»Suman?«, über glühende Kohlen zu wandern, erschienen mir plötzlich eine Art Spaziergang zu sein, »Ich … Meine Flucht aus Daelbar …«

» …war der größte Schwachsinn, den du je verzapft hast. Stimmt!«, half mir mein Schatz beim formulieren. Setzte dann aber nach: »Segato, lass es! Ich weiß, was du loswerden willst: Dass es die Leid tut, dass es dumm war, dass ich deswegen leiden musste. Bla, Bla, Bla.«

Gab es irgendwo Mauselöcher in Oles Lagerhalle, in die ich mich verkriechen konnte?

»Du musst dich nicht dafür entschuldigen, dass du mich schützen wolltest. Wer weiß, vielleicht hätte ich in deiner Situation genau so gehandelt wie du? Wer kann das sagen? Ich weiß nur, dass dich zu suchen unsere eigene Entscheidung war. Dass sie Risiken barg, war uns allen bewusst.«

Peinlich und pathetisch, aber mir kamen die Tränen: »Ich liebe dich, Suman.«

»Ich weiß!«

Der nachfolgende Wiedersehenskuss ließ keinen Zweifel daran, dass Suman meine Liebe mehr als erwiderte.

Für die nächste Überraschung sorgte ein Blick ins Freie. Das Bild, welches sich uns bot, zeigte sich so ungewohnt, dass wir das Dach der Lagerhalle erklommen und uns davon überzeugten, nicht eines Trugbilds erlegen zu sein. Die Sonne schien. Klingt nicht nach einer erwähnenswerten Information? War es aber. In Tharbad schien die Sonne nie. Solang die meisten Bewohner der Stadt denken konnten, lag immer eine Wolkendecke über der Stadt; mal schwer, dunkel und tief, mal hoch, weiß und fast grell. Selbst an sehr schönen Tagen, jedenfalls für tharbadsche Verhältnisse, verdeckte immer noch eine leichte Dunstschicht den Himmel. Einzige Ausnahme war der Königin Sevitania Gedächtnispark, über dem fast immer ein wenig Blau zu erhaschen war.

Doch am Tag nach dem Fall des Barad Bauls war alles anders. Hell und strahlend schien die Sonne von einem ebenso strahlend blauen Himmel herab. Und da war noch mehr: Die Luft war klar und frisch, als wären wir die ersten, die von ihr kosten durften. Lebendige Farben schmeichelten unserem Sehsinn, denn das alles beherrschende Grau Tharbads war vollkommen verschwunden, als hätte man einen Schleier hinfortgezogen. Man konnte auf die Idee kommen, dass das Leben selbst, welches bisher einen weiten Bogen um die Stadt gemacht hatte, zurückgekehrt sei.

»Nett!«, kommentierte unsere Mithrilechse das Erlebnis mit maximalem Understatement.

Wenn wir dachten, das neu erwachte Leben Tharbads wäre nicht erstaunlich genug, wurden wir kurze Zeit eines besseren belehrt. Perseus Z’Ul, der Gildemeister Tharbads, sorgte für die nächste Überraschung. Wir hatten gerade das Dach der Lagerhalle verlassen, als Erogals Meisterbuch einen Gesprächswunsch seines alten Freundes und Vertrauten meldete.

»Ich will nicht wissen, was genau ihr eigentlich angestellt habt«, begann Perseus die Unterhaltung, »aber ich vermute, dass ihr am Zustand der Stadt nicht ganz unschuldig seid.«

Da Erogal auf diese Bemerkung nicht sofort antwortete, fuhr Perseus fort: »Dacht ich’s mir doch! Wie auch immer. Ein Bekannter, den ich in seinem Kontext für vertrauenswürdig halte, wäre sehr daran interessiert, sich mit euch zu unterhalten. Ihr kennt ihn. Es ist Zacharias von Rochsinasul.«

Diesen Wunsch als überraschend zu bezeichnen, war eine Untertreibung und erntete entsprechendes Gemurmel.

»Ich sollte vielleicht anmerken«, fügte Perseus hinzu, »dass Zachi euch allen freies Geleit zusichert. Niemand wird euch behelligen und gar versuchen, abzuschießen oder zu verhaften, zumal er nicht genau weiß, wer ihr eigentlich seid. Er hat von ein paar Drachen erfahren, die den Barad Baul besiegt haben, mehr nicht. Vermutlich reimt er sich ein paar Namen zusammen. Ich würde da auf einen gewissen Neovikinger tippen, aber konkret weiß er nichts. Ihr müsst also selbst überlegen, inwieweit ihr sein Gesprächsangebot annehmt. Persönlich glaube ich ja, dass euch gar nicht klar ist, welche Wellen eure Zirkusnummer mit dem verfluchten Turm geschlagen haben. Es ist, als wenn die Stadt plötzlich aus einem jahrzehntelangen Dämmerschlaf erwachen würde. Die merkwürdigsten Dinge passieren. Heute Morgen wurden etliche führende Beamte der Stadt von Geheimpolizisten verhaftet, alles Personen, die sich weniger durch Qualifikation als durch Beziehungen hervorgetan haben. Ähnliches berichten meine Quellen von der Kirche. Ein Sondergesandter ist wohl dabei, in der Erzdiäzöse mächtig aufzuräumen. Und auch unsere geliebte Gilde steht Kopf. Die Omegadirektive gegen dich und Segato wurde offiziell bis zur Klärung der Sachlage außer Kraft gesetzt. Seltsame Dinge gehen vor. In unserem Haus in Tharbad sind gestern zur gleichen Zeit, als eure Drachen den Turm angriffen, drei Mitarbeiter, alles keine Meister, besinnungslos zusammengebrochen. Als sie etwas später wieder erwachten, konnten sie sich an nichts erinnern. Erogal, ihnen fehlt jegliche Erinnerung an die letzten Monate!«

Dies waren Informationen, die wir erst einmal verdauen und anschließend ordnen mussten. Zacharias von Rochsinasuls Wunsch für ein Gespräch war so interessant, dass man es unmöglich ignorieren konnte, weswegen wir zustimmten und Perseus Z’Ul baten, die Modalitäten mit der Gegenseite abzustimmen.

Ein neuer frischer Wind wehte durch Tharbad, was unsere Drachen dazu verleitete, sich in die Lüfte zu schwingen und der Innenstadt einen Besuch abzustatten. Natürlich protestierten wir Seelen und argumentierten, dass ein solcher Ausflug viel zu gefährlich sei, was Tingalen mit einer kurzen Bemerkung konterte.

»Dann kommt ihr eben mit!«


Tharbad, die hässlichste Stadt Goldors voller trauriger, grauhäutiger Wesen war nicht wiederzuerkennen. Die Stadt pulsierte vor Leben. Das tat sie zwar vorher auch schon, doch versprühte sie jetzt eine lebendige Fröhlichkeit, die ihren Bewohnern zutiefst suspekt erschien. Anders konnten wir uns die allgemeine Verwirrtheit nicht erklären, die wir in den Gesichtern der Menschen, Zwerge und sogar Orks sahen.

Wir flogen alle mit. Selbst Sebastian und Anger fanden auf einem Drachen Platz. Mithval und Eargilin waren kräftig genug, zwei Menschen zu tragen und selbst die jüngsten Drachen, Sulogorn und Sulomile, fühlten sich kräftig genug, ihre beiden Seelen auf eine Runde mitzunehmen.

»An diesen Anblick muss man sich wirklich gewöhnen«, kommentierte Suman meine Verwandlung zu einer geflügelten Echse. Da ich auf Ivo schlecht reiten konnte, blieb mir kaum eine Alternative als selbst zu fliegen.

»Du hast keine Ahnung!«, entgegnete ich gespielt gequält, »Dieser Körper ist wirklich für’s Fliegen konstruiert. Auf dem Boden komme ich mir immer verdammt tapsig vor. Ich bin permanent damit beschäftigt zu verhindern, über meine eigenen Klauen zu stolpern.«

»Das sieht man!«, lachte Suman, dem es nach seiner Heilung nun auch emotional von Sekunde zu Sekunde besser ging, »Ich bin wirklich froh, dich wieder bei uns, bei mir, zu haben.«

Statt zu antworten, ging oder besser hopste ich auf Suman zu und stupste Suman mit meiner Schnauze an.

»Du siehst wirklich niedlich aus!«

Was für ein peinlicher Moment. Suman kicherte nicht nur albern, er meinte auch noch, mich hinterm Ohr kraulen zu müssen! Und schlimmer noch, mir gefiel es gekrault zu werden.

Wenig später hoben wir ab. Gilfea und Mithval bildeten die Spitze unserer kleinen Flugstaffel, die linke Flanke übernahm Tingalen, während Eargilin die Rechte sicherte. Die noch recht unerfahrenen Sulozwillinge flogen in der Mitte. Ivo und ich schlossen zu Mithval an die Spitze auf.

»Nu schaut euch diesen Menschen an. Soll dein Gezappel etwa Fliegen sein?«

»Sei nicht unfair. Immerhin hat er sich noch nicht in den Boden gerammt.«

Hörte ich da jemanden über meine Flugkünste lästern? Vielleicht hatten Eargilin und Sulogorn recht, dass sich meine Technik nicht mit der wirklicher Drachen messen ließ, doch andererseits: Ich flog, oder nicht? Und es machte mir Spaß. Seit meiner ersten Flugversuche hatte ich viel dazu gelernt. Fliegen war für mich zu einer natürlichen Art der Fortbewegung geworden. So wie ich als Mensch nicht übers Gehen und Laufen nachdenken musste, sprang ich als Drache inzwischen genau so selbstverständlich in die Luft und flog. Zu Fliegen war mir zur zweiten Natur geworden und das wollte ich meinen Drachenfreunden beweisen. Und was wäre ein besserer Beweis, als zu zeigen, was ich an Flugfiguren und Manövern drauf hatte?

Statt die Formation einzuhalten, schoss ich davon, kippte zur Seite ab und zauberte eine Flugschau hin, die, so hoffte ich, keine Echse von einem Pseudodrachen wie mir für möglich gehalten hätte. Ich spielte mit der Thermik, jagte Häuserschluchten entlang, präsentierte Loopings, Flug in Rückenlage und massenweise andere Manöver.

»Ganz nett …«, kommentierte Tingalen meine Präsentation.

»Für einen Anfänger passabel …«

»Wenn man berücksichtigt, dass er ja nur ein Mensch ist …«

Sie zogen mich auf. Ich hätte es wissen müssen. Schließlich waren es Drachen. Doch erst, als ich wieder zu ihnen aufschloss und in ihre breit grinsenden Fratzen sah, wurde mir klar, was meine geschuppten Freunde wirklich dachten. Der Stolz in ihren Augen war unverkennbar.

»Ivo?«, wandte ich mich an meinen Drachen, »Danke für dieses Geschenk!«

»Jungs, werdet mir jetzt nicht rührselig!«


Unser Ausflug war interessant. Oberflächlich betrachtet herrschte in Tharbad das gleiche geschäftige Treiben wie eh und je. Auf den Märkten wurde gehandelt, die Gassen und Gänge waren voll von Handwerkern, Soldaten, Kaufleuten, Huren, Priestern, Bettlern, Beamten und allen anderen, die die Stadt bevölkerten. Doch wagte man einen genaueren Blick, sah man eine Veränderung in ihrem Wesen. Die Menschen, Zwerge und sogar Orks wirkten entspannter, lebendiger und, man mochte es kaum glauben, glücklicher als sonst. Überall sahen wir Leute, die damit beschäftigt waren ihr Geschäft, ihre Gaststätte oder Pension, herauszuputzen. Wo seit Jahren kein Besen mehr gekehrt hatte, tobten kleine Staubwolken umher. Wir sahen Kaufleute, die die Gläser ihrer Schaufenster wuschen oder die Namensschilder und Tafeln ihrer Läden vom Dreck befreiten. Man konnte es nicht anders beschreiben: Tharbad war erwacht und begann mit dem Großreinemachen. Selbst die Stadtwachen entdeckten, dass sich ihre Harnische und Brustpanzer reinigen ließen und einen nicht unerheblichen Glanz verbreiteten, sobald man zur ursprünglichen Metallschicht mit Wasser, Seife und Bürste durchgedrungen war.

»Der Turm muss sie seit Jahrzehnten versklavt haben«, äußerte Mithval eine erste Vermutung.

»Er hat sich von ihnen ernährt«, erwiderte ich nachdenklich, »Der Barad Baul war Tharbads Fluch, die Bewohner seine Geiseln. Er hat sie ausgezehrt, ihnen die Lebensenergie geraubt. Ivo und ich haben es erlebt. Dieser graue Schlamm, er war überall, kroch überall hin und erstickte alles unter sich.«

Wir setzten unseren Rundflug fort und fanden überall das gleiche Bild vor. Die Bewohner Tharbads eroberten ihr Leben zurück. Wie jemand, der lange, zu lange geschlafen hatte, reckte man sich, ließ die Gelenke ordentlich krachen und begann ewig aufgeschobene Arbeiten in Angriff zu nehmen.

»Wenn die so weitermachen, wird das fast noch eine schöne Stadt!«

»Aber, aber … Wer wird denn gleich von einem Extrem ins andere fallen?«


Das Treffen mit dem königlichen Hafenmeister Zacharias von Rochsinasul III stand bevor. Perseus Z’Ul hatte mit der Gegenseite vereinbart, dass wir uns um zwei Uhr nachmittags im Königin Sevitania Gedächtnispark treffen sollten. Beide Seiten waren einverstanden. Goldor konnte den Park leicht absperren, um das durchaus als konspirativ anzusehende Treffen ungestört von der Öffentlichkeit stattfinden lassen zu können, während wir aus der Luft recht gut überprüfen konnten, ob man versuchte uns in einen Hinterhalt zu locken. Drachenaugen sind sehr scharf und vor allen in der Lage, Wärmequellen zu erkennen, wie sie etwa versteckte Heckenschützen darstellen. Pünktlich um Zwei setzte Mithval mit Gilfea zur Landung an. Direkt gefolgt von den Sulozwillingen mit Ole Olson und Erogal D’Santo, sowie Ivo und mir, besetzten wir die große Rasenfläche des Parks. Ich hatte meine menschliche Form angenommen, schließlich musste Zacharias nicht alles wissen.

»Das Betreten des Rasens ist verboten!«, rief uns ein gut gelaunter Hafenmeister und Spionagechef des Königs entgegen. Neben ihm stand ein gepflegt gekleideter älterer Herr, den ich anhand seines Auftreten als Gildemitglied identifizierte.

»Erogal!«, der ältere Herr lief auf meinen alten Lehrer zu und umarmte ihn.

»Perseus!«, rief Erogal und erwiderte die Umarmung.

Nachdem sich die beiden gut befreundeten Gildemeister getrennt hatten, wandten sie sich Zacharias zu, der ungewohnt respektvoll Erogal die Hand schüttelte.

»Nun, wenn das nicht der stellvertretende Sekretär Crossars, Segato G’Narn, ist?«, begrüßte mich Zacharias von Rochsinasul III mit einem Augenzwinkern, »Es freut mich, sie gesund und munter zu sehen.«

»Euer Gnaden, sie glauben gar nicht, wie sehr ich mich darüber freue, ihnen gesund und munter gegenüberstehen zu können«, erwiderte ich. Die kleine Spitze konnte ich mir nicht verkneifen. Rochsinasul III grinste und nickte, was mir sagen sollte, dass er unsere kleine Episode in Blaufurt nicht vergessen hatte.

»Und wenn ich richtig vermute, seid Ihr der Bezwinger dieses widerlichen Turms?«

Wen Zacharias da ansprach, war niemand Geringeres als Mithval höchst persönlich.

»Der Bezwinger? Nein … Ein Werkzeug? Vielleicht … und auf keinen Fall der Einzige, der sich diese Tat zu Gute halten dürfte.«

»Zacharias, was können wir für dich tun?«, mischte sich Erogal D’Santo ein.

»Erogal, du alter Strippenzieher, ich hätte wissen müssen, dass du mit drin steckst.«

Hatten wir irgendetwas nicht mitbekommen? Erogal und Zacharias kannten sich? Vermutlich sollten wir uns nicht wundern, da sich beider Persönlichkeiten Wege, wenn man ihre Tätigkeitsfeld betrachtete, höchstwahrscheinlich regelmäßig kreuzten.

»Ich? Dieses Mal nicht, alter Freund«, wehrte Erogal ab, »Mir ist noch nicht einmal wirklich klar, in was ich eigentlich hineingeraten bin?«

»Nun gut!«, begann Zacharias von Rochsinasul, der spürte, dass wir uns sehr zurückhaltend verhielten, »Wahrscheinlich ist es an mir, für ein wenig Vertrauen zu sorgen. Dazu möchte ich euch eine Geschichte erzählen. Eine wahre Geschichte, möchte ich anmerken. Alles begann vor ein paar Jahren, als ich erfuhr, dass sich seltsame Todesfälle in der Beamtenschaft des Königs zu häufen begannen. Anfangs schienen sie rein zufälliger Natur zu sein und folgten keinem Muster, so dass niemand Verdacht schöpfte, es könnte etwas nicht stimmen. Ein Oberamtsrat, der in seinem Bad auf der Seife ausgerutscht stürzte und sich dabei das Genick brach. Ein Verkehrsunfall, bei dem ein Lastgleiter den Wagen eines Regierungsrats zerquetschte. Die Fischvergiftung eines Staatssekretärs, ein Polizeipräsident, den ein Verdächtiger beim Verhör mit einer verstecken Waffe erdolchte. Alles Dinge, die passieren könnten. Doch irgendwie … Du kennst mich. Manchmal höre ich das Gras wachsen. Und so hakte ich nach und begann die Todesfälle zu untersuchen. Für sich genommen schien jeder Todesfall ein Einzelschicksal zu sein, doch zusammengenommen ergab sich ein mehr als beunruhigendes Bild. Alle freigewordenen Positionen wurden durch völlig unbekannte Leute aus der zweiten Reihe ersetzt, die, kaum eingesetzt, erstaunlichen Diensteifer an den Tag legten. So wurden etwa hier im Tharbad wichtige Morduntersuchungen einfach eingestellt, obwohl der zuständige Leutnant der Wache, Uskol ein Uruk mit messerscharfem Verstand, kurz vor der Aufklärung des Verbrechens stand. Als ich begriff, was wirklich im Königreich vor sich ging, war es fast zu spät. Erogal, du kennst mich, ich bin ein absolut loyaler Royalist. Das Wort meines Königs ist für mich Gesetz. Doch das Wort des Königs spielte keine Rolle mehr. Goldor ist Opfer eines schleichenden Staatsstreichs geworden. Ein Netzwerk von Beamten, Priestern der U.T., Patriziern und Mitgliedern deiner Gilde haben sich des Reichs bemächtigt und nutzen es für ihre Zwecke. Unter größter Vorsicht gelang es mir, ein wenig an der Oberfläche zu kratzen. Was ich erfahren konnte, war weniger als spärlich, doch immerhin schien eins sicher: Tharbad war der Ursprung.«

»Es war Markendorfer«, erklärte Erogal knapp.

»Markendorfer!«, Zacharias von Rochsinasul schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn, »Natürlich, wie konnte ich so dumm sein!«

»Wir waren alle so dumm!«, erwiderte Erogal, »Niemand hat wirklich auf den fetten Widerling geachtet. Doch Markendorfer war kein Mensch, jedenfalls nicht in den letzten Jahren. Sein Körper war die Hülle eines Dämonen, der die Rückkehr des namenlosen Bösen vorbereitete. Der Barad Baul sollte das Portal für seine Flucht werden. Der Turm war lebendig, er nährte sich von der Lebensenergie der Bewohner Tharbads!«

Der abgebrühte Spionagechef Zacharias von Rochsinasul lief kreidebleich an: »Wenn ich nicht wüsste, dass du mit solchen Dingen nicht scherzt, hätte ich dich jetzt gebeten, derartige Scherze zu unterlassen. Ist das wahr?«

»Ja!«, mischte ich mich ein, »Markendorfer, der Dämon in ihm, ist tot und der Bann des Barad Bauls gebrochen. Dieses Mal waren wir sieghaft und konnten das Böse zurückdrängen. Dieses Mal!«

Wir tauschten weitere Informationen aus und gewannen so gemeinsam ein Bild vom Ausmaß der Verschwörung. Wie es aussah, stand nur eine kleine, überschaubare Anzahl an Personen unter dem direkten Einfluss des markendorferschen Dämons. Sie ließen sich relativ leicht daran erkennen, dass sie alle nach dem Fall des Barad Baul an einer Art Amnesie litten. Keiner wusste, wo er war und was er die letzte Zeit getan hatte. Bei manchen reichte der Gedächtnisverlust nur ein paar Wochen zurück, anderen fehlten Monate, einigen wenigen sogar Jahre. Die restlichen waren typische Mitläufer, die man mit einem kleinen Stückchen vermeintlicher Macht dazu gebracht hatte, alles zu tun, was man von ihnen wollte. Die Geheimpolizei des Königs hatte alle Hände voll zu tun, die Angelegenheit wieder in Ordnung zu bringen, ohne dabei irgendwelches Aufsehen zu erregen. Man musste sich fragen, was schlimmer war: ein Staatsstreich oder eine mit Aufräumen beschäftigte Geheimpolizei.

»Ich weiß, was ihr vom Geheimdienst und unseren Methoden haltet. Ich kann es in euren Gesichtern sehen«, begann Zacharias von Rochsinasul III, »Goldor ist keine Demokratie. Der König ist unantastbar und ich werde alles tun, um ihn zu schützen. Ihr versteht, was ich sagen will.«

»Ich befürchte, wir verstehen nur zu gut!«, entgegnete ich.

»Gut!«, erklärte Zacharias mit ernster Minie, »Dann werdet ihr auch verstehen, was ich als nächstes zu sagen habe. Ihr, Daelbar, seid eine Gefahr für die Krone, insbesondere in Zeiten der Unsicherheit wie dieser. Dabei ist es nicht die Demokratie, die ich fürchte, sondern die Anarchie, die in Goldor ausbräche, stürzte der König.«

Wider meiner Überzeugung entbehrte Zacharias von Rochsinasuls III Argumentation nicht einer gewissen Logik. Ich konnte mich zwar nicht daran erinnern, jemals von sicheren Zeiten gehört zu haben, aber Markendorfers vereitelter Staatsstreich war durchaus dazu geeignet, Goldor ins Chaos zu stürzen. Geriet die Autorität des Königs ins Wanken, wankte der ganze Staat. Es war eben ein gravierender Nachteil, sich nur auf einen Souverän zu stützen.

»Wir haben euch viel zu verdanken. Vermutlich habt ihr unser aller Leben gerettet«, fuhr Zacharias fort, »Ich werde persönlich dafür sorgen, dass der König von euren Taten erfährt. Doch das wird nichts an der offiziellen Politik Goldors ändern.«

»Es bleibt ein Verbrechen, Daelbar zu besuchen?«, fragte ich nach.

»Ja. Offiziell seid ihr ein feindlicher Staat. Allerdings …«, Zacharias grinste, »Sollte hin und wieder ein Drachen unser Staatsgebiet überfliegen müssen, so wird man ihm keine Steine in den Weg legen. Niemand wird versuchen, euch vom Himmel zu holen. Natürlich werden wir auf diplomatischen Wege in aller Schärfe protestieren.«

»Die Fassade muss gewahrt bleiben«, entgegnete ich leicht säuerlich, »Was ist mit Uskav?«

»Was mit Gildofal?«, warf Gilfea ein, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte.

»Gildofal?«, fragte Zacharias rhetorisch und wandte sich Gilfea zu. Ein überraschter Ausdurck huschte ihm übers Gesicht, den ich nicht richtig deuten konnte. Offenbar brachte Gilfeas Erscheinung den abgebrühten Spionagechef aus dem Konzept. Etwas verunsichert, räusperte er sich ein paar Mal, bevor er schließlich begann zu antworten, »Ach ja, euer elbischer Freund. Nun, offiziell wurde er als Terrorist zum Tode verurteilt. Ich weiß, dass seine Eltern im großen Elbenreservat leben und er sich Sorgen um sie macht. Ihr könnt ihm ausrichten, dass er beruhigt sein kann. Niemand wird seine Eltern unter Druck setzen. Sollte zufällig ein Drache einen Zwischenstop im Elbenreservat einlegen, würde man dies als interne Angelegenheit der Elben betrachten und ihrem Ältestenrat überlassen. Schließlich genießen die Reservate das Privileg der Selbstverwaltung.«

Was Zacharias uns verklausuliert zu erklären versuchte, war, dass Gildofal seine Eltern besuchen konnte, ohne dabei Gefahr zu laufen, verhaftet zu werden.

»Uskav ist allerdings ein ganz anderes Thema«, fuhr Zacharias mit finsterer Mine fort, »Rein formal ist Uskav Eigentum des Königs, denn rein rechtlich sind Orks und Uruks Dinge und keine Lebewesen. Ich sage es, wie es ist. Uskavs Präsidentschaft stellt eines der größten Hindernis für normale Beziehungen zwischen unseren Staaten dar. Wie könnten wir ohne Gesichtsverlust mit einem abtrünnigen Verräter verhandeln?« Zacharias räusperte sich: »Ich weiß, was Uskav für euch getan hat und bin beeindruckt, wie weit er es gebracht hat. Ist er wirklich ein Drachenreiter geworden?«

Wir nickten.

»Beeindruckend, wirklich beeindruckend«, Zacharias dachte nach, »Was ich jetzt sage, darf diesen Kreis und den der unmittelbar Betroffenen nicht verlassen. Die Krone akzeptiert Uskavs Anspruch auf Freiheit und wünscht ihm alles gute für die Zukunft und eine glückliche Hand bei seiner neuen Aufgabe.«

Damit war alles gesagt und wir verabschiedeten uns von Zacharias von Rochsinasul III. Die Fronten waren geklärt. Wir wussten woran wir waren. Außerdem wurde es langsam Zeit, Tharbad den Rücken zu kehren. Daelbar wartete darauf, dass wir zurückkehrten.

Verschlafene Ereignisse

»Kriege sind die lokalen Minima auf dem Polynom der Geschichte«

Nestor Canisus Prax III, königlicher Hofmathematiker und Philosoph der Schule der fundamentalistischen Symmetriker

»Geht es also wieder los?«, knurrte Roderick frustriert.

»Wartet!«, rief Xelemachus von Emd plötzlich ganz aufgeregt, »Ich glaube, wir können die Schlacht unblutig beenden.«

Dem Präsidenten Daelbars stand eine ganze Reihe breit grinsender Intelligenzbestien gegenüber: »Und wie?«

»Du erinnerst dich daran, dass die Orks eine Spezialzüchtung sind, bei der Drachenblut verwendet wurde?«

Uskav knurrte gereizt. Die Schmerzen in seinen Knochen machten ihn nicht sonderlich empfänglich für lange wissenschaftliche Ratespiele.

»Gut, gut, gut!«, beeilte sich Xelemachus, »Wir können den Spieß umdrehen! Wir haben noch etwas von Toldins Blut und müssten zusammen mit den Beschwörungsbriefen einen Zauberspruch erfinden können, mit dem wir die Orks zähmen und gleichzeitig die Wirkung dieser Pergamente brechen.«

»Und worauf wartet ihr dann noch? Los! Los! Los!«, befahl Uskav den verdatterten Wissenschaftler, fing aber zu grinsen an, als Xelemachus und seine Kollegen verschwunden waren.

»Ich werde es wieder gut machen, versprochen!«, meinte der Uruk matt, »Also, zurück in die Schlacht. Verschaffen wir unseren Freunden die Zeit, die sie brauchen.«


Eine Schlacht? Das, was sich vor den Toren Daelbars ereignete, konnte man eigentlich nur mit Wahnsinn beschreiben. Zwei zunehmend müde agierende Streitmächte droschen aufeinander ein. Von der strukturierten Angriffsplanung der bisherigen Scharmützel war nichts mehr zu erkennen. So schien man bei den Orks zuweilen nicht sicher zu sein, wer das Kommando hatte. Anders ließ es sich kaum erklären, dass ein Trupp nach links und ein anderer nach rechts rannte und dabei die Mitte zwischen ihnen ungeschützt ließ. Doch auch den Daelbaner verließen langsam die Kräfte. Trotz der mehrstündigen Erholungsphase war man erschöpft, müde und unaufmerksam. Man konnte von Glück sagen, dass bei einer solchen Ausgangslage niemand ernsthaft zu Schaden kam. Weder die Orks noch die Daelbaner erlangten nennenswerte Siege. Mehr oder weniger grub man sich in den eigenen Stellungen ein und wartete ab.

»Stellungskriege!«, fauchte Uskav, der immer gereizter wurde, »Wie ich sowas hasse.«

Die kleine Kommandoeinheit der Drachenreiterstadt hockte in ihrem Gefechtsgraben. Gelegentlich sausten einzelne Pfeile über sie hinweg, fanden aber kein Ziel. Doch die Situation war auch so zermürbend genug.

»Wir geht es deinen Knochenbrüchen?«

Während Thonfilas Professor Bogenhausen und Xelemachus von Emd gefolgt war, um an der Zauberformel zu arbeiten, die die Orks befrieden sollte, war Roderick Uskav nicht von der Seite gewichen. Als Krieger der Neovikinger war er mit den Grundlagen der Anatomie vertraut und hatte seinen Freund notdürftig die gebrochenen Glieder geschient. Zum Glück verfügten Uruks über erstaunliche Selbstheilungskräfte, bei denen selbst schwere Brüche, Bewegungsruhe vorausgesetzt, vollständig wieder ausheilten. Und so dienten Rodericks Schienen in erster Linie dazu, Uskavs überschwänglichen Bewegungsdrang im Zaum zu halten.

»Wie wohl?«, grantelte Uskav, »Beschissen!«

»Gnaddelpott!«

»Was?«

»Morskopp!«

»Du …«, der Hauch eines Lächelns schlich sich in Uskavs Mine, »Du hast Recht. Roderick, verdammt, ich kann nicht mehr. Ich bin müde und erschöpft.«

»Dann ruh dich gefälligst aus!«

»Aber …«

»Nichts ›Aber‹!«, schnitt Roderick seinem Freund das Wort ab, »Ruh dich aus. Du siehst doch selbst, dass im Moment nicht viel passiert. Wir schaffen das schon.«

Widerwillig gab Uskav nach und legte sich auf eines der bereit stehenden Feldbetten. Mit dem festen Vorsatz nur ein wenig zu dösen, schloss der Uruk seine Augen und war schnell in einen tiefen Schlaf versunken. Soviel zu festen Vorsätzen.

In der Zwischenzeit arbeitete ein kleiner Trupp Magier, Zauberer und Elben mit Hochdruck an einem Zauberspruch, einer Formel, mit der sich der Krieg friedlich beenden ließ. Ein mehr als kniffeliges Unterfangen. Wirklich neue Zaubersprüche benötigten Jahre, um von der Idee bis zum praktischen Spruch heranzureifen. Der Idee musste man eine Form geben, der Form einen Klang der richtigen Farbe und Sättigung und dem Klang … Es war kompliziert und nichts, was sich auf Knopfdruck herbeizaubern ließ, wie der ehrwürdige Magier Mondorundar Matrov leidlich erfahren musste. Matrov lebte vor ein paar hundert Jahren. Wie den meisten Magiern frustrierte ihn der zähe Entwicklungsprozess von Zaubersprüchen und er entschied etwas dagegen zu tun. Wie wäre es, wenn er einen Spruch erfand, mit dem sich Zaubersprüche einfach herbeizaubern ließen?

Das Projekt ging gründlich in die Hose und diente Professor Bogenhausen als Beweis für die Nichtexistenz von Magie genau so, wie sie Xelemachus von Emd als Beweis für deren Existenz galt. Mondorundar Matrov konnte zu diesem Thema nicht viel beitragen. Nachdem er drei Jahre ununterbrochen am ultimativen Zauberspruch gearbeitet hatte, war der Zeitpunkt gekommen, ihn zu testen. Wenn man Xelemachus Interpretation Glauben schenkt, dann war Matrov durchaus erfolgreich. Der Zauberspruch, der Zaubersprüche herbeizaubern konnte, zauberte sie herbei – Alle und alle gleichzeitig. Professor Bogenhausens Deutung des historischen Vorfalls sprach in diesem Zusammenhang von einem quantenphysikalischen Kurzschluss, der sich tragischerweise im Ursprung der Beschwörung entlud und die hörte auf den Namen Mondorundar Matrov.

»Mein Herz ist schwer.«

In einer Phiole schimmerte etwas Drachenblut. Thonfilas kippte das Glasröhrchen vorsichtig hin und her. Das Blut flammte auf, erstrahlte in einem prächtigem Gold und erhellte das Labor.

»Turondur … Toldin … Wie können wir uns eures Opfers nur jemals würdig erweisen.«

Etwas Blut war alles, was von Toldin übrig geblieben war und ein Teil dieser kostbaren Substanz sollte nun abermals dazu dienen, Daelbar zu retten.

»Warum nur? Wozu dieser Krieg?«

Thonfilas starrte auf die Phiole. Das Blut glühte leicht und strahlte auf, sobald der Elb das Gefäß bewegte. Eine magisch hypnotische Kraft zog Thonfilas in seinen Bann.

»Thonfilas, mein Freund, folge mir!«

Toldins Stimme erschallte im Geist des verwirrten Elben, zudem schien sich sein Blick zu trüben. Das Labor wurde undeutlich, verschwamm vor seinen Augen und wurde plötzlich von einem strahlend blauen Himmel ersetzt. Thonfilas flog körperlos über den Wolken.

»Wohin fliegen wir?«

»Nach Tharbad! Du musst Segato eine Nachricht überbringen!«

Die Wolkendecke brach auf und gab den Blick auf ein Meer frei, über das Thonfilas nun mit unglaublicher Geschwindigkeit hinwegraste. Dem Sonnenstand zu urteilen flog er Richtung Osten, doch wenn dem so war, wo war er gestartet.

»Von einem Ort jenseits jeden anderen Ortes. Thonfilas, hab Vertrauen.«

Was sollte er auch anderes tun, als Vertrauen zu haben. Toldins Stimme in seinem Kopf ließ nichts anderes zu. Thonfilas vertraute, das Meer unter ihm verschwand und er tauchte ein in die Welt zwischen den Welten. Obwohl er wusste, dass er zu keinem Zeitpunkt das Labor in Daelbar verlassen hatte und nach wie vor die Phiole mit Toldins Blut in seinen Händen hielt, vertraute Thonfilas den Worten des Drachens und reiste mit ihm zwischen den Welten.

»Wir sind da!«

Die Welt kehrte zurück und Thonfilas erkannte Tharbad. Die hässliche schwarze Nadel des Barad Bauls beleidigte seinen Blick. Der Elb flog weiter, hielt direkt auf den Turm zu. Der sah merkwürdig verändert aus. Er schien zu wachsen. Seine sonst glatte Oberfläche zeigte Auswüchse, die sich in die Stadt zu fressen schienen. Thonfilas Fluggeschwindigkeit reduzierte sich, er verlor an Höhe und schwebte langsam dem Boden entgegen. Seiner momentanen Flugrichtung zu folgern, schien sein Ziel direkt vor dem Tor des scheußlichen Turms zu liegen. Der Barad Baul kam immer näher. Thonfilas drang in die tief hängende Wolken ein, die nur die Nadel des dunklen Bauwerks überragte. Sein Blick trübte sich und wurde erst wieder klar, als die feuchte Luftschicht durchquert war. Hätte Thonfilas einen Körper besessen, er wäre vor Überraschung zusammengezuckt. Der Platz vor den Toren des dunklen Turms war mit seinen Freunden bevölkert. Mithval setzte nach ein paar erfolglosen Angriffen auf den Barad Baul zur Landung an.

Und dann geschah etwas seltsames, wenn man einmal davon absah, dass Thonfilas Astralkörperausflug nicht schon seltsam genug war. Sein körperloser Geist landete nicht nur, er verschmolz mit Gildofal. Für einen kurzen Moment waren Gildofal und Thonfilas eins.

»Segato, erwache!«

»Hast du etwas gesagt?«

Orientierungslos und verwirrt schreckte Thonfilas auf und sah sich um und entdeckte, Professor Bogenhausen und Xelemachus von Emd, die ihn mit besorgten Mienen anstarrten.

»Ich weiß nicht. Hab’ ich?«, stammelte der Elb, »Ich habe auf die Phiole geschaut und …«

Ja was eigentlich? War es ein Traum? War es ein Teil Turondurs oder Toldins, der ihn geführt hat? Und welchen Zweck verfolgte die Aktion?

»Freunde«, Xelemachus von Emd erhob seine Stimme, »Ich habe mir die beiden Beschwörungsbriefe nochmals genau angeschaut. Es ist möglich …«

»Die Zeit?«, Thonfilas ahnte, was einer der beiden schlausten Köpfe Daelbars erklären wollte.

»Drei Monate, Minimum!«

»Verdamm …«

Das »T« im Wort »Verdammt« blieb Thonfilas schuldig. Ein unerwartetes Ereignis blockierte sein Sprachzentrum. Und nicht nur seins. Alle Anwesende waren ebenso verblüfft wie sprachlos, als sich die beiden Pergamente mit einem dumpfen »Puff« in dunkelgrauen Rauch verwandelten. Im gleichem Moment spürten alle magisch empfindlichen Personen eine Art Schockwelle durch den Raum laufen. Die Magiographen, eine Art Seismometer für Magie, spielten verrückt.

»Das kam aus dem Süden!«, rief Professor Bogenhausen und stürmte mit allen anderen aus dem Labor in Richtung Startrampe der Drachenreiterschule, von der man einen guten Überblick über das Daelbartal genoss.

»Was war das?«, flüsterte Xelemachus unsicher, als sie gerade eben noch rechtzeitig die Rampe erreichten, um miterleben zu können, wie sich eine Art grauer Schleier vom Tal, aber insbesondere von den feindlichen Streitkräften erhob, kurz über dem Boden schwebte, um dann vom auflebenden Wind erfasst und hinfortgerissen wurde.

»Das Ende des Krieges!«, verkündete Thonfilas, der nicht wusste, woher er sein Wissen bezog, »Er ist vorbei! Wir haben es überstanden.«


Das erste Mal in seinem Leben verschlief Uskav den Ausgang einer Schlacht. Während sich das übrig gebliebene Orkheer in chaotischer Flucht auflöste, schlummerte der Präsident und oberster Befehlshaber Daelbars einen tiefen, festen und überaus erholsamen Schlaf. Roderick hätte ihn wecken können, entschied sich aber dagegen und ließ seinen Freund schlafen, so merkwürdig die plötzliche Wende im Kriegsglück auch sein mochte. Denn was das Verhalten des Orkheers betraf, entsprach »merkwürdig« einer eher milden Beschreibung.

In den Wehrstellungen Daelbars hatte man zwar meist nichts von der Schockwelle mitbekommen, es sei denn, man war ein Elb. Die mit der Welle einhergehende Veränderung blieb hingegen alles andere als unbemerkt. Direkt am Ort des Geschehens war der aufsteigende dunkle Dunst viel greifbarer, realer und vor allem fühlbarer, als hunderte Meter entfernt am Rande der Startrampe der Drachenreiterschule. Roderick kam es vor, als fiele eine schwere Last von seiner Brust, als wenn Trauer, Verzweiflung, Furcht und Angst selbst, Substanz annahmen, sich von ihm lösten und davon zogen. Etwas Großes musste sich ereignet haben. Womit Roderick absolut recht hatte, nur wusste zu diesem Zeitpunkt niemand, dass dieses große Ereignis nichts geringeres war, als der Sieg über den Barad Baul.

Sekunden später stand die Welt Kopf. Genau genommen drangen recht merkwürdige Laute von den Stellungen der Orks zu Roderick hinüber. Ganz der Krieger schob er seine Irritation beiseite und wagte einen Blick über den Rand des Schützengrabens. Die Orks flohen! Sie taten es sogar, nachdem sich Roderick mehrfach die Augen gerieben hatte. Sie flohen, und das auch noch Hals über Kopf und völlig unkontrolliert.

»Bizarr!«, entfuhr es dem Neovikinger, während er zu einem Hochleistungsfernglas griff, »Ha, wusste ich’s doch!«

Die Orks mochten fliehen, die Heerführer aber nicht. Die schien die Flucht ihrer Orks vollkommen überrumpelt zu haben. Sie fluchten, gestikulierten und griffen zu Peitschen und anderen Waffen, doch niemand schien auf ihre gebrüllten Befehle zu achten.

»Caransil, mein Lieber, könntest du und deine Freunde mir einen kleinen Gefallen tun?«

»Schon erledigt!«, schmunzelte der roter Feuerdrache und erhob sich mit ein paar anderen aus seinem Versteck.


»Ihr habt mich schlafen lassen?«, brüllte Uskav mit gespielter Entrüstung.

»Du weißt doch: ›Schlafende Uruks soll man nicht wecken! Es sei den, man hegt Todessehnsucht.‹«, entgegnete Roderick entschuldigend.

»Die Schlacht endet und du lässt mich schlafen?«

»Ja!«

»Oh, na dann …«, Uskav sah sich verlegen um, »Aber nicht, dass später in den Geschichtsbüchern steht: ›Die Schlacht um Daelbar endete mit der Flucht der Aggressoren. Präsident Uskav verschlief das Ereignis.‹«

Nachdem man wirklich sicher war, dass die Orks auch tatsächlich flohen, fand sich der Rat Daelbars in der großen Halle ein, um sich über die letzten Ereignisse auszutauschen. Ganz Daelbar war auf den Beinen. Verwundete wurden geborgen und versorgt. Naszbraks stellte sich dabei als unentbehrliche Hilfe heraus, da die meisten Orkwaffen vergiftet oder verflucht waren und die Kenntnisse der Heiler und Ärzte überforderte. Eine ganze Meute Drachen war damit beschäftigt die gröbsten Spuren der Schlacht zu beseitigen, wozu auch gehörte, die gefallenen Orks würdevoll zu bestatten.

»Und ihr seid sicher, dass ihr nichts gemacht habt?«, richtete Uskav eine Frage an Bogenhausen, Thonfilas und von Emd.

»Wir hatten noch nicht einmal angefangen!«, erläuterte der Professor, »Die Magiometer haben eine Magieschockwelle der Stärke 12 aufgezeichnet, was für etliche zu einem Begräbnis der Nadel führte. Komplett durchgebrannt.«

»Stärke 12?«

»Jede Stufe entspricht einer Verzehnfachung. Die stärksten Schockwellen, von denen ich weiß, haben die Stärke 10,6 nie überschritten. Zum Glück konnten wir das Epizentrum bestimmten. Die Schockwelle nahm ihren Ausgang in Tharbad.«

»Tharbad?«

Diese Antwort verblüffte nicht nur Uskav, der die Hafenstadt leidlich kannte, sondern insbesondere Thonfilas: »Segato ist dort!«

In den nächsten Minuten berichtete der Elb seine seltsame außerkörperliche Erfahrung, die ihm, während er Toldins Blut betrachtete, widerfahren war. Nachdem alles diskutiert, diverse Nachfragen beantwortet wurden, stimmten alle mit der Vermutung überein, dass ich zusammen mit Gildofal, Gilfea, Mithval und allen für die Schockwelle und ihre Folgen verantwortlich waren.

»Haben wir jetzt gesiegt?«, fragte Professor Bogenhausen in einem stillen Moment. Der Klang seiner Stimme ließ deutlich erkennen, dass er die Frage nicht wirklich bejahte.

»Nein«, erwiderte Uskav leise, »Wir haben überlebt. Der Krieg ist beendet, aber gesiegt haben wir nicht. Kriege kann man nicht gewinnen – niemals. Freunde wurden getötet und noch mehr verwundet. Unser und das Blut unserer Gegner tränkte den Boden vor den Toren unserer Stadt. Kann man dann noch von einem Sieg sprechen?«

Niemand antwortete. Uskav seufzte: »Ich will nicht sagen, dass die Schlacht nicht gerechtfertigt war. Der Krieg wurde uns aufgezwungen. Es war nicht unsere Entscheidung, zu kämpfen. Immerhin, wir waren erfolgreich. Wir haben unsere Freiheit verteidigt.«

»Dann lasst uns feiern!«

Wäre dieser Vorschlag von einem Menschen, Zwerg, Uruk oder Elb gekommen, jeder hätte ihn geschmacklos gefunden. Doch Rodericks roter Feuerdrache fand genau den richtigen Ton, um seinen Vorschlag anzubringen. Ein Fest zur Feier der Freiheit und zu Ehren und Gedenken derer, die bei der Verteidigung Daelbars ihr Leben gelassen hatten.

Vergessen und unerledigt

»Ganz lieb ficken!«

Uskavs inoffizielle Antwort auf die Frage, was er nach dem gewonnenen Krieg als Nächstes vor hat.

»Und, habt ihr euch entschieden, was ihr machen wollt?«

Diese Frage richtete sich an einen gewissen Anger, ein junger Neovikinger seines Zeichens, und an Sebastian, den tragischen Exkleriker und Exattentäterlehrling. Es herrschte Aufbruchstimmung im Lager der Drachenreiter. Ole Olson und Erogal D’Santo hatten bereits entschieden, die vier Drachenreiter Gilfea, Gildofal, Suman und mich, nach Daelbar zu begleiten. Insbesondere Ole fühlte sich gegenüber seinem Drachen verpflichtet, seine Wissenslücken in Magie und Drachenkunde in der Drachenreiterschule zu Daelbar zu schließen, obwohl dies hieß, die nächsten Jahre auf harten Bänken verbringen zu dürfen. Doch schien dies allemal besser, als sein eigenes Leben bei irgendwelchen Mordaufträgen seiner Bruderschaft zu riskieren. Mehr und mehr ertappte sich der junge Neovikinger dabei, seinen bisherigen Beruf aufzugeben zu wollen, obwohl er wusste, dass dies wenig realistisch war. Die Bruderschaft ließ niemanden gehen, jedenfalls nicht lebend und selbst tot konnte man sich nicht sicher sein, nicht weiter von ihr in Anspruch genommen zu werden, wenn man ein paar recht bizarren Gerüchten Glauben schenken wollte.

Für Erogal D’Santo standen ganz praktische Erwägungen im Vordergrund sich erst einmal nach Daelbar zurückzuziehen. Ein paar Semester Drachenkunde zur Auffrischung konnten sicherlich nicht schaden, doch sein Hauptmotiv zielte in eine andere Richtung. Die Omegadirektive mochte offiziell aufgehoben sein, doch wirkten ihre Folgen weiter nach. Die Gilde befand sich im Umbruch. Markendorfers Verschwörung hatte ihr schwere Schäden zugefügt. Das gegenseitige Vertrauen, auf dem die gesamte Gilde eigentlich fußte, war gestört und es war mehr als fraglich, ob es sich in naher Zukunft wieder herstellen ließ. In vielerlei Hinsicht war der Dämon in Markendorfer sehr erfolgreich gewesen. Doch Erogal wäre nicht Erogal hätte er diesen Rückschlag nicht als Ansporn empfunden, die Gilde stärker und besser zu machen als sie je war. Und er hatte auch bereits eine Idee, wie sich dies bewerkstelligen ließ. Das Zauberwort lautete »Gildehaus zu Daelbar« und meinte genau unser, das heißt eigentlich Sumans, Drachenhöhle.

Mir gefiel der Gedanke, Erogal bei uns zu haben. Wer war besser geeignet, uns beim Aufbau eines Gildehauses zu helfen? Die Herberge stand bereit und mit ein paar ehemaligen Gildeschülern konnten wir durchaus den Betrieb aufnehmen, doch was uns fehlte, war jemand, der dem ganzen den richtigen Schwung und die notwendige Distinguiertheit verlieh. Erogal D’Santo passte perfekt.

Während der Diskussion mit Erogal und Ole fiel mir auf, dass sich Suman auffällig im Hintergrund hielt und auf Gilfeas Vorschlag, die beiden frisch gebackenen Drachenreiter könnten bei uns im Gästehaus wohnen, sehr zurückhaltend reagierte. Irrte ich mich oder wich mein Schatz Ole aus? Und noch seltsamer, Ole Olson zeigte eine für ihn untypische Unsicherheit, sobald sich Suman zufällig in seiner Nähe befand.

»Mein Entschluss steht fester denn je. Ich will ein Drachenreiter werden«, beantwortete Anger unsere eingangs erwähnte Frage. Fügte dann aber mit einem schüchternen Seitenblick auf Mithval hinzu, »Natürlich nur, wenn mich die Drachen überhaupt wollen.«

»Tja, wenn man das wüsste …«, orakelte Mithval und grinste breit.

»Ich …«, stammelte Sebastian unsicher, »Ich weiß nicht. Ich will niemandem zur Last fallen. Ich wüsste nicht, was ich euch zu bieten hätte.«

»Na ja«, begann Ivo und ließ ein anzügliches Grinsen sein Drachenmaul umspielen, »Du könntest unser persönlicher Lustsklave werden und wenn wir deiner überdrüssig sind, verfüttern wir dich einfach an Mithval.«

»Ach Ivo, bitte, an dem Jüngelchen ist doch nix dran. Der reicht ja nicht Mal für ’nen Snack zwischendurch.«

»Was?« Sebastian quiekte. Anders konnte man seinen entsetzten Aufschrei nicht bezeichnen, der von panischen Blicken begleitet wurde, die zwischen Ivo und Mithval hin und her sprangen. Als ihm auch noch Gildofal seine Hand auf die Schulter legte, sprang er dermaßen erschrocken auf, dass wir schon befürchteten, er würde gleich durch das Dach schießen.

»Lass dich von den Quatschköpfen nicht verarschen!«, beruhigte Gildofal unseren kleinen Möchtegernmeuchelmörder, »Glaub mir, du fällst niemandem zur Last. Wir würden uns sehr freuen, wenn du mit uns nach Daelbar kommst und die Stadt zu deiner Heimat machst, so wie wir sie zu unserer gemacht haben. Komm mit, schau es dir an und entscheide selbst.«

»Aber …«

»Nix ›Aber‹!«, brüllte Ivo direkt in Sebastians Kopf, »Kauf dir mal ’ne Tüte Selbstvertrauen! Junge, du gehörst mit zum Team! Du hast keine Sekunde gezögert, uns auf dem völlig wahnsinnigen Selbstmordkommando zur Sumans Befreiung in den verfluchten Turm zu folgen. Dabei kanntest du unseren Freund noch nicht einmal. Also, deswegen nochmal ganz langsam zum Mitschreiben: Du bist ab sofort unser Freund, ob du willst oder nicht! Und als Freund fällst du niemanden zur Last. Kapiert?«

Diese überaus dezente Erläuterung seitens meines Drachens erzielte dann tatsächlich die beabsichtigte Wirkung: Sebastian lächelte glücklich, vergoss ein oder zwei Tränen der Rührung und tat etwas, das nun wiederum Ivo völlig aus dem Konzept brachte und seine Gesichtsschuppen leicht rot anlaufen ließ. Der Exnovize fiel meinem Drachen um den Hals und knuddelte ihn.

»Hey, Kleiner, nicht doch. Denk an mein Image!«

Zu spät, Ivo, zu spät!


»Und wann brechen wir auf?«

Die Frage war berechtigt, zielte aber in eine falsche Richtung. Anger, der diese Frage stellte, wollte eigentlich nur wissen, wann er seine Sachen zusammenpacken sollte. Der Junge konnte es gar nicht abwarten, die Stadt der Drachen zu sehen. So wie er die Lage sah, konnte es eigentlich sofort losgehen. Kein Wunder, dass Gildofals Antwort da mehr wir eine kalte Dusche wirkte.

»Morgen … wahrscheinlich. Wir müssen erst noch unser Transportproblem lösen.«

Das erwähnte Transportproblem hörte auf die Namen Anger, Sebastian, Erogal D’Santo, Ole Olson, Sulomile und Sulogorn. Die Drachenzwillinge waren viel zu jung, um ihre beiden Seelen über eine Entfernung wie die zwischen Tharbad und Daelbar transportieren zu können. Anger und Sebastian hatten noch nicht mal einen eigenen Drachen und mussten bei jemand anderem mitfliegen, doch nur Mithval war kräftig genug, um einen zweiten Reiter die ganze Strecke tragen zu können. Es musste also Verstärkung her.

»Lindor, Caransil und Kifilan kommen mit ihren Reitern, um uns abzuholen«, erläuterte Gilfea, »Mithval steht mit Lindor in Verbindung. Der Krieg vor unserer Stadt mag vorbei sein, doch noch gibt es sehr viel zu tun, bevor sie jemanden entbehren können.«

Bis zu unserem Sieg über den Barad Baul war die mentale Verbindung mit unseren Brüdern in Daelbar stark gestört, was offenbar ein Seiteneffekt des dunklen Turms war. Dies war nun anders und wir konnten uns gegenseitig über die Ereignisse der letzten Tage informieren. Es war nachträglich immer noch ein Schock, zu erfahren, wie knapp Daelbar seiner Vernichtung entgangen war. Umgekehrt war man in Daelbar unser Abenteuer mit Markendorfer mehr als erstaunt. Immerhin kristallisierte sich langsam ein Gesamtbild heraus.

Wir hatten also noch etwas Zeit, aber eigentlich nicht wirklich etwas zu tun. Natürlich nutzte Erogal die Gelegenheit sich mit einigen seiner Meisterbrüder über Gegenwart und Zukunft der Gilde auszutauschen. Der Schaden, den Markendorfer angerichtet hatte, war erheblich. Sein Verrat hatte die Gilde tief ins Mark getroffen und es war fraglich, ob sie sich jemals von dem Schlag erholen würde.

Während Erogal eher mit frustrierenden Resultaten zu kämpfen hatte, machte Ole Olson ein paar Leute zu sehr, sehr glücklichen Menschen und einem überaus glücklichen Zwerg. Der Neovikinger zahlte seine Crew aus. Mehr noch, schenkte er einen Teil seines Unternehmens seinen nun ehemaligen Mitarbeitern.

»Ich bin jetzt ein Drachenreiter«, erklärte er uns später, »Es ist die richtige Entscheidung. Ich brauch den Job als Schmuggler nicht mehr. Ich kann meine Leute aber auch nicht einfach im Stich lassen. Mit meinem Laden sind sie abgesichert. Sie können in Ruhe entscheiden, was sie machen wollen: Weiterarbeiten oder alles verkaufen. An ihrer Stelle würde ich alles verkaufen. Vom Erlös dürfte jeder ziemlich luxuriös bis ans Ende seiner Tage leben können. Ich weiß nur, dass ich den Job nicht mehr machen kann. Mit Sulomile habe ich das erste Mal in meinem Leben Verantwortung für jemand anderen als mich selbst übernommen. «

Sollte bisher noch irgendjemand Vorbehalte gegen unseren Profimeuchelmörder gehegt haben, so lösten sich diese spontan in Wohlgefallen auf. Ole Olson war ein guter Mensch. Das musste er sein, schließlich hatte ihn ein Drache als seine Seele erwählt.

Um nach dieser Episode nicht vollends in Rührseligkeit zu versinken, kam Ivo auf die glorreiche Idee das Ende des Barad Bauls zu feiern. Im ersten Moment zögerte ich, diesem Vorschlag zuzustimmen und war damit nicht der Einzige, aber je länger wir darüber nachdachten, desto besser gefiel mir der Gedanke an ein kleines Fest. Fünf Minuten später hatte sich meine Echse seinen Bruder geschnappt und war Einkaufen geflogen

»Er ist wirklich etwas spontan, in seinen Einfällen«, bemerkte Gildofal.

»Etwas?«


Ich glaube ich werde nie aufhören, über Drachen zu staunen. Vier Stunden nach Ivoricalads Vorschlag hatte sich Ole Olsons Lagerhalle in einen heimeligen Ort verwandelt. Kerzenschein, der sich auf glänzenden, glasigen Drachenschuppen spiegelt, verwandelt selbst noch die letzte Bruchbude in einen Ort voller Wärme und Gemütlichkeit. Wir hatten uns alle in der großen Halle versammelt. Die Drachen hatten ihre Schwingen ausgebreitet und wir waren darunter geschlüpft. Man mag es kaum glauben, aber Drachen sind extrem kuschelige Sitzgelegenheiten. Der elbische Wein, den Ivo und Ole wer weiß wie aufgetrieben hatte, entfaltete langsam seine Wirkung. Ich fühlte mich entspannt und glücklich.

»Wisst ihr, eigentlich habe ich mir ein ›Happy End‹ immer anders vorgestellt …«, ließ sich Suman in meinen Armen mit versonnener Mine vernehmen.

»Wie denn?«, fragte ich meinen Schatz und zog ihn dichter an mich heran, küsste ihn verliebt den Nacken.

»Wird am Ende nicht irgendjemand zum König gekrönt?«

»Stimmt!«, mischte sich Gildofal ein, »Außerdem muss der Held die Prinzessinnen vor dem Drachen retten und schließlich heiraten.«

»Ihr habt je keine Ahnung!«, intervenierte Eargilin, »Meisten musste man den Drachen vor den Prinzessinnen retten! Außerdem würdet ihr doch erst dann aktiv werden, wenn es darum ginge einen knackigen Prinzen zu retten.«

Für diese Bemerkung erntete Eargilin sowohl ein paar freundliche Knuffe als auch hinterhältiges Gekicher.

»Ach, wo gibt es heute noch schnuckelige Prinzen?«, fragte, natürlich, Ivo.

»Der Thronfolger Goldors soll ganz lecker sein«, entgegnete Gilfea wie aus der Pistole geschossen.

»Ach, soll er das?«, fragte Gildofal amüsiert.

Gilfea lief knall rot an und stammelte: »Hab’ ich gehört … Irgendwo … Ähm …«

»Hast du gehört?«, Gildofal quietschte fast vor lachen, »Ich sag’ dir, der Typ ist ein totales Arschloch!«

»Woher weißt du das?«, formulierte ich die Frage, die sich gerade jeder stellte, »Kennst du ihn etwa?«

»Kennen ist zu viel gesagt«, begann Gildofal, »Ihr dürft nicht vergessen, dass ich in Goldor aufgewachsen bin. Die königliche Familie ist Unterrichtsthema. Wir durften den gesamten Stammbaum auswendig lernen. Jeder Schüler kennt den Prinzen, doch ich bin ihm sogar einmal begegnet. Der Typ müsste in Gilfeas Alter sein. Im letzten Jahr vor meinem Rausschmiss nahm er für eine Woche als ganz normaler Mitschüler am Unterricht teil. Das ganze war als PR-Aktion des königlichen Kämmeramtes gedacht und sollte die Verbundenheit der königlichen Familie mit dem gemeinem Volk demonstrieren. Bei den Göttern, der Typ benahm sich wie der letzte Arsch. Gegen ihn erschien sogar Krotos noch wie ein netter Kerl. Übrigens, Gilfea und der Prinz sehen sich erstaunlich ähnlich.«

»Na super!«, knurrte Gilfea, »Ich seh also aus wie ein Arschloch!«

»Wie ein liebes Arschloch!«, korrigierte Gildofal und zog seinen Liebling zu sich heran.

Es muss an meiner Gildeausbildung gelegen haben, andernfalls wäre mir bestimmt Erogals nachdenklicher Blick entgangen, als Gildofal über seine Erfahrungen mit dem Kronprinzen Goldors berichtete. Ich wollte meinen alten Lehrer gerade fragen, was ihm durch den Kopf ging, als mir ein noch viel seltsameres Verhalten bei Ole Olson auffiel. Der blickte ständig zu Suman hinüber, schaute aber immer dann weg, wenn Suman in seine Richtung blickte.


Am nächsten Morgen erfuhren wir, dass sich die Ankunft unserer Freunde noch um einen Tag verzögerte. Was tut man also, wenn man nichts zu tun hat?

»Ich glaube, wir schulden Carl noch einen Besuch.«

Meine Echse kultivierte wirklich einen ganz, ganz bösen Humor. Ganz unrecht hatte Ivo allerdings nicht. Wir standen beim Wirt des Elbenstübchens wirklich im Wort. Schließlich waren wir Partner. Und egal was man von Carl halten wollte, er hatte uns nicht verraten, obwohl er damit durchaus ein paar Golddukaten Belohnung hätte einheimsen können.

»Habt ihr etwas dagegen, wenn ich euch begleite?«, fragte Ole Olson.

Wir hatten nichts dagegen. Ganz im Gegenteil waren wir ganz froh, einen kompetenten Führer bei uns zu haben. Ole kannte Tharbad wir seine Westentasche. Und so schön und freundlich die Stadt inzwischen wirkte, sie blieb ein gefährliches Pflaster. Ole sollte uns ruhig begleiten.

Eine Stunde später schoben wir uns durch die ebenso engen wie belebten Gassen Tharbads. Diese Stadt muss der Traum eines jeden Taschendiebs sein. Ich kannte keinen anderen Ort, nicht einmal Crossar, an dem man sich dermaßen auf Tuchfühlung mit seinen Mitmenschen befand.

Von den Geheimpolizisten, von der die Stadt vor ein paar Tagen noch wimmelte, war niemand mehr zu sehen. Offensichtlich hatte man andere Sorgen, als ein paar Drachenreitern nachzustellen. Mitten im Getümmel wirkte die Veränderung, die Tharbad erfuhr, noch wesentlich beeindruckender. Die Schaufenster der Geschäfte dürften das erste Mal ihren Zweck erfüllen. Was vorher trübes und dreckverschmiertes Glas war, strahlte nun in neuem Glanz. Sogar die Front des »Elbenstübchen« war frisch geputzt.

»Hallo Carl!«, rief Ivo, kaum dass wir den Schankraum betreten hatten.

Der Angerufene zuckte nervös zusammen, sah sich etwas schreckhaft um, blickte von Ivo zu mir, entdeckte Ole und zuckte nochmals zusammen. Dieses Mal aber nicht nervös sondern panisch.

»Was …«, stammelte der Wirt, »Ihr hättet mir sagen müssen, dass ihr mit dem zusammen hängt!«

Ole Olson grinste breit, sagte aber nichts. Das brauchte er auch nicht. So langsam hatten wir schon begriffen, dass unser Neovikinger wirklich Hinz und Kunz kannte.

Mit einem resignierten Seufzen deutete uns der Wirt ihm zu folgen. Auf dem Weg zum Hinterzimmer schauten wir uns um. Die Pension hatte sich verändert. Irgendjemand war mit Besen, Schrubber und reichlich Seife und Wasser durch die Flure gegangen. Selbst ein paar Eimer frischer Farbe schienen nebenbei verarbeitet worden zu sein.

»Seggi, Ivo«, begann Carl der Wirt gequält, »Ich hätte nicht gedacht, euch nochmal wieder zu sehen.«

»Wieso?«, fragte ich gespielt entrüstet, »Wir haben dir doch versprochen, dich an unseren Aktionen zu beteiligen.«

»Ähm, ja … Klar doch!«, beeilte sich der Wirt, »Ich habe alles besorgt: Die Gebäudepläne und Grundrisse, den Rotationsplan der Wachen, Zugangscodes.«

»Wovon redet der Kerl?«

»Oh, verdammt!«, fluchte ich mental, dass Ole und Ivo zusammenzuckten, »Boldin Dynamics Wir wollten doch bei Boldin einbrechen und hatten Carl um genau die Unterlagen gebeten.«

Während ich Ole und Ivo darüber aufklärte, wovon der Wirt sprach, breitete dieser diverse Dokumente, Zeichnungen und Pläne auf dem Tisch des Hinterzimmers aus.

»Hier, alles da!«, verkündete Carl zufrieden, während er Ole mit einen skeptischen Blick bedachte, »Ihr hättet mir aber sagen können, dass ihr mit dem da zusammen arbeitet.«

Ole Olson eilte offenbar ein gewisser Ruf voraus.

»Wann plant ihr bei Boldin einzusteigen?«

»Heute Abend«, meinte Ivo bestimmt, während er die Pläne studierte, »Heute Abend passt perfekt.«


Um ein Bündel Dokumente reicher und ein paar Golddukaten ärmer, über die sich unser umtriebige Wirt sehr gefreut hatte, schoben wir uns wieder durch die Gassen Tharbads bis wir einen Platz fanden, der weniger belebt war und ließen uns dort nieder.

»Meintest du das ernst?«, sprach ich die Frage aus, die mich seit unserer Unterhaltung mit Carl beschäftigte, »Du willst bei Boldin einsteigen?«

»Genau das!«, ich hatte Ivo selten so entschlossen erlebt, »Wir haben noch etwas zu erledigen, bevor wir nach Daelbar zurückkehren können. Boldin verarbeitete Drachenblut. Bei der ganzen Aufregung um Markendorfer und den Barad Baul haben wir unser primäres Ziel außer acht gelassen. Das werde ich heute Abend korrigieren. Ich kann nicht zulassen, dass das Blut meiner Brüder und Schwestern in die Händen Fremder gerät, sollte noch etwas davon übrig sein.«

Als Seele und Reiter eines Drachens lernt man recht schnell, die verschiedenen Stimmungen der geflügelten Echsen voneinander zu unterscheiden. Ivo sandte intensive Schwingungen aus. Er war aufgewühlt, seine Stimme vibrierte vor aufgestauten Emotionen. Ich hatte den Eindruck, dass sich Ivo ernsthaft zurückhalten musste, um Boldin Dynamics nicht sofort einen Besuch abzustatten.

»Gut, fahren wir Heim und bereiten alles vor.«

Pragmatischer als unser guter Neovikinger konnte man kaum sein. Er diskutierte nicht, was bei Ivo auch keinen Zweck gehabt hätte, sondern nahm die Situation so wie sie war und passte sich entsprechend an. Zurück in unserem Lagerhaus ernteten wir dagegen deutlich mehr Protest. Erogal, Suman und Gildofal hielten die Idee für verrückt, viel zu gefährlich und in so kurzer Zeit vollkommen undurchführbar. Gilfea hingegen schwieg, betrachtete nachdenklich Ivoricalad, schaute danach zu Mithval und nickte wissend.

»Ivo wird gehen!«, donnerte Mithvals Stimme in unseren Köpfen, wie ich es noch nie erlebt habe, »Wenn auch nur ein schwach glimmender Funken einer Chance besteht, dass Boldin Dynamics Drachenblut besitzt, werden wir es holen.«

Die Diskussion war beendet. Niemand stellt die Entscheidung eines Mithrildrachens in Frage; nicht, wenn es um so fundamentale Dinge ging, wie das Blut eines Drachens. Eines Drachens? Mein Blick fiel auf Gilfea und schlagartig wurde mir klar, um welches Blut es sich handelte.

»Ihr glaubt, es ist das Blut eurer Mutter, oder?«, fragte ich leise, fast flüsternd.

Zwei Drachenköpfe, einer riesig, einer etwa menschenkopfgroß, wirbelten herum und starrten mich bebend, zitternd und flehend an. Ich nickte.

»Ich bin dabei! Holen wir zurück, was uns gehört!«


Die Vorbereitungen für unseren kleinen Besuch bei Boldin Dynamics wurden von uns mit absoluter Professionalität in Angriff genommen. Anger und Sebastian schnappten sich Sulomile und Oles Transporter, fuhren mit dem Drachen zum Werksgelände und bezogen dort Posten. Ihre Beobachtungen teilten sie Sulomile mit, der sie mental an seinen Zwillingsbruder übermittelte. Unser Wirt hatte gute Arbeit geleistet, zumindest deckten sich seine Wachpläne mit der Realität.

»Ich seh eigentlich nur eine Möglichkeit unbemerkt in das Werk zu kommen.«

Über die Skizzen und Pläne des Werksgeländes Boldin Dynamics gebeugt, suchten wir nach einem Weg hinein. Doch die Wachpläne zeigten sich als sehr effizient ausgearbeitet. Jeder Wächter deckte nur einen so großen Bereich ab, dass er seine direkten Nachbarn immer noch im Blick behielt. Zu keinem Zeitpunkt besaß die Überwachung blinde Flecken, jedenfalls nicht, solange man zweidimensional dachte. Die Dächer der Hallen, insbesondere der großen Werkshalle war unbewacht. Ein paar Drachen dürften also relativ unbeobachtet auf der Halle landen können.

»Ist es eine Falle?«, fragte Suman.

»Glaube ich eigentlich nicht«, erwiderte Erogal noch tief in die Wachpläne vertieft, »Euer kleiner Wirt hat wirklich gute Arbeit geleistet. Er hat selbst die Wachpläne der letzten Jahre besorgt. Demnach hat es zwar regelmäßig Rotationen und Umbesetzungen gegeben, doch das Grundschema blieb immer gleich.«

»Kein Wunder«, Suman deutete auf den Barad Baul, »Er überschattete und -wachte die ganze Stadt. Niemand wäre unbemerkt bei Boldin gelandet.«

»Hoffen wir, dass noch niemand auf die Idee gekommen ist, das zu ändern.«

Es war niemand auf die Idee gekommen. Darauf angesprochen suchten Anger und Sebastian die Dächer, soweit sie einsehbar waren, mit ihren Ferngläsern ab. Auf keinem waren Wachen postiert. Unser Plan im Schutze der Nacht auf der großen Werkshalle zu landen, konnte also starten.

Der Einsatztrupp bestand aus einer kleinen Gruppe, nämlich mir, Ivo und Ole, den Mithval auf dem Dach absetzte. Der große schwarze Drache sollte zusammen mit Eargilin und Tingalen den Luftraum abzusichern und uns Rückendeckung geben.

»Wo lang?«, flüsterte Ivo.

»Hier!«, antwortete Ole.

Der Neovikinger war ein Naturtalent wenn es darum ging, sich in gut oder sogar extrem gesicherte Gebäude einzuschleichen. Ein kurzer Blick auf die Baupläne und er wusste sofort, wo sich uns die besten Chancen boten, unbemerkt in das Allerheiligste von Boldin Dynamics einzudringen. Statt eines Luftschachtes, was meine Wahl gewesen wäre, führte uns Ole zu einer unscheinbaren Wartungsklappe, schraubte sie auf und kroch hinein. Wir folgten.

Der Schacht war verwinkelt. Außerdem blies ein heftiger Wind. Wir befanden uns in einem Teil des Lüftungssystems, weswegen ich noch verwirrter war, nicht gleich den Luftschacht zu nehmen.

»Tragkraft!«, erläuterte Ole später knapp, »Du musste lernen, Baupläne richtig lesen zu können. Der Luftschacht hätte unser Gewicht nicht tragen können. Außerdem führt er zu einem Ausgang, der 5 Meter über dem Hallenboden liegt.«

Letzteres hätte Ivo und mich nicht sonderlich gestört, insgesamt war Oles Begründung aber überzeugend. Also robbten wir leise und vorsichtig durch einen zwar engen, aber dafür sehr robusten Luftkanal. Unser Ziel war ein kleiner Raum etwas abseits der großen Halle. Dem Plan nach wurden in ihm Putzmittel gelagert und so war das erste, was wir sahen, nachdem wir aus einer Revisionsöffnung geschlüpft waren, drei säuberlich aufgereihte Schrubber samt Wischeimer.

»Abgeschlossen!«, erläuterte Ole den Zustand des Türschlosses. Aber was ein echter Meuchelmörder war, ließ sich durch irgendwelche Sicherheitsschlösser nicht aufhalten. Ein Dietrichset war schnell gezückt und fast noch schneller das Schloss geknackt. Vorsichtig öffnete Ole Olson die Tür und lugte mit einem Spiegel in den dahinter liegenden Flur.

»Er kommt!«

Pünktlich auf die Minute tauchte der Nachtwächter auf und machte seine Runde. Noch bevor er uns erreichte, hatte uns Ole bereits wieder eingeschlossen, was entscheidend war, denn der Wächter rüttelte einmal am Türknauf, um sich zu versichern, dass alles seine Ordnung hatte. Zwei Minuten später war die Tür wieder auf und wir im Flur.

»Wir haben eine halbe Stunde bis zu seiner nächsten Runde.«

Mit dem Gebäudeplan im Kopf wussten wir, welche Weg wir einschlagen mussten. Die große Werkshalle war einfach gebaut. Entlang der Außenwände verliefen Büros und Labore, doch den Hauptteil von mehr als 80 Prozent der Grundfläche nahm eine einzige große Werkfläche ein, vor dessen Tür wir zwei Minuten später standen.

»Gehen wir rein?«, fragte Ole.

»Wir gehen rein!«, entgegnete Ivo und stieß die Doppelflügeltür auf. Und so betraten wir die geheimen Produktionsstädten Boldin Dynamics.

»Verdammte Scheiße, was ist das?«

Verwirrte Geister

»Sex oder Golf? Die Frage versteh ich nicht. Golf ist Sex.«

Graumeister Meridus T’Saal der Gilde, Vizemeister des königlichen Golfclubs von Minas Rochsir

»Ähm, Uskav …«

Die erste Hektik nach dem Ende der Kampfhandlungen hatte sich gelegt. Späher Daelbars hatten die Spur des fliehenden Orkheers verfolgt und berichteten, dass sich die Verbände auflösten, teilweise gegeneinander kämpften aber hauptsächlich in ferne und unbewohnte Lande flüchteten. Mit dem Sieg über den Barad Baul war der magische Bann gebrochen, mit dem sich die Orks kontrollieren ließen. Ohne diesen Bann wurden sie unkontrollier- und unberechenbar. Immerhin mieden sie bewohnte Gebiete, so dass sich niemand in der direkten Gefahr befand, von marodierenden Orkherden heimgesucht zu werden. Von dieser Seite drohte – vorerst – keine Gefahr. Einen ähnlich erfreulichen Stand konnten die Heiler Daelbars vermelden. Selbst schwer Verwundete, bei denen man nicht wusste, wie man ihnen helfen konnte und deswegen aufgegeben hatten konnte mit Hilfe Naszbraks gerettet werden. Alle Patienten befanden sich außer Lebensgefahr.

»Thonfilas?«

»Wir hätten da noch eine Gruppe Gefangener …«, bemerkte der Elb fast beiläufig.

»Oh, verdammt!«, Uskav klatschte sich mit der flachen Hand auf die Stirn, »Die hab’ ich total vergessen. Sind sie friedlich?«

»Jetzt schon«, erläuterte Thonfilas mit einem leichten Anflug von Ironie in der Stimme, »Nachdem deine Narsul ihnen von ihrem Lieblingsrezept vorgeschwärmt hatte schon – Geflämmte Urukspießchen.«

»Hey, seit wann hat mich mein eigener Drache zum Fressen gern?«

Natürlich war Narsuls Lieblingsrezept nicht ernst gemeint, doch erfüllte es seinen Zweck. Die Drachendame hatte auf Wunsch Rodericks mit ein paar anderen Drachen die Heerführer des Orkheeres festgesetzt. Sie merkten gar nicht, was mit ihnen geschah. Ihr plötzlich durchdrehendes Orkheer erforderte alle Aufmerksamkeit. Als sich plötzlich Drachenklauen um ihre Schultern schlossen und sie von den geflügelten Echsen hinfortgerissen wurden, war es bereits zu spät. Nun hockten sie auf einem der Bergplateaus Daelbars und wurden von sechs Drachen scharf bewacht. Zusammen mit Thonfilas, Roderick und Egmont D’Gal als offizielle Vertreter des Rates von Daelbar begab sich Uskav zu seinen ehemaligen Mitgenerälen.

»Na gut«, begann Uskav während er von Narsul herabkletterte, »Machen wir es ganz offiziell. Ihr seid offizielle Kriegsgefangene der Drachenrepublik Daelbar. Wenn ihr euch benehmt und keinen Stress macht, wird man euch gut und mit Respekt behandeln. Letzteres ist übrigens nicht meine Idee. Typen wie ihr, die grundlos unsere Stadt angreifen und jeden seiner Bewohner umbringen wollen, haben meiner Meinung nach weder Respekt noch eine gute Behandlung verdient. Allerdings bin ich an die Gesetzte Daelbars gebunden und die verlangen bedauerlicherweise, dass ich selbst Abschaum wie euch nicht einfach an die Drachen verfüttern darf.«

Mit diesem Vortrag genoss Uskav die volle Aufmerksamkeit seiner Gefangenen. Dabei hatte er teilweise gelogen. Uskav war absolut davon überzeugt, dass man Gefangene vernünftig behandeln sollte. Allerdings war er auch der Meinung, dass er auf sein Image achten musste. Als Uruk war man sich das schuldig. Hätte er etwas anderes gesagt, hätten ihn die Urukgeneräle erst gar nicht beachtet.

»Verräter!«, fauchte einer der Urukgeneräle und spuckte vor Uskav auf den Boden.

»Verräter? Wer ist hier der Verräter?«, fragte Uskav provozierend nach und wandte sich direkt an den Spucker, »Praksak, du solltest wissen, dass ihr einem illegalen Befehl gefolgt seid. Oder hat sich das Militär- und Kriegsrecht seit meines Abschieds aus Goldor dermaßen grundlegend verändert? Die Souveränität und Unverletzlichkeit der Grenzen Daelbars wurde vom König mehrfach bestätigt, zuletzt im Reichskonkordat zu Crossar in Anwesenheit Ihrer Heiligkeit, Päpstin Sylvestra II. Du warst mein Lehrer in Staats- und Völkerrecht. Sag mir, was hab’ ich falsch verstanden.«

»Nichts!«, knurrte Praksak, einer der Urukgeneräle kleinlaut.

»Was hast du mit uns vor?«, wollte ein anderer Heerführer wissen.

»Kraskov, wie immer direkt auf den Punkt. Ich will eigentlich nur eins von euch: Antworten! Wer hat euch den Auftrag gegeben Daelbar auszulöschen?«

»Und wenn wir nicht antworten, wirst du uns dann foltern?«

»Ein wirklich verlockender Gedanke«, ein hinterhältiges Grinsen umspielte Uskav, »Aber nein, dererlei Amüsement muss ich mir leider versagen. Wenn ihr nicht reden wollt dann redet ihr eben nicht. Ist mir ehrlich gesagt egal. Nun, ein paar Tage habt ihr noch Zeit, es euch anders zu überlegen.«

»Und dann?«

»Werden wir euch den Goldorschen Behörden übergeben«, erwiderte Uskav mit absolut stoischer Mine, dabei musste er alle Kraft aufwenden, um nicht laut loszulachen. Insbesondere, nachdem seine Antwort die erwartete Reaktion hervor rief. Die Uruks erbleichten.

»Ähm, besteht die Möglichkeit, dass du uns nicht doch lieber an eure Drachen verfütterst?«, fragte Kraskov, der den Gedanken, an Goldor ausgeliefert zu werden, wesentlich beängstigender empfand als Teil des Futterplans einer Flugechse zu werden. Mit diesem Gedanken stand er nicht allein. Alle Urukgeneräle dachten ähnliches.

»Wir wissen nicht, wer uns den Befehl gab«, begann Kraskov.

»Sei still!«, zischte ihn einer der anderen Uruks an.

Kraskov wandte sich ihm zu: »Warum? So sehr ich es hasse, es zuzugeben, aber Uskav hat recht. Wir sind einem illegalen Befehl gefolgt und ich möchte verdammt nochmal wissen, wieso! Könnt ihr euch an irgendetwas erinnern?«

Auf diese Frage erntete Kraskov zögerliches Kopfschütteln.

»Ich geb’s ungerne zu, aber an die letzten Wochen kann ich mich kaum erinnern.«

Ein anderer Uruk nickte zustimmend: »Stimmt. Ich weiß, dass wir den Befehl erhielten mit der Orkarmee nach Daelbar zu ziehen. Aber wer uns den Befehl gab … Fuck! Ich kann mich nicht daran erinnern.«

So ging es allen Urukgenerälen. Niemand konnte sich genau daran erinnern, was in den letzten Wochen geschah. Das heißt, man wusste schon, was man getan und welche Befehle man erteilt hatte, aber wieso, blieb unklar. Nicht so Uskav. Während die anderen Uruks in ihren eigenen Blickwinkel verfangen waren, genoss er das Privileg ihre Schilderung als Außenstehender verfolgen und werten zu können. Und da bildete sich ein gemeinsames Element heraus: Brazzak.

»Brazzak?«, fragte Kraskov, »Was ist mit Brazzak? Die Mistmade hab’ ich seid Monaten nicht mehr gesehen.«

Diese Antwort war dermaßen verblüffend, dass Roderick laut ausatmete. Uskav hingegen nickte, deckte es doch einen Verdacht, den es zu folgen galt.

»Wenn ich euch sage, dass Brazzak der Heerführer eures Angriffs war …«

Ungläubiges Kopfschütteln schlug den Daelbanern entgegen, genau wie Uskav vermutet hatte. Wer auch immer den Befehl erteilt hatte, Daelbar zu vernichten, er war dabei sehr vorsichtig vorgegangen. Mit Brazzaks Tod war die einzige Verbindung zum Urheber des Plans verloren gegangen. Brazzaks Heerführer litten unter dem gleichen Bann wie die Orks, nur mit anderer Ausprägung. Schließlich mussten sie als Generäle funktionieren, was nicht der Fall wäre, hätte man aus ihnen willenlose Zombies gemacht. Uskav hakte nochmals nach.

»Ihr könnt euch nicht daran erinnern, dass Brazzak den shadow wedsch über mich verhängt hat und ich ihn im anschließenden Kampf besiegt habe?«

Die Uruks wurden blass.

»Den shadow wedsch?«, flüsterte Prasak, »Uskav, es mag sein, dass du ein Verräter bist. Du hast den Eid, den du auf den König geleistet hast, gebrochen. Doch wir sind weder deine Ankläger noch Richter. Soweit es mich betrifft, hast du keinen Mitbruder verraten. Doch den shadow wedsch über dich zu verhängen, ist ebenfalls Verrat. Verrat an den Uruks.«

»Gut!«, Uskav nickte, »Wir werden uns nochmals unterhalten müssen. Doch bis dahin, müssen wir euch irgendwo unterbringen. In Daelbar gibt es keine Gefängnisse. Ich könnte euch auf diesem Berg belassen, doch widerspräche dies den Regeln für Kriegsgefangene. Deswegen habe ich einen Vorschlag für euch. Wir bringen euch in einer unbewohnten Drachenhöhle unter, ihr dürft euch in Daelbar sogar frei bewegen, im Gegenzug schwört ihr auf eure Ehre als Uruk euch zu benehmen. Keine Fluchtversuche, verstanden? Und auch, wenn es euch wundern mag, Elben sind keine Snacks.«

Wenn Roderick, Egmont oder Thonfilas von Uskavs Entscheidung überrascht waren, dann ließen sie es sich nicht anmerken. Ein kurzes zustimmendes Nicken war alles, womit sie Uskavs fragende Blick beantworteten. Und auch die Uruks kamen nach einer kurzen, aber heftigen Besprechung zu einer Entscheidung. Sie stimmten zu. Einer nach dem anderen leistete einen Eid auf seine Ehre als Uruk weder einen Fluchtversuch zu unternehmen noch sich in irgendeiner Weise der Bevölkerung Daelbars feindlich zu nähern. Nachdem dies geklärt war, wurden die Uruks von ein paar Drachen zu einer geräumigen Drachenhöhle gebracht, die zur Zeit nicht genutzt war.

»Du traust ihnen?«, fragte Roderick und stellte damit die Frage, die Uskav insgeheim erwartet hatte. Niemand traut einem Uruk, nicht Mal die Uruks.

»Ja, absolut!«, erwiderte Uskav.

»Gut!«, kam es unerwartet knapp von Roderick.

»Also gut, ich erkläre es euch«, knurrte Uskav, den es störte, von seinem Freund ausgetrickst worden zu sein, »Der Eid auf die Ehre ist für uns ein Bluteid. Ihn zu brechen … Ich will es anders formulieren. Jeder meiner alten Kollegen würde sich mit Wonne und Hingabe der Sühnung eines derartigen Eidbruchs hingeben.«

»Du hinterhältige Ratte!«, grinste Roderick breit, »Wir brauchen sie nicht bewachen, weil sie sich gegenseitig bewachen werden. Böser Trick!«

»Er funktioniert, das ist das wichtigste«, erwiderte Uskav schmunzelnd, wurde dann aber erst, »Doch jetzt habe ich ein paar Takte mit meinem alten Freund Naszbrak zu wechseln. Der Gute schuldet mir ein paar Antworten.«

Sprach’s, schwang sich auf Narsul und flog in Richtung der Häuser der Heilung. Uskav brauchte nicht lange zu suchen. Naszbrak war gerade damit beschäftigt die Genesungsfortschritte der Schwerstverletzten zu kontrollieren. Wenn die Ärzte der Häuser anfangs Vorbehalte gegen den Uruk hegten, hatte sich ihre Meinung inzwischen um 180 Grad gedreht. Noch nie hatte man in so kurzer Zeit so viel Wissen über Orkwaffen und die Heilung der von ihnen verursachten Verletzungen gelernt.

»Naszbrak, wir müssen reden!«

Der Tonfall ließ keinen Spielraum für Interpretation. Uskav meinte es ernst, todernst und Naszbrak parierte, sofort. Mit einem entschuldigenden Nicken verließ er den kleinen Trupp Pfleger und Ärzte, die ihn bei seiner Visite begleitet hatten, und folgte Uskav in ein kleines Krankenzimmer das gerade ungenutzt war. Uskav schloss die Tür.

»Prasak und die anderen können sich nicht daran erinnern, dass Brazzak sie in die Schlacht geführt hat. Sie wissen auch nichts vom shadow wedsch

Obwohl nicht als Frage formuliert, war der Satz eine Frage, die Naszbrak nur zu gut verstand: Warum kannst du dich an alles erinnern?

»Ja, ich wusste, dass die anderen unter einem Bann standen«, gestand der Uruk leise.

»Nett, dass ich das auch noch erfahre!«, schrie Uskav wütend, »Dir ist schon klar, wie das jetzt aussieht? Wenn du nicht unter dem Bann standst, wer sagt mir dann, dass du nicht für den Bann verantwortlich bist? Sag mir, wie soll ich dir jetzt noch vertrauen?«

»Was willst du jetzt tun? Mich foltern, bis ich etwas sage, das du für die Wahrheit hältst?«

»Warum glaubt heute eigentlich jeder, dass ich wild auf foltern bin?«

»Du bist doch noch ein Uruk, oder?«

Die Frage hätte man als Beleidigung interpretieren können und hätte bei Uskav auch eine entsprechende körperliche und für Naszbrak überaus schmerzhafte Reaktion ausgelöst, wäre da nicht der unsichere Unterton gewesen, der das »Du« wie ein »Wir« klingen ließ.

»Ja …«, antwortete Uskav dann auch sehr zögerlich, während er die Schutzhülle einer Injektionsnadel entfernte, die er sich kurz vor dem Gespräch mit Nazsbrak besorgt hatte.

»Entschuldige, aber ich kann kein Risiko eingehen!«

Mit großen, überraschten Augen starrte Naszbrak auf die Spritze, die plötzlich ziemlich unerwartet in seiner Schulter steckte. »Was …?«, war alles, was er noch sagen konnte, bevor er augenverdrehend das Bewusstsein verlor und zusammen sackte. Uskav fing ihn auf und legte ihn auf eines der Krankenbetten.

»Ihr sorgt mir für Naszbrak?«

Die rhetorische Frage galt dem Stationsarzt.

»Selbstverständlich. Doch …«, zögerte der Arzt seine Frage zu stellen.

»Du willst wissen, warum?«

»Ohne Naszbrak hätten wir etliche Patienten nicht retten können. Wenn wir ihn jetzt im künstlichen Koma halten sollen, wüsste ich gerne warum.«

»Er stand nicht unter dem Bann!«, erläuterte Uskav und erntete einen fragenden Gesichtsausdruck, »Naszbrak scheint, so wie ich, sich seiner mentalen Fesseln entledigt zu haben. Deswegen wirkte der Bann bei ihm nicht. Allerdings trau ich dem Frieden nicht. Es könnte ein Trick sein. Eine weitere List des Gegners. So eine Art Plan B für den Fall, dass der Angriff auf Daelbar scheitern sollte.«

»Langsam ahne ich, worauf du hinaus willst. Vermutest du, dass sich ein Dämon in ihm versteckt?«

»Es wäre nicht das erste Mal. Überleg doch mal. Ein Uruk, der seine Fesseln abschüttelt, gegen seine Vorgesetzten aufbegehrt und seine Freiheit einfordert. Würden wir so jemanden nicht mit offenen Armen empfangen?«

»Und Naszbrak weiß gar nicht, dass vielleicht ein Dämon in ihm steckt?«

»Ich wusste es auch nicht«, erwiderte Uskav, »Der machte sich erst in Gilfeas Nähe bemerkbar und wollte dann meinen Willen übernehmen und als das nicht gelang, versuchte er mich zu töten. Deswegen muss Naszbrak solange im Koma bleiben, bis Gilfea wieder in hier ist! Wenn wir ihn retten wollen, dürfen wir nicht riskieren, dass ein Dämon die Kontrolle über ihn erlangt.«

Ausgeflogen

»Natürlich war er unschuldig, aber wir haben ihn trotzdem hinrichten lassen.«
»Der Grund? Staatsräson! Wir konnten unmöglich zulassen, dass Zweifel an den Ermittlungsmethoden der Lordanwaltschaft aufkamen.«

Lordrichter Mortimer von Eichheim während einer geheimen Anhörung zum Fall »Heinrich von Gaul«

»Nichts!«

Diese Antwort bezog sich auf die »Verdammte Scheiße«. Die Halle war leer, vollkommen leer. Zumindest sah es so aus. Die Halle war dunkel, bis auf ein paar Orientierungslichter, die aber nicht wirklich in der Lage waren, die Dunkelheit zu vertreiben.

»Ihr seid zu spät«, schallte plötzlich eine bekannte Stimme durch die Halle. Im gleichem Moment flammten Lichtbänder an der Decke auf, begleitet von einem satten Klack, als der dazugehörige Schalter umgelegt wurde. Innerhalb weniger Sekunden war die Halle taghell erleuchtet, was an ihrem Zustand nichts änderte. Sie blieb leer.

»Ich habe euch erwartet«, bemerkte Uskol und tauchte aus einer Nische auf, »Ich wusste, dass ihr hier auftauchen würdet.«

Der Leutnant der Wache wirkte frustriert. Etwas unsicher durchquerten wir die Halle und gesellten uns zu Uskol, dem freien Uruk und Geliebten Golfindels.

»Du hast uns erwartet?«, fragte Ole ungläubig.

»Natürlich. Vergesst bitte nicht, dass ich ein Polizist bin«, begann Uskol, »Nachdem der widerliche Turm fiel, war es nur eine Frage der Zeit, dass ihr hier aufkreuzt. Und als ich dann auch noch erfuhr, dass jemand intensives Interesse an den Grundrissen des Werksgeländes von Boldin Dynamics hegte, war alles klar.«

»Und jetzt, willst du uns verhaften?«, fragte ich.

»Nein. Wozu? Weil ihr in eine leere Werkshalle eingedrungen seid«, Uskol schüttelte seinen Kopf, »Ich sollte euch wohl eher danken. Ich wurde befördert und bin jetzt Hauptmann der Wache. In den letzten Tagen sind Köpfe gerollt. Jemand ist dabei mit einem eisernen Besen aufzuräumen. All die Typen, die meine Untersuchungen behindert oder sogar unterbunden haben, wurden abgelöst. Jetzt verlangt man von mir, alle alten Fälle wieder aufzurollen. Ich vermute, dass mir wenig Zeit bleibt, wirklich etwas zu bewegen. In ein paar Wochen werden wieder die alten Seilschaften greifen und mir das Leben schwer machen. Wenn ich jemandem auf die Füße treten wollte, dann sofort. Und so trat ich Boldin Dynamics auf die Füße und beantragte einen Durchsuchungsbeschluss für dieses Werksgelände. Es gab Hinweise darauf, dass Obdachlose und verurteilte Kleinkriminelle in den Barad Baul verschleppt wurden und Mitarbeiter Boldins daran beteiligt waren. Tja, und das hier fand ich vor: Eine leere Halle! Die Ratten sind ausgeflogen und haben alles mitgenommen.«

Wir sahen uns um. Die Halle war wirklich komplett leer. Abdrücke auf dem Boden ließen erahnen, wo vormals schwere Objekte gestanden haben mochten. Doch ansonsten herrschte gähnende Leere. Das dachte ich jedenfalls, bis mein Blick auf Ivo fiel. Der hatte seine Augen geschlossen und hielt seinen Kopf schief, als würde er lauschen.

»Es war hier!«, flüsterte mein Drache. Tränen sickerten ihm aus den Liedern, »Das Blut meiner Mutter war hier!«

Sekunden später riss sich Ivoricald die Kleider vom Leib, womit er drei lüsterne Blicke erntete.

»Hey!«, kicherte die Echse gequält, während er von seiner menschlichen in seine Drachenform wechselte, »Meine Sinne sind als Drache schärfer.«

Ivo begann in der Halle umher zu hopsen. Gelegentlich blieb er stehen, schloss wieder seine Augen und lauschte. Ich weiß nicht, ob Ole oder Uskol es sehen geschweige denn deuten konnten, doch Ivos Mimik sprach von Schmerz und Qualen.

»Hier fanden abscheuliche Dinge statt«, flüsterte Ivo, während wir schweigend und regungslos seinem Weg durch die Halle mit unseren Blicken folgten, »Qualen und Verzweiflung. Menschen haben hier ihr Leben gelassen, man hat es ihnen aus dem Leib gerissen.«

Mein Drache wanderte umher, schnupperte, strich mit seinen Klauen über den Boden und Dinge, die er nur in seinem Geist sah. Was war mein Drache nur für ein Wesen, dass er zu so etwas fähig war? Würde ich Ivo jemals wirklich verstehen können?

»Ja, dass kannst du!«, war Ivo plötzlich in meinem Kopf, »Du bist meine Seele, die Essenz dessen was ich bin. Ich habe und ich werde dich nie hintergehen oder etwas vor dir verheimlichen. Ich kann dir zeigen, was hier geschehen ist. Doch bist du sicher, dass du es willst? Es ist grausam, abscheulich, lebensverachtend.«

»Zeig es mir!«

Ivoricalad, der Drache aus Kristall, zeigte mir, was sich in der Werkshalle Boldin Dynamics ereignet hatte. Ich sah mit seinen Augen, blickte durch einen bläulichen Dunst in die Vergangenheit und wünschte mir, es nicht gesehen zu haben.

»Segato!«, riefen Ole und Uskol.

Ich brach zusammen, sackte auf die Knie und übergab mich. Während meiner Zeit in der Gildeschule Crossars habe ich hunderte Sprachen gelernt, in der Drachenreiterschule kamen weitere dazu, doch keine, absolut keine verfügte über Worte, um den Schrecken und die Abscheulichkeit dessen, was ich sah, zu beschreiben.

Langsam kam ich wieder zu mir. Zitternd und am ganzen Körper bebend, rollte ich mich auf den Rücken und schnappte nach Luft.

»Es war richtig, dass du es mir gezeigt hast«, flüsterte ich in menschlicher Sprache. Ich meinte, was ich sagte. Denn ich wusste plötzlich, wofür ich, wir, die Drachen, meine Freunde, Daelbar und alle Mächte des Guten kämpften. Ivo hatte mir einen kurzen Blick in eine Welt gezeigt, in der das namenlose Böse regiert.

»Die Kristalle des Barad Baul ernähren sich von Lebensenergie«, begann ich zu erklären, »Man hat Splitter des Turms wie Setzlinge eines Baums vermehrt. Die verschwundenen Menschen dienten als Nahrung.«

»Aber der Barad Baul ist tot«, entgegnete Ole, »Die Setzlinge müssten mit ihm gestorben sein.«

»Nein!«, ich schüttelte meinen Kopf, »Sie haben sie verändert. Das Blut eines Drachens, das Blut Mithvals und Ivos Mutter, schenkte ihnen Leben – Antileben!«

Ole Olson schüttelte frustriert seinen Kopf: »Dann war alles umsonst?«

»Nein!«, donnerte Ivos Stimme laut in der Halle, »Wir haben den Barad Baul besiegt, Tharbad ist frei, Daelbar vor seiner Vernichtung bewahrt und das wichtigste, wir haben verhindert, dass das namenlose Böse aus seinem Gefängnis in unsere Welt übertreten konnte. Wir haben einen Sieg errungen. Was auch immer der Feind plant, es weiß nun, dass er einem wehrhaften Gegner gegenüber steht. Nichts war umsonst! Alles andere als das! Versteht ihr nicht? Die Halle ist leer! Der Feind ist geflüchtet. Ich glaube nicht, dass ihre Arbeit bereits abgeschlossen war. Wir …«

Ivo stutzte, hielt kurz den Kopf schief, schaute sich um und hoppste plötzlich in eine entfernte Ecke der Halle. Wir folgten ihm. Die Halle war nicht leer. Jedenfalls nicht ganz. Vor uns auf dem Boden lag ein kleiner durchsichtiger Kristallwürfel. Er besaß bestenfalls eine Kantenlänge von einem Zentimeter.

»Hallo, wen haben wir denn da?«, meinte Ivo.

»Meinst du, man kann ihn berühren?«, fragte ich vorsichtig.

»Ja!«, erwiderte Ivo, »Er strahlt weiße Magie aus, ganz schwach und auch erst seit ein paar Momenten. Man könnte meinen, dass er von uns gefunden werden wollte.«

Ich hob ihn auf. Er lag schwer, deutlich schwerer, als seine Größe vermuten ließ in der Hand. Den normalen Gesetzen der Optik folgte das kleine Würfelchen nicht. Seine auf Hochglanz polierten Seitenflächen blitzen, doch das war es nicht, was mich stutzen ließ. Viel mehr erinnerte das Material an die Schuppen meiner geliebten Echse.

»Was ist es?«, fragte Uskol.

»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete ich zögerlich, »Eine Art Kristall …«

»Vielleicht ein Datenkristall?«, schlug Ole Olson vor.

»Nein, das glaube ich nicht. Moment mal …«

Ich schaute mir den Würfel aus der Nähe an und hielt ihn dabei gegen das Licht der Hallenbeleuchtung. Im ersten Moment passierte nichts, doch dann entdeckte ich eine feine Reflektion im Kristall und schaute näher hin. Ich musste den Würfel direkt vor mein Auge halten, bis ich erkennen konnte, um was es sich handelte. Es war keine Reflektion sondern eine Schrift, ein Text, der tief im Kristall zu schweben schien. Es waren nur zwei Worte, doch die hatten es in sich.

»Boldin lebt!«


»Das ist doch Quatsch!«, war Sumans erste Reaktion wurde dann aber unsicher, »Es ist doch Quatsch, oder? Ich meine, wir, Segato und ich haben seine Leiche selbst gesehen.«

Wir waren zu unserem Unterschlupf zurückgekehrt und hatten Uskol mitgenommen. Ivo war der Meinung, dass man dem Uruk trauen konnte, was von Mithval später bestätigt wurde.

»Vielleicht …«, griff Erogal Sumans Frage auf und wandte sich Ole zu, »Ole, erinnerst du dich an das Attentat auf die Friedensverhandlung in Crossar?«

»Das Double!«, rief der große Neovikinger wie von der Tarantel gestochen und erklärte uns unwissenden erst einmal, was es mit dem Double auf sich hatte.

»Oh dieser Misthund! Hat sich mit einer inszenierten Ermordung einfach aus dem Staub gemacht!«, schloss Ole seinen Bericht.

»Der Mord war nicht inszeniert. Markendorfer hat mir gegenüber zugegeben, Szwang, Boldin und Vaughan ermordet zu haben«, wandte Suman ein.

»Vielleicht war der Dämon in Markendorfer doch nicht so schlau, wie wir alle dachten. Vielleicht ahnte Boldin, dass Markendorfer sein unnatürliches Ende plante.«

»Hm«, murmelte Ole, »Dann hätte ich da wohl doch noch einen Auftrag zu erfüllen.«

»Aber nur, wenn ich ihn nicht vor dir erwische!«, mischte sich Uskol ein, »Nach allen Beweisen, die mir bisher vorliegen, könnte der Generalkronanwalt Boldin mehrfach zum Tode verurteilen lassen. Angefangen bei Freiheitsberaubung, über Mord, unberechtigtes Foltern, Verschwörung, Hochverrat, Steuerhinterziehung, Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz, unregistrierte Anwendung schwarzer Magie und wenn ich noch etwas nachdenke, kämen bestimmt noch ein paar weitere Anklagepunkte hinzu.«

»Und du glaubst ernsthaft, dass es jemals zu einer Anklage kommt?«, wandte Erogal D’Santo ein.

»Wie sagt ihr Menschen so treffend: ›Die Hoffnung stirbt zuletzt.‹«

Dieser Uruk verblüffte mit einem erstaunlichem Realitätssinn. Die Wahrscheinlichkeit Boldin, sollte er tatsächlich noch unter den lebenden weilen, jemals vor den Schranken eins Goldorianischen Gerichts zu sehen, war astronomisch gering. Er setzte sogar noch einen drauf.

»Vielleicht hab ich Glück und er widersetzt sich der Verhaftung.«

Uskol war ein erschreckend lieber Kerl. Er verfügte über einen hinterhältigen Witz, besaß Charme und war, ähnlich Uskavs, verdammt intelligent. Mit ihm als neuen Hauptmann der Wache durften die Ganoven und Halunken Tharbads nichts mehr zu lachen haben. Offenbar meinte es Zacharias von Rochsinasul III ernst, als er meinte, die Stadt mit dem eisernen Besen auszukehren. Interessant wäre zu wissen, ob dem Spionagechef bewusst war, dass Uskol ein Ork war, der sich seiner geistigen Versklavung entledigt hatte. Richtig romantisch wurde Uskol, wenn er von Golfindel sprach. Dann strahlten seine Augen und der Uruk bekam einen versonnen, verträumten Gesichtsausdruck.

»Wir werden morgen abreisen. Uskol, du und Golfindel, ihr seid unsere Freunde. Diese Freundschaft würden wir gerne mit euch feiern. Jetzt!«

»Jetzt?«, fragte der Uruk erstaunt, »Wie?«

»Es ist dunkel, aber noch nicht so spät, dass wir nicht feiern könnten. Ich könnte zu ihm fliegen und im Schutz der Nacht hierher holen. Gibt es einen Ort in der Nähe der Herberge, an dem ich unbemerkt landen kann?«

»Ja, den gibt es. Direkt hinter dem rückwärtigem Gebäude gibt es ein kleines Wäldchen mit einer Lichtung.«

Damit war alles geklärt. Uskol wählte sich in das lokale Fernsprechnetz Tharbads ein und teilte Golfindel mit, dass ihn ein monströser schwarzer Drache in ein paar Minuten abholen würde. Natürlich sagte er dies nicht mit normalen Worten. Ganz im Gegenteil klang das Gespräch wie einer der polizeilichen Kontroll- und Meldeanrufe mit denen Golfindel regelmäßig terrorisiert wurde. Später erklärte uns Uskol, dass er und sein Elb sich einen Heidenspaß daraus gemacht hatten, in diese Gespräche geheime Botschaften zu integrieren. So konnten sie sich jederzeit unterhalten, ohne dass jemand Verdacht schöpfte, dass zwischen Elb und Uruk mehr war als die übliche herzhafte Abneigung zueinander.

Eine halbe Stunde später stand ein glücklich strahlender Elb in unserer Mitte. Und wieder zeigte sich, wie unerwartet zärtlich Uruks wirklich sein konnten. Nachdem Ivo, Uskol und ich Golfindel mit dem Rest der Truppe bekannt gemacht hatten, hockten wir wie am Tag zuvor in einem Kreis aus Drachen auf dem Boden. Uskol nahm sich seines Elbens an, schlang seine kräftigen Arme um ihn und hielt ihn auf sanft, beschützende Art. Golfindel wiederum ließ sich ganz in die Umarmung seines Uruks sinken. Es war ein ermutigender Anblick, der die Hoffnung in uns allen weckte, dass eines Tages die Abstammung, Rasse oder Herkunft keine Rolle darin spielen würde, wen wir lieben.


Wir unterhielten uns die ganze Nacht. Golfindel konnte es sich nicht verkneifen, zwei Flaschen elbischen Weins seines Geheimvorrats unserer kleinen Feier beizusteuern. Zwar verursachte dieses Getränk keinen Kater, ungefährlich war es trotzdem nicht, denn es lockerte die Zunge und baute Hemmungen ab. Unser Fest mündete zwar nicht in einer zügellosen Orgie, doch zeigten wir recht deutlich, wen wir liebten. Und obwohl weder Anger, Ole, Sebastian noch Erogal jemanden hatten, den sie liebten, waren auch sie glücklich. Elbenwein ist eben ein recht ungewöhnliches Getränk.

Es wurde eine wundervolle Nacht. Golfindel und Uskol erzählten, wie sie zueinander gefunden hatten. Es begann mit einer Polizeikontrolle. Uskols Wachtrupp kontrollierte, wie bestimmt hunderte Male zuvor, Golfindels Herberge, ließ sich die Meldezettel aushändigen. Dass man dabei den Elb nach Herzenslust schikanierte, bedrängte und zwischen den Orkwachen hin und her schubste, gehörte einfach dazu. Von Orks erwartet man nichts anderes. Uskol, als Uruk und Anführer der Truppe hielt sich etwas zurück, denn auch das erwartete man von einem Uruk. Doch an jenem denkwürdigen Tag lief alles anders.

Es fing damit an, dass bereits seid frühestem Morgen die Luft brannte. In Tharbad war mal wieder Messe, die Herberge bis auf die letzte Badewanne ausgebucht, selbst in den Ställen schliefen einige Gäste im Stroh. Die Küche kam kaum mit dem Frühstück nach. Eigentlich lief alles glatt. Eigentlich, doch gehörte es in Goldor zum guten Ton, Elben zumindest mit Herablassung wenn nicht sogar mit Verachtung zu behandeln. Es kam, wie es kommen musste, die Situation eskalierte. Während die einen nach ihrem Frühstück verlangten, wollten andere unbedingt auschecken, einchecken oder ihre Koffer auf ihre Gleiter gepackt haben und zwar alles sofort. Bei beschränktem Personal ein Ding der Unmöglichkeit. Die entsprechenden Bemerkungen und Beleidigungen ließen nicht lange auf sich warten, angefangen bei inkompetentem Elbenpack bis hin zu erbärmlicher Schwanzlutscher.

In diese aufgeheizte Stimmung platzte Uskols Truppe und fand einen überforderten Elben vor, der mit den Meldescheinen nicht hinterher kam. Das reichte den Orks. Von den Gästen angestachelt, nahmen sie sich Golfindel vor. Die Orks schlugen über die Stränge. Golfindel wurde verletzt.

»Es reicht!«, brüllte Uskol, der dem Treiben anfangs noch wohlwollend zugesehen hatte. Schließlich waren Elben Abschaum, wie jeder wusste. Und gerade als Uruk pflegte er eine gar leidenschaftliche Abneigung Elben gegenüber. Doch was seine Orks trieben, ging zu weit. Golfindel mochte ein Elb sein, aber er war auch ein Bürger Goldors, zahlte seine Steuern und hatte sich eigentlich nichts zu schulden kommen lassen, von ein paar schlampig ausgefüllten Meldescheinen einmal abgesehen. Uskol war Polizist. Seine Aufgabe bestand darin, dem Gesetz des Königs Geltung zu verschaffen und das konnte er schlecht, solange er es selbst mit Füßen trat.

»Es reicht!«, brüllte Uskol erneut und packte den Elben am Kragen. Die Gäste der Herberge schauten irritiert drein, weil sie nicht wussten, was dieses plötzliche Ende der Unterhaltung bedeutete. Die Orks von Uskols Truppe wirkten dagegen eher beleidigt, dass man ihnen ihr Spielzeug weg nahm.

»Räumt hier auf!«, befahl Uskol in einem Tonfall, dass jeder der ihn hörte innerlich stramm stand, »Wenn ich wieder komme, herrscht hier Ordnung. Szrabak, du nimmst die fehlenden Anmeldungen auf! Inzwischen werde ich mich mal mit diesem Elben unterhalten.«

Der Ausdruck in den Fratzen der Orks war eindeutig, sie waren neidisch und sauer auf ihren Chef. Erst nahm er ihnen den Elb weg, jetzt wollte er sich auch noch allein mit ihm amüsieren. Uruk sollte man sein.

»So, und du kommst jetzt mit!«, knurrte Uskol, krallte sich Golfindel und zog ihn quasi am Schlafittchen ins Büro der Herberge, dessen Tür krachend hinter ihm ins Schloss fiel.

Das Büro? Ein hochtrabender Begriff für einen Raum, der bestenfalls als Kammer durchging. Ein kleiner Schreibtisch, eine Leseleuchte mit echen Elbenlichtern, ein Stuhl und ein Schrank war alles, was man als Einrichtungsgegenstand zählen konnte. Daneben gab es noch eine kleine Nische mit einem Waschbecken und einem Spiegelschränkchen. So spärlich der Raum ausgestattet war, Golfindel reichte es für seine Arbeit.

»Oh Mann, die Jungs haben dir ordentlich zugesetzt!«

Bestimmend und kräftig, aber eigentlich nicht wirklich grob wurde Golfindel auf dem Bürostuhl platziert. Der Elb wirkte ruhig und gefasst, nur seine großen Augen zeigten einen Anflug von Unsicherheit und Furcht. Was wollte dieses Monster von einem Uruk von ihm. Hatten ihm seine Schergen nicht schon genug angetan? Golfindel blutete. Fiese Schnittwunden verunzierten Stirn, Arme und Brust. Ein »Gast« war der Meinung gewesen, mit einer abgebrochenen Glasflasche auf ihn losgehen zu müssen.

Uskol schnappte sich ein sauberes Handtuch, das er im Spiegelschränkchen fand und machte es nass. Ohne weitere Worte von sich zu geben und seine Handlungen zu erläutern, begann er Golfindel das Blut abzuwaschen und die Wunden zu reinigen. Der Uruk wusste, dass das, was er tat, weh tun musste, doch der Elb verzog keine Miene.

»Zieh dein Hemd aus!«

Golfindel gehorchte und hockte Sekunden später mit entblößtem Oberkörper vor einem mit einem nassen Handtuch bewaffneten Uruk. Uskol schluckte. Dieser Elb war verachtenswert. Alle Elben waren verachtenswert. Sie waren weichliche Memmen. Uskol wusste, warum Elben sich niemals wehrten. Weil sie schwach waren. Geborene, schwächliche Verlierer! Nur, warum sah dieser Elb so ganz anders aus? Noch nie war Uskol einem Elben derart nahe gekommen, wie in jenem Moment in der Bürokammer. Golfindels Körper sah alles andere als schwächlich aus. Ja, der Elb war von schlanker Statur, langgliedrig und voller erhabener Anmut, die zwangsweise Ekel auslösen musste. Doch schwach? Dieser Elb war muskulös. Uskol hätte nie erwartet, bei einem Elben ein Sixpack zu entdecken. Und ein Verlierer? Golfindels Gesichtsausdruck sprach eine deutlich andere Sprache. In seinem Blick lag eine kalte Entschlossenheit, die Uskol frösteln ließ. Wider aller Vernunft musste sich der Uruk eingestehen, dass er Golfindel begann zu respektieren.

»Hast du was zum desinfizieren? Pflaster?«

»Im Spiegelschrank, oberstes Fach!«

Die Stimme. Elben besaßen glockenhelle Stimmen voller Klarheit. Golfindels besaß eine derart scharfe Klarheit, dass man mit ihr Stahl schneiden konnte. Uskol zuckte unwillkürlich zusammen.

»Das wird jetzt etwas brennen!«, verkündete der Uruk bevor er die Wunddesinfektion auftrug.

Golfindel zuckte mit keiner Wimper. War dieser Elb wirklich so hart? Uskol wagte einen genaueren Blick. Eigentlich war es das erste Mal, dass er sich einen Elben wirklich ansah, genau ansah und dabei über die Klischees, mit denen er erzogen wurde, hinweg sah.

Schon die erste Erkenntnis stellte alles auf den Kopf: Elben waren nicht schwach. Sie waren anders, deutlich anders, aber auf keinen Fall schwach. Was man als Schwäche interpretierte, war ihre elegante, sanftmütige Erscheinung, doch das war ein Trugbild. Uskol kannte Orks, die wesentlich schwächer waren, als dieser Elb vor ihm. Er war sogar davon überzeugt, dass es dieser Elb locker mit mehreren Orks aufnehmen konnte und dabei nicht als Verlierer enden dürfte. Uskol begriff plötzlich, dass der Elb die ständigen Angriffe und Schikanen nicht erduldete, sondern einfach an sich abprallen ließ. Golfindel ließ sie nicht an sich heran. Er wusste, wer er war. Dieser Elb besaß Selbstachtung, um die ihn Uskol beneidete.

»Es tut mir Leid!«

Die vier Worte hingen wie Fremdkörper im Büro. Weder Uskol noch Golfindel wollten glauben, dass der Uruk sie tatsächlich gesagt hatte. Verstört sah man sich gegenseitig an.

»Warum tust du dir das eigentlich an?«, fuhr Uskol fort, nachdem Golfindel schwieg, »Ich meine, die Herberge zu bewirtschaften. Wenn man mich so behandeln würde wie dich, ich hätte längst hingeschmissen.«

»Als wenn ich eine Wahl hätte«, knurrte Golfindel wenig freundlich.

»Was soll das heißen?«, wollte Uskol wissen, den das unwirsche Auftreten des Elben gleichzeitig erstaunte und beeindruckte.

»Du hast keine Ahnung, oder?«, fragte der Elb mit sarkastischem Tonfall in der Stimme.

»Nein!«

»Du glaubst, ich mach das hier freiwillig?«, Golfindels Worte trieften nun vor Sarkasmus, »Klar, wir Elben sind alle total devote Schwuchteln. Ja, ich finde es total befriedigend, beleidigt, schikaniert, rumgestoßen, tyrannisiert, gedemütigt und geschlagen zu werden!«

»Man zwingt dich?«, Uskol war ehrlich entsetzt.

»Wow, da bin ich ja an einen Blitzmerker geraten!«

»Nicht frech werden, ja!«

»Schon klar«, knurrte Golfindel, »Von der Demonstration staatlicher Macht habe ich für heute genug.«

Dieser Elb war anders als Uskol erwartet hatte. Er war aggressiv, zynisch, alles andere als unterwürfig oder servil, beherrscht, selbstbewusst, wachsam und aufmerksam; alles Charaktereigenschaften, die Uskol niemals bei einem Elben erwartet hätte. Auf der anderen Seite, kannte er Elben überhaupt? Alles was er über Elben wusste, stammte aus Büchern oder dem Unterricht seiner alten Schule. Alles Quellen, die sich nicht durch sonderliche Objektivität auszeichneten. Persönlich war Uskol noch nie ein Elb begegnet. Tharbad war nicht unbedingt als Elbenmagnet verschrieen.

»Ich will dir nichts tun …«, murmelte Uskol ungelenk. Je mehr er Golfindel betrachtete, desto unsicherer wurde der Uruk. Ein seltsames Verlangen keimte in ihm auf und wurde so stark, dass Uskol gar nicht merkte, wie er seine Hand ausstreckte, um Golfindel zu berühren. Der nackte Oberkörper des Elben weckte Gefühle der Zuneigung und des Verlangens in Uskol. Dieser Golfindel war begehrenswert, attraktiv und besaß eine latent erotische Ausstrahlung, der sich Uskol kaum entziehen konnte.

»Man hat mich zwangsverpflichtet«, erläuterte Golfindel, der Uskols ausgestreckte Hand zwar bemerkt hatte, sie aber ignorierte, »Niemand will in dieser Einöde einen Gasthof betreiben. Jeder potentielle Pächter sprang ab, kaum dass er hörte, wo sich diese Herberge befand. In Tharbad selbst wäre für viele noch gegangen, aber nicht mitten in der Wildnis vor der verfluchten Stadt. Da man niemanden fand, der die Aufgabe freiwillig übernehmen wollte, entschied man jemanden zwangszuverpflichten, nämlich mich.«

»Aber, wie? Ich kenne das Reichsgesetz zum Schutz des Elbentums. Niemand …«

»Ich habe keine Sippe. Nicht hier, nicht in Goldor«, unterbrach Golfindel, »Das Gesetz besitzt eine Hintertür, durch die man mich zwingen konnte, diese Aufgabe anzunehmen. Da ich keiner Sippe angehöre, kann ich in keinem Reservat leben. Der Ältestenrat würde es nicht dulden und nach elbischem Recht dürfte er es auch nicht. Also, großer Leutnant der Wache, wenn du dich so gut mit den Reichsgesetzen Goldors auskennst, was sagt es über Elben ohne Reservatszugehörigkeit aus?«

Uskol schaute beschämt zu Boden und begann zu zitieren: »Elben ohne Stammes- oder Sippenzugehörigkeit kann Wohnort und Arbeit auch gegen ihren ausdrücklichen Willen zum Schutz des Elbentums und kulturellen Identität zugewiesen werden. « Uskol schluckte, ein bitterer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus: »Aber das verdreht den Sinn des Gesetzes!«

»So, tut es das?«, fragte Golfindel ähnlich bitter.

»Ja!«, ein unbekannter Gerechtigkeitssinn war in Uskol entflammt, »Dich zu zwingen diesen Gasthof zu führen … Das ist Willkür!«

»Ho, ho ho, mein ungestümer Uruk!«, ein Lächeln huschte über Golfindels Gesicht. Aus einem unerfindlichen Grund begann er den Uruk zu mögen. Sein Gerechtigkeitssinn war einzigartig und sehr erfrischend. Offenbar nahm er seinen Beruf sehr ernst, vielleicht zu ernst. Goldor im Allgemeinen und Tharbad im Besonderen war kein Ort, der ein klares, vorurteilsfreies und insbesondere objektives Gerechtigkeitsempfinden sonderlich goutierte. Golfindel fühlte sich verpflichtet, Uskol vor einer größeren Dummheiten zu bewahren: »Du solltest wissen, dass ich meine momentane Tätigkeit dem ausdrücklichen Wunsch des königlichen Präfekten der Stadt Tharbad verdanke. Wenn ich mich nicht irre, unterstehen die Hauptmänner der Wache seinem direkten Befehl.«

Entgegen landläufiger Vorurteile war Uskol alles andere als dumm und verstand sofort, was ihm der Elb sagen wollte. Ein Hinterfragen des »Arbeitsverhältnisses« brächte vermutlich nichts als Ärger, für beide, Uskol und Golfindel.

»Lass es gut sein, mein urukscher Freund!«, meinte Golfindel lächelnd, »Ich hätte es schlimmer treffen können. Hier bin ich mein eigener Herr, selbst meine Angestellten respektieren mich, solange ich ihnen ihr Gehalt zahle. Na ja, eigentlich respektieren sie mich nicht und nennen mich einen elbischen Geizkragen, aber egal. Ich habe ein Dach über dem Kopf und ich glaube, dass ich gute Arbeit leiste.«

Im nachhinein wusste Uskol nicht, welcher Teufel ihn ritt. Er folgte nur einem Impuls, einem Verlangen, das sich nicht unterdrücken ließ. Ein Mensch hätte wohl gesagt, er wäre seinem Herzen gefolgt. Uskols Hand schnellte vor und berührte Golfindels Brust. Es war nur eine leichte, ganz sanfte Berührung, ein vorsichtiges Streicheln, doch es reichte, dass Uskol Golfindel verfiel. Die Haut des Elben war so überirdisch lebendig, wie es sich Uskol in seinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt hätte. Es fühlte sich an, als ließe man seine Hand über ein goldenes Weizenfeld wandern, aber auch wie Wasser eines kühlen Gebirgsbach oder der Moosboden eines uralten Waldes.

»Ich bin Uskol, ein Uruk und ich bin frei. Ich habe mich meiner geistigen Versklavung entledigt und ich gehöre dir!«

Der Uruk sprach die Wahrheit. Golfindel sah es in seinen Augen, hörte es in seiner Stimme, dass Uskol die Wahrheit sprach. Doch mit diesem Geständnis riskierte der Uruk alles, was er besaß, sein kostbarstes Gut, seine Freiheit.

Doch Uskol war noch nicht fertig. Er kam erst richtig in Fahrt: »Elb, du verwirrst mich. Obwohl ich dich erst seit ein paar Minuten kenne, fühle ich mich zu dir hingezogen. Muss wohl ein Fehler in meinem Zuchtprogramm sein, aber ich begehre dich. Von Sekunde zu Sekunde verfalle ich dir mehr, seelisch und körperlich, auch wenn dies eigentlich unmöglich ist und nicht sein darf. Wie auch immer …«, mit einem Ruck zog Uskol seine Hand von Golfindels Brust zurück. Er hatte sich, kurzfristig, wieder unter Kontrolle gebracht und schaute unsicher und traurig zu Boden, »Ich werde dafür sorgen, dass die Übergriffe der Wache aufhören.«

»Warte!«, rief Golfindel und packte Uskols Handgelenk, »Deine Hand … Sie fühlte sich gut an. Deine Kraft und Stärke, dein Vertrauen in mich … Das alles fühlte sich gut an und ich wünsche mir mehr. Möglich, dass es nicht sein darf, aber Verbote haben mich noch nie aufgehalten.«

Wenn er ruhig darüber nachdachte, konnte Golfindel keinen sachlichen oder vernünftigen Grund dafür nennen, warum ausgerechnet ein Uruk seinen emotionalen Panzer brach, den er sich in Jahrzehnten endloser Frustration zugelegt hatte. Dieser Uruk war wild, voller animalischer Ungezähmtheit, kräftig, angefüllt mit kaum zu bändigender Energie und gleichzeitig intelligent, einfühlsam, aufrichtig, selbstlos und offenherzig. Alles zusammen vereinigte Uskol Attribute in sich, die Golfindel schwach werden ließen.

»Sag mir Uskol«, begann Golfindel, während er dem Uruk tief in die Augen schaute, »Was möchtest du lieber? Mich küssen oder mir den Kopf abbeißen!«

Die Antwort kam geflüstert und voller Sehnsucht: »Dich küssen!«

Heimreise

»Fliegen? Nach Sex die schönste Nebensache der Welt«

Segato G’Narn

Wir waren gelinde gesagt sprachlos. Uskols und Golfindels Geschichte war einzigartig, auch wenn es kleine Parallelen zu Uskavs gab. Doch das zwei so völlig unterschiedliche Wesen in einer derart feindlichen Umgebung wie Tharbad zueinander gefunden hatten, war mehr als ermutigend. Vielleicht bestand doch noch Hoffnung für den Sieg des Guten in der Welt.

Natürlich war die Beziehung der beiden alles andere als permanente romantische Verzückung. Ganz im Gegenteil verlangte der Zwang zur Geheimhaltung den beiden einiges ab. Uskol hasste es, sich gegenüber Golfindel wie der letzte Orkabschaum verhalten zu müssen und Golfindel hasste es, sich gegenüber Uskol devot und unterwürfig zu verhalten. Es war eine ständige Gratwanderung, die mehr als einmal fast in einem Absturz geendet wäre. So platzte einer von Uskols untergebenen Orks genau in dem Moment in Golfindels Büro, als man mit dem Austausch von Zärtlichkeiten beschäftigt war. Nur die schnelle Reaktion des Elben rettete die Situation, in dem er Uskol ein »Schlag mich!« zuraunte.

»Du jämmerliche Elbenschwuchtel!«, fauchte Uskol und langte zu, dass Golfindel halb durch den Raum flog, wofür er sich und seinen Job hasste. An jenem Abend heulte sich Uskol in den Schlaf. Wieso konnte er nicht offen zu seiner Liebe stehen?

Doch manchmal kommt es vor, dass Schlimmes zu Gutem führt. So auch in diesem Fall. Als Uskol das nächste Mal Golfindel unter dem Vorwand einer Polizeikontrolle besuchte, zeigte ihm sein Freund wozu Elben fähig waren. Er bat Uskol ihm zu folgen, führte ihn in den hinteren Teil des Haupthauses und öffnete dort eine Tür. Ein kleiner Raum, nicht mehr als eine Besenkammer war zu sehen. Der Raum verfügte über eine zweite Tür, die Golfindel öffnete, um zu zeigen, dass sie ins Freie führte. Dann schloss er beide Türen, legte seine Hand auf den Knauf der Außentür und sprach ein paar elbische Worte. Als er sie erneut öffnete, staunte Uskol nicht schlecht. Vor seinen Augen erstrahlte Golfindels Wohnung im sanften, warmen Schein etlicher Elbenlampen.

»Willkommen in meinem kleinen Reich.«

»Das ist deine Wohnung?«, Uskol schaute sich ungläubig um, »Wo? Wie?«

»Ist es wichtig, wo wir uns befinden?«

Uskol schüttelte seinen Kopf: »Nein, ist es nicht. Das einzige, was zählt, ist, dass ich bei dir sein kann.«


Uskols und Golfindels Geschichte fesselte uns so sehr, dass wir darüber völlig die Zeit vergaßen. Die Dämmerung eines neuen Tages brach an und wir hockten immer noch zusammen und lauschten den Abenteuern der beiden Freunde. Doch der Zeitpunkt Abschied von unseren Freunden zu nehmen rückte unaufhaltsam näher. Kurz vor Sonnenaufgang fühlten wir, dass sich unsere Eskorte Tharbad näherte. Wenig später setzten Lindor, Caransil und Kifilan zusammen mit ihren Seelen, Egmont, Thonfilas und Roderick zur Landung an.

Roderick und Thonfilas staunten nicht schlecht, dass es mehr als einen Uruk gab, der sich in einen Elben verliebt hatte. Überhaupt zeigten sich unsere Freunde ziemlich überrascht, wen wir während unserer Abwesenheit alles aufgesammelt hatten: Einen jungen Neovikinger, der Drachenreiter werden wollte, einen Neovikinger und einen Gildemeister, die recht unerwartet Drachenreiter wurden und einen Exkleriker, der nicht so recht wusste, was er eigentlich vom Leben erwarten durfte.

»Ich glaube, ihr habt uns einiges zu berichten«, fasste Thonfilas die allgemeine Stimmung zusammen.

»Ihr wohl aber auch«, entgegnete Gilfea, »Wie schlimm steht es um Daelbar?«

Ein Schatten legte sich auf die Gesichter der Freunde. Roderick räusperte sich: »Daelbar wurde gerettet, doch der Preis war hoch, sehr hoch.«

Wir verstanden.

»Freunde«, begann Thonfilas, »Ich möchte nicht drängeln, aber wir sollten aufbrechen. Die Jungdrachen können noch nicht zwischen den Welten fliegen, so dass wir für unsere Rückreise gut zehn Tage benötigen werden.«

Innerhalb einer Stunde waren wir abflugbereit. Die Drachen waren gepackt, unsere Route geplant und mit allen besprochen. Was übrig blieb, war, sich von Golfindel und Uskol zu verabschieden. Niemand hatte etwas für rührselige Abschiedsszenen übrig, was hieß, dass sich der Abschied eher skurril gestaltete. Allen voran packte sich Ivo in seiner Drachengestalt Uskol und bedachte ihn mit einer Reihe recht intensiver Zärtlichkeiten, die man nur als Uruk ohne körperlichen Schaden zu nehmen überstand.

»Ivo ist wirklich ein Fall für sich!«, meinte Golfindel zu Thonfilas.

»Oh, du hast keine Ahnung!«, stöhnte Thonfilas gespielt genervt, »Pass auf deinen Uruk gut auf. Bei aller äußeren Rauheit, im ihrem Inneren steckt unendlich viel Güte und Liebe.«

»Ich weiß«, Golfindel grinste breit, »Ich habe nicht vor, Uskol gehen zu lassen.«


Wenige Minuten später befanden wir uns in der Luft. Schiefergrau und Anger flogen bei Gilfea auf Mithval mit, Ole bei Thonfilas, Erogal und Sebastian bei Roderick. Die Sulozwillinge waren einfach noch zu jung, um die ganze Zeit Ole und Erogal tragen zu können. Selbst ich war mir nicht sicher, ob ich die ganze Zeit über mithalten konnte. Bisher hatte ich eigentlich nur kurze Flüge absolviert. Stundenlang in der Luft zu hängen war neu.

»Keine Angst, wir werden versuchen, so gut wie möglich Thermik zu nutzen. Mithval und Lindor haben die Route so geplant, dass jeder damit klarkommen sollte. Trotzdem, wenn du nicht mehr kannst, sag Bescheid und wir landen.«

Es war nicht nötig. Mithval hielt direkt auf den Gebirgszug zu, der von Tharbad entlang der Küste bis weit hoch zum Pass der silbernen Schatten, der Heimat von Schiefergraus Sippe, verlief. Fliegen ist wundervoll. Die Flügel ausbreiten und einfach dahingleiten. Der Seewind sorgte für eine konstante Thermik. Von gelegentlichen Korrekturschlägen abgesehen, zogen wir ohne größere Kraftanstrengung unsere Bahnen. Wir kamen schnell voran. Bereits zu unserem ersten Stopp hatten wir das Herrschaftsgebiet Goldors hinter uns gelassen. Am späten Abend wollten wir Erzsee erreichen.

»Heute Abend siehst du deinen Vater wieder«, wandte sich Gildofal an Anger, unseren jungen Neovikinger, »Bist du dir sicher, dass du weiter mit uns kommen und ein Drachenreiter werden willst?«

Wir Seelen hockten alle zusammen in einem Kreis, die Drachen, von mir einmal abgesehen, lagen am Stand und dösten vor sich hin. Anger kaute gerade ein belegtes Brot, als Gildofal ihn nach seinen Zukunftsplänen fragte. Er mochte noch jung sein, aber deswegen war Anger noch lange nicht impulsiv und wankelmütig. Er war ein Neovikinger und hielt wie alle Neovikinger an Zielen fest, die er einmal ins Auge gefasst hatte.

»Ja, ich bin mir sicher. Ich möchte gerne ein Drachenreiter werden. Zweifelst du, dass ich es schaffe oder würdig bin?«

»Nein! Nein!«, rief Gildofal abwehrend, »Ich zweifle überhaupt nicht an dir. Und ob du würdig bist, können nur die Drachen entscheiden. Ich frage dich nur, ob dir klar ist, welche Entscheidung du triffst. Hast du Geschwister?«

»Ja, eine jüngere Schwester und zwei ältere Brüder.«

»Du weißt was passiert? Wenn ein Drache dich erwählt, wirst du lange, sehr lange leben. Du wirst zusehen müssen, wie deine Geschwister älter werden und am Ende dahinscheiden, während dich das Alter kaum berühren wird. Und solltest du dich in eine Sterbliche verlieben, dann wird es dir das Herz brechen. Ich habe es gesehen und es machte mich traurig. Drachenreiter zu sein, heißt sich für ein anderes Leben, ein Leben abseits der Sterblichen zu entscheiden. «

»Ich verstehe«, erwiderte Anger bedächtig, »Aber ihr, ihr Drachenreiter, würdet ihr nicht meine Familie werden?«

»Ja, das würden wir. Wenn du es möchtest«, lächelte Gildofal.


Nach gut eineinhalb Stunden Pause, in der wir uns erholten, etwas aßen und unsere Gelenke lockerten, erhoben wir uns wieder in die Lüfte. So sehr mir die Fliegerei gefiel, auf Dauer wurde es langweilig. Flügel ausgebreitet halten, ab und zu mal die Lage korrigieren und ansonsten nichts tun. So blieb mir massenweise Zeit, über alles mögliche nachzudenken, zum Beispiel über Drachenflügel. Ich muss gestehen, dass mich der Gedanke, den ganzen Weg zurück nach Daelbar mit eigenen Flügeln fliegen zu müssen, ein klein wenig beunruhigte. Wer seine Arme schon mal längere Zeit ausgestreckt waagerecht gehalten hat, weiß, was ich meine. Ich war fest überzeugt, mich nach spätestens einer Stunde mit einem Flügelkrampf in den Boden zu bohren. Ein bisschen mehr Vertrauen in Drachenphysiognomie und Aerodynamik wäre angebracht gewesen. Von wegen Flügelkrampf. Nicht ich trug die Flügel, sondern die Flügel trugen mich und das auf eine sehr entspannte Weise.

»Segato, mein Freund, meine Seele, ich freue mich auf den Tag, an dem wir zusammen zwischen den Welten fliegen werden. «

Im richtigem Moment das richtige Wort. Ivo war nicht einfach nur mein Drache, er war wirklich ein guter Freund. Statt stur der Route zu folgen begann Ivo mit mir Manöver zu üben. Wir jagten über das Meer, flogen so knapp über der Wasseroberfläche, dass wir mit unseren Klauen hindurch fahren konnten. Kaum sahen die Sulozwillinge, was wir taten, flogen sie uns hinterher. Aber nicht, um sich unserem Spiel anzuschließen, sondern die von uns aufgescheuchten Fische zu fangen und anschließend zu verschlingen.

Der Tag zog sich hin. Am Nachmittag legten wir eine zweite Pause ein. Dieses Mal gönnten wir uns gleich zwei Stunden Pause. Die ganze Fliegerei war auf Dauer einfach sehr ermüdend. Es dürfte daher auch niemanden überraschen, dass wir nach einem kurzen Snack eindösten. Nur Mithval blieb wach und übernahm die Wache. Er war es dann auch, der uns alle nach reichlich zwei Stunden wieder weckte. Die letzte Etappe stand uns bevor und wir waren alles andere als erholt. Trotzdem erhoben wir uns wieder in die Lüfte.

Im Gegensatz zu meinen drei Freunden kannte ich Erzsee natürlich noch nicht und war entsprechend enttäuscht. Ich wusste zwar nicht so genau, was ich eigentlich von einer Gold- und Mithrilgräberstadt erwartet hatte, aber ein Haufen Bretterbuden war es nicht. Vielleicht war Bretterbude auch ein wenig übertrieben. Erzsee bestand aus teilweise grobschlächtigen Holzhäusern, aber es waren immerhin Häuser.

Im Gegensatz zum ersten Besuch landeten wir direkt vor der Stadt und gaben uns keinerlei Mühe die Drachen zu verstecken. Ivo und ich verwandelten uns in Menschen und betraten, zusammen mit unseren Freunden, gegen Abend die Stadt. Die Sonne war gerade damit beschäftigt besonders spektakulär hinterm Horizont zu versinken, als Gilfea, Gildofal, Suman, Ivo und ich, sowie Anger Sörens Ausrüstungshaus betraten. Ole, Roderick, Thonfilas, Erogal und Sebastian begleiteten uns nicht sondern organisierten geeignete Nachtquartiere.

»Anger!«, schallte uns eine überglücklich klingende Stimme entgegen, die, wie Gilfea Ivo und mir erklärte, zu Palle, Angers Vater, gehörte.

»Paps!«, erwiderte Anger und stürmte auf seinen Vater zu, um von diesem in den Arm genommen zu werden.

»Ähm …«, räusperte sich Gilfea leicht verlegen, »Wie versprochen, bringen wir dir deinen Sohn wohlbehalten zurück.«

»Gilfea! Gildofal! Es freut mich, euch unversehrt wieder zu sehen. Darf man vermuten, dass einer der Herren neben euch jener Freund ist, den ihr gesucht habt?«

»Ja, da vermutet ihr richtig«, Gilfea deutete auf Suman, »Darf ich euch unsere Freunde Suman K’Tar, Segato G’Narn und Ivoricalad vorstellen.«

»Ivo ist ein Drache!«

In den letzten Tagen hatten wir Anger als vollwertiges Mitglied unserer Truppe betrachtet und darüber völlig vergessen, dass er eigentlich noch ein Junge war. Dies wurde uns erst wieder überdeutlich klar, als wir ihn zusammen mit seinem Vater sahen.

»So, ist er das?«, fragte Palle freundlich lächelnd nach.

»Ähm …«, stammelte Ivo. Ich wollte es kaum glauben, aber meine Echse wurde leicht rot, »Ich …«

»Er kann seine Gestalt ändern«, erläuterte Anger ganz aufgeregt, »Er ist Segatos Seele.«

Auch ich lief rot an. Mir war es nicht peinlich ein Drachenreiter zu sein, aber Angers Begeisterung für uns machte mich ein klein wenig verlegen.

»Und, beabsichtigt ihr lange in Erzsee zu bleiben?«, fragte Palle.

»Nur für die Nacht. Wir werden dringend in Daelbar erwartet«, erläuterte Gildofal.

»Ich verstehe.«

»Paps …«, setzte Anger an. Ich ahnte, was kam und wünschte mich weit, weit fort. Dies war eine Unterhaltung, die Vater und Sohn allein miteinander besprechen sollten, doch verstand ich Anger Beweggründe uns dabei haben zu wollen.

»Ich möchte Gilfea, Gildofal, Suman, Segato und Ivo begleiten und Drachenreiter werden«, enthüllte Anger, ohne dabei auch nur einmal Luft zu holen.

Die Katze war aus dem Sack. Unsicher, fast ängstlich, starrte Anger seinen Vater an. Der verzog keine Miene und schien nur nachzudenken.

»Paps, bitte, sei mir nicht böse, auch nicht auf Gilfea und seine Freunde. Es ist meine Idee. Niemand hat versucht, mich anzuwerben. Bitte, Paps, bitte, es ist …«

»Ich bin dir nicht böse«, unterbrach ihn Palle, »Ich habe nur eine Frage: Bist du dir ganz sicher, dass es das ist, was du willst, dass du nicht nur einer fixen Idee, einer Laune folgst?«

»Ich bin mir sicher«, erklärte Anger ruhig und mit ernster Stimme, »Ich möchte ein Drachenreiter werden.«

Palle tauschte mit uns mehrere fragende Blicke aus: »Wusstet ihr davon?«

»Ja, ich wusste es und habe mit Anger darüber gesprochen«, meinte Gildofal, »Ich habe ihn auch gefragt, ob er sich sicher ist, ob er es wirklich will. Es ist keine leichte Entscheidung, Drachenreiter zu werden.«

»Gut!«, verkündete Palle entschlossen, »Ich habe schon geahnt, dass du diesen Weg beschreiten willst. Seit Jahren verschlingst du alles, was mit Drachen zu tun hat. Anger, du bist mein Sohn und ich liebe dich. Ich freue mich für dich. Ganz ehrlich gesagt, bin ich sogar froh, dass du aus diesem Loch, das sich eine Stadt schimpft, raus kommst. Daelbar … Ich kann es kaum fassen, mein Sohn wird ein Drachenreiter!«

Damit war das Eis gebrochen. Sohn und Vater fielen sich mit Tränen in den Augen in den Arm. Anger fiel ein Mühlstein vom Herzen. Wie er später verriet, hätte er Erzsee niemals ohne den Segens eines Vaters verlassen.

»Ihr versprecht mir, dass ihr auf meinen Sohn gut Acht gebt!«


Mit Erzsee verließen wir die Bereich größerer Ansiedlungen. Weiter nördlich auf unserem Weg erwarteten uns nur kleine Fischerdörfer, jenseits des Gebirges waren die Lande unbewohnt. Erst mit Daelbar kehrte die Zivilisation in die Landschaft zurück. Unser nächster Fixpunkt hieß aber nicht Daelbar, sondern Silberfels und seine Meute, die den Pass der silbernen Schatten und den dort verborgenen Kristall bewachten.

Sie waren verschwunden.

Gilfea und Mithval führten uns direkt zum Pass und den geheimen Höhlen, doch niemand war zu sehen. Die Unterkünfte verlassen und leer, deutete nichts darauf hin, dass noch vor wenigen Wochen an gleicher Stelle das Leben pulsierte. Suman und Gildofal hatten sich in Wölfe verwandelt und liefen, zusammen mit Schiefergrau, das Gelände ab.

»Nichts!«, erklärte Suman verwirrt.

»Was ist mit dem Kristall in der geheimen Höhle?«, fragte Gilfea.

Er ahnte wohl schon, dass zwischen dem Verschwinden der Wölfe und dem Kristall ein Zusammenhang bestand. Die ehemals von seinen Adern erhellten Wohnhöhlen waren dunkel, so dass wir Lichter benötigten, um den Weg zu finden. Langsam tasteten wir uns voran, ohne recht zu wissen, was uns erwartete. Gildofal hatte mir von der großen Halle erzählt in dessen Zentrum sich der große leuchtende Kristall befand.

Er war erloschen. Was ehemals hell erstrahlte, glimmte nur noch schwach. Der aus Kristalladern gefertigte elbische Text, der die Höhlenwände bedeckte, war verschwunden. Erst als wir uns mit unseren Elbenlichtern dem fast erloschenen Kristall nährten, flammte dieser leicht auf, feine Adern erglühten und ein einzelner Satz erschien auf einer der Wände.

»Was steht da?«, fragte ich Gildofal. Eigentlich war ich des elbischen durchaus mächtig, doch diese Schriftvariante war mir unbekannt.

»Der Freunde vier …«, entzifferte unser Elb leise. Seine Lippen bewegten sich, während er versuchte den Text zu übersetzten.

»Er spricht von sich und von uns«, erklärte Gildofal schließlich, »Seine Aufgabe sei erfüllt, seine Beschützer sind weitergezogen, um sich neuen Aufgaben zuzuwenden. Wir, die vier einander liebenden Freunde, hätten unsere erste Prüfung bestanden. Doch was für die Wölfe gilt, gilt auch für uns. Es gibt weitere Prüfungen, andere Aufgaben, die uns bevorstehen.«

Daelbar

»Die Würde des Menschen ist unantastbar. Allerdings behalten Wir uns vor, festzulegen, wer ein Mensch ist.«

Päpstin Paula Sylvestra II

Neun Tage in der Luft. Neun Tage fliegen. Neun Tage zogen wir über endlose Landschaften dahin. Entlang der Küste, einen Gebirgspass hindurch, über kalte Stein- und Sandwüsten, endlose dichte Wälder, Wiesen und Moorlandschaften. Wir flogen bei strahlendem Sonnenschein, bei Wind und bei Regen. So viel Spaß mir das Fliegen machte, ich war müde. Wir alle wurden müde. Jede Rast wurde ein bisschen länger, jeder Aufbruch fiel ein wenig schwerer. Wir waren erschöpft. Wir schlugen Abends unser Lager auf, aßen etwas und fielen todmüde in unser Nachtlager.

Doch dann war es soweit. Gegen Mittag des zehnten Tages seit unseres Aufbruchs aus Tharbad, erreichten wir die südlichen Ausleger der Gebirgsrücken, die das Tal Daelbars bildeten. Wir hatten vieles erwartet, doch nichts bereitete uns auf das vor, was sich vor unseren Augen auftat.

Wir schauten auf ein geschundenes, vergewaltigtes Land. Wo hunderttausende Orks entlang marschierten, wuchs nichts mehr. Ein ehemals lebendiges, saftig grünes Tal erschien nun schmutzig braun und schlammig vor unseren ungläubigen Augen. Das Gras, niedergetrampelt, Büsche und kleinere Bäume überrannt. Überall lagen zurückgelassene grobschlächtige Waffen herum. Bei diesem Anblick schnürte sich mein Hals zu. Daelbar, was erwartete uns in Daelbar?

Je näher wir unserer geliebten Stadt kamen, desto beängstigender wurde der Eindruck, den das Land unter uns erweckte.

»Bei allen Drachen«, drückte Gilfea unser aller Gefühle aus, »Was hat man diesem Land angetan?«

Schweigend, still und von Traurigkeit erfüllt setzten wir unseren Flug fort. Hatten wir etwas anderes erwartet? Wie anders hätte ein Land aussehen können, dass hunderttausende Orks ertragen musste?

»Die Stadtmauer!«, rief Suman.

Sie war verschwunden. Dort, wo die Stadtmauer einmal stand, war nichts mehr, außer eines grauen Streifen schmutzigen Gerölls. Doch direkt vor der ehemaligen Mauer mussten die Verwüstungen ihr Maximum gefunden haben. Wir blickten auf ein Schlachtfeld. Frisch aufgeschichtete Hügel ließ ahnen, wo die Opfer ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Man konnte sehen, dass unsere Freunde die schlimmsten Spuren des Kriegs beseitigt hatten. Doch trotzdem, die Spuren waren nicht zu übersehen. Natürlich lagen keine Leichen herum. Doch zu Glas verschmolzenes Gestein zeigte, wo Drachenfeuer gewütet hatte.

»Freunde, willkommen zurück!«

Mir wären fast die Tränen gekommen. Nein, mir kamen die Tränen. Da lag sie, Daelbar, die Heimstadt der Drachen. Die goldene Kuppel des Rats strahlte in der Mittagssonne. Was allerdings für die spontane Feuchtigkeit meiner Augen sorgte, waren die vierzig Drachen zusammen mit ihren Reitern, die anlässlich unserer Rückkehr erschienen waren. Uskav, natürlich auf Narsul, führte des Begrüßungskomitee an.

Außer den drei Worten zur Begrüßung wurde kein Wort gewechselt. Schweigend wurden wir zur großen Halle des Rates der Stadt Daelbar geleitet. Wir waren müde, wir waren erschöpft und wir stanken. Zehn Tage in der freien Natur hatten ihre Spuren hinterlassen. Doch Dusche und Bett mussten warten.

Wir landeten. Wie jedes Mal, wenn ich das große Tor der Ratshalle durchschritt, überwältigte mich die konzentrierte magische Aura dieses Ortes. Ein Gebäude, angefüllt mit Drachen, betrat man nicht, ohne von deren Präsenz beeinflusst zu werden.

Mir war gar nicht bewusst, dass ich nicht als Segato der Mensch sondern als Segato der Drache das Plenum betrat. Die letzten sieben Tage war ich in meiner Drachengestalt verblieben. Nach einem Tag fliegen war ich einfach zu müde, um mich zurück zu verwandeln und mir für ein paar Stunden am Abend menschliche Kleidung über zu ziehen. Selbst Suman hatte nichts gegen meine Faulheit einzuwenden und schlief während der Nach geschützt unter meinen Flügeln. So bemerkte ich zwar, dass ein Raunen durch die Reihen der Ratsmitglieder ging, doch kam ich nicht auf die Idee, dass es mir galt.

»Freunde«, begann Uskav als Präsident der freien Drachenrepublik Daelbar, »Danke!«

Applaus brandete auf und ich verstand nicht, wieso. Schön und gut, wir waren nach ein paar Wochen Abwesenheit nach Daelbar zurück gekehrt und hatten auch einiges erlebt, doch deswegen solch ein Brimborium zu veranstalten, empfand ich doch als arg übertrieben und wenn ich die Gesichter meiner Freunde betrachtete, dann war ich damit nicht der einzige.

Als Drache betrachtet man Drachen mit anderen Augen. Als Narsul sich erhob und das Wort ergriff, musste ich schlucken. Uskavs Mädchen war eine Sexbombe. Diese feuerrote Drachendame dürfte noch so mancher Echse den Kopf verdrehen und wenn ich Mithvals lüsternes Hecheln richtig interpretierte, zeichnete sich bereits ein erstes Opfer am Horizont ab. Was für ein Glück, dass ich nicht beabsichtigte, mich mit weiblichen Drachen in sexuelle Abenteuer zu stürzen.

»Ihr schaut verwirrt?«, begann Narsul, »Ihr fragt euch, was uns dazu bewogen hat, euch diesen Empfang zu bereiten?«

Wir nickten unsicher. Thonfilas und Roderick hatten uns über alle Details der Schlacht vor Daelbar informiert und dabei insbesondere auch Uskavs Rolle herausgestellt. Wenn jemand einen feierlichen Empfang verdient hätte, dann wohl unser geliebter Uruk. Ohne Uskav wäre Daelbar in Schutt und Asche versunken.

»Ihr habt Daelbar gerettet. Ohne euren Kampf gegen die Abscheulichkeit des Barad Bauls gäbe es kein Daelbar mehr. Wir alle stehen tief in eurer Schuld.«

»Nein!«, ich weiß nicht, welcher Teufel mich ritt, aber ich musste Narsul unterbrechen und das Wort ergreifen, »Wir sind keine Helden. Ich bin es auf keinen Fall! Dummheit hat mich aus Daelbar fliehen lassen und hat meine Freunde in Gefahr gebracht. Dabei habe ich die meiste Zeit über nicht gewusst, was ich eigentlich tat. Der Barad Baul? Ja, er war eine Abscheulichkeit und, so wie es jetzt aussieht, ein Quell des Bösen. Aber dass wir gegen ihn kämpften, war Zufall. Unser Ziel war, Suman zu retten. Doch wenn es jemand gibt, den man ehren sollte, dann kenne ich jemanden, der alles für Daelbar gab. Uskav, deine Kraft, deine Stärke und Weisheit hat Daelbar gerettet, während wir ahnungslos durch Tharbad stolperten und einfach nur Glück hatten.«

»Danke, Segato, aber wir irren uns alle«, begann Uskav, »Du meinst, ihr wärt nur ahnungslos durch Tharbad gestolpert? Gut, ich habe nur das getan, wozu ich ausgebildet wurde. Ich habe getötet, ich habe tausende Orks eigenhändig erschlagen und weitere zehntausende wurden auf meine Befehle hin getötet. Ich schäme mich nicht, es getan zu haben, aber ich bin auch nicht stolz darauf. Es war ein Teil des Preises, der gezahlt werden musste, um Daelbar vor seiner Vernichtung zu schützen.«

Täuschten wir uns oder quollen Uskav Tränen aus den Augen? Der Uruk schluckte, stockte und brauchte ein paar Momente, um sich zu sammeln.

»Es gibt jemanden, den ich über alles verehre. Turondur! Toldin! Wo immer ihr seid, euer Opfer war nicht vergebens. Wir stehen tief in eurer Schuld.«


»Viel zu theatralisch!«

»Und so undrachenmäßig!«

»Eben, einfach total humorfrei!«

»Und unerträglich rührselig.«

Wenn auf eins Verlass war, dann auf den unerschütterlichen Humor unserer Echsen. Turondur, Toldin und allen anderen Opfern der Schlacht zu gedenken war eine Sache, daraus eine tränengetränkte Seelenentblößung zu machen eine andere, eine, auf die sich kein Drache jemals einließ. Wenn die geschuppten Viecher etwas verabscheuten, dann Trübsal, um des Trübsals willen. Natürlich hatten auch sie ihre melancholischen Momente, doch darüber verloren sie nie ihren Witz und ihre absolute Hinterfotzigkeit.

»Hallo Leute?«, rief Narsul in die Runde, »Man könnte meinen, die Orks hätten gesiegt und euch alle erschlagen! Freut euch! Wir leben! Daelbar lebt und wird wachsen. Los, raus aus dieser trüben Halle und ab an die frische Luft! Feiert, lebt, liebt!«

Dieser Aufforderung war nichts hinzuzufügen. Drache, Mensch, Zwerg, Elb, Uruk oder Gnom, wir strömten hinaus. Und kaum, dass uns die Strahlen der Sonne berührten, erwachte eine tiefe innere Fröhlichkeit in uns. Die Müdigkeit, die mir eben noch von der tagelangen Fliegerei in den Knochen steckte, war verschwunden. Zusammen mit meinen Freunden Suman, Gilfea und Gildofal stand ich an der Brüstung in der Nähe der Startrampe und schaute über Daelbar.

Die Stadt pulsierte. Sie bebte voller Leben. Den Himmel bevölkerten Drachen. In den Straßen und Gassen herrschte hektisches Treiben.

»Ich bin froh, wieder zu Hause zu sein«, meinte ich leise.

»Zu Hause!«, kam es gleichzeitig von meinen drei Freunden. Wir schauten uns an, nickten uns zu und grinsten.

»Versprichst du uns, niemals wieder solch einen Alleingang zu unternehmen?«, fragte Gilfea, wobei er mich sehr verliebt betrachtete.

»Um mir nochmals vor dem gesamten Rat Asche aufs Haupt zu streuen?«, erwiderte ich grinsend, wurde dann aber ernst, »Nein, nie wieder. Ich habe die Folgen meines Handelns nicht bedacht. Wegen meiner Dummheit wäre Suman fast zu Tode gekommen. Ich habe einen Fehler gemacht. Immerhin habe ich etwas daraus gelernt: Freundschaft heißt seine Sorgen teilen zu können. Ich hätte wissen müssen, dass ich nicht allein gegen die Omegadirektive hätte antreten müssen. Zusammen sind wir stärker als jeder einzelne von uns. Vielleicht war das die Aufgabe, die wir lernen mussten.«

»Das und dass du als Drache wirklich süß aussiehst«, meinte Suman und grinste breit.

»Was?«, ich schaute an mir herunter, »Oh, ähm … Nun ja …«, mein Grinsen wurde frecher und wesentlich breiter als Sumans. Ich entblößte zwei Reihen messerscharfer Zähne, »Mag sein, dass ich vergessen habe, mich zurück zu verwandeln. Dafür müsst ihr erst noch eure Echsen ranpfeifen, während ich mir endlich ein Bad gönne!«

Die Protestschreie wurden in dem Maß leiser, wie die Distanz zwischen dem Rat und mir wuchs. Ich steuerte direkt unsere gemeinsame Drachenhöhle an, sparte mir jegliche Flugakrobatik und landete in weniger als einer Minute vor dem Tor des Kuppelbaus.

»Guten Tag, ehrenwerter Drache, mein Name ist Marco T’Pan. Ich bin der Major Domus dieses Hauses und heiße euch herzlich im Gildehaus zu Daelbar willkommen.«

»Marco, ich bin’s, Segato!«, bremste ich unseren Empfangschef aus, erntete allerdings einen sehr verwirrten Ausdruck, »Es ist eine lange Geschichte und ja, ich kann mich jederzeit zurück in einen Menschen verwandeln.«

»Ähm, und warum …«

»Siehst du irgendwo Kleidung an meinem Körper?«

»Oh!«

Ein zufälliger Beobachter Szene würde später zu berichten haben, dass ein junger Mann, der Kleidung nach zu urteilen ein Gildebruder, mit hochrotem Kopf einem recht kleinen Drachen das Tor zu einer großen Drachenhöhle öffnete. Wenig später lag ich glücklich und zufrieden in einer der Wannen des großen Badesaals und genoss, wie das warme und mit aromatischen Kräutern versetzte Wasser meinen müden Glieder gut tat.

»Du hast gemogelt!«, hörte ich Suman wenig später nörgeln.

»Yupp!«, gab ich zu und öffnete müde ein Auge, »Los Jungs, die Wannen warten. Ich war so frei, euch ebenfalls ein Bad einzulassen.«

»Dann sei dir verziehen!«, kommentierte Gilfea, während er sich in das dampfende Nass hineingleiten ließ, »Oh, Segato, du bist ein Schatz. Nach zehn Tagen auf Mithvals Rücken ist dies eine Wohltat.«

»Ah«, kam es von Suman, der sich ebenfalls in einer Wanne niedergelassen hatte, »Gesegnet seien die Errungenschaften der Zivilisation. «

»Wisst ihr eigentlich, wie lange wir vier nicht mehr so zusammen waren?«, gab Gildofal als Frage aus. Täuschte ich mich oder flackerte da eine leichte Lüsternheit in den ach so harmlosen Augen des Elben auf.

»Wow!«, rief Suman, »Denkt ihr auch gerade an das, was ich denke unser lieber Elb gerade denkt?«

»Ja, natürlich!«, kam es von Gilfea und mir.

»Tingalen bekommt einen Wachstumsschub!«, bemerkte Suman knapp.

»Shit!«, erklang es dreimal als Antwort, »Wann?«

»Nicht heute Nacht …«, Suman grinste uns zu, »Wenn ihr nicht zu müde seid, würde ich gerne die Nacht mit euch verbringen. Oh, ihr habt keine Ahnung, wir sehr mir unser Sex gefehlt hat!«

»Eindeutig, ein klassischer Fall precrescerer Geilheit. Tingalen bekommt einen Wachstumsschub. «, kommentierte Gilfea.

»Und was kann man dagegen tun?«, fragte ich.

»Was schon, dem Verlangen nachgeben natürlich!«

Wir badeten relativ gelassen zu Ende, wenn sich auch eine gewisse erotische Spannung in der Luft nicht ganz bestreiten ließ. Der Badesaal befand sich im untersten Stockwerk des Gästehauses, so dass wir sämtliche Stockwerke bis zu unserem privaten Wohntrakt durchqueren mussten. Vermutlich war unser aller Verstand durch die aufwallende Lüsternheit benebelt, andernfalls wären wir wahrscheinlich nicht halb nackt, dass heißt nur mit um die Hüften gewickelte Handtücher die Gänge entlang gewandert. Irgendwie hatten wir immer noch nicht realisiert, dass wir ein Gästehaus betrieben, was bedeutete, dass in den Gästezimmern Gäste logierten. Dass wir uns vielleicht ein wenig zurückhalten sollten, dämmerte mir erst, als uns Ole Olson begegnete, der sich auf dem Weg zu seinem Apartment befand und es zu einem befremdlichen Moment kam, als sich Oles und Sumans Blicke trafen. Ole starrte Suman an, betrachtete ihn, wurde leicht rot, beschleunigte darauf hin seinen Schritt und eilte deutlich traurig mit gesenktem Blick an uns vorbei. Ich hörte Suman schlucken.


»Ihr habt keine Ahnung, wie sehr mir eure Nähe gefehlt hat, wie sehr ich eure Liebe vermisste.«

Dieses Geständnis war nicht nur absolut ehrlich gemeint, sondern brannte so sehr in meiner Seele, dass ich es einfach rauslassen musste.

»Näher kann man dir wohl auch kaum kommen«, kicherte Gildofal hinter mir und drückte seinen pulsierenden Schwanz noch etwas tiefer in mich hinein. Dieser Elb entwickelte manchmal einen wirklich hinterhältigen Humor.

»Komm, mach den Mund auf, ich möchte dir auch etwa näher kommen.«

Manchmal überraschte es mich, wie versaut Gilfea sein konnte. Natürlich folgte ich seiner Aufforderung, öffnete meine Lippen und ließ seinen Schwanz in meinen Mund gleiten. Während mich noch Gildofal anal und ich Gilfea oral verwöhnte, ruhten meine Hände auf Sumans Brust und streichelte sie. Mein Schatz hatte es sich auf meinem Schwanz gemütlich gemacht und versuchte nun einen gemeinsamen Rhythmus mit Gildofal zu finden.

»Was ich dich schon die ganze Zeit fragen wollte«, begann er und drückte sich noch etwas fester gegen meine Lenden, »Wie bist du eigentlich zum Drachen geworden.«

»Ich habe mit Ivo geschlafen«, antwortete ich mental, schließlich soll man mit vollem Mund nicht sprechen, »Er hat mich nach allen Regeln der Kunst verführt und das nur, um ein, wie er sagte ›magisches Proteinpäckchen‹ in mir abzulegen. Ihr seid mir hoffentlich nicht böse, dass ich …«

»Quatsch!«, unterbrach mich Suman, griff nach meinen Brustwarzen und fing an sie zu zwirbeln, »Allein der Gedanke ist geil! Du hast quasi mit dir selbst geschlafen.«

»Ihr habt keine Ahnung! Ivo hat mich selbst durch seine Augen dabei zusehen lassen.«

»Krass!«, stöhnte Gilfea, löste sich von meinen Nippeln, packte meinen Kopf und stieß mit seinen Schwanz tiefer zu, auf dass seine Eichel in meinen Rachen glitt.

»Jungs! Ihr seid … fantastisch!«

»Schön!«, meinte Gildofal und steigerte Frequenz und Amplitude mit der er mich überaus geil penetrierte, »Wir waren der Meinung, dass wir deine Rückkehr am besten damit feiern, dass wir dich ordentlich durchficken.«

»Entschuldige bitte unseren vulgären Elben, aber du hast uns wirklich gefehlt«, ergänzte Gilfea. Statt meinen Kopf mit seinen Händen zu halten, begann er mich nun zu streicheln, »Wir lieben dich, Segato. Wir haben uns verdammte Sorgen um dich gemacht. Du gehörst zu uns. Wir vier sind eine Familie!«

»Entschuldigt, bitte. Ich wollte euch nur schützen!«

»Entschuldigung angenommen!«, stöhnte Gilfea wild und stockend, »Und jetzt, schluck! Ich komme!«

Und genau das tat er. Gilfeas Sperma flutete meinen Mund. Sekunden später fühlte ich, wie Gildofal sich in mir entlud. Von einem Elben genommen zu werden war immer etwas besonderes. In mir breitete sich eine lustvolle, überwältigende Wärme aus, die mich selbst zum Höhepunkt trieb, so dass ich mich stöhnend und kraftvoll in Suman entlud. Der strahlte glücklich, packte seinen Schwanz und war mit zwei bis drei Strichen so weit, um mich mit seinem Saft zu begießen.

Manch einer mochte uns für vier versaute Drachenreiterjungs halten und hätte damit wahrscheinlich sogar recht. Gildofal schlüpfte aus mir raus und begann sofort Sumans Sperma von Brust und Bauch zu schlabbern. Gilfea bedeckte mich derweil mit sinnlichen Küssen, während Suman erschöpft von mir kletterte, sich neben mich legte und streichelte. Zufrieden, entspannt und ausgesprochen befriedigt zog ich die Bettdecke über uns. Eng aneinander gekuschelt dösten wir nach einer Weile ein.

»Ivo ist als Mensch wirklich ein attraktives Kerlchen«, meinte Suman etwas später, während er mich an Brust und Bauch streichelte.

»Und es macht euch wirklich nichts aus, dass ich schwach geworden bin?«

»Wie Suman so treffend meinte: ›Quatsch‹!«, versicherte Gilfea.

»Nebenbei, als Drache siehst du richtig knuffig aus«, wiederholte Suman eine Bemerkung, die er früher schon geäußert hatte, »Ich bin neugierig, habt ihr zwei eigentlich auch als Drachen …«

Ich brauchte nicht antworten, meine Gesichtsfarbe sprach Bände.

»Oh, du schlimmer Junge …«, lachte Gildofal.

»Hey, Ivo ist ein ganz lieber Kerl!«, versuchte ich eine Verteidigung.

»Klar!«, Suman zwickte mich in eine Brustwarze, »Wie ist denn Drachensex so?«

»Gegenfrage«, konterte ich und schaute von Suman zu Gildofal, »Wie ist denn Hundesex so? Aua!«

Für diese Bemerkung wurde ich doch glatt von zwei Seiten gleichzeitig gezwickt.

»Jungs«, mischte sich Gilfea ein, »Seid friedlich zueinander.«

»Ja, Papa!«, kam es aus drei Mündern retour.

Wir alberten rum, tauschten Zärtlichkeiten aus und genossen die körperliche Nähe der anderen. Ich war glücklich und hatte durchaus den Eindruck, dass es meinen Freunden genau so ging, ausgenommen vielleicht Suman, der nach einer Weile ernst wurde.

»Ich habe da ein Problem …«, begann mein Freund und schaute mir direkt in die Augen, »Eins, das mich aus meiner Vergangenheit eingeholt hat.«

»Du meinst Ole Olson?«, fragte ich ziemlich direkt nach. Suman nickte, blieb aber stumm, weswegen ich etwas sagte.

»Ich …«, setzte Suman an, doch ich unterbrach ihn, »Warte! Suman, Schatz, ich beobachte schon seit Tharbad, dass ihr euch, nun, sagen wir mal ›Gezielt aus dem Weg geht‹. Und obwohl ihr euch meidet, liegt ihr auf der Lauer, traut euch aber nicht, über euer Problem zu sprechen. Warum eigentlich? Es ist doch offensichtlich, dass ihr zwei immer noch etwas füreinander empfindet.«

»Aber ich bin jetzt mit euch zusammen«, erklärte Suman leise, »Ich bin total hin und her gerissen. Ich möchte eure Gefühle nicht verletzten, deine Segato, aber ich will auch Ole nicht weh tun.«

Ich drehte mich etwas, legte einen Arm um Suman und zog ihn zu mir heran: »Du hast ihn gemocht, sehr gemocht, oder? Damals in Xengabad, dass war mehr, als das Anzapfen einer Quelle, oder?«

Suman nickte, stumm.

»Dann geh zu ihm!«, sprach Gildofal aus, was ich dachte.

»Gildofal hat Recht!«, setzte ich nach, »Geh zu ihm. Ihr schuldet es euch gegenseitig, ehrlich und aufrichtig zueinander zu sein. Ole ist nicht nur ein sehr attraktiver Mann, er hat auch das Herz am rechten Fleck. Ich bin kein Experte in Drachenkunde, aber dass Sulomile ihn spontan und ohne Vorwarnung erwählte, spricht wohl Bände.«

»Aber was, wenn er …«

» …mit dir schlafen möchte?«, vervollständigte ich Sumans Frage. Er nickte.

»Ich weiß nicht …«, ich musterte Gilfea und Gildofal. Die beiden schienen den gleichen Gedanken zu verfolgen wie ich und nickten mir zu, fort zu fahren, »Sprich mit ihm und lass alles andere sich einfach entwickeln. Und vor allem, mach dir wegen uns oder wegen mir keine Sorgen. Gerade, wenn ihr beiden mehr als nur befreundet wart, wäre es weder Ole noch dir gegenüber fair, davon auszugehen, dass die Gefühle, die ihr füreinander empfunden habt, mit unserer Freundschaft oder der zu Gildofal und Gilfea einfach so verschwunden wären.«

»Ihr … Du bist nicht eifersüchtig?«

»Eifersüchtig wäre ich nur, müsste ich befürchten, dich zu verlieren«, ich zog Suman eng und fest an mich heran, »Suman, Schatz, ich liebe dich, doch du bist nicht mein Eigentum. Ich bin für jeden Tag dankbar, an dem du mir deine Liebe schenkst. Ich weiß, wann ich dich verlieren würde: Nämlich genau dann, wenn ich dir deine Freiheit nehmen, dich fesseln oder in deinen Entscheidungen einengen würde. Und da ist noch etwas: ich glaube nämlich, dass du, ich, wir vier füreinander bestimmt sind. Es ist unser Schicksal und Bestimmung, zusammen zu sein. Wie lange? Ich glaube, das könnte nicht mal Mithval sagen.«

»Danke Segato!«, erwiderte Suman und küsste erst mich, dann Gilfea und Gildofal, »Ich liebe euch.«


Am nächsten Morgen verwehrte man uns den Luxus nach Wochen der Hektik und Rastlosigkeit einfach mal ausschlafen zu können. Als erstes kreuzte Uskav in aller Frühe und noch vor dem Frühstück bei uns auf und bat Gilfea um einen nicht ganz ungefährlichen Gefallen. Nazsbrack, ein Uruk wie Uskav und wohl auch ein alter Bekannter von ihm, behauptete, sich ebenfalls von seinen mentalen Fesseln befreit zu haben. Uskav wünschte sich nichts sehnlicher, als dass diese Behauptung der Wahrheit entsprach, traute aber dem Frieden nicht. Naszgrback mochte glauben, dass er sich seiner Ketten entledigt hatte. Ob es tatsächlich so war, stand auf einem anderem Blatt. Möglicherweise lauerte in ihm ein ähnlich dunkler Geist, wie seinerzeit in Uskav. Es wäre daher verantwortungsloser Leichtsinn gewesen Naszbrack frei herumlaufen zu lassen. Ihn in ein Verlies zu stecken, ging aber auch nicht, da dies einen Feind im Geist des Uruks gewarnt hätte. Uskav handelte dementsprechend pragmatisch und ließ Naszbrack in ein künstliches Koma legen. Gilfeas Aufgabe bestand daher darin, zu prüfen, ob sich zusätzlich zu Naszbracks eigentlichem Bewusstsein ein zweites, feindliches in ihm versteckt hielt und sollte dies der Fall sein, es zu beseitigen.

Natürlich sagte Gilfea zu und folgte Uskav wenig später zu den Häusern der Heilung. Suman, Gildofal und ich blieben zurück und gönnten uns einen Luxus, den wir all zu lang entbehrt hatten: ein elbisches Frühstück, das uns Gildofal in Rekordgeschwindigkeit zauberte. Wie schafft er es nur, einfaches Wasser wie köstlichsten Wein schmecken zu lassen? Elben sind einfach ein sehr spezielles Völkchen.

»Und was machen wir jetzt eigentlich, nachdem wir nicht mehr in fremden Ländern Dämonen jagen?«

Ich hatte diese Frage ganz unschuldig in den Raum gestellt, doch eigentlich war sie mehr als berechtigt. Unser Abenteuer war beendet. Wie sah von nun an unser Alltag aus?

Für Gildofal war es einfach. Er wollte in die Drachenreiterschule fliegen und dort versuchen, die Notizen, die er in der Kristallhöhle der Wölfe angefertigt hatte, zu ordnen und wenn möglich auch mit Hilfe der Bibliothek der Schule zu übersetzen. Zugegeben, eine wohl mehr als lohnenswerte Idee, der sich unser Elb da verschrieben hatte.

»Ich habe eine Idee, worum du dich kümmern könntest«, Suman grinste mich dermaßen hinterhältig an, dass ich mir nicht ganz sicher war, ob ich seinen Vorschlag wirklich hören wollte: »Du solltest dich mit Erogal treffen und versuchen, die Geschichte mit der Omegadirektive aus dem Weg zu räumen. Wäre doch schade um euch zwei, sollte ein Mitbruder auf die Idee kommen, die Direktive durchzusetzen.«

Im Prinzip war die Omegadirektive außer Kraft gesetzt, aber der Grund für ihre ursprüngliche Aktivierung bestand fort: Vaughans Datenkristall und die darin beschriebenen Beschwörungsglyphen. Es war ohne Zweifel eine gute Idee, sich mit dem Thema zu beschäftigen und die Erkenntnisse aus dem Kristall mit der gesamten Gilde zu teilen. Dies galt natürlich nur für den Fall, dass die Gilde noch existierte.

»Und was machst du?«

»Ich besuche Ole.«

Zukunft

»Das Ende ist nur der Anfang. Es sei denn, man ist eine Wurst.«

Profitius Spax, Philosoph 2. Klasse

Betrachtete man die Distanz zwischen Sumans und Oles Unterkunft in ausschließlich Metern, dann konnte man den Weg nicht wirklich als weit bezeichnen. Ole Olson bewohnte ein Apartment im Gästehausteil unserer Drachenhöhle. Aus Sumans subjektiver Sicht erschien der Weg hingegen als sehr lang.

Suman klopfte.

»Ja«, ertönte es hinter der Apartmenttür kurz bevor sie geöffnet wurde.

»Suman?«, die Überraschung, von der Ole Olson erfasst wurde, ließ den Neovikinger seine blondroten Augenbrauen hochziehen. Mit diesem Besuch hatte er nicht gerechnet.

»Darf ich reinkommen?«, fragte Suman schüchtern.

Ein verlegenes und ungelenkes Lächeln schlich sich auf Ole Olsons Lippen. Er macht Platz und ließ Suman eintreten: »Natürlich …«

Ole Olson schloss die Apartmenttür und beraubte damit der allgemeinen Verlegenheit ihrer einzigen Ablussmöglichkeit, weswegen ihr nichts anderes übrig blieb, den Raum mit ihrer unerfreulichen Präsenz zu füllen. Suman verspürte ihre Wirkung als erster. Er begann sich nämlich zu fragen, ob die Idee Ole zu besuchen wirklich so gut war, wir sie ihm anfangs noch erschienen war.

Die ganze Situation war schräg. In Xengabad hatte Suman nie Hemmungen gehabt mit Ole Olson zu sprechen. Nicht, dass sie je viele Worte miteinander gewechselt hätten, dafür bestand eigentlich keine Notwendigkeit, aber die Möglichkeit war vorhanden. Ole Olson war eben nicht nur ein attraktives Stück Mann mit dem man auf körperlicher Ebene viel Spaß haben konnte. Für Suman war er wesentlich mehr als das gewesen. In Oles muskulösen Armen fühlte Suman sich geborgen, beschützt und geliebt. Dies war auch der Grund dafür, warum er den Neovikinger immer wieder besuchte, obwohl sich gleich zu Beginn von Sumans Tätigkeit rausstellte, dass Ole Olson als Informationsquelle vollkommen ungeeignet war.

»Du sieht gut aus …«, versuchte der Neovikinger das Eis zu brechen.

»Danke, ich fühl mich auch gut«, Suman lächelte Ole für seine Gesprächseröffnung dankbar an.

»Du sieht nicht nur gut, sondern sogar glücklich aus«, fuhr Ole vorsichtig fort, wohl wissend, dass er sich auf sehr dünnes Eis begab, »Es freut mich, ehrlich. Ich … Du … Früher, in Xengabad. Dich umgab immer eine Aura der Traurigkeit, die mir jedes Mal das Herz zerriss.«

»Xengabad …«, wider aller Vorsätze, begann sich Sumans Hals zuzuschnüren und seine Augen feucht zu werden. Er wollte nicht weinen, nicht losheulen, doch in Ole Olsons Nähe brachen die Narben auf Sumans Seele wieder auf. Alte, sorgsam verdrängte Erinnerungen quollen heraus, »Markendorfer war ein perverses Schwein!«

Es war ein Dammbruch. Sumans sorgsam aufgebauter Schutzpanzer brach zusammen.

»Er hat mich …«, weiter kam der junge Drachenreiter nicht. Suman weinte, schluchzte, zitterte und wäre an Ort und Stelle zusammengebrochen, hätte Ole Olson ihn nicht in den Arm genommen.

»Es ist gut …«, flüsterte Ole Suman ins Ohr, nachdem er seinen Gast vorsichtig zum Bett getragen und dort abgelegt hatte. Schützend hielt er Suman in seinen Armen, wiegte ihn beruhigend und ließ ihn sich ausweinen, »Alles ist gut … Das Monster wird dir nie wieder etwas antun. Nie wieder!«

Verdammt, fluchte Ole innerlich. Wie konnte ich nur zulassen, dass dieses Schwein diesen lieben, süßen Kerl nur so missbrauchen konnte?

Sumans kleiner Nervenzusammenbruch mochte Ole überrascht haben, doch Suman selbst hatte er völlig unerwartet und aus heiteren Himmel erwischt. Allerdings war Suman K’Tar inzwischen ein anderer Suman K’Tar als er es noch in Xengabad war. Er war nicht nur seelisch stärker und reifer geworden, er war jetzt ein Drachenreiter. Als Seele eines Drachens diente man zwar einerseits der Echse als emotionaler Anker, andererseits revanchierte sich der Drache aber auch mit einem ganzen Füllhorn körperlicher und seelischer Verbesserungen. Zwar war die Verbindung zwischen Suman und Tingalen noch sehr frisch und bei weitem nicht so tief und fest, wie zwischen Gilfea und Mithval. Tingalens erster Wachstumsschub stand Suman erst noch bevor. Doch trotz allem war er ein Drachenreiter. In ihm pulsierte die Lebenskraft eines Drachen. Suman war ein Drache, ein Raubtier. Welche Wunden ihm auch immer die Vergangenheit zugefügt haben mochte, durch Tingalen war er in der Lage, mit ihnen endlich abzuschließen. Allerdings bedurfte es erst eines Besuchs bei Ole, um dies zu begreifen.

»Danke, mein geliebter Freund«, flüsterte Suman an Oles Brust geschmiegt, »Danke, dass du immer für mich da warst. Ohne dich hätte ich Xengabad nicht überlebt.«

»Suman …!«, stammelte Ole, da er nicht so recht wusste, auf welche Bemerkung er als erstes eingehen sollte, »Geliebter Freund?«

Der junge Drachenreiter in Oles Armen regte sich, wandte sich etwas und befreite sich aus der engen, aber liebevollen Umarmung, um dem Neovikinger in die Augen zu schauen.

»Ja!«, gestand Suman voller Aufrichtigkeit, »Ole, ich habe dich immer geliebt und mich nach deinen Besuchen in Xengabad gesehnt. Du hast meinen Job nicht nur erst erträglich gemacht. Du warst der Grund, warum ich überhaupt in Xengabad blieb. Ole, ich habe dich geliebt und … ich liebe dich immer noch. Deswegen bin ich hier. Ich weiß, für dich werd ich kaum mehr als was knuffiges zum Kuscheln gewesen sein, aber das war mir egal. Ich …«

»Ich habe dich geliebt!«, unterbrach Ole Olson mit einer Festigkeit in der Stimme, die Suman sofort verstummen ließ, »Ich habe dich immer geliebt und liebe dich immer noch. Du warst knuffig und man konnte gut mit dir Kuscheln. Aber das war nicht der Grund, warum ich dich gerne bei mir hatte. Ich liebte dich und wollte dich. Was denkst du, warum ich so oft in Xengabad war?«

»Wirklich?«, staunte Suman und ahnte, dass sein Besuch komplizierter werden würde, als er auch nur ansatzweise geahnt oder befürchtet hatte.

»Ja!«, lachte Ole und küsste Suman auf die Nase, »Wann immer ich konnte, habe ich meine Reiserouten so gelegt, dass sie mich über Xengabad führten.«

»Wow!«, meinte Suman wenig enthusiastisch und wich Oles Lächeln aus, was dieser sofort bemerkte und enttäuscht fragte: »Was ist? Habe ich etwas Falsches gesagt?«

»Nein! Nein, es ist nicht wegen dir«, Suman schüttelte seinen Kopf, »Es ist wegen mir. Ich … Ole, ich liebe dich, aber ich liebe auch Segato. Ihn und Gilfea und Gildofal. Sie sind für mich so etwas wie eine Familie. Sie machen mich ganz. Ohne sie fühle ich mich unvollständig. Doch Segato ist etwas Besonderes. Manchmal habe ich den Eindruck, als wenn ich mit ihm einen Teil meiner Seele teilen würde. Ole, allerliebster Ole, ich liebe dich, ich sehne mich nach dir, aber ich will dir auch nicht weh tun. Ich weiß nicht, was ich machen soll …«

Statt der zu erwartenden gekränkten Mine, präsentierte Ole Olson Suman ein glückliches Lächeln. Sanft und sehr, sehr zärtlich wischte der Neovikinger Suman ein paar übrig gebliebene Tränen aus den Augen und küsste ihn auf die Stirn: »Oh Suman, du bist wirklich etwas Besonderes. Ich bin mir nicht wirklich sicher, warum es so ist, aber auch ich kann fühlen, dass du zu Segato gehörst. Vielleicht ist es so ein Drachending, dass ich keine Eifersucht empfinde. Es wird sogar noch seltsamer. Obwohl ich dich liebe und mein körperliches Verlangen nach dir kaum beherrschen kann, weiß ich, dass ich für jemand anderen bestimmt bin. Ich kann sogar fühlen, dass wir Freunde, besondere Freunde bleiben werden und in Zukunft noch einiges miteinander erleben werden.«

Vielleicht sollten die Lehrer der Drachenreiterschule ihren Lehrplan überdenken. Was Suman und Ole unterbewusst richtig erkannten, war eine bekannte, aber wenig thematisierte Tatsache. Die meisten Drachenreiter, aber bei weitem nicht alle, entwickelten die Fähigkeit zu multiplen Liebesbeziehungen fähig zu sein, ohne dabei auch nur Ansätze von Eifersucht zu zeigen. Was die Sache besonders spannend und einzigartig machte, war der Umstand, dass diese Fähigkeit auf Drachenreiter gleicher Art beschränkt blieb. Nur so war die Beziehung zwischen Gilfea, Suman, Gildofal und mir überhaupt möglich. Statt Angst zu haben, Suman zu verlieren, freute ich mich dafür, wie nah mein Schatz Ole stand.

»Du solltest mit Segato und deinen anderen beiden Freunden sprechen«, Ole wurde ernst, »Sie müssen wissen, was Markendorfer dir angetan hat. Lass keine Geheimnisse zwischen dich und deine Freunde kommen.«

Suman lächelte: »Danke, Ole, danke für alles. Ich …«

»Was?«, fragte Ole, dem das seltsame Glitzern in Sumans Augen nicht entgangen war.

»Ich …«, Suman wurde leicht rot und grinste Ole verlegen an, »Hast du Lust mit mir zu schlafen?«

»Ich befürchtete schon, du würdest nie fragen!«


Während Suman und Ole ihre wiederentdeckte Liebe zu einander auskosteten, rang Gilfea mit einem wirklich ekelhaften Exemplar eines in Naszbracks Geist verborgenen bösartigen Bewusstseins. Uskav hatte Recht behalten. Sein alter Freund war präpariert worden.

Müde, erschöpft und sichtlich angegriffen kehrte Gilfea am späten Nachmittag zu uns in die Drachenhöhle zurück. Ich war gerade damit beschäftigt mich von Marco auf den aktuellen Stand betreffend unseres Gästehauses zu bringen. Man mochte von unserem quirligen Major Domus halten was man wollte, dass er sein Handwerk nicht verstand, konnte man jedenfalls nicht behaupten. Trotz kriegerischer und allgemein unsicherer Zeiten war das Gildhaus zu Daelbar gut besucht. Ich wollte erst nicht glauben was ich hörte, weswegen mir Marco das Anmeldebuch präsentierte. Unsere Zimmer und Apartments waren gut gebucht. Wir konnten tatsächlich zahlende Gäste vorweisen. Das Gästehaus trug sich sogar selbst.

»Ich … ich … Ich bin sprachlos. Wie hast du das gemacht?«

Ich hätte nicht fragen sollen. Manche Dinge will man nicht wissen. Immerhin erfuhr ich, dass Marco über ein sehr weiträumiges Netz von Freunden verfügte, die sich strategisch geschickt auf eine erkleckliche Zahl von Gildehäusern verteilten. Ich war beeindruckt und hätte vermutlich länger mit ihm geplaudert, wäre nicht Gilfea von den Häusern der Heilung zurückgekehrt.

»Himmel!«, schrie ich auf, als ich meinen Freund blass und sichtlich erschöpft hereintorkeln sah. Ich sprang sofort auf und eilte zur Hilfe. Auf mich gestützt führte ich Gilfea zu einem Sofa und legte ihn dort hin.

»Er ist frei«, stöhnte Mithvals Seele, »Was für ein mächtiger und kraftvoller Geist. Ich musste alle Kraft aufwenden, die mir gegeben ist. Es reichte, wenn auch knapp, sehr, sehr knapp. Aber es hat sich gelohnt. Ich glaube Naszbrack wird eine Bereicherung für Daelbar werden. «

Naszbrack war das letzte Kapitel im Krieg um Daelbar und das feindliche, bösartige Bewusstsein in ihm der letzte Feind, den wir in diesem Krieg bekämpfen mussten. Es war auch das letzte Opfer dieses Krieges unter dem wir jetzt endlich einen Schlussstrich ziehen konnten. Natürlich gab es noch ein paar offene Enden, die unsere Aufmerksamkeit erforderten.

Zwei Wochen nach Naszbracks endgültiger Befreiung übergaben wir unsere Kriegsgefangenen in die Obhut des Königreichs Goldor. Der Austausch stellte sich als hochpolitischer Akt heraus. Zacharias von Rochsinasul persönlich übernahm auf goldorianischer Seite die Rolle des Unterhändlers, während wir selbstverständlich durch Uskav vertreten wurden. Auf Wunsch des Königs fand der Austausch unter größter Diskretion statt, wozu kein Ort besser als Blaufurt geeignet war.

»Was wird mit ihnen geschehen?«, fragte Uskav Zacharias mit Blick auf die ehemaligen Heerführer der Angriffsstreitmacht.

»Ihr Wohlergehen bedeutet euch etwas, oder?«, fragte Zacharias erstaunt.

»Ja«, bestätigte Uskav, »Auch, wenn sie meine Motive in Daelbar zu leben weder verstehen noch teilen, sind es meine Brüder. Wir alle sind Uruks.«

»Ich kann euch beruhigen«, erklärte Zacharias, »Wir werden uns ein wenig mit ihnen unterhalten müssen, aber so wie es aussah, standen sie unter fremdem Einfluss und sind unschuldig. Ich möchte euch auch im Namen des Königs dafür danken, sie nicht als Kriegsverbrecher angeklagt zu haben. Goldor steht in eurer Schuld, aber rechnet nicht damit, dass wir dies jemals offiziell zugeben werden, denn offiziell seid ihr ein Feind.«

»Politik, immer nur Politik!«, stöhnte Uskav.

»Das schmutzigste Handwerk das es gibt, ja!«, gestand der königliche Hafenmeister, »Wenn ich euch einen Rat geben darf: Bleibt ihr selbst. Lasst euch nicht durch das Amt verbiegen.«

Mit dem Gefangenenaustausch war auch dieses Thema erledigt. Daelbar kehrte zum Alltag zurück. Zwergenhandwerker errichteten eine neue, schönere und stabilere Stadtmauer. Zusammen mit ein paar Drachen beseitigten Landschaftsgärtner die Spuren des Krieges im Tal von Daelbar. Ein Künstlerpaar, ein alter Bronzedrache und ein Freund seiner Seele, fertigten ein Mahnmal, dass den Opfern beider Seiten gedachte. Die Welt kam langsam wieder ins Lot und zu Beginn des Frühjahrs des nächsten Jahren war die Schlacht kaum mehr, als eine dunkle Erinnerung, ein Schatten der Vergangenheit.

Außer Tingalen erfuhren auch Eargilin und Ivoricalad noch mehrere Wachstumsschübe, die uns Jungdrachenreiter unseren Echsen physisch und psychisch immer näher brachten. Ich konnte regelrecht fühlen, wie sich mein Geist und mein Körper mit Ivos immer stärker vernetzte. Ich lernte, beim Fliegen mit ihm eins zu werden und geistig mit ihm zu verschmelzen, eine absolut notwendige Voraussetzung, um irgendwann zusammen mit Ivo zwischen den Welten fliegen zu können.

Sebastian, unser kleiner und knuffiger Exnovize und Exmeuchelmörderschüler entschied sich in Daelbar zu bleiben und zusammen mit Anger die Drachenreiterschule zu besuchen. Er war sich zwar noch nicht sicher, ob er wirklich ein Drachenreiter werden wollte, meinte aber, dass die Ausbildung sicherlich nicht schaden könnte. Er mochte noch nicht sicher sein Seele eines Drachens zu werden, ich war es, spätestens als ich erfuhr, dass sich Bruder Sebastian und Ole Olson näher kamen. Als Sebastian eines Tages beim Neovikinger einzog, war die Sache endgültig klar und Suman sehr, sehr glücklich. Bei aller Liebe, die er gegenüber Ole empfand, machte es ihn traurig, ihn letztlich doch alleine zu wissen.

Apropos Suman. Mein Schatz fand endlich den Mut, uns die ganze Wahrheit über Markendorfer zu erzählen. Wäre der Fettsack nicht tot, ich hätte ihn eigenhändig erwürgt. Die Behauptung, Markendorfer wäre eher der passive Typ gewesen, war leider gelogen. Eine Lüge die Suman mehr sich selbst gegenüber aufgebaut hatte. Aber auch dieser Dämon gehörte nun der Vergangenheit an.

Dies Traf auf Alexander Vaughans Vermächtnis nicht zu. Der Datenkristall, den er mir in Xengabad zugespielt hatte, hielt noch für mehrere Jahre einige Überraschungen bereit. Es war halt nur sehr schwierig, die Daten zu entschlüsseln. Die größte Überraschung betraf Uskav, Uskol, Naszbrack und alle anderen Uruks des Zuchtstamms 172. Es war niemand anderes als Vaughan selbst, der den Fehler, wenn man von einem Fehler sprechen wollte, in die Zuchtlinie eingepflegt hatte.

»Er ist unser Vater.«

Ich hatte Uskav noch nie so sentimental erlebt, wie an jenem Tag, als wir das Geheimnis der freien Uruks lüfteten.

»Er wusste, dass das namenlose Böse dabei war, sein abscheuliches Haupt zu erheben. Aber Vaughan war ein Gefangener Boldins. Wie sollte er sein Wissen der Welt vermitteln?«, erläuterte Gildofal, der die Übersetzung und Entschlüsselung der Information vorgenommen hatte, »Nach allem, was wir jetzt von Vaughan wissen, waren ihm die Rollen die Boldin und Markendorfer spielten schon sehr früh klar. Boldin wusste, dass Markendorfers Körper von einem Dämon übernommen worden war! Der Dämon war wohl doch nicht so schlau, wie er selbst immer glaubte. Boldin nutzte Markendorfer aus und Markendorfer Boldin. Wenn wir dem Kristallwürfel aus dem Werk in Tharbad glauben, dann scheint allerdings Boldin der Gewinner zu sein. Wo immer er auch stecken mag, irgendwann wird er wieder auftauchen. Doch das wichtigste ist, Uskav ist nicht allein. Wenn ich die die Unterlagen richtig verstanden habe, gibt es hunderte Uruks, die so sind wie er!«

»Freie Uruks wie mich?«, fragte Uskav.

»Ja!«


»Segato, Freund, Seele, wach auf!«

Drei Jahre waren vergangen. Suman, Gilfea, Suman und ich lagen wie immer eng aneingekuschelt zusammen in unserem Bett, als ich Ivos Stimme in meinem Kopf vernahm. Ich blinzelte, öffnete vorsichtig ein Auge und stellte entsetzt fest, dass es noch zappenduster wahr.

»Segato?«, fragte mich Suman, der ebenfalls erwachte war.

»Ivo!«, erwiderte ich.

»Tingalin!«, erwiderte Suman.

»Eargilin!«, kam es von einem verstört dreinblickenden Gildofal.

»Ihr habt eure Drachen gehört, los aufstehen!«, trieb uns Gilfea, der ebenfalls wach war, an.

Wir zuckten mit den Schultern, schüttelten den Kopf und standen schließlich auf.

»Beeilt euch bitte. Wir haben nicht viel Zeit. Die Drachen warten. Segato, du verwandelst dich bitte in deine Drachengestalt.«

Wir beeilten uns. Nach einer schnellen Wäsche zogen wir unsere Fluganzüge an und begaben uns in die große Drachenhalle. Ivoricalad, Eargilin, Tingalen und Mithval erwarteten uns. Eine feierliche Stimmung lag in die Luft. Schweigend bestiegen meine Freunde ihre Drachen, während ich mich zu Ivo gesellte.

»Segato, meine Seele!«, begrüßte mich mein Drache mit einer Liebe in der Stimme, die kaum zu glauben war, »Komm, sei mein Anker. Heute ist der Tag, der Tag, an dem ich unseren Bund erneuere. Der Tag, der uns zu einem Wesen macht. Segato, sei meine Seele und flieg mit mir zwischen den Welten.«

Die Kuppel der Drachenhöhle öffnete sich genau in dem Moment, als die ersten Strahlen der Sonne am östlichem Ende des Daelbartals über dem Gebirgskamm erschienen. Schweigend traten wir in die kühle Morgenluft. Ohne Worte miteinander zu wechseln blickten wir uns alle an, sprangen in die Luft, erhoben uns in die höchsten Höhen, gewannen an Geschwindigkeit, jagten los, wurden immer schneller bis uns nichts mehr hielt. Ivo und ich, wir wurden eins. Ein Drache, ein Wesen auf immer und ewig. Ich, Segato G’Narn, Ivoricalad, der Kristalldrache.


EPILOG

Ein anderer Ort

»Wurde alles in Sicherheit gebracht?«

»Selbstverständlich, Meister!«

»Gut! Wie ich Dämonen hasse! Zu viel Ego bei zu wenig Verstand. Markendorfer hätte fast das gesamte Projekt in Gefahr gebracht.«

»Ja, Meister. Allerdings hat sein … erwartungsgemäßes Versagen auch etwas Gutes. Alle Welt ist damit beschäftigt, die Schäden zu beseitigen, die seine Sklaven angerichtet haben. Niemand schaut in unsere Richtung. Eine bessere Ablenkung könnte ich mir kaum vorstellen.«

»Ja, du hast Recht. Am Ende wird uns das Debakel noch sehr nützlich sein. Eine andere Frage: Dieser, ähm Dra ich hasse dieses Wort. Wie heißt er noch, Gilfea, ahnt er etwas?«

»Nein! Er ist vollkommen ahnungslos, was fast schon einem Wunder gleich kommt.«

»Was ist, wenn ihn jemand erkennt. Die Typen betreiben ein Gästehaus!«

»Seid unbesorgte, Meister, auch dafür habe ich vorgesorgt. Wir haben jemanden ganz in seiner Nähe. Sollte es zu Problemen kommen, wird er handeln und Gilfea ist Geschichte.«

»Ein Spion? Und was, wenn man ihn enttarnt?«

»Das wird nicht passieren, Meister. Wer ist der beste Spion? Der, der nicht weiß, dass er einer ist.«

»Mein Kompliment! Wie es aussieht, ist die Lage viel besser, als ich gedacht habe.«

»Es könnte für uns gar nicht besser laufen, Meister! Menschen, Elben, Zwerge, Drachen … Sie glauben, sie hätten die Welt gerettet. Jämmerlich, sie hatten Glück. Markendorfer war ein eitler, dummer Egozentriker. Sein Versagen hat ihnen etwas Zeit beschert, doch am Ende wird der Sieg der Eure sein, Meister! Sie werden gar nicht begreifen, was ihnen geschieht und wenn sie realisieren, dass sie verloren haben, werdet ihr Euch in ihrem Blut baden können.«

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