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Drachenblut

4. Buch - Schatten

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Turondur

Drachenseelen

Erkenne deinen Drachen und du erkennst dich selbst.
Unter der Vorraussetzung, dass du deinen Drachen dazu bekommst, für 5 Minuten ernst zu bleiben.

Profitius Spax Philosoph 2. Klasse

»Krieg?«, brach Gildofal als erster unser entsetztes Schweigen.

»Krieg! Uskav spricht die Wahrheit. Wenn auch nur ein Teil der Dinge stimmen, die wir auf dem Datenkristall gefunden haben, können wir uns auf einiges gefasst machen.«

Mit Turondur und Uskav war ein unsichtbarer Schatten in den Raum gekrochen. Das Licht der Lampen schien trüber geworden zu sein und an Strahlkraft verloren zu haben. Natürlich spielte sich dies alles nur in unserer Einbildung ab, doch hatten wir das Gefühl, als wenn die dunklen Ecken des Zimmers ein klein wenig dunkler geworden waren. Jeder ahnte, dass sich etwas verändert hatte. Angst griff nach unseren Herzen.

»Was habt ihr gefunden?«, brach Suman unsere Sprachlosigkeit.

»Zuerst fanden wir nur strategische Analysen, Planspiele, Aufstellungen über tatsächliche und vermutete militärische Kapazitäten diverser Staaten, darunter auch Daelbars. Nichts, was uns wirklich nervös machte. Doch dann fanden wir Konstruktionspläne für ein Waffensystem…«

Ich hätte es niemals für möglich gehalten einen Uruk ängstlich zu sehen, doch Uskav hatte Angst. Seine dunkle Orkhaut schimmerte grau wie Asche, seine sonst so wachsamen Augen fahl und müde.

Der Uruk fuhr fort: »Dieses Waffensystem… Die Professoren der Drachenreiterschule sind seid Stunden dabei zu ergründen, um was es sich für eine Waffe handelt. Professor Xelmachus von Emd versucht die Zauber- und Beschwörungsformeln zu entschlüsseln, doch ist ihm sogar die Schrift unbekannt, in der sie aufgezeichnet wurden. Xelmachus hat Angst. Er hegt einen Verdacht, wo er nachforschen könnte, doch bereitet ihm der Gedanken daran Sorgen. Ich habe die Runen und Schriftzeichen gesehen und sogar ich bekam Angst, Todesangst. Es sind mächtige Symbole, voll schwärzester Magie. Doch ist es nicht allein die Magie, die uns in Angst und Schrecken versetzt. Auch der Rest dieser Waffe bereitet unseren Wissenschaftlern Kopfschmerzen. Professor Manfred von Bogenhausen, einer der fähigsten Physiker unserer Tage, kämpft mit Formeln temporaler- und nichtlinerarer Quantenmagiemechanik, die so fortgeschritten sind, dass sein Team Monate brauchen wird, um auch nur an der Oberfläche zu kratzen.«

Uskav legte eine Pause ein. Bisher stand er zwar müde und erschöpft im Raum, doch immer noch kraftvoll und drohend, wie dies für einen Uruk typisch war. Doch nun ließ er sich auf einem freien Sitzplatz nieder. Ängstlich und flehend schaute er in die Runde:

»Diese Waffe, soviel wissen wir, benötigt Blut. Sehr viel Blut. Das Blut von Drachen! Unserer Drachen!«

Niemand sagte etwas. Eine drückende Stille breitete sich im Raum aus. Jeder Drachenreiter dachte zwangsläufig an Mithvals Mutter. Wie man ihr ihr Blut und ihr Leben entrissen hatte.

Turondur war der erste, der seine Sprache wiederfand:

»Was die Situation noch bedrohlicher macht ist, dass anderen Informationen des Datenkristalls zufolge jemand dabei ist, eine Armee zu züchten. Ihr einziger Zweck scheint zu sein, Daelbar anzugreifen und das Blut unserer Drachen zu nehmen.«

»Aber… Aber…«, stammelte Gilfea, »wer könnte Daelbar angreifen? Selbst die Päpstin hat die Unantastbarkeit unserer Stadt anerkannt. Welche, wie auch immer gezüchtete Armee, wäre in der Lage gegen uns Drachen zu bestehen?«

»Das ist die Frage, die uns den Angstschweiß auf die Stirn treibt«, gestand Turondur, »Diese Armee scheint etwas anders zu sein. Wir haben Zuchtpläne für eine neue Orkrasse entdeckt. Der- oder diejenige, die diese Armee in Auftrag gegeben hat, scheint einen Weg gefunden zu haben, eine Orkrasse zu züchten, die uns Drachen trotzen kann. Wie dies möglich sein kann, wissen wir nicht.«

»Der- oder diejenige?«, fragte ich.

Uskav seufzte: »Wir wissen nicht, wer hinter den Plänen steckt. Der Verdacht es könne die Päpstin sein, liegt natürlich nah, wäre da nicht… Es ist nur ein Gefühl, aber wir, Turondur und ich, glauben, dass mehr dahinter steckt, als die üblichen Machtspielchen des Klerus.«

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Gilfea und schaute in die Runde.

»Wir suchen uns neue Drachenreiter!«, antwortete Uskav und grinste Suman und mich hinterhältig an.

»Suman? Segato? Was meint ihr?«, Turondur musterte uns mit einem ernsthaften und scharfen Blick, »Gilfea erwähnte, dass ihr überlegt Drachenreiter werden zu wollen. Seid ihr euch sicher, was das bedeutet? Wenn euch ein Drache erwählt, endet euer Leben. Schaut mich an! Ich sehe aus wie ein Elb, aber ich bin kein Elb. Nicht mehr. In dem Moment als mich Toldin als seine Seele erwählte, hörte ich auf, ein Elb zu sein. Ich wurde zu einem Drachen. Der Elb Turondur ist zwar immer noch ein Teil von mir, aber ich bin auch Toldin. Schaut mich an…«

Suman und ich sahen Turondur an und verstanden sofort, was er uns erklären wollte. Turondur Elbenaugen veränderten sich. Ein tiefes, rotes Glühen entflammte sich in ihnen. Und, obwohl Turondurs Gestalt die eines Elben war, schien es für einen Moment, als ob ein Drache vor uns stehen würde.

»Seit ich vor ein paar Jahren ein Buch über Drachenkunde entdeckt habe, ist es mein innigster Wunsch die Seele eines Drachens zu werden. Was ich hier erlebt und erfahren habe, hat diesen Wunsch nur noch verstärkt. Allerdings…«

»Ja?«, bohrte Turondur mit suggestiver Stimme nach.

»Ich bin nicht mehr allein. Suman ist mein Partner, mein Freund, die Liebe meines Lebens. Ich kann eine solche, Entscheidung nicht ohne ihn treffen«, schließlich würde ich immer einen Drachen im Schlepptau haben, oder der Drache mich. Alles eine Frage des Blickwinkels.

»Ein Drachenreiter werden?«, sinnierte Suman und schaute dabei niemanden bestimmten an, »Ich weiß, dass Drachenreiter zu werden, dein ursprünglicher Grund war, nach Daelbar zu reisen. Und ich wäre ein schäbiger Freund, dir diesen Wunsch zu verweigern.«

»Aber?«, mein Herz setzte für einen Schlag aus.

»Nichts ›aber‹!«, Suman seufzte, stand auf, kam zu mir und nahm meine beiden Hände in die seinen. »Du wirst eine wunderbare Seele sein, das weiß ich. Nur… ich bin mir meiner nicht sicher. Wer bin ich schon? Ein Hotelboy und… ähm, du weißt, was ich war. Ein Callboy, ein Strichjunge.«

Ich hatte es seit längerem befürchtet, dass es mit der Selbstachtung meines Schatztes nicht zum Besten stand. Wieso schämte sich dieser liebenswerte Junge ständig für das, was er war und ist. Wenn er von sich sprach, betrachtete er sich bestenfalls als Hotelboy, doch meistens eben als Stricher, der für Informationen mit widerlichen fetten Säcken schlief. Ich verstand es nicht. Wenn ich Suman sah, dann sah ich einen hochintelligenten Gildemeister, der selbstlos seine Aufgabe erfüllt hatte. Mehr noch, ich sah einen schönen, lieben jungen Mann. Jenen jungen Mann, in den ich mich verliebt hatte und dessen innere Schönheit für mich weit heller strahlte, als die Sonne an einem wolkenlosen Sommertag.

Ich wollte gerade etwas entgegnen, als Turondur mir zuvor kam: »Oh, das mit der Würdigkeit, das lass mal ruhig die Sorge der Drachen sein. Die einzige Frage, die du dir stellen solltest ist: ›Möchtest du ein Drachenreiter sein?‹ Du kennst die Konsequenzen. Du wirst deine Persönlichkeit mit einem anderen Wesen auf eine Art teilen, wie du es dir nicht vorstellen kannst. Du wirst niemals mehr alleine sein. Dein Drache wird immer bei, nein in dir sein.«

»Werde ich Segato noch lieben?«

»Natürlich? Wieso solltest du es nicht mehr tun?«, Turondur schien überrascht. Seinem verwirrten Gesichtsausdruck nach fand er die Frage absurd.

»Ähm…«, schaltete ich mich ein, »Die Frage ist berechtigt. Wenn wir mit einem anderem Wesen eins werden, könnte sich da nicht auch unsere Persönlichkeit ändern?«

»Wenn ich das beantworten darf?«, mischte sich Gilfea ein, »Ich weiß nicht, ob es bei Uskav oder bei Gildofal anders war, aber ich bin zwar jetzt Mithval, aber auch immer noch Gilfea. Ich war vor der Vereinigung Gilfea und bin es nach ihr immer noch. Natürlich hat Mithval auf meinen Charakter, auf mein Wesen, Einfluss genommen, aber nicht so, dass aus Rot Grün wurde oder aus Schwarz Weiß.«

»Ihr meint wirklich, ich darf es tun?«, flüsterte Suman und schaute unsicher in die Runde.

»Komm mit!«, entgegnete Uskav, krallte sich Suman mit seiner Orkpranke und zerrte ihn in die Drachenhöhle. Wir folgten schmunzelnd.

Wie vermutet, war die Höhle mit vier Drachen reichlich gefüllt. Neben Mithval und Eargilin hatten sich auch Narsul und Toldin eingefunden. Die vier Drachen waren gerade dabei über die beste Art der Schuppenpflege zu diskutieren, als Uskav, Suman fest im Griff, sich zwischen die Echsen schob und laut räusperte. Dich vier Echsen unterbrachen ihr Gespräch, rotierten ihre langen Hälse zum Uruk und schauten ihn freundlich grinsend an.

»Ich hoffe es ist wichtig«, knurrte Narsul, Uskavs Drachendame, »Mithval wollte mir gerade sein Geheimnis verraten, wie er seinen Schuppen diesen fantastischen tiefen Glanz verleiht.«

»Ähm…«, typisch Uskav. Narsul schaffte es immer wieder ihn aus dem Konzept zu bringen. Schuppenpflege war nicht notwendigerweise ein Thema, mit dem sich Orks geschweige denn Uruks gemeinhin beschäftigten. Obwohl aufmerksamen Beobachtern durchaus augefallen war, dass Uskav in letzter Zeit sehr viel Wert auf sein äußeres Erscheinungsbild legte.

Der Uruk schüttelte heftig seinen Kopf »Natürlich ist es wichtig! Suman hier«, mit diesen Worten schob Uskav meinen Schatz vor sich hin, »würde gerne ein Drachenreiter werden, glaubt aber, dass er nicht würdig sei.«

»So, glaubt er das?«, fragte Mithval telepathisch.

»Was sollten wir denn sonst mit dir machen? Als Appetithappen bist du viel zu mager.«

»Außerdem erwählen wir inzwischen ja schon fast jeden, sogar Uruks«, Nasuls Kommentar wurde von einem gespielt empörten Knurren seitens Uskavs quittiert.

»Bitte, seid doch einmal ernst! Eure Scherze helfen mir nicht weiter«, flehte Suman wirklich verzweifelt.

Mithval beugte sich vor und stupste Suman mit seiner Nase an: »Du hast Recht! Unsere Scherze sind manchmal… unangebracht. Du fragst dich, ob du würdig bist ein Drachenreiter, die Seele eines unserer Brüder oder Schwestern zu werden?«

Suman nickt stumm.

»Die Antwort auf deine Frage lautet: ›Ja!‹«, antwortete Narsul.

»Ja? Einfach nur ja?«, Suman war verdutzt.

»Oh, du möchtest die Langversion? Gut! Ja, du bist würdig die ewige Seele, der Anker des Lebens, das Auge des Orkans der Emotionen der Ältesten der Weisen, die Essenz eines Drachens, dem Brückentier zwischen der realen Welt und der Welt jenseits dieser Welt zu werden. Du bist würdig, das Privileg, die Ehre und Bürde zu erfahren und zu tragen, ein Diener des Reisenden zwischen den Welten zu sein. Oh, ja, so sei es! War dir das feierlich genug?«

Oh, diese Drachen! Ich ahnte langsam, auf was ich mich wirklich einließ. Diese Viecher wären defintiv nicht zu ertragen, sollte man jemand sein, der zum Lachen in den Keller ging. Suman musste lachen.

»Gut! Endlich lachst du!«, freute sich Mithval.

»Aber«, eine Frage drängte sich mir auf, »ihr tut so, als wenn wir gleich morgen Drachenreiter werden könnten. Soviel ich weiß, sind mehrere Jahre Ausbildung nötig, bevor man ein Drachenreiter werden kann.«

»Prinzipiell hast du Recht«, erläuterte Turondur, »allerdings können wir in eurem speziellem Fall eine Ausnahme machen.«

Ich reagierte heftiger, als ich wollte, in dem ich Turondur scharf musterte. Was wollte dieser Hochelb mit der besonderen Betonung des Wortes »speziellem« andeuten? Turondur reagierte nicht direkt, sondern fuhr sehr gelassen mit seiner Rede fort: »Als Absolventen einer Gildeschule seid ihr unseren anderen Schülern in vielen Dingen weit voraus. Was euch fehlt, Quantenmagie und Drachenkunde, könnt ihr nebenbei lernen. Ihr seid doch schlaue Kerlchen, oder?«

Nach dieser Bemerkung war ich mir einer Sache sehr sicher. Auf Turondur würde man ein wachsames Auge werfen müssen, vielleicht sogar mehr als eins. Und, wenn ich Sumans Gesichtsausdruck richtig interpretierte, hegte mein Freund den gleichen Gedanken. Nicht nur, dass er Turondur aufmerksam, fast ein wenig argwöhnisch musterte, mein Schatz war auch sehr unauffällig am Schnuppern. Was das auch immer bedeuten mochte.

Wenig später verabschiedeten sich Turondur und Uskav und verließen Gilfeas Heim. Wir sollten unsere Entscheidung nicht übereilen und uns alle Zeit nehmen, die wir bräuchten. Niemand würde uns drängen und wenn wir zu dem Schluss kämen, keine Drachenreiter werden zu wollen, wäre dies eine Entscheidung, die jeder respektieren und nicht hinterfragen würde.

Turondur erklomm Toldin. Der beeindruckende Silberdrache marschierte stolz und aufrecht aus Mithvals Höhle hinaus auf die Startrampe, entfaltete seine Flügel und schwang sich mit wenigen kräftigen Schlägen in die Luft. Es war ein majestätischer Anblick, diesen Drachen fliegen zu sehen.

Uskav hingegen tätschelte Narsul und fragte: »Na meine Kleine, du möchtest sicherlich wieder bei Mithval und Eargilin bleiben, oder?«

»Nur, wenn es dir nichts ausmacht.«

Wer es nicht selbst gesehen hat, wird es nicht glauben wollen, aber ich habe einen Uruk glücklich und versonnen lächeln gesehen. Er streichelte liebevoll über seine rote Drachendame, kraulte ihr ein wenig an den Ohren und meinte: »Natürlich nicht. Außerdem bin ich in der Nähe.«

»Wie ich hörte wohnst du bei Roderick und Thonfilas«, Gildofals Grinsen reichte von einem Ohr zum anderen.

»War das eine Frage?«, fragte Uskav amüsiert.

»Eine Feststellung«, entgegnete Gildofal leicht defensiv.

»Gut!«, entgegnete wiederum Uskav, grinste breit, grüßte und verschwand.

Vier Freunde hockten zusammen in Gilfeas Wohnzimmer, tranken elbischen Wein, schauten in das Feuer des Kamins und schwiegen. Es war kein unangenehmes Schweigen. Gilfea hatte sich an Gildofal gekuschelt, während Suman sich an meine Seite geschmiegt hatte. Mich ließ der Gedanke daran ein Drachenreiter zu werden, einfach nicht los. Wie würde sich mein Leben ändern? Könnte ich die Verantwortung überhaupt tragen? Was würde aus Suman werden? Was aus unserer Liebe?

Suman war unruhig, gerade zu unrastig und wechselte ständig seine Position. Keine Lage schien bequem genug zu sein.

»Was bewegt dich?«, fragte ich leise, »Drachenreiter, ja oder nein?«

Sumans Antwort war eine Überraschung: »Nein, ich habe Entscheidung getroffen. Ich will.«

»Oh!«, Suman überraschte mich, »Und warum zappelst du dann rum, wie ein Aal?«

»Turondur!«, kam die prompte Antwort. Suman schaute zu Gildofal und Gilfea hinüber, um sicher zu stellen die beiden nicht beim intensiven Knutschen zu stören, was nicht der Fall war, »Gildofal?«

»Yup?«, Gildofal reckte sich auf und schaute zu Suman.

»Bilde ich mir das nur ein oder findest du nicht auch, dass Turondur nach Hund riecht?«

»Yup!«, kam es ohne zu zögern von Gildofal, »Unser snobistischer Oberelb stickt fünf Meilen gegen den Wind nach Köter. Mir ist das schon früher aufgefallen. Es ist schon ein wenig merkwürdig. Wenn er ebenfalls ein Lycanthrop ist, müsste er uns genau so riechen können, wie wir ihn. Aber er hat nie etwas gesagt.«

»Traust du ihm?«, Sumans Frage war berechtigt.

»Ja, absolut. Er ist ein Drachenreiter. Du wirst es verstehen, sobald du selbst einer geworden bist. Wir können einander nicht belügen. Wir würden die Lügen sehen

»Wow!«, mischte ich mich ein, »Um so merkwürdiger ist sein Verhalten. Vieleicht solltet ihr ihn fragen?«

»Ja, wir sollten ihn fragen.«

Hypothesen

»Daelbar sehen und sterben!«
Diesen Satz können Sie ruhig wörtlich nehmen. Daelbar, das Drachenheim, gilt mit Recht als eine der schönsten Städte unserer Zeit. Kein Ort wird sie mehr verzaubern, als die zeitlose Feste der edlen Echsenwesen.
Schade nur, dass viele Staaten einen Besuch nachträglich mit dem Tode bestrafen. Vor einer Reise sollte daher der Blick ins Strafgesetzbuch stehen.

Muriels Reiseführer Band 18 --- »Daelbar«

Die nächsten Tagen vergingen eher hektisch. Wir, Gilfea, Gildofal, Suman und ich, waren voll und ganz damit beschäftigt, unsere Idee einer Herberge und Gildehauses Realität werden zu lassen. Gilfea und Suman hatten die Aufgabe übernommen, das Konzept dem Rat der Stadt zu unterbreiten, was sich als schwieriger entpuppte, als wir erwartet hatten. Natürlich war der Rat begeistert, jedenfalls vordergründig. Nachdem man uns für unser Engament und unsere Begeisterung gebührend gelobt und uns das Wohlwollen des Rates versichert hatte, gab man plötzlich zu bedenken, dass der Zeitpunkt äußerst ungünstig sei. Man stehe schließlich unmittelbar vor einem Krieg. Man könne sich unmöglich jetzt ein derart politisch und diplomatisch extrem delikates Projekt leisten. Man müsse zur Zeit alle Kräfte auf die bevorstehene Auseinandersetzung konzentrieren.

Die Idee schien bereits im Anlauf an einer mutlosen Gruppe Berufsbedenkenträgern zu scheitern, bis Turondur das Blatt wendete. Das Thema war bereits vom Sitzungspräsidenten abgehakt, als sich Turondur auf sein Rederecht als Ratsvorsitzender berief und zum Rednerpult eilte. Dort begann er eine flammende Rede zu halten, die in ihrem Verlauf nicht nur Gilfea und Suman mitriss, sondern den gesamten Rat beieindruckte. Es war kein Wunder, dass Turondur und Toldin die Vorsitzenden des Rates waren. Dieser aristokratische, versnobte Hochelb war ein brillianter Redner. Er konnte überzeugen, seine Argumente waren gut und hatten Substanz, seine Sprache war gewählt, alle Punkte wurden eloquent, mit der richtigen Dosierung Ernst, Humor und Pathos vorgetragen. Selbst die Ratsmitglieder, die Turondurs Position nicht teilten, waren von seinen Reden begeistert.

Turondurs Vorgehen in unserem Fall war dreist. Er drehte die Argumentation der Bedenkenträger einfach um und verkehrte ihre Gegenargumente in entscheidende Argumente für uns, in dem er feststellte, dass es keinen besseren Zeitpunkt für eine Herberge und Gildehaus geben würde, als den jetzigen. Wenn ein unbekannter Feind Daelbars Frieden und Freiheit vernichten wolle, dann gäbe es nur eine adequate Antwort: »Jetzt erst recht! Was stellen wir Tod, Verderben, Unfreiheit und Sklaverei entgegen? Freiheit. Leben, Hoffnung und Freundschaft! Suman und Segato legen uns die Freundschaft der Gilde zu Füßen und ehren damit Kasimirs und Fingolfs Vermächtnis auf eine Weise, wie ich es mir edler und selbstloser nicht wünschen könnte. Mitbürger, Drachen, Seelen, Freunde, wir sollten dankbar sein für dieses Geschenk, dem raren Geschenk ehrlicher und aufrechter Freundschaft!«

Die Wirkung seiner Rede war furios. Innerhalb weniger Minute kippte die Stimmung von zurückhaltend, unentschlossen und ablehnend nach Feuer und Flamme dafür. Turondur gab dem Rat den nötigen Ruck, um eine Entscheidung zu treffen, die uns in ihrer Deutlichkeit überwältigte. Nicht nur, dass man unsere Idee ausdrücklich begrüßte, man entschied, mit der üblichen Einstimmigkeit, uns alle nötigen Mittel bereit zu stellen, um unsere Idee schnellst möglich Wirklichkeit werden zu lassen. Die erste Hürde war genommen. Unser Projekt konnte beginnen.

Direkt nach der Ratssitzung kam Turondur auf Gilfea und Suman zu, zog sie mit sich in ein kleines Büro und sprach sie an: »Ich habe noch eine inoffizielle Note des Rates zu überbringen. Suman, du und Segato, ihr seid die Erben Kasimirs und Fingolfs. Wir wissen natürlich nicht welche Position ihr in der Gilde bekleidet. Nehmen wir aber einmal an, rein hypothetisch, ihr wärt mit einem gewissen Einfluss versehen.«

»Rein hypothetisch?«, Suman wusste sofort, worauf Turondur anspielte, und reagierte entsprechend. Er begriff, dass sich das nachfolgende Gespräch auf einem ganz anderem Niveau abspielen würde.

»Natürlich!«

»Nehmen wir einmal an – wie gesagt, rein hypothetisch – wir würden über diesen gewissen Einfluss verfügen, dann würden wir natürlich annehmen, dass uns ein ähnlich einflussreicher Gesprächspartner gegenüberstehen würde.«

»Oh ja, in einer solchen hypothetischen Situation wäre das selbstverständlich der Fall«, versicherte Turondur, »Wenn all dem so wäre, wärt ihr dann in der Lage, eurem hohen Rat eine Nachricht zukommen zu lassen?«

»In solch einer hypothetischen Situation wäre sehr viel möglich. Welche Nachricht würdet ihr denn gerne überbracht haben wollen?«

»Die Nachricht würde lauten, dass wir der Gilde unseren tiefsten Dank für die langen Jahre ausdrücken, in denen Graumeister Kasimir N’Gardo die Brücke zwischen unseren beiden Welten, der der Drachen und der der Gilde war. Wir werden sein Andenken immer in unseren Herzen tragen. Weiter würden wir der Gilde mitteilen wollen, dass wir stolz und glücklich sind, zwei junge Meister in unseren Reihen begrüßen zu dürfen, die bereit und willens sind, die Lücke zu schließen, die Kasimirs Verlust hinterließ und hoffen, dass das alte Bündnis zwischen Drachen und Gilde dadurch neu belebt werde. Als Zeichen unseres Vertrauens würden wir alle Informationen mit der Gilde teilen, die dem Datenkristall Vaughans entnommen werden können.«

Suman antwortete nicht sofort. Er musterte Turondur lange und wechselte einen nachdenklichen Blick mit Gilfea.

»Wir reden immer noch über eine hypothetische Situation?«, fragte Suman zögernd nach.

»Absolut hypothetisch!«, antwortete Turondur mit fester, ernster Stimme.

»In dem Fall bliebe mir nichts anderes übrig, als zu sagen, dass ich als Gildemeister meine Mitmeister sofort informieren täte und fest davon ausginge, dass man die Nachricht gebührend und wohlwollend würdigen würde«, entgegnete Suman im lockeren Plauderton, »Zum Glück ist dies natürlich alles nur ein reines Gedankenspiel. Schließlich kann ich gar kein Meister der Gilde sein, da ich andernfalls dich, Turondur, Gilfea und schließlich mich töten müsste, um das Geheimnis unserer Identität zu wahren.«

»Da haben wir aber nochmal Glück gehabt, dass du kein Meister bist«, lächelte Turondur zufrieden, »Wie doch Gedankenspiele den Geist anregen können.«

»Wie wahr, wie wahr!«, lächelte Suman zurück, »Sag mal, Turondur, findest du nicht auch, dass es hier sehr stark nach Hund riecht?«

Wenn Turondur überrascht war, dann ließ er es sich nicht anmerken: »Wo du es gerade erwähnst. Ich glaube, ich sollte einmal mit Gildofal reden, der soll sich mit Hunden sehr gut auskennen.«


Als mir Suman wenig später vom Treffem mit Turondur und dessen Auftreten im Rat berichtete, war ich noch verwirrter als zuvor. Suman und ich waren selbst zusammen nicht in der Lage, aus Turondurs Verhalten und Aktionen ein schlüssiges Bild zu zeichnen. Einerseits unterstützte er uns, anderseits ging er mit seinen Gedankenspielen bis an die Grenze. Wenn er so viel über die Gilde wusste, wie er vorgab zu wissen, dann musste er auch wissen, wie ein Gildemeister auf Enttarnung reagiert. Noch viel seltsamer war Turondurs Reaktion auf Sumans lycanthrope Anspielung.

So interessant und wichtig das Thema Turondur auch war, es musste warten, denn auf uns, Suman und mich, wartete die Schulbank. Die Drachen meinten, wir wären sicherlich vorzügliche Reiterkandidaten und mit unserer Gildeausbildung auch bestens präpariert, doch ein paar Dinge würden eben selbst die beste Gildeschulen nicht unterrichten oder besser, nicht unterrichten können. Und so fanden wir uns am frühen Nachmittag in den heiligen Hallen der Drachenreiterschule zu Daelbar ein.

Der Direktor empfing uns in seinem Studierzimmer, einem mit dunklem, fast schwarzen Holz getäfelten Raum mit lederbezogenen Stühlen und einem wuchtigen Schreibtisch, dessen gesamte Fläche mit Folianten, Pergamenten, Heften und Datenpads übersäht war. Eine Hälfte des Schreibtisches zierte regelrecht ein kleiner Berg von Büchern. Gilfea, der uns freundlicherweise begleitet hatte, erläuterte unser Anliegen und erklärte, dass Mithval selbst uns als Schüler empfohlen hätte.

Der Direktor meinte darauf hin, dass Mithvals Empfehlung gar nicht nötig wäre, da er, der Schulleiter, die Lehrpläne der Gilde kenne. Sie würden sich zu mehr als fünfundneunzig Prozent mit denen seiner Schule decken und »den Rest prügeln wir auch noch in euch rein«, wobei er und Gilfea hinterhältig grinsten. Wie wir wenig später feststellten, grinsten sie mit Grund. Die fünf Prozent, die uns die Gilde nicht gelehrt hatten, entpuppten sich als das anspruchsvollste Wissen, was je in meinen Schädel hineingestopft wurde.

Die nächsten sieben Wochen mutierten zur Hölle. Suman und ich pendelten permanent zwischen Schule und unserem zukünftigen Gildehaus hin und her. Wenn wir gerade dabei waren in der Schule Land zu sehen, verzapften die Handwerker auf der Baustelle, denn das war unsere geerbte Drachenhöhle zur Zeit, Unsinn. Lief auf der Baustelle alles glatt, brachte uns der Schulstoff zur Verzweifelung. Gildofal und Gilfea halfen wo sie nur konnten. Mit jedem Tag wurden die beiden engere Freunde. Dabei fiel mir auf, dass Mithval eine leicht intensivere Beziehung zu mir aufbaute, während Eargilin sich stärker mit Suman anfreundete. Es war wie verhext. Einerseits wurden wir engere Freunde, doch gleichzeitig schienen wir uns durch den täglichen Stress voneinander zu entfernen. Selbst Suman und ich schienen auseinander zu driften. Wären nicht die Drachen gewesen, die uns mit ihren Witzen und latentem Augenzwinkern regelmäßig aufmunterten, ich wäre durchgedreht.

Es war in der siebten Woche, als plötzlich alles wie eine Flutwelle über uns zusammen schlug. In der Schule wurde gerade das extrem fordernde Thema »nichtlineare, temporale Drachenquantenmagie« behandelt, bei der es von extremer Wichtigkeit war, es in einem exakt vorgegebenen Timing und Ablauf zu studieren, um die multilinearen Quantenmagiegleichungen nicht zum kollabieren zu bringen. Wir konzentrierten uns also zu hundert Prozent auf unseren Kurs, als auf der Baustelle die Sanitärleute feststellten, dass die gesamte Verrohrung ersetzt werden müsse. Die Jahrhunderte hätten dem Rohrsystem eben doch schon ein wenig zugesetzt. Alles musste raus.

Mir platzte der Kragen. Ich rannte an die frische Luft und brüllte mir die Wut von der Seele. Eine Sekunde länger auf der Baustelle und ich hätte für nichts garantieren können. Ich stand kurz davor, den nächstbesten Handwerker zu erwürgen, den das Schicksal dazu bestimmte, mir in dieser Verfassung über den Weg zu laufen.

»Brüllübungen? Nett! Hast du was dagegen, wenn ich mich anschließe?«

Ich war so sehr mit meinem Wutanfall beschäftigt, dass ich überhaupt nicht bemerkt hatte, wie Mithval sich neben mir auf der Brüstung der Landeplattform niedergelassen hatte. Natürlich wartete Mithval nicht auf meine Antwort, sondern brüllte munter aus den tiefsten Tiefen seines Drachenrachens los. Dieser Drache konnte brüllen!

»Besser!«, sprachs und flatterte grinsend von dannen. Dieser Drache war unheimlich, denn meine Wut war verflogen. Schmunzelnd und wesentlich gelassener, kehrte ich zurück zu Installateuren, Architekten und Problemen. Danke Mithval!

Stunden später ließen Suman und ich uns erschöpft, ausgelaugt und zermürbt auf Gilfeas Sofa nieder. Unsere beiden Freunde waren einfach zwei unschätzbare Schätze. Obwohl sie selbst einen anstrengenden Tag gehabt hatten, bereiteten sie ein Abendbrot oder genauer, ein Festmahl, das jedem Nobelrestaurant Crossars locker das Wasser gereicht hätte. Wir mussten uns um nichts kümmern. Ganz im Gegenteil kam Gildofal mit zwei Bechern auf uns zu, die er uns freundlich reichte: »Trinkt! Ein kleines Geschenk von Thonfilas.«

Ich hatte kaum zwei Schlucke zu mir genommen, als mich ein Schwall belebender Energie durchflutete. Es kribbelte bis in die Haarspitzen.

»Wow!«

»Thonfilas meinte, ihr könnt es gebrauchen«, grinste Gildofal hinterhältig. Irgend etwas war faul. Aus dem Augenwinkel sah ich Gilfea kichernd in seiner Küche verschwinden.

»Was habt ihr uns zu trinken gegeben?«

»Oh, äh… nichts schlimmes«, stammelte Gildofal gewollt arglos, »Nur ein Stärkungsmittel. Ihr habt so hart geschuftet. Die Schule und die Drachenhöhle. Seid Wochen arbeitet jeder von euch für zwei. Da dachte Thonfilas, dass sein elbischer Stärkungstrunk gerade das richtige sei. Er belebt Körper, Geist und… ähm…«

»Was?«, fragten Suman und ich synchron und inzwischen sehr belebt.

»Das sexuelle Verlangen?«, formulierte Gildofal seine Antwort in Form einer entschuldigenden Antwort und kicherte albern, »Jedenfalls ein wenig. Wirklich, ihr zwei habt’s bitter nötig. Wie lange habt ihr zwei… Ihr wisst schon.«

Entsetzt sah ich Suman an. Gildofal hatte recht, wir hatten seid sechs Wochen nicht mehr miteinander gekuschelt. Am Ende jedes verdammten Tages dieser letzten verdammten Wochen waren wir immer derart müde gewesen, dass wir bereits eingeschlafen waren, bevor noch unsere Köpfe ihr Kopfkissen berührt hatten.

»Keine Angst. Die Wirkung ist nicht sehr stark und setzt auch erst in zwei Stunden ein«, erläuterte Gilfea, der mit dem Abendessen aus der Küche kam, »Zeit genug, dass ihr euch noch etwas stärken könnt. Austern gefällig?«

Lag es am Trunk oder hatte Gilfea extra besonders gut gekocht. Dieses Abendessen war das erste seit langer Zeit, an das ich mich später erinnern konnte. Vermutlich lag es an der Arbeitsbelastung. Essen war in den vergangenen Wochen davor ein profaner Prozess der Nahrungsaufnahme gewesen und nicht etwas, für das man sich Zeit und Muße nehmen muss, um es gebührend zu genießen.

Elbischer Wein, Austern nach Seeelbisch, ein Braten nach Neovikinger Art (mit besten Empfehlungen von Roderick) mit einem Gemüseragout nach einem Rezept aus Gilfeas Heimatdorf und zum krönenden Abschluss ein geeistes Blutbeerenmus auf Zimtparfait (Ein Rezept, das von Uskav beigesteuert wurde. Der Uruk war voller Überraschungen.) bildeten ein fantastisches Mal. Ich war glücklich und wenn ich in die Augen Sumans schaute konnte ich sehen, dass er es auch war. Gilfea und Gildofal waren wirklich die besten Freunde, die man sich wünschen konnte.

»Warum tut ihr das für uns?«, fragte Suman.

»Brauchen wir einen Grund?«, lächelte Gildofal und nahm einen Schluck des gleichen Trunks, denn er uns als »Stärkung« verabreicht hatte, »Es macht uns Spaß. Außerdem haben wir die letzten Wochen kaum einen Abend zusammen gegessen. Wir wohnen zusammen in Gilfeas und Mithvals Höhle, sehen uns aber so gut wie nie.« Gildofal wurde ernst: »In den letzten Tagen bekam ich Angst. Angst, dass wir uns auseinander leben könnten. Mehr oder weniger haben wir alle unsere Vergangenheit hinter uns gelassen und in Daelbar als Drachenreiter ein neues Leben begonnen oder stehen kurz davor, es zu tun. Jeder von uns hat etwas zurückgelassen und seien es auch nur ein paar schöne Erinnerungen. Wie Gilfea hatte ich nie eine Familie. Ich bin zwar der einzige von uns, der eine Familie hat, doch fühle ich mich wie eine Waise, denn es ist mehr als fraglich, ob ich meine Eltern in naher Zukunft wiedersehen werde. Das ist der Grund für heute Abend. Ihr seid meine Familie. Ihr alle!«

Ich war nicht der einzige, der plötzlich einen Klos im Hals hatte. Gildofal hatte Recht. Wir waren eine Familie. Wir vier halb erwachsene Jungs, knapp dem Windelalter entwachsen, mit eben gerade mal ein paar Haaren am Sack, traten auf, wie die Helden alter Sagen, die sich anschickten, die Welt aus den Angeln heben zu wollen.

So ist das mit den elbischen Trünken. Sie mögen einen stärken, einschließlich der Libido, aber sie machen zuweilen auch sehr emotional. Kein Wunder also, dass wir uns Sekunden später in den Armen lagen.

»Familie?«

»Familie!«

Hatte ich erwähnt, dass der Trunk die Libido befügelt? Aus dem emotionalen Gruppenknuddeln wurde recht schnell ein sinnlich-körperliches Gruppenknuddeln. Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, wer dann die Idee hatte, den Ort des Knuddelns in bequemere Gefilde zu verlagern. Jedenfalls fanden wir uns wenig später sehr unbekleidet in einem großen Bett wieder. Es wäre völlig falsch, das Folgende als hirnfreie Fickorgie zu bezeichnen. Ganz im Gegenteil, wir wussten ziemlich genau mit wem und warum wir miteinander fickten. Von jenem Abend an schliefen wir vier in einem, wenn auch sehr großen Bett.

»Ich will euch ja nicht bei eurem munteren Treiben unterbrechen«, tönte Mithvals Stimme im denkbar unpassendsten Moment in unseren Schädeln, »Aber hatte ich schon erwähnt, dass Suman und Segato morgen Drachenreiter werden können? Nicht? Oh, dann muss ich das wohl vergessen haben. Jedenfalls werden morgen sieben Drachenbabys aus ihren Eiern schlüpfen, die alle sehr ungeduldig auf ihre Seelen warten. So, nachdem das gesagt wäre, könnt ihr euch weiter das Hirn aus den Schädeln ficken.«

»Gilfea, dein Drache ist vulgär und hat ein verdammt schlechtes Timing!«, knurrte ich Gilfea an, den ich gerade in meinen Armen hielt, während er damit beschäftigt war, die Tiefe seiner Zuneigung zu mir stoßweise auszuloten.

»Ich weiß!«, knurrte Gilfea und zog sich aus mir ohne Frustration zurück, »Und das Schlimme ist, diese Echse tut das absichtlich! Trotzdem, ich kann ihm nicht böse sein. Er ist halt ein Teil von mir. Aber hast du überhaupt zugehört, was Mithval gesagt hat? Morgen werden du und Suman Drachenreiter!«

Wow! Erst Gilfeas Wiederholung von Mithvals Worten brachte mich zurück in die Wirklichkeit. Ich schaute zu Suman hinüber, der sich gerade von Gildofal löste und strahlte ihn überglücklich an. Suman strahlte zurück, kam auf mich zu und umschlang mich mit seinen Armen. Wir küssten uns, tief und leidenschaftlich, unsere Erregung gewann die Überhand und wir liebten uns. Gildofal war zu Gilfea gekrabbelt und hatte sich an ihn gekuschelt. Die beiden schauten uns zu, wobei wohl Gilfea in Gildofal das fortsetzte, was er bei mir begonnen hatte, bevor wir von Mithval unterbrochen wurden. Überglücklich, zufrieden und erschöpft schliefen alle aneinandergeschmiegt friedlich ein.


Unser großer Tag! Während des gemeinsamen Frühstücks, das in einer völlig neuen, sehr verliebten Athmosphäre stattfand, trudelte die offizielle Benachrichtigung der Schule ein. Am heutigem Tage stände das Schlüpfen von sieben Drachen bevor. Man freue sich uns mitteilen zu dürfen, dass zwei dieser Drachen uns, Suman und mir, zugedacht seien. Man würde uns gegen 10:00 Uhr in der Schule erwarten, um uns mit letzten Informationen zu versorgen.

Schlichter ausgedrückt: die Sache wurde ernst! War ich mir wirklich sicher, dass ich das wollte? Ich musste an das Buch der Drachenkunde denken. Als ich es vor Jahren in der Gildeschule Crossars fand und darin blätterte, war meine Begeisterung für diese Wesen sofort entbrannt. Hätte man mich damals gefragt, ich hätte ohne zu zögern sofort ja gesagt. Doch seit meiner Schulzeit war viel geschehen. Inzwischen wusste ich um die Mängel des Buches. Es wimmelte nur so von Irrtümern und Fehlinformationen. Die Drachen, wie Mithval, Narsul, Eargilin, Ythlingas, Toldin, Lindor oder wie sie auch alle hießen, waren so vollkommen anders, als in dem alten Buch beschrieben war. Wenn es nach dem Buch ging, hätten die Echsen furchteinflößende, ehrerbietende Bestien voller Ernsthaftigkeit und Stolz sein müssen. Doch das Letzte, was diese Drachen waren, war ernsthaft. Aber gerade ihre lockere, ironische und scherzhafte Art, mit der sie das Leben und die Welt bereicherten, war es, was meine geflügelten Freunde so beeindruckend und weise machte. Änderte die Erkenntnis, dass meine Begeisterung auf Fehlinformationen beruhte, etwas an meiner Begeisterung für sie? Nein, denn die Wirklichkeit machte sie für mich nur noch faszinierender und liebenswerter.

Ein Aspekt bei der Sache blieb unbeantwortet; einen den ich nicht vollständig durchdrungen hatte. Mein Wunsch war es Drachenreiter zu werden. Dem Lehrbuch nach war es vergleichbar damit ein Pferdereiter zu werden. Erogal hatte diesen Eindruck versucht zu korrigieren, indem er mir seine Geschichte erzählte, doch habe ich erst durch Gilfea und Mithval verstanden, was es wirklich hieß, ein Drachenreiter zu werden, nämlich eins zu werden mit dem Drachen. War ich dazu wirklich bereit?

Ich liebte drei Männer: Suman, Gilfea und Gildofal. Zwei waren Drachenreiter. Waren Gilfea und Gildofal anders als Suman? Ja und nein. Nein, denn sie waren genauso wie Suman und ich zwei junge Typen, Kindsköpfe, die fast noch grün hinter den Ohren waren. Nein, denn bei ihnen fühlte ich immer eine unterschwellige Strömung von Glück, Zufriedenheit, Ausgeglichenheit und Weisheit. Es war wie eine harmonische Melodie, die aus ihnen herausströmte und die ich fast hören oder sogar fühlen konnte.

Warum also nicht? Was hielt mich?

Als wir in der Drachenschule eintrafen, trennten sich Gildofal und Gilfea von Suman und mir. Sie meinten, sie würden der Zermonie von der Besuchertribühne aus beiwohnen. Wir widerum begaben uns zum Büro des Drachenbrutmeisters, wo unser persönlicher Vertrauenslehrer auf uns wartete und alle Anwärter in einen Raum mit mehreren Sitzgruppen geleitete. Ein paar der anderen Schüler, die ebenfalls heute Drachenreiter werden sollten, waren bereits eingetroffen. Ich schaute in ihre Augen und sah, dass es ihnen ging wie mir.

»Hast du Angst?«, fragte mich Suman und griff nach meiner Hand.

»Ein wenig. Du?«

»Natürlich!«, Suman zog mich zu sich heran und gab mir einen Kuss, »Du musst es nicht tun, wenn du es nicht willst. Doch wenn du es tust, dann nicht für mich. Tu es für dich und nur für dich. Ich liebe dich, ob als Drachenreiter oder als Mensch.«

»Ich weiß!«, ich küsste Suman zurück, »Doch für dich gilt das gleiche. Tu es, wenn es das ist, was du willst. Denn auch ich liebe dich.«

Wir schauten uns einander in die Augen und waren uns plötzlich absolut sicher. Wir wollten Drachenreiter werden. Das heisst, wenn uns die Viecher überhaupt haben wollten.

Unser Vertrauenslehrer Pjotr Krasnopow, ein Eismann aus der autonomen Provinz »Nord Seewasser«, gesellte sich zu uns: »Und, wie geht es euch?«

»Ich bin nervös. Innerlich zittere ich wie Espenlaub«, gestand Suman. Ich brachte meinerseits kein Wort raus und nickte nur zustimmend.

Pjotr klopfte uns freundschaftlich und aufmunternd auf die Schultern: »Gut, sehr gut. Ich wäre besorgt, wenn es anders wäre.« Pjotr hockte sich vor uns hin und schaute uns wechselweise in die Augen. Seine sonst so lockere Art war verschwunden und hatte einem ernsten Mann Platz gemacht:»Ich weiß, ihr habt euch die Frage bestimmt schon tausendmal gestellt. Seid ihr euch sicher, dass ihr das tun wollt? Wollt ihr die Seelen zweier Drachen werden?«

Ich begriff, dass dies die echte, wirklich Frage war. Der Direktor würde sie uns später nochmals stellen, doch dann war sie Teil der Zeremonie und damit schwer zu verneinen, vergleichbar damit auf der eigenen Hochzeit beim Jawort »Nein« zu sagen oder in einer Schwimmhalle das 5 Meter Brett zu erklimmen und dann doch nicht zu springen.

Pjotr Augen bohrten sich in mein Gewissen, doch ich hielt seinem Blick stand: »Ich bin mir sicher! Ich will!«

Mit einem kaum sichtbaren Nicken wandte sich Pjotr Suman zu und fixierte meinen Freund ebenfalls: »Suman?«

»Ich will Drachenreiter werden!«, kein Zögern, keine Unsicherheit.

»Gut! Sehr gut!«, Pjotr erlaubte sich ein Lächeln, »Ihr habt beide einen starken und gefestigten Charakter. Kommt!«

Die Zeremonie begann. Alle Kandidaten wurden in die Aula der Schule geführt, wo sie vom Direktor begrüßt wurden: »Heute, meine Schüler, wird für einige von euch einer der wichtigsten, schönsten und beeindruckendsten Tage werden, die ihr als Drachenreiter erleben dürft.«

Mit feierlicher Stimme rief der Direktor jeden einzelnen Anwärter mit seinem Namen auf. Jeder aufgerufene erhob sich von seinem Sitzplatz. Als alle standen begann der Schulleiter mit seiner üblichen Ansprache: »Heute ist euer Tag! Ihr wurdet in den letzten Wochen und Monaten auf diesen Moment vorbereitet. Nun frage ich euch ein letztes Mal. Wollt ihr für den Rest eures Lebens eure Kraft, eure Energie, euren Verstand und eure Seele in den Dienst eines Drachen stellen? Denkt gut nach. Habt ihr die Entscheidung getroffen, gibt es kein zurück mehr.«

Natürlich antworteten wir mit »Ja!«. Wer hätte die Kraft, in einem derart feierlichem Moment mit »Nein!« zu antworten?

Wir wurden in den Hof mit den Dracheneiern gebracht. Ich war viel zu aufgeregt, um alles mitzubekommen. Suman schien es ähnlich zu gehen. Ich spürte, wie er neben mir stehend nach meiner Hand tastete, sie fand, ergiff und fest drückte. Ich sah zu ihm hin. Er lächelte. Ich lächelte zurück. Er zwinkerte mir zu. Ich zwinkerte zurück. Wir verstanden uns.

Händchenhaltend erreichten wir die Arena. Vor uns standen sieben Eier, fein säuberlich an einer Wand des Hofes aufgereiht. Aus meinem Augenwinkel entdeckte ich Narsul, Eargilin und Mithval auf Zinnen über dem Hof hocken. Sie grinsten – natürlich! Auf der Besuchertribühne konnte ich nicht nur Gildofal und Gilfea ausmachen, sondern auch Roderick, Thonfilas, Turondur und Uskav waren anwesend.

Und dann begann es. Ich dachte ein leises Knacksen zu hören und schaute mich nach dem Ursprung des Geräusches um. Es war ein Drachenei, das ein feinen, zuerst kaum sichtbaren Riss bekommen hatte. Es blieb nicht bei diesem ersten Riss und es blieb auch nicht bei dem einem Ei. Plötzlich, als wenn sich die Drachenbabys abgesprochen hätten, begannen alle Eier zu wackeln und eins nach dem anderen Risse zu bekommen. Wenige Augenblicke später platzen bereits die ersten Brocken Eischalen ab und dunkle Echsenaut wurde sichtbar. Gebannt, unmöglich mich zu bewegen, schaute ich dem Schauspiel zu. Rasend schnell befreiten sich die kleinen Drachen aus ihren Hüllen. Man hatte mir vorher gesagt, dass sie alle gleich aussehen würden, graubraun, doch als ich sie sah, überraschte es mich trotzdem.

Sie sahen so hilflos, zart und zerbrechlich aus, wie sie unsicher und unbeholfen auf ihren kleinen Beinchen auf uns zu tapsten. Ich schaute von einem Drachen zum anderen und wechselte kurz einen Blick mit Suman, der mich glücklich anstrahlte. Er hatte seinen Drachen gefunden! Ich wusste es, ich konnte es sehen, obwohl das betreffende Reptil noch mehrere Meter von meinem Schatz entfernt war. Ich freute mich für Suman, denn auf eine Art, die ich nicht beschreiben könnte, wusste ich, dass dieser kleine Drachen gut für ihn war.

Doch wo war mein Drache?

»Suchst du jemanden?«

Ivoricalad

Wie viele Magier braucht es, um eine Glühbirne zu wechseln?
Wieso wechseln? Die Birne ist doch noch gut… mit dem passenden Zauberspruch.

Dummer Magierwitz Nummer 37

Viele Dinge sind eine Frage der Perspektive, insbesondere, wenn man eine Stimme nicht mit seinen Ohren, sondern im eigenen Kopf hört. So verwundert es nicht, dass ich die Quelle der fröhlichen, irdenen Stimme, die in meinem Schädel erklang, im ersten Moment nicht ausmachen konnte. Erst, als ein wirklich kleiner graubrauner Drache mit seinem Minikrallen an meinem Hosenbein zupfte, wurde mir klar, wer da mit mir gesprochen hatte.

Ich ging in die Hocke und betrachtete mir das Hosenbeinzupfmonster genauer. Er war kleiner als die anderen Babydrachen, schien dafür aber frecher zu grinsen – Frech! Nicht albern, wie Mithval.

»So, so. Du willst also meine Seele werden?«, brabbelte die Echse in meinem Kopf ungefragt los, »Sonderlich beeindruckend bist du aber nicht. Ich frag mich, ob der Typ wirklich recht hat.«

Dieser Drache sprach in Rätseln. Welcher Typ?

»Ach, das kannst du ja nicht wissen. Der Typ in der anderen Welt. Du weißt schon. Auf der anderen Seite. Verstehst nicht? Ich Drache! Ich Magie! Ich kommen aus magischer Welt! Du verstehen?«

»Ähm, ich glaube ja…«, entgegnete ich gespielt gereizt. Dieses Drachenvieh verarschte mich.

»Yupp! Nach Strich und Faden. Wenn es dich nicht weiter stört, verarsch ich dich später weiter. Jetzt würde ich gerne mit dieser Vereingungssache loslegen. Wär doch schade, wenn mein Leben knapp 5 Minuten nach meiner Geburt wieder enden sollte. Es sei denn, du hättest es dir anders überlegt und hast keine Lust darauf mit einem Drachen abzuhängen. Ich mein…«

»Halts Maul und leg los!«

»Ja doch! Jetzt nicht so hektisch. Ich bin ein drei Minuten altes Drachenbaby! Mit sowas geht man nett um.«

Das kann ja lustig werden!

»Und ob!«

Und das letzte Wort musste er wohl auch noch haben

»Worauf du einen lassen kannst!«


Und dann begann es. Ich hockte nach wie vor vor meinem zukünftigen Drachen. Jener fixierte mich mit seinen Augen, die plötzlich anfingen zu glühen. Es war ein tiefes, dunkles Rot welches da glühte. Kraft und Stärke steckte in ihm. Es war das Rot von Blut, das Rot einer aufgehenden Sonne und das Rot des inneren Feuers der Erde. Es war, als wenn zwei Vulkane tief in den Augen des Drachens schlummerten und nur darauf warteten ausbrechen zu können. Dieses Glühen, es zog mich magisch in seinen Bann. Was ich wörtlich und nicht sprichwörtlich verstanden haben möchte. Hier war definitiv Magie am Werk. Immer tiefer schaute ich hinein und versank in der Glut, die mich wärmte ohne zu verbrennen.

Es passierte zwischen zwei Augenblicken, dem Augenblick, der einem Blinzeln entspricht. Ich stand nicht mehr im Hof der Drachenreiterschule. Ich befand mich in der Glut. Sie hüllte mich ein, drang in mich ein und füllte mich aus. Eine Melodie erklang – Ich hörte eine Melodie. Zuerst war sie nur sehr leise, kaum wahrnehmbar, doch je mehr mich das rote Leuchten der Drachenglut einhüllte und mich durchdrang, desto deutlicher konnte ich sie hören oder besser fühlen. Ich kannte die Melodie, das heißt ich kannte die Art dieser Melodie. Es war der gleiche Stil, wie die, die Fingolf summte, als er Suman vom Projektil des Todesigels befreite. Oder die Melodie Gilfeas, als er die Phiole mit dem Blut von Mithvals Mutter in seinen Händen hielt. Doch so sehr sich die Melodien einander ähnelten, so sehr unterschieden sie sich auch voneinander. Hier und jetzt, im Moment der Vereinigung mit meinem Drachen begriff ich, was es war. Diese Melodie war der Drache. Seine spirituelle magische Essenz, und ich wurde zu ihrem Hüter und Bewahrer. Das bedeutete es also, eine Drachenseele zu sein.

»Diese Melodie, die du hörst, wird dich nie wieder verlassen!«

Jemand sprach mit mir. Ich wusste, dass es nicht mein Drache war, der mit mir sprach. Ich wusste auch, dass ich diese Stimme vorher noch nie gehört hatte. Trotzdem klang sie vertraut.

»Ich habe nicht viel Zeit. Der Prozess der Vereinigung läßt sich nicht beliebig hinauszögern, ohne dich oder Ivoricalad zu gefährden.«, meinte die Stimme.

»Ivoricalad?«, fragte ich.

»Segato, bitte, ich dachte dein Elbisch wäre besser.«, wurde ich von der Stimme verspottet.

»Moment calad heißt Licht. Aber ivori, ivor müsste Kristall sein. Kristalllicht?«

»Nicht schlecht, Segato. Oder sollte ich besser Prado Cassanter sagen?«

»Wer bist du? Wo bist du? Was willst du?«

»Das ›Wer‹ ist nicht wichtig. Das ›Wie‹ dagegen schon wesentlich interessanter. Die Vereinigung mit Ivoricalad ermöglicht uns, für einen kurzen Moment miteinander zu sprechen. Ich bin dort, wo die Drachen und wo auch ein Teil von dir her kommt.«

»Das Erbe meines Vaters…«, flüsterte ich mehr zu mir selbst, als zu meinem unbekannten Gesprächspartner.

»Ja, dein Erbe. Du bist ein Istarilari, vergiss das nie. Dein Erbe kann dir große Kraft verleihen. Ohne dich wäre dein Freund längst tot. Deine Liebe zu ihm und deine Verzweiflung ihn zu verlieren, hatten dir die Stärke und den Mut gegeben, dein Erbe zu nutzen. Inzwischen scheinst dich der Mut wieder verlassen zu haben. Doch ist es von großer Wichtigkeit, dass du lernst, ein Istarilari zu sein. Deine Freunde werden deinen Beistand benötigen und du den ihren.«

»Wie lerne ich ein Istarilari zu werden? Ich bin allein. Es gibt keine Istarilari von denen ich lernen könnte und mein Vater… Ich habe ihn nie kennen gelernt.«

»Ivoricalad wird dich lehren, dein Erbe zu nutzen. Vertrau ihm, er ist ein liebender Geist und ein wirklich besonderer Drache, vielleicht ein wenig vorlaut.«

»Was, wenn ich versage?«

»Das darfst du nicht. Und du wirst es auch nicht, wenn du lernst, dass du stärker bist, als du denkst. Außerdem hast du Freunde, sie werden dort einspringen, wo du schwach bist. So wie du sie stützt und auffängst, wo sie straucheln. Und, wer weiß, vieleicht bietet sich mir noch eine weitere Chance, mit dir sprechen zu können.«

»Wer bist du?«

»Ein Freund…«, die Stimme verschwand. Zurück blieb nur Ivoricalads Melodie, die mich einhüllte, durchdrang und, zusammen mit der roten, mich wärmenden Glut, ein Teil von mir wurde. Ich schloss meine Augen, doch das rote Leuchten blieb und wurde sogar stärker, aber nicht unangenehmer. Ganz im Gegenteil, Licht und Melodie liebkosten mich. Ich konnte sie fühlen, fast greifen: »Ich bin Segato G’Narn. Seele von Ivoricalad!«

»Und ich bin Ivoricalad. Drache von Segato G’Narn, dem Istarilari.«

Ich öffnete meine Augen. Das rote Glühen und die Meldie waren aus meinem Blickfeld und meinen Ohren verschwunden, doch spührte ich sie tief in mir. Vor mir stand ein sehr kleiner Drache, selbst für ein Drachenbaby, der mich frech, fast provozierend angrinste: »Na, nettes Plauderstündchen gehabt?«

Im ersten Moment war ich sprachlos. Dieser Drache war anders. Er war weder ein brauner Walddrache, noch ein grüner Grasdrache, er war auch nicht leuchtend blau, wie ein Seedrache. Ivoricalad besaß keine Farbe. Er war nicht silbern und auch nicht golden. Am ehesten erinnerte er an Mithval, denn er war dessen totales Komplementär und ihm trotzdem sehr ähnlich. Wo Mithval selbst als Baby groß, fast riesig war, war Ivoricalad winzig. Mithvals normale Farbe, wenn er nicht sein Mithrilkleid enthüllte, war ein tiefes, hochglänzendes Schwarz. Ivoricald war weiß, kristallweiß, denn er war ein lichtdurchfluteter Kristalldrachen. Seine Schuppen waren klar wie Glas und reflektierten das eingefangene Licht in alle Richtungen. Und auch im Charakter gab es einen deutlichen Unterschied. Mithval war albern, der totale Gruppenkasper und Pausenclown, mein Drache hingegen, war ein frecher Rotzlöffel. Eins war mir sofort klar: wenn ich der kleinen Echse nicht sofort kontra gab, würde sie mir ewig auf der Nase rumtanzen.

»Doch, war nett.«

Die freche Komponenten auf Ivoricalads Grinsen verschwand und macht stattdessen einer zufriedenen und anerkennenden Platz: »Oh, wir zwei werden noch viel Spaß miteinander haben.«

»Komm, ich möchte dich unseren Freunden vorstellen«, mit diesen Worten schnappte ich mir meinen Drachen und setzte ihn mir auf die Schulter. Klein und leicht genug war er zwar, doch schien ihn diese Behandlung etwas zu stören: »Hey, ich kann selbst laufen!«

»Was, dein Watscheln nennst du laufen?«

Ivoricalad kicherte albern: »Ich glaub du gefällst mir.«

Der erste, der uns begegnete, war Mithval, der direkt vor mir landete: »Hallo Brüderchen, hast du also doch noch eine arme Seele gefunden, die dein vorlautes Mundwerk aushalten muss? Mein Beileid, Segato, die kleine Kröte hast du wirklich nicht verdient.«

»Mithi, du alte Blechechse, welch unwillkommenes Wiedersehen!«

»Je kleiner sie sind, desto lauter keifen sie.«

»Viel Muskeln, wenig Hirn!«

War ich in einem falschen Film gelandet? Nicht nur, dass sich die beiden Drachen kannten, sie tauschten auch sofort kleine Nettigkeiten miteinander aus, dass ich mich fragte, ob Drachen wirklich so friedlich waren, wie man immer behauptete. Diese beiden schienen jedenfalls gleich aufeinander losgehen zu wollen.

Und als wenn ich es nicht geahnt hätte, sprang Ivoricalad plötzlich von meiner Schulter und flatterte auf Mithval zu. Ich dachte schon, die Riesenechse würde kurz »Schnapp« machen und mit meinem Drachen und mir wäre es aus, doch stattdessen umarmte Mithval Ivoricalad mit seinen gigantischen Schwingen. Dabei ging der Mithvaldrache mit einer Sanftheit vor, die ich nie erwartet hätte.

»Ach Mithi, ich bin glücklich wieder bei dir zu sein!«

»Ivo, kleiner Bruder, ich bin so dankbar, dass du es in diese Welt geschafft hast. Du ahnst nicht, wie sehr ich dich vermisst habe.«

»Ivo? Mithi? Brüder? Wie jetzt?«

Was soll ich sagen? Die beiden Drachen sprachen in Rätseln. Immerhin bemerkten sie meine Verwirrung und lächelten mich schelmisch an.

»Mithi, Mithval, ist mein großer Seelenbruder. Bei uns Drachen ist das mit der Elternschaft, ähm etwas komplizierter. Wir entstammen sowohl der realen, als auch der Welt der Magie.«

»Segato, du weißt, warum Ivo dein Drache geworden ist? Du und Suman, ihr zwei habt es erst möglich gemacht.«

Ich glaube ich habe Mithval noch nie so ernst gesehen. Mein kleiner Kristalldrache hockte auf Mithvals rechter Schulter. Beide Echsen schauten mich mit ernsten, fast feierlichen Minen an. Doch was hatten Suman und ich mit Ivoricalads Existenz zu tun? Wenn er Mithvals Bruder war, dann müssten seine Eltern…Moment Seine Mutter?

»Du verstehst es!«, der kleine Drache strahlte mich aus glücklichen Augen an, »Du und Suman, ihr beiden habt das Blut unserer Mutter gerettet und dabei euer Leben riskiert.«

»Aber… aber… Es war Suman, der sein Leben riskierte. Ich habe ihn in Gefahr gebracht. Wenn jemand einen Drachen wie dich, Ivoricalad, verdient hat, dann Suman!«

Mit für ein gerade mal zehn Minuten altes Drachenbaby erstaunlicher Geschicklichkeit hopste Ivoricalad von Mithval herab, auf mich zu, um mich dann mit seiner Schnauze anzustupsen.

»Um das gleich mal klar zu stellen. Niemand hat einen Drachen verdient. Es gibt verschiedene Gründe, warum wir jemanden als Seele auswählen. Eine Art von Belohnung für noble Taten gehört nicht dazu. Suman hat den Drachen bekommen, der ihm vorbestimmt war, so wie wir beiden für einander bestimmt sind. Und wenn wir schon dabei sind, nenn mich ›Ivo‹. ›Ivoricalad‹ ist erstens viel zu lang, und zweiten habe ich immer das Gefühl, etwas ausgefressen zu haben. Und nun lass uns zu deinem Freund gehen. Ich glaube er möchte dir einen netten kleinen Drachen vorstellen.«

Wir fand Suman zusammen mit Gilfea, Gildofal, Thonfilas, Uskav, Roderick und einem süßen kleinen grünen Drachen am anderen Ende des Hofs. Der Drache hockte auf Sumans Schulter und hatte seinen langen Schwanz um dessen Oberkörper gewickelt. Drache und Reiter strahlten mich fröhlich und überglücklich an.

»Segato!«, rief Suman als er mich, auf ihn zukommen sah, »Segato! Schau dir meinen Drachen an! ›Tingalen‹, ist sie nicht schön?«

Und ob sie es war. Sumans Drache war der Inbegriff von Schönheit und Eleganz. Obwohl sie noch sehr jung war, konnte man schon jetzt erkennen, dass sie mal ein zwar kleiner, aber sehr, sehr schneller Drache werde würde. Diese Echse war nicht für schwere Transporte über weite Distanzen geeignet. Ihr ganzer Körperbau, die Form ihrer Flügel und ihres Schwanzes entsprachen dem eines Jagddrachens: sehr schnell und sehr wendig. Auf Sumans Schultern hockte völlig unzweifelhaft eine zukünftige Meisterin der Flugkünste.

Tingalen schaute mir genau zu, wie ich sie ausgiebig studierte. Ihr Kopf folgte jedem meiner Blick und als sie sich kreuzten, kicherte sie kurz und… Ich traute meinen Augen nicht! Aus dem grünen war ein blauer Drache geworden und wenige Sekunden später war sie sogar braun.

»Wow!«, gestand ich, »Ein netter Trick!«

»Danke!« entgegnete Tingalen mit weicher, samtiger Stimme, die an das Schnurren einer Raubkatzte erinnerte.

»Oh!«, ich schlug mir mit der flachen Hand gegen die Stirn, »Jetzt wird mir auch klar, warum Eargilin manchmal grün ist! Ihr beiden seid Chameleondrachen.«

»Ja«, antwortete Gildofal und tätschelte Eargilin der plötzlich neben ihm stand, »Nur das mein geschuppter Freund vergessen hat, dies zu erwähnen. Ich habe es auch erst eben erfahren. Mir hat er sich immer nur blau gezeigt.«

»Ich bin auch kein richtiger Chameleondrache wie Tingalen es ist. Ich bin ein blauer Seedrache, der für kurze Zeit seine Schuppen grün färben kann. Ich wusste das bis vor kurzem selbst nicht.«

»Ich weiß ja nicht, was ihr noch vor habt, aber mir ist nach Feiern!«, verkündete Gilfea mit lauter Stimme. Niemand widersprach, ganz im Gegenteil erntete Gilfeas Vorschlag hundertprozentigen Zuspruch.

Wir verteilten uns auf die größeren Drachen. Mithval trug Gilfea, mich und seinen kleinen Bruder, Ivo, den er mit seiner rechten Klaue packte. Toldin, Lindor und noch ein paar andere Drachen trugen den Rest der Bande. Das Ziel war unser neues Heim- und Gildegästehaus, in dem zur Feier des Tages ein kleiner Umtrunk geplant war. So jedenfalls wurde es Suman und mir gesagt. Dass sich hinter dem» kleinen Umtrunk« etwas mehr verbarg, wurde schnell deutlich, als wir uns der Drachenhöhle näherten.

Mithval steuerte die Landerampe aus nördöstlicher Richtung an. Die Drachenreiterschule lag im nordwestlichen Viertel Daelbars. Statt nun direkt aus Nordwesten einzuschweben, umrundete Mithval die Herberge in einem weiten Ostbogen und steuerte, die Sonne im Rücken, aus fast südlicher Richtung unser neues Heim an.

Ich wollte kaum glauben, was ich sah. Die Kuppel von Kasimirs und Fingolfs alter Höhle erstrahlte in einem neuen goldenen Feuer ähnlich der großen Halle des Rates, wenn auch um einige Dimensionen kleiner. Links und rechts des Landestegs reihten sich je zwei Fahnenmasten, an deren Spitze farbenprächtige Flaggen majestätisch im Wind wogten. Wie ich später erfuhr handelte es sich um die neuen Farben unserer Drachenfamilien, also Gilfeas und Mithvhals, Gildofals und Eargilins, Sumans und Tingalens, sowie Ivoricalads und meiner.

Mithval setzte zur Landung an. Sanft und auf den Punkt genau kam er auf der Startrampe zum Stehen nachdem er kurz vorher Ivocarilad abgesetzt hatte. Der große Drache ließ uns absteigen und hopste in die renovierte Höhle, in der ein Teil des Umtrunks statt fand. Dieser sogenannte »Umtrunk« entpuppte sich als alles andere als ein einfacher Umtrunk. Es war ein ausgemachtes Fest! Die gesamte Anlage war geschmückt und dekoriert. Unmengen von Blumenbouquets und kleinen Büschen in Kübeln säumten Wege und Gänge. Bunte Laternen mit Elbenlichtern erhellten die Räume mit ihrem sanften und traumhaften Licht. In der großen Halle hatte man ein Büffet aufgefahren, dass seinesgleichen suchte. Das extrabreite Grinsen unserer zwei Freunde machte die Identifikation der Urheber denkbar einfach. Gilfea und Gildofal hatten dieses »kleine Fest«, wie sie es formulierten, hinter Sumans und meinem Rücken organisiert. Mithval, diese verschlagene Monsterechse, hatte die beiden bereits vor Tagen über die bevorstehende Vereinigung informiert, mit dem Effekt, dass sich Drachen und Reiter gegen uns verschworen hatten. Die behauptete Rohrleitungskatastrophe war alles andere als eine solche. Sie diente einzig dem Zweck uns, Suman und mich, bis zum Fest von der Baustelle fern zu halten.

Somit war nicht nur das Büffet eine große Überraschung, sondern insbesondere die Beichte, dass die Bauarbeiten so gut wie abgeschlossen waren. Die Arbeiter hatten, mit dem massiven Einsatz diverser Zaubersprüche und Beschwörungen, die Arbeiten kurz vor unserer Vereinigung mit den Drachen abgeschlossen. Bis auf ein paar kleine Schönheits- und Ausbesserungsarbeiten war alles fix und fertig.

»Es ist fantastisch geworden!«

Sumans Begeisterung konnte ich nur teilen. Wir hatten die große Drachenhalle kaum betreten und waren bereits überwältigt. Kasimirs altes Heim war wirklich fertig! Komplett fertig! Es wirkte neu und frisch, ohne, dass dabei ihre Geschichte als eine der ältesten Höhlen Daelbars gelitten hätte. Wie altes, stumpfes Silber, das man von dicken Schicht Patina befreit und auf Hochglanz poliert hatte, funkelte unser neues Heim in einem neu-alten Glanz. Ich sah mich um und fühlte mich heimisch. Bei allen Arbeiten, die an diesem sehr alten Gebäude vorgenommen werden mussten, widerstanden wir der Versuchung, alles modern gestalten zu wollen und die Geschichte dieses Ortes und damit seine Identität zu verleugnen. Auf der anderen Seite waren manche Dinge in Kasimirs und Fingolfs Höhle schon etwas in die Jahrhunderte gekommen. Mit anderen Worten, es war schlicht und einfach marode, wie zum Beispiel ein paar Türen im Gästebereich, die bei leichtester Berührung aus ihren Rahmen fielen und zu morschen Holzspänen zerbröstelten. Natürlich erhielten wir, was erhaltungsfähig war, insbesondere die antiken Möbel fanden weiterhin Verwendung. Alles in allem hatten wir eine harmonische Verbindung von sehr modernen und alten Elementen erreicht.

»Und, wie gefällt es dir?«, fragte mich Gilfea, nachdem ich einen ersten Eindruck von unserem neuen Heim gewonnen hatte.

»Ich schließe mich Suman an. Es ist fantastisch geworden! Wann haben die die Höhle fertig bekommen? Gestern herrschte hier noch ein einziges Chaos. Obwohl ihr uns mit dem Schaden im Rohrnetz angeflunkert habt, kann ich mir kaum vorstellen, wie ihr das alles über Nacht geschafft habt.«

»Du warst richtig sauer, oder?«, blinzelte mich Gilfea an, »Mithval hat mir von deinem Wutausbruch erzählt und sich dabei köstlich amüsiert. Erwähnte ich schon, dass dieser Drache einzigartig ist? Er meinte, dass es Zeit sei, die Herberge endlich zu eröffnen. Schließlich sei sie ja fast fertig und es würden eh nur noch ein paar Abschlußarbeiten fehlen. Also hat er den Bauleuten mächtig Beine gemacht. Gegen Abend, wir waren gerade beim Essen, hat er dann ein paar Magier der Drachenreiterschule dazu bewegt, den Dingen etwas mehr Dynamik zu verleihen. Mithval wollte, dass zur Feier des Tages die Höhle wirklich fertig wird«, Gilfea Gesicht zeigte einen schelmischen Ausdruck, »Wenn sich meine Echse etwas in den Kopf setzt, steht man ihr besser nicht im Weg. Mithval kann offenbar recht überzeugend sein, denn die Herberge ist bis auf Kleinigkeiten tatsächlich fertig geworden.«

Ich war sprachlos. Während Suman und ich zu Drachenreitern wurden, hatten unsere Freunde, allen voran Thonfilas, Uskav und Roderick, den Umzug unserer Sachen aus Sumans alter Höhle organisiert. Vom Topf bis zum Kleiderschrank von der Zahnbürste bis zum Drachenreitersattel war alles verpackt, verstaut und zum neuen Heim verfrachtet worden. Für Suman und mich begann mit dem heutigem Tag ein neuer Teil unseres Lebens – Wir waren Drachenreiter!

Marco

»Hol schon mal den Drachen, Harry!«

Zitat aus der beliebten Seh-O-Matic-Kriminalserie Derrikus

Segato G’Narn, der Drachenreiter, unterschied sich nicht wesentlich von Segato G’Narn, dem Gildemeister. Mein Leben blieb mehr oder weniger so, wie es war: hektisch. Zwei Tage nach der Vereinigung mit Ivo drückte ich wieder die Schulbank in der Drachenreiterschule. Meine und Sumans Ausbildung war noch lange nicht abgeschlossen, wenn sie uns auch etwas leichter erschien. Wenige Tage nach dem großen Tag waren wir wieder fest in den Klauen der Schulroutine gefangen. Und was der Schule nicht gelang uns an Energie abzusaugen, das besorgte unser Spezialprojekt, das zukünftige Gildhaus Daelbars, die Herberge der Drachenreiter und ihrer Freunde. Nachdem das Haus als solches fertig war, hieß es nun, aus einem Gebäude eine Herberge zu machen.

Was sich hingegen deutlich änderte, war die Beziehung zu Gilfea und Gildofal. Wir vier wurden zu einer Familie. Ich muss gestehen, dass ich es selbst nicht wirklich verstand, was zwischen uns genau ablief, aber dafür war es wunderbar. Meine Beziehung zu Suman blieb zwar etwas spezielles, genau wie die zwischen Gildofal und Gilfea, doch im Prinzip waren wir vier ineinander verliebte junge Drachenreiter. Wir lebten miteinander und wir teilten alles miteinander, einschließlich das Bett. Wenn schon unsere Drachen alle an- und umeinandergerollt miteinander in einer Höhle schlafen konnten, konnten wir das auch. Zugegeben, zwischen den Echsen lief nichts miteinander, jedenfalls nichts sexuelles. Wir vier Jungs hingegen, kosteten unsere allseitige Zuneigung weidlich aus.

Das heißt nicht, dass wir kopflos mit- und aneinander rummachten. Ganz im Gegenteil Es kristallisierten sich recht schnell zwei bevorzugte Paarungen heraus. Natürlich lag primär Suman neben, auf oder unter mir. Schließlich war Suman mein Leben! Genau so wie Gildofal Gilfeas Leben war. Da aber sowohl Gilfea als auch ich einen Lycanthropen zum Partner hatte, die von Zeit zu Zeit ihre lycanthropen Bedürfnisse auskosten wollten, kam es fast zwangsläufig dazu, dass Gilfea und ich uns nahe kamen, wenn unsere beiden Köter es mal wieder miteinander trieben.

Man könnte jetzt auf den Gedanken kommen, dass mir Gildofal nicht ganz so nah stand, wie dies Gilfea und insbesondere Suman tat. Dieser Gedanke wäre allerdings falsch. Nur weil Gildofal und ich uns eher selten körperlich liebten, hieß dies nicht, dass ich ihn auch nur ein Quentchen weniger liebte, als meine anderen beiden Freunde. Mein Problem mit Gildofal bestand darin, dass er ein Elb war. Er war über alle Maßen, ja, fast unnahbar, schön. Gildofal war perfekt. Mit ihm zu schlafen, war… überirdisch schön. Von ihm in seinen Armen gehalten, umschlungen zu werden, war eine endlose Liebkosung. Er war Glück pur, dass man heulen musste. Gildofal war perfekt – Fast, denn er konnte nicht ficken! Das heißt, er konnte es schon, nur eben auf elbische Art und das machte mir Angst.

Ich bin ein Sohn Crossars, einer Hafenstadt mit eher rauhen Umgangsformen. Meine Mutter war eine lizensierte Liebesdienerin. Ich verbrachte Jahre meines Lebens als Dieb in den Strassen der Stadt. Dieses Leben hatte mich geprägt. Man könnte auch sagen, ich bin eher bodenständig strukturiert. Wenn ich mit Suman schlief und mein Schatz den aktiven Teil übernahm, wollte und konnte ich ihn spüren, so wie Suman mich deutlich spüren konnte, wenn ich der Aktive war. Nicht, dass man mich missversteht. Weder fügte Suman mir, noch ich ihm in irgend einer Weise Schmerzen zu. Aber austoben wollten wir uns schon. Und taten es auch – Laut und wild.

Mit Gildofal funktionierte das nicht. Der Mann besaß den wohl schönsten Schwanz, den ich je gesehen hatte (nicht, dass ich viele gesehen hätte) mit absolut perfektesten und vielversprechendsten Proportionen, nur gepflegt poppen war nicht drin. Der Unterschied zwischen Suman und Gildofal war der zwischen einem Steak und einem Cremetörtchen.

Eines Abends, Suman und Gilfea waren zusammen mit Turondur und Uskav außerhalb Daelbars tätig, lag Gildofal mit mir in unserem gemeisamen Bett. Wir hatten uns gerade geliebt, als ich ihn leise schluchzen hörte. Gildofal weinte! Natürlich wandte ich mich ihm sofort zu, zog ihn zu mir heran und sah ihm in seine schönen, nun tränenverquollenen elbischen Augen.

»Hey!«, flüsterte ich leise und strich meinem Elb seine goldenen Strähnen aus dem Gesicht, »Was ist denn? Hab’ ich etwas falsches getan?«

»Nein, du nicht, aber ich!«, schluchzte Gildofal.

»Du? Was denn?«

»Ich… ich mag dich… Ich liebe dich sogar! Aber ich spüre, dass du Angst vor mir hast und ich weiß auch warum. Ich bin ein verfluchter Elb! Schön anzusehen, so schön, dass die meisten Menschen Angst vor mir haben. Ich habe einen Körper, um den man mich beneidet, den manche hassen, den ich hasse! Ich habe weder dich noch Gilfea verdient. Ich kann euch mit diesem verfluchten Scheißkörper nicht mal zeigen, wie sehr ich euch liebe!«

Ich verstand sofort, was Gildofal meinte. Er war im Unrecht und das musste ich ihm sagen. Ich nahm seinen Kopf in mein Hände, strich ihm durch die Haare, küsste ihn und ergab mich dem Anblick seiner elbischen Augen. Ich öffnete meine Drachenseele für ihn, dass er sehen und fühlen konnte, wie sehr ich ihn, Gildofal den Elb, liebte – Obwohl er ein Cremetörtchen war.

Es reichte nicht. Mein Lieblingselb weinte immer noch. Es war wohl eine etwas derbe Wortwahl nötig, um diesem Dummkopf den selbigen zu waschen: »Du hast recht. Du kannst nicht ficken!«

Das saß. Gildofal schreckte auf. Ich erntete seine volle Aufmerksamkeit. Ich fuhr fort: »Aber glaubst du wirklich, dass das für unsere Liebe wichtig ist? Glaubst du Gilfea liebt dich nicht, weil dein Elbenschwanz mehr Schokolade als Lakritze ist? Wenn du das glaubst, dann täuscht du dich. Gilfea liebt dich nicht nur, er vergöttert dich! Er hat es mir gesagt! Gilfea kann von dir und deinem Körper nicht genug bekommen. Dieser Mann würde alles für dich tun, weil er weiß, dass deine Liebe zu ihm vollkommen ist. Er kann es fühlen. Er würde für dich sterben, wenn es nötig wäre. Und ich würde es auch!«

Gildofal schniefte zwar noch, doch schien seine Traurigkeit langsam zu schwinden und dafür Unglauben Platz zu machen. Ich fuhr fort: »Ist dir noch gar nicht aufgefallen, dass wir vier auch deswegen so gut zusammen passen, weil wir uns gegenseitig ergänzen? Weißt du, was ihr alle für mich seid?«

Gilfea schüttelte schniefend seinen Kopf, also fuhr ich fort: »Suman ist mein Leben, er macht mich vollständig. Ohne ihn bin ich nichts. Gilfea ist für mich wie ein Bruder, ein Halteseil und Ankerpunkt in rauer See. Suman ist Leben, Physik, Materie, er verkörpert alles, was ich greifen und anfassen kann. Gilfea hingegen ist Verstand, Logik und Wissenschaft. Doch du, mein trauriger elbischer Freund, bist der Traum, die Magie und der Zauber in unserer Welt! In dir kann ich mich verlieren und schweben. Ich möchte dich nicht auch nur ein bisschen anders als du bist! Wenn wir miteinander schlafen, ist es, als wenn mich eine andere Welt berühren und liebkosen würde. Gildofal, bitte, bleib so wir du bist.«

»Soll ich dir etwas verraten?«, fragte ich nach einer längeren Pause, in der Gildofal meine Gedanken verdauen konnte.

»Ja, bitte«, flüsterte der Elb leise.

»Es stimmt, ich habe mich von dir fern gehalten und ich schäme mich dafür«, ich seufzte, zu gestehen, was ich gestehen wollte, war schwieriger als ich dachte, »Ich hatte Angst vor dir. Ich habe Angst vor dir.«

»Angst? Warum?«, Gildofal sah mich mit noch größeren Augen an, als dies bei seinen eh schon großen Elbenaugen möglich schien.

Ich erklärte es ihm und nebenbei erklärte ich es mir selbst. Das heißt ich versuchte es, was sich als gar nicht so einfach heraus stellte. Gildofal machte mir Angst, weil ich immer das Gefühl hatte, mich in ihm, in seinem Wesen zu verlieren. Ich hatte in früheren Jahren schon bemerkt, dass Elben auf mich eine seltsame Wirkung hatten. In der Nähe eines Elben war mir immer, als wenn ein sonst schlafender Teil in mir erwachte. Manchmal war dieses Gefühl stärker manchmal schwächer. In Gildofals Nähe war es am Stärksten, inbesondere seit ich ein Drachenreiter war. Das war der Grund, warum ich Sex mit ihm gleichzeitg liebte und fürchtete. Einerseits war es eine Erfahrung, die weder mit Suman noch mit Gilfea möglich war, doch andererseits war da dieses seltsame zweite ich, das hinter einer Ecke meines Verstandes lauerte.

Gildofal hörte mir aufmerksam zu. Ich konnte sehen, wie er nachdachte. Plötzlich strahlte er mich fröhlich an: »Ich bin ein Elb, das weißt du. Wusstest du aber auch, dass wir die Welt anders wahrnehmen, als ihr Menschen? Ähnlich wie die Drachen leben wir in beiden Welten, der realen und der der Magie, Schatten und Geister. Wenn ich einen Ork sehe, dann sehe ich nicht nur den Kämpfer in seiner groben Rüstung, sondern auch seine dunkle schwarzmagische Aura, die ihn antreibt. Sehe ich einen Menschen, sehe ich ein ganz und gar der Wirklichkeit verhaftet Wesen. Segato, ich kann auch deine Aura sehen! Sie unterscheidet sich deutlich von Suman und Gilfea, überhaupt unterscheidet sie sich von allen Menschen, die ich kenne.«

»Was?«, und sowas erzählt mir der Kerl, während ich mit ihm nackt im Bett liege und die klebrigen Ergebnisse unseres Liebensspiels langsam antrockneten? Nun ja, vielleicht besser als nie?

Gildofal lachte auf, vermutlich erriet er meinen Gedanken: »Keine Angst. Ich habe eine ungefähre Idee davon, was es mit deiner Aura auf sich hat. Es ist dein Erbe. Du bist ein Istarilari. Meistens ist es nur ein schwaches Schimmern, dass dich umgibt, aber in meiner oder der Nähe eines anderen Elbe, flammte es auf. Wenn wir allerdings gelegentlich das tun, was wir eben getan haben, strahlst du hell wie eine Sonne. Du brauchst keine Angst haben. Denn dass, was du fürchtest, bist du selbst oder besser, dass, was du sein könntest.«

Mit diesem Gespräch änderte sich eine Menge. Wir begannen voneinander zu lernen. Gildofal, dass er sich nicht schämen durfte, ein Elb zu sein und ich, dass ich mich nicht vor mir selbst fürchten durfte. Die Zeiten, in denen wir eher selten miteinander kuschelten, wurden zur Vergangenheit. Sogar Gilfea sprach mich auf Gildofal an und dankte mir, dass ich seinem Schatz den Kopf gewaschen hatte: »Sein ganzes Leben hat man ihn dafür schikaniert ein Elb zu sein. Das wird man nicht über Nacht los. Es ist gut, dass du ihm klar gemacht hast, dass wir ihn lieben, so, wie er ist.«

»Du hast kein Problem damit, dass ich gelegentlich mit deinem Schatz schlafe?«

»Wir sind eine Familie, oder?«, stellte Gilfea eine Gegenfrage, »Wir vier sind ein Team! Außerdem kann ich mich so mehr um Suman kümmern. Du bist um diesen Schnuckel wirklich zu beneiden.«

Damit war alles gesagt.


Die Bauarbeiten an unserer Drachenhöhle und zukünftigem Gildehaus mochten abgeschlossen sein, doch damit wechselte unser Projekt nur in die nächste Phase des totalen Chaos. Wir brauchten vertrauenswürdiges Personal. Suman setzte sich mit Erogal in Verbindung, damit dieser nach geeigneten Kandidaten Ausschau hielt. Es war nach wie vor geplant, das Haus mit interessierten Absolventen unserer Gildeschulen zu betreiben. Nach Gildofals Grobplanung benötigten wir mindestens eine Verwaltungsfachkraft, die den Empfang und den Betrieb des Hauses managte, zwei Leute, die die Zimmer in Schuss hielten und zwei Kräfte für die Küche. Insgesamt benötigten wir fünf besser sechs tatkräftige Freunde, um unsere Idee Wirklichkeit werden zu lassen.

Erogal teilte uns mit, dass er sieben »Opfer« ausgewählt hatte. Die Anführungszeichen waren selbst durch mein Meisterbuch deutlich wahrnehmbar. Sieben junge Menschen, die gerade eben ihre Ausbildung an verschiedenen Gildeschulen beendet hatten, lechzten nach Herausforderungen und Abenteuern. Sie hatten keine Ahnung, auf welche Abenteuer sie sich mit vier Drachenreitern und vier Drachen einließen.

Da Daelbar in vielen Staaten und Reichen nicht unbedingt zu den Freunden zählte, gestaltete sich die Anreise unserer zukünftigen Helfer schwerer als deren Auswahl. Zudem befand sich Daelbar faktisch im Krieg mit einem unbekannten Feind. Der Zwischenfall mit dem Todesschnee, der Gilfea, Uskav und unsere anderen Freunde fast getötet hatte, war auf keinen Fall vergessen. Ein Trupp aus Drachenreitern und Zauberern hatte die Bedrohung durch den Schnee fürs Erste beseitigt, aber niemand wusste, ob nicht weitere Fallen rings um Daelbar lauerten. Die Geschichte mit der unheimlichen Waffe und einer Armee, die speziell gegen uns gezüchtet wurde, war ebenfalls offen und mehr als beunruhigend. Niemand wagte es daher Drachenreiter auszusenden, um unsere zukünftigen Herbergskräfte abzuholen. Statt dessen erreichten sie uns einer nach dem anderen über verschlungene und heimliche Wege.

Das erste Opfer, das uns erreichte, war Marco T’Paan. Marco stammte wie Suman und ich aus Crossar. Knapp zwei Jahre jünger als ich es war, konnte ich mich sogar entfernt daran erinnern, ihn als einen meiner Mitschüler in den unteren Klassen gesehen zu haben. Marco war Erogals erster Vorschlag für den Posten eines Gildehausmanagers. Wenn ich meinem alten Mentor glauben durfte, war dieser Junge eine echte Nervensäge, »lästig, wie eine Hämorrhoide« (O-Ton Erogal), aber eben auch ein begnadetes Organisationstalent, was er in gewisser Weise bereits mit seiner überaus schnellen Anreise unter Beweis stellte. Zielstrebig hatte er alle möglichen Wege evaluiert, die einen möglichst schnell und unauffällig nach Daelbar brachten, um sich schließlich für eine Karavane zu entscheiden, die seit Jahrzehnten regelmäßig Daelbar besuchte. Wirklich sehr unauffällig führte ihr Weg durch ferne Länder, die weit ab der üblichen Handels- und Verkehrsrouten verliefen. Insbesondere mied man das Gebiet Goldors, so dass man zwar einen enormen Umweg in Kauf nahm, dafür aber sicher sein Ziel erreichte.

Eines Morgens kreuzte ein in staubige Reisegewänder gehüllter Typ vor unserer Tür auf: »Hallo, ich bin Marco T’Paan, doch alle nennen mich nur Marc. Ihr zwei seid wohl Suman und Segato? Natürlich, wer solltet ihr auch sonst sein? Wollt ihr mich nicht reinlassen? Erogal hat mir so viel von euch erzählt, dass ich nicht mal die Hälfte glauben kann.«

Der Typ litt eindeutig unter einem schweren Fall von Logorrhoe, dem gemeinen Sprechdurchfall. Während Suman und ich uns noch fragten, wie Marco seinen Körper mit Sauerstoff versorgte, während dieser ohne Punkt und Komma redete, hatte selbiger bereits die Tür zur Drachenhöhle durchschritten und begonnen sich in der Herrberge umzusehen.

»Nett hier, etwas antiquiert, aber nett. Vieleicht sollten wir demnächst ein wenig von dem alten Kram rausschmeißen. Die Gäste sollen ja nicht denken, sie wären in einem Museeum gelandet. Na ja, egal, das bekommen wir schon hin. Vielleicht…«

»Stop!«, rief ich, »Noch ein Wort und ich verfüttere dich an Mithval!«

»Wer ist Mithval?«, fragte Marco T’Pann sichtlich abwesend, während er ahnungslos in Richtung Drachenhalle schlenderte, »Egal, das kannst du mir später immer noch erklären. Wo geht’s denn hier hin…«

»Das ist Mithval!«, bemerkte ich trocken.

»Hi!«

Mithvals Gruß brachte Marco fast zum Schweigen, auf jeden Fall zu einem abrupten Halt. »Ach du Scheiße!«, waren seine letzten Worte, während seine Augen immer größer wurden. Mithval hatte sich demonstativ zu voller Größe aufgerichtet, seine Flügel komplett entfaltet und seinen Kopf bis knapp einen Meter zu Marco heruntergereckt. Selbst ich, der sein Freund war, konnte mich dieses furchteinflössenden Anblicks nicht verschließen. Dass zu Mithvals Füßen auch noch Eargilin, Tingalen und Ivoricalad hockten verstärkte die Wirkung ungemein und erzielte die zu erwartende Reaktion bei Marco. Unser junger Gildebruder wurde kreidebleich.

»Darf ich dir meine Freunde vorstellen? Mihtval, Eargilin, Tingalen und meine zweites Ich, Ivoricalad.«

»Segato, warum ist der junge Mann grün im Gesicht?«, ließ sich Ivo mit einem absolut harmlos klingenden Stimmchen vernehmen.

»Die… die… die… die Viecher können ja sprechen! In meinem Kopf!«

»Yupp! Können wir!«, bestätigte Eargilin.

Zwischenzeitlich waren auch Gildofal und Gilfea zu uns gestoßen. Die beiden, sowie Suman, die Drachen und ich, konnten uns kaum zurückhalten, nicht laut los zu prusten. Der sonst so überaus kommunikative Marco T’Paan war erstaunlich kleinlaut geworden. Schlimmer noch, den jungen Gildeschüler packte die Panik. Während er sich soweit wieder unter Kontrolle hatte, um in Richtung Ausgang zu rennen, hielt er die Drachen fest im Blick, als wenn sie ihn sich andernfalls sofort als Appetithäppchen einverleiben würden, sollte er ihnen auch nur eine Sekunde den Rücken zuwenden.

Der wohl größte Nachteil, nicht in die Richtung zu schauen, in die man rennt, besteht darin, dass man nicht sieht, wohin man rennt, oder präziser formuliert wogegen. In diesem Fall war das »Wogegen« niemand geringeres als Uskav, unser Lieblingsuruk. Marco knallte mit voller Wucht gegen Uskavs Brust. Benommen torkelte unser Gildebruder ein paar Schritte rückwärts und fiel auf seinen Hintern. Der Aufprall muss wirklich heftig gewesen sein, denn auf Marcos Stirn zeichnete sich das Muster von Uskavs silbernem Kettenhemd ab. Wenn Marco seine Augen beim Anblick der Drachen weit aufgerissen hatte, musste man beim Anblick des Uruks schon fast besorgt sein, dass sie ihm nicht aus dem Schädel sprangen. Zugegeben, Uskav stand wie ein gigantischer Turm vor ihm. Ein muskelstrotzender Riese mit glänzendem, ärmellosem Kettenhemd auf ebenso glänzend nackter Brust, wild offen getragenen rückenlangen Dreadlocks und recht engen ledernen Beinkleidern, an dessen Gürtel ein langes, mächtiges Schwert baumelte.

»Warum geraten eigentlich immer alle Leute in Panik, wenn sie mich sehen?«, kokettierte Uskav mit seinem Image, »Dabei bin ich ein ganz lieber Uruk.«

Hinter mir hörte ich Gildofal losprusten. Für uns war die Situation wirklich komisch, für unseren an sich so wackeren Gilfebruder vermutlich nicht. Ich wechselte einen Blick mit Suman, der mit einem Nicken sofort verstand, was ich von ihm wollte. Suman ging auf Marco zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er zuckte ängstlich zusammen. Sumans andere Hand griff darauf hin sein Gesicht und zwang den zitternden und bebenden Marco ihn anzusehen.

»Ruhig, ganz ruhig!«, redete Suman ruhig und beschwörend auf Marco T’Paan ein, »Hab keine Angst.«

Sumans ruhige Worten zeigten Wirkung. Marco wurde ruhiger, doch zeigten seine Augen immer noch deutliche Spuren von Panik, als er von Uskav zu den Drachen und zurück zu Uskav schaute.

»Kinder!«, knurrte Uskav, schüttelte seinen Kopf, dass seine Dreadlocks nur so durch die Luft wirbelten und kam auf mich zu: »Segato, du bist der Mann, denn ich suchte. Ich müsste mal mit dir sprechen.«

»Sicher!«, entgegnete ich und musterte Uskav. Diese Uruk hatte etwas animalisches, ein sehr potente erotische Aura, die mich nicht wirklich kalt ließ. »Lass uns aber erst unseren zukünftigen Empfangschef beruhigen.«

Uskav drückte freundschaftlich meine Schulter und meinte: »Es hat Zeit, wenn du oder Suman die Tage bei Xelemachus vorbeikommen könntest, wäre uns schon geholfen. Wir hoffen, dass euer Gildewissen uns vielleicht bei einer Sache aus dem Datenkristall weiterhelfen könnte. Wir hätten Egmont gebeten, doch der ist die nächsten Wochen außerhalb Daelbars unterwegs.«

»Kein Problem. Ich helfe gern.«

In der Zwischenzeit hatte Suman unser Nervenbündel soweit beruhigt, dass die Panik aus seinen Augen gewichen war. Ich gesellte mich zu Suman. Gildofal, Gilfea und Uskav hielten sich im Hintergrund.

»Und die Drachen beißen mich wirklich nicht?«, fragte er ganz leise, fast flüsternd.

»Eigentlich müsste ich beleidigt sein. Ich habe noch nie einen Knirps wie dich gefressen. Nicht mal als Snack! «

»Die Drachen… Ich kann sie in meinem Kopf hören«, flüsterte Marco Suman und mir zu.

»Ja. Außerdem können sie dich hören. Auch wenn du flüsterst«, flüsterte Suman und schmunzelte dabei, »Und nebenbei bemerkt, sind es ganz liebe Viecher, die dir bestimmt nichts tun.«

Marco schaute vorsichtig zwischen Suman und mir zu den Drachen hindurch. Plötzlich wurden seine Augen wieder groß. Diesmal aber nicht vor Angst, sondern vor Erstaunen. Zwei Sekunden später musste unser junger Gildebruder kichern.

»Die Drachen sind albern! Die schneiden blöde Grimassen!«

Ich seufzte: »Oh ja, ich weiß!«

»Woher weißt du dass? Du hast ihnen doch deinen Rücken zugewand.«Ein helles, aufmerksames Köpfchen, dieser Marco.

»Ich bin einer dieser Drachen. Und, bevor du fragst, es ist kompliziert. Wir werden es dir zur gegebener Zeit erklären. Jetzt werd ich dir erst einmal die Drachen vorstellen.«

Ich begann mit dem Kleinsten, mit Ivo. Schließlich war ich seine Seele. Ivo setzte einen supersüßen, herzerweichenden Hundewelpenblick auf. Ich musste mich zusammenreißen, konnte mir ein Schmunzeln trotzdem nicht verkneifen. Marco schmolz dahin und fragte, ob er Ivo mal kraulen dürfte, er würde so traurig dreinschauen. Diese kleine, ausgebuffte Ratte von einem Drachen! Er hatte es wieder einmal geschafft, sich Streicheleinheiten zu erschleimen. Ich hatte nach unserer Vereinigung ziemlich schnell begriffen, dass mein Echsenpartner diesen Trick in Meisterschaft beherrschte. Selbst unser willensstarker Uruk war Ivo nicht gewachsen. Er konnte mit seinen Augen dermaßen traurig dreinschauen, dass selbst dem Eiskönig von Zarx das Herz geschmolzen wäre. Immerhin bedankte sich Ivo auf seine Weise, und umklammerte Marco mit seinem langen Drachenschwanz, zog den im ersten Moment erschrockenen Jungen zu sich heran und knuddelte ihn.

Der zweite Drache, den ich vorstellte, war Sumans Drache Tingalen. Tingalen hatte sich in den Wochen seit ihrer Geburt für blau als Standardfarbe entschieden. Sie meinte, Blau würde am besten zu ihrem Typ passen. Im Gegensatz zu Ivo hatte sie bereits deutlich an Größe, vornehmlich an Länge zugenommen. Während sie schon wie ein heranwachsender Jungdrache aussah, besaß Ivo immer noch die Dimensionen eines Drachenbabys.

Auf Tingalen folgte Eargilin. Als Seedrache war Blau seine natürliche Farbe, obwohl er in den letzten Wochen gelernt hatte, seine Fähigkeit zum Farbwechsel zu verbessern. Eargilin konnte inzwischen für eine gute viertel Stunde seine Schuppen grün erstrahlen lassen. Überhaupt hatte Gildofals Drache deutlich an Reife und Größe zugenommen, was zum Leidwesen Gildofals bedeutete, dass Eargilins erster Wachstumsschub vermutlich unmittelbar bevor stand.

Als ich das erste mal von dem Wort »Wachstumsschub« hörte, hakte ich natürlich sofort nach. Die Antwort kam mit schuldbewusstem und verlegenem Geeiere und war, mit Verlaub, beängstigend. Ein wenig kam ich mir wie ein Käufer eines Gebrauchtgleiters vor, der das Kleingedruckte des Kaufvertrags nicht gelesen hatte. Niemand hatte vor der Vereinigung daran gedacht zu erwähnen, dass Drachen während ihrer Adoleszenz zu Wachstumsschüben neigen, die, nun ja, anstrengend sein konnten – insbesondere für ihre Seele!

Als letzter vorzustellender Drache blieb Mithval übrig. Unser großer Mithrildrache war im Vergleich zu den anderen drei Echsen ein Gigant. Überhaupt gab es nur einen einzigen Drachen in Daelbar, der größer als Mithval war. Der goldene Drache Guldur unseres Freundes Franciscus.

Mithval präsentierte sich zwar verhüllt, also schwarz, aber in seiner ganzen Größe. Ich mochte ihn besonders gern und dies nicht nur, weil er der Drache Gilfeas war. So albern und verspielt Mithval war, so intensiv verströmte er aber auch eine Aura von Würde, Lebendigkeit und Erhabenheit, die über irdische Begriffe hinaus ging.

»Dieser Drache«, begann Marco, »Er ist fantastisch.«

Mithval grinste breit.

»Und dann«, setzte ich an und winkte Gildofal, Gilfea und Uskav zu uns heran, »Möchte ich dir auch noch unsere Freunde vorstellen. Gilfea, Gildofal und Uskav«

Statt Panik zeigte Marco nun Anzeichen von Verwirrung und Irritation, die er auch artikulierte: »Riesige Drachen, drei Menschen, ein Elb und ein Uruk und alles Freunde? Ich glaube Erogal hat bei seiner Stellenbeschreibung ein paar Punkte vergessen.«

Omega

»Ich bedaure, dass wir die Festung Amon Harronsul auf der Basis falscher Informationen befreit haben. Trotzdem war der Krieg gerechtfertigt. Harrasland ist ein Hort der Rechtlosigkeit, das das Protektorat Harronsul zu unrecht besetzt hält.«

König Antharon von Goldor II

Wie nicht anders von einem Gildebruder zu erwarten, lebte sich Macro T’Paan recht schnell bei uns ein. Natürlich textete er jeden und alle zu. Manch einer bekam bereits Herzrasen, wenn Marco nur erwähnt wurde. Trotzdem war unser neuer Empfangs- und Hotelchef beliebt und, wie Erogal bereits angedroht hatte, ein wahres Organisationstalent. Dinge, auf die wir bisher Wochen warten mussten, um sie zu erhalten, beschaffte Marco innerhalb weniger Stunden. Wie er dies tat, blieb sein Geheimnis.

Marco war der wohl kontaktfreudigste Mensch, der mir je untergekommen war. Er überwand sogar seine angängliche Furcht und freundete sich mit den Drachen an. Insbesondere mein Ivoricalad hatte es ihm angetan. Marco war regelrecht vernarrt in die kleine Echse und die Echse war vernarrt in Marco. Ivo hing Marco regelrecht an dessen Rockschößen.

»Du bist hoffentlich nicht eifersüchtig, dass ich so viel Zeit mit Marco verbringe?«, fragte mich Ivo eines Abends.

»Nein, natürlich nicht«

»Ach, es ist dir also egal? Da hab’ ich mir ja ne schöne Seele angelacht…«

»Ivo!«, schnitt ich meiner Echse telepathisch das Wort ab.

Der kleine Drache kicherte und wurde dann ernst: »Es ist gut, Segato. Du weisst, dass ich immer dein Drache sein werde und nur deiner.«

»Natürlich! Es ist nur… es tut mir leid, dass wir so wenig Zeit miteinander verbringen können. Ich möchte dich wachsen sehen. Mit dir zusammen sein und die Welt erforschen. Dich fliegen sehen…«

»Wir sind immer zusammen! Es vergeht keine Sekunde in der ich nicht bei dir bin und die du nicht bei mir bist. Dieses Gästehaus zu bauen ist wichtig. Es ist vielleicht die wichtigste Arbeit, die es in Daelbar zur Zeit gibt.«


Ein paar Tage, nachdem Marco T’Paan gegen Uskavs Kettenhemd geprallt war, fiel mir Uskavs Bitte wieder ein, ihn wegen einer Sache auf dem Datenkristall zu besuchen. Ich machte mich also zusammen mit Gilfea, der mir zusammen mit Mithval als Taxi diente auf, um Uskav und Professor Xelmachus zu besuchen und mein Versprechen zu Helfen einzulösen. Es dauerte nicht lange und wir saßen zusammen in einem Besprechungsraum. Uskav hielt ein Datenpad in seiner Hand.

»Segato«, begann Uskav, »könntest du dir diese Schriftzeichen bitte einmal ansehen?«

Ich sah sie mir an und bereute es sofort.

Mein PDA-Implantat meldete völlig überflüssiger Weise »Roten Alarm« und konnte es sich natürlich nicht verkneifen, mich an Gildedirektive »Omega 2« zu erinnern. Als wenn dies nötig wäre! Ich erkannte die Schriftzeichen auch so, ganz ohne Mithilfe meiner neuroelektronischen Denk- und Erinnerungshilfe. Meine Nackenhaare gingen übrigens auch auf »Roten Alarm«, indem sie sich spontan aufstellten. Ansonsten versuchte ich meine Fassung zu wahren und mir nichts anmerken zu lassen, was trotz meines Gildetrainings alles andere als einfach war.

Direktive »Omega 2« – Ich hätte nie gedacht, jemals in eine Situation zu geraten, in der ich einer Omegadirektive folgen müsste. Die fünf Omegadirektiven der Gilde, mehr gab es nicht, waren so etwas wie eine ultima ratio im Kampf gegen das Böse. Wie alle Omegadirektiven verlangte auch diese die Einhaltung eines festen Protokolls. Anweisung 1 war noch recht harmlos: Es galt Erogal, als meinen vorgesetzen Gildemeister, über einen aktiven Omegazustand informieren. Anweisung 2 war schon ein wenig problematischer. Ich müsste mich heimlich und ohne meine eigenen Kenntnisse Preis zu geben, in den Besitz sämtlicher Informationen über das Objekt der Direktive, also der Schriftzeichen, bringen. Anweisung 3 hieß dann, diese Informationen an Erogal zu übermitteln.

Und dann gab es da noch Anweisung 4. Die letzte Anweisung.

Ich wusste nicht, wie ich sie umsetzen sollte. Sie widersprach allem, was mir in Daelbar an Gutem und Schönen widerfahren war. Sie widersprach auch allem, was mir als Drachenreiter und als Gildemeister heilig war. Anweisung 4 der Omegadirektive 2 verlangte nicht weniger, als alles zu vernichten, was auf die Existenz der Schriftzeichen hindeutete. Klingt einfach? Ist es aber nicht.

Alles vernichten bedeutete wirklich, alles vernichten. Es schloss ausdrücklich auch alle Personen mit ein, die von den Schriftzeichen wussten, sei es, dass sie sie auch nur kurz gesehen oder von ihrer Existenz gehört hatten.

Wie könnte ich Uskav umbringen? Wie könnte ich Gilfea umbringen? Sie waren meine Freunde. Uskav war Narsuls Seele und Gilfea Mithvals. Wie könnte ich eine Drachenseele und damit einen Drachen, einen Bruder, töten?

Ich wollte und konnte es nicht!

Doch auf der anderen Seite stand die Direktive der Gilde. Die Gilde – Ohne die Gilde, ohne Erogal D’Santo wäre ich vermutlich nicht mehr am Leben. Früher oder später hätte mein Leben als unlizensierter Taschendieb in den Strassen Crossars ein Ende gefunden. Eines morgens wäre ich vermutlich mit durchgeschnittener Kehle nicht mehr aufgewacht. Natürlich fühlte ich mich der Gilde über verpflichtet. Ich habe ihr so viel zu verdanken. Alles was ich war, war ich durch sie. Wie konnte ich die Gilde verraten, indem ich die Direktive ignorierte? Wie konnte ich Erogal verraten?

Gegen eine Omegadirektive zu verstoßen galt als eine der schwersten Formen des Verrats. Faktisch hieß dies, dass ich mein eigenes Todesurteil unterschreib, sobald ich vom Protokoll der Direktive auch nur einen Mikrometer abwich. Jeder Gildemeister hätte die Pflicht mich zur Strecke zu bringen. Eine Sekunde nachdem die Verfehlung ruchbar wurde, wäre die Jagdsession eröffnet.

Egal wie ich es drehte, ich saß in der Scheisse. Was ich auch immer tat, es würde tragisch enden. Die Gilde verraten? Meine Freunde verraten?

Dabei hatten wir, die Gilde, gute Gründe eine Omegadirektive für diese Art von Schriftzeichen zu schaffen. Schließlich handelte es sich absolut eindeutig und unzweifelhaft um Beschwörungsglyphen des einen ultimativen Feindes. Jenes Feindes gegen den die Gilde seit Jahrhunderten kämpfte: dem real existierenden namenlosen Bösen, der Negation allen Gutens in dieser Welt. Statt für Freiheit steht es für Sklaverei, statt für Liebe für Hass und statt für Leben für den Tod!

Soviel ich wusste, das heißt, soviel, wie mir die Gilde sagte, existierte das Böse in einer anderen, einer geisterhaften, raumlosen Gefängniswelt. Vor mehreren tausend Jahren hatte es einen für alle Seiten verheerenden Kampf gegeben, die Mächte des Guten gegen das namlose Böse und dessen Diener, Sklaven und Gefolgsleute. Das Gute obsiegte, wenn auch nur knapp und zu einem sehr hohen Preis. Durch den Kampf geschwächt, war es nur gelungen das namenlose Böse in seine Gefängniswelt zu verbannen. Vernichten konnte man es nicht. Es existierte weiter. Nach Rache und Vergeltung lechzend, beeinflusste es seine Diener und Allierten, die die Kämpfe überlebt hatten. Es schürte ihren Hass und nährte ihr Verlangen auf Rache. Man leckte seine Wunden und tauchte ab. Doch im geheimen wurden Pläne geschmiedet. Einige Schlachten gegen die Mächte des Guten mochten verloren worden sein, aber damit war der Krieg für die Seite des Bösen noch lange nicht entschieden. Man übte sich in Geduld, wartete ab. Hunderte, sogar tausende Jahre wartete man ab und arbeitete heimlich und im Verborgenen. Irgend wann, so hoffte man, würde die Wachsamkeit der Mächte des Guten schwinden.

Und genau dies geschah. Die Gilde war als eine Gilde von Wächtern über das namenlose Böse geschaffen worden. Unsere Aufgabe war darauf zu achteten, dass das Böse niemals wieder sein abscheuliches Haupt erhob und unsere Welt betrat. Leider, so erzählte mir Erogal, ließ die Wachsamkeit in den letzten Jahrhunderten schleichend, aber mehr und mehr nach. Viele Meister sahen in den alten Geschichten über das namenlose Böse nur noch eine Art Folklore, gruselige Mythen und Märchen, mit denen man die eigene Existenz rechtfertigten konnte, die aber keine reale Bedrohung, die es zu fürchten und zu bekämpfen galt, darstellte. In vielen Bereichen war die Gilde nur noch ein gut funktionierendes Wirtschaftsunternehmen und Informationsnetzwerk. Erogal, Meridus und Septimus, selbst Kasimir waren strahlende Ausnahmen. Sie wussten welche Bedrohung über uns schwebte. Sie erkannten die Anzeichen. Das namenlose Böse warf immer mehr seinen Schatten auf die Welt, doch viele Meister wollten dies nicht sehen oder wahrhaben.

Doch die Zeichen waren klar und deutlich. Willfährige Diener des namenlosen Bösen versuchten, es aus seiner Gefangenschaft zu befreien. Denn keinem anderen Zweck dienten die Beschwörungsglyphen, die mir Uskav zur Begutachtung zeigte. Sie bildeten eine von sieben anderen Glyphengruppen, die wiederum Teil eines magischen Rituals waren, mit dem eine Verbindung, ein Tor, zwischen unserer und der Gefängniswelt erschaffen werden konnte. Dass es überhaupt eine Möglichkeit gab, das Böse aus seinem Gefängnis zu befreien, war auf Verrat zurückzuführen. Einer der großen weißen Hexenmeister, die nach der letzten großen Schlacht das Böse bannten, war in Wirklichkeit einer seiner Anhänger und hatte das Ritual heimlich sabotiert.

Die Gilde hatte somit gute Gründe, beim Auftauchen einer solchen Glyphe in gewissen Maße alarmiert zu sein. Denn noch bevor der verräterische Hexenmeister enttarnt werden konnte, hatte er die Schlüssel zum Öffnen des Gefängnisses in der Welt verteilt, auf dass seine Anhänger sie finden und nutzen könnten. Um zu verhindern, dass man ihm, dem Hexenmeister, das Geheimnis des Schlüssels entriss, vernichtete er sich in einem blutigen und abscheulichen Ritual selbst, bei dem er nebenbei alle jene mit einem Fluch belegte, die versuchen sollten die Schlüssel zu vernichten. Das Geheimnis der Gefängnisschlüssel war nun in der Welt verteilt, wie eine Saat des Bösen, die nur darauf wartete zu keimen. Niemand, auch die Gilde nicht, kannte oder wusste, wie die Schlüssel aussahen. Erst hunderte Jahre später wurde ein Teil des Geheimnises gelüftet, das der Beschwörungsglyphen. Durch einen Zufall fiel der Gilde der Brief eines Schwarzmagiers in die Hand, in der von sieben Schriftsymbolgruppen gesprochen wurde, mit der es möglich sei, dem Einen sein angestammtes Recht auf die Herrschaft über die Welt wiedergeben zu können. Ein Teil des Briefes beschrieb, wie man die Glyphen erkennen könne.

Jede Glyphen an sich enthielt bereits einen mächtigen Zauber mit gewaltigen Kräften, die natürlich nur zu bösen Zwecken verwendet werden konnten. Bisher hatte die Gilde keine einzige Glyphe je gesehen. Wir kannten nur den Brief des Schwarzmagiers und dessen Regeln, anhand der man sie erkennen konnte. Und genau das war geschehen, als mir Uskav sein Datenpad mit dem Schriftzeichen zeigte. Jedes Merkmal war vorhanden. Die Schrift, die Farbe, die Sprache, die Art, wie die Glyphe gezeichnet war. Die erste von sieben Glyphengruppen war gefunden worden! Das namenlose Böse regte sich; es war bereit; es wollte zurück in unsere Welt!

Mich traf die Erkenntnis wie ein Schlag. Ich war in jenem Moment der einzige, der wusste, welche Bedeutung diese Schriftzeichen besaßen. Mir wurde spontan klar, warum die Omegadirektive derart drakonische Maßnahmen vorsah. Jeder Vasall des namenlosen Bösen würde alles dafür tun, in den Besitz dieser Glyphen zu kommen. Natürlich musste die Gilde, musste Erogal erfahren, dass ein Teil des Gefängnisschlüssels gefunden wurde. Trotzdem konnte ich dafür unmöglich meine Freunde opfern.


»Segato?«, Uskav weckte mich aus meinen Gedanken, »Kennst du diese Schriftzeichen?«

»Ich…«, stammelte ich los, »Ich bin mir nicht sicher. Wo kommen sie her?«

»Wie schon gesagt, aus dem Datenkristall, den du und Suman mitgebracht habt. Wir haben es endlich geschafft, weitere Teile der Verschlüsselung zu knacken.«

»Es kommt mir bekannt vor. Wenn ich eine Kopie bekommen kann, könnte ich ein paar Nachforschungen anstellen«, und Zeit gewinnen mir zu überlegen, was ich tun könnte, um aus dieser katastrophalen Situation heraus zu kommen.

»Kein Problem«, antwortete Uskav und drückte mir einen Datenkristall in die Hand, »Darauf ist alles, was wir bisher dekodieren konnten.«

Ich nahm den Kristall. Uskav musterte mich. Auf seiner Stirn zeichneten sich nachdenklich Falten ab: »Segato, ist alles in Ordnung? Du wirkst ein wenig blass.«

»Ja, alles in Ordnung«, meinte ich kurz. Uskavs Stirn kräuselte sich noch ein klein wenig mehr. Er ging aber nicht weiter auf das Thema ein, sondern bedankte sich für meine Hilfe. Gilfea und ich verabschiedeten uns von Uskav und Xelmachus und verließen die beiden. Auf dem Weg zu Mihtval, der vor der Drachenreiterschulde wartete, kam Gilfea auf mich zu: »Du kennst das Schriftzeichen, oder?«

»Ich will es mal so formulieren: Ich habe so ein Schriftzeichen noch nie gesehen«, war ich noch innerhalb der Grenzen der Direktive?

»Aber du hast eine Ahnung, was es mit dem Schriftzeichen auf sich hat«, bohrte Gilfea nach.

Ich verlor meine Selbstkontrolle und zeigte meine Gefühle, indem ich mir auf die Lippe biss. Als Gildemeister war ich durchgefallen.

»Du kannst es nicht sagen, oder?«, konnte Gilfea Gedanken lesen? »Es ist in Ordnung. Wenn du mir nichts sagen kannst, dann sage auch nichts.«

Vermutlich wurde ich noch blasser, als ich es eh schon nach Uskavs Auftreten war. Ich hauchte nur ein »Danke!«, nahm einen etwas überraschten Gilfea in den Arm, drückte ihn, wiederholte das Danke und kletterte mit Tränen in den Augen auf den hinteren Sattelplatz. Ich wusste, was ich tun musste! Ich musste meine Freunde schützen. Ich musste die schützen, die ich liebte. Auch wenn der Preis dafür astronomisch war.

Flucht

»Natürliche kennen Wir das Böse. Aber es trägt einen Namen: ›Magiegläubigkeit‹!«

Päpstin Paula Sylvestra II

»Habt ihr Segato gesehen?«

Mit diesem Satz war Suman über drei Stunden lang durch Daelbar gehetzt, um nach mir zu suchen. Doch jeder den er fragte, schüttelte nur den Kopf und bedauerte, mich nicht gesehen zu haben. Dies wäre auch ausgesprochen unwahrscheinlich gewesen, da ich Daelbar zusammen mit Ivoricalad verlassen hatte. Was für ein Glück, dass mein Drache ein ausgesprochen kleines Exemplar war. Gut versteckt unter der Plane eines Transportgleiters bemerkte niemand, dass meine kleine Echse und ich dem Drachenheim den Rücken kehrten.

Meine Entscheidung, Daelbar zu verlassen, war in jenem Moment gefallen, als Gilfea mir empfahl, nichts zu sagen, was ich nicht sagen könnte oder dürfte. Ich verstand sofort, dass er mich davor bewahren wollte, erst in einen Loyalitätskonflikt und dann in einen Gewissenskonflikt zu geraten. Er konnte nicht wissen, dass ich mich bereits bis zum Hals in beiden befand. Wobei ich mir um meine eigene Person noch die geringsten Sorgen machte. Ich war mir sicher, halbwegs auf mich aufpassen zu können. Es waren meine Freunde, diejenigen, die ich liebte, um die ich mir sorgte. Sumans, Gilfeas, Gildofals und noch vieler anderer Leben stand auf dem Spiel, sollte die Gilde von meiner Entdeckung erfahren. Denn selbst wenn ich mich weigern würde, die Omegadirektive zu befolgen, gäbe es genug andere, die es ohne zu zögern täten.

Wie viele Agenten der Gilde gab es in Daelbar? Mir kam ein entsetzlicher Gedanke. Was, wenn Suman erfuhr, dass ich mich einer Omegadirektive verweigerte? Wie würde er handeln? Würde er gehorchen und Uskav, Gilfea und all die anderen töten? Würde er mich als abtrünnigen Gildemeister verfolgen und schließlich töten?

Nein, ich durfte meinen Geliebten unmöglich in eine deartigen Gewissenskonflikt stürzen. Deswegen musste ich Daelbar verlassen und die Gilde auf eine andere Spur locken; eine, die von Daelbar weg führte. Was, wenn die Glyphe gar nicht in Daelbar sondern in Blaufurt oder Xengabad gefunden worden wäre? Ich musste von der Stadt der Drachen ablenken und Erogal ein anderes Ziel geben. Ich würde ihm die Daten übermitteln, aber erklären, dass ich nicht wüßte, woher die Informationen stammten.

Meine größte Sorge bei meinem Plan galt Ivo. Wie würde mein Drache reagieren, wenn ich ihm bat, Daelbar mit mir zu verlassen? Die Antwort fiel überraschend schlicht aus: »Kein Problem. Ich gehe dorthin, wo du hin gehst. Ich vertraue dir, denn ich weiß, was immer du tust, wird sich als richtig erweisen.« Hätte ich doch nur das gleiche Vertrauen in meine Entscheidungen, wie dieser liebe kleine Drache.


»Ich kann Segto nirgends finden!«, Sumans Stimme klang verzweifelt, als er am Abend nach erfolgloser Suche mit Gilfea und Gildofal zusammen traf.

»Was heißt, du kannst Segato nicht finden?«, fragte Gildofal verwirrt, während sich auf Gilfeas Stirn Sorgenfalten bildeten.

»Er ist verschwunden«, Suman gestikulierte wild mit seinen Armen, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, »Die letzten, die mit ihm gesprochen haben, waren Uskav und Gilfea. Aber das war heute Morgen. Seid dem ist Segato wie von der Bildfläche verschwunden. Ivoricalad ist ebenfalls weg!«

Gildofal entdeckte Gilfeas gekräuselte Stirn, worauf hin er seinen Freund mit einem fragenden Blick bedachte. Gilfea reagierte. Er seufzte und zog seine Lippen zu einem schiefen Ausdruck zusammen.

»Ich habe da einen Verdacht…«, begann Gilfea zögernd, »Es könnte mit der Sache zusammen hängen, um die Uskav ihn gebeten hat.«

Suman war nicht in der Stimmung für zögerliche Antworten, sondern bombardierte Gilfea mit Fragen: »Was wollte Uskav? Warum hat er mir nichts gesagt? Worum ging es?«

Gilfea wartete geduldig Sumans Fragenkanonade ab, bevor er schließlich antwortete. Er schilderte, dass Uskav Segato über mögliche Kenntnisse zu einer Grupper merkwürdiger Schriftzeichen befragte hatte.

»Schriftzeichen? Was für Schriftzeichen?«, hakte Suman sofort nach.

Gilfea kratzte sich nachdenklich am Kopf, zögerte wieder einen Moment und holte sein Datenpad hervor.

»Ich habe mir von Uskav eine Kopie besorgt. Doch bevor ich dir zeige, was Uskav Segato zeigte, möchte ich dir sagen, dass du hier unter Freunden bist. Du weißt, dass wir beide, Gildofal und ich, Segato und dich lieben und zu euch stehen. Welches Problem euch auch immer quälen mag, wir sind bereit zu helfen.«

Jetzt war es an Suman irritiert zu schauen: »Warum sagst du so etwas? Was für Probleme?«

»Segato hatte nur zwei oder drei Sekunden auf diese Zeichen geschaut, um schlagartig kreidebleich zu werden. Ich weiß, dass ihr Gildeleute trainiert seid, eure Emotionen zu verbergen. Segato hatte sich auch schnell wieder unter Kontrolle, doch sein Verhalten war anders. So, als wenn plötzlich eine tonnenschwere Last auf seinen Schultern ruhen würde.«

»Zeig mir die Schriftzeichen!«

Gilfea nickte, griff nach seinem Datenpad, rief die Beschwörungsglyphen auf und zögerte: »Willst du es wirklich sehen?«

»Ich muss! Ich muss wissen, was Segato veranlasst hat, zu verschwinden.«

»Gut!«

Gilfea reichte Suman das Datenpad. Suman schaute auf das Datenpad. Es dauerte ebenfalls nur knapp drei Sekunden, dann riss er seine Augen weit auf, gab einen kleinen entsetzten Schrei von sich. Suman ließ das Pad fallen, als hätte es ihm einen Schlag versetzt.

»Nein!«, schrie Suman und vergass seine Gildekonditionierung, »Das darf nicht sein…«

Gildofal hob schweigend das Pad auf, schaute drauf, kratzte sich am Kopf und murmelte von sich selbst überrascht:»Merkwürdig, das sind uralte Beschwörungsglyphen der alten Magier. Dem Klang nach scheint es aber schwarze und nicht weiße Magie zu sein.«

Zwei Augenpaare richteten sich auf Gildofal. Suman vergaß für eine Sekunde seine Panik und wechselte auf Verblüffung: »Du kennst diese Schriftzeichen?«

»Ähm… Ja, ich glaube schon…«, meinte Gildofal grübelnd und begann sie die Glyphe genauer anzuschauen, »Die Schrift gehört zum Erbe meines Stammes. Ich habe früher immer den Erzählungen der Ältesten gelauscht, ihre Geschichten gelesen und dabei einiges über unsere Geschichte gelernt. Ich glaube, mit ein bisschen Nachdenken, könnte ich die Symbolsequenzen der äußeren Ringe übersetzen. Wenn ich mich nicht täusche, ist jener umgebende Text sogar in unserer gemeinsamen Sprache formuliert. Nur die Kartusche in der Mitte scheint mir komplizierter zu sein… Schwarze Magie halt…«

»Das darf nicht wahr sein! Bitte sag, dass das nicht wahr ist!«, Suman war wieder panisch geworden. Seine Stimme hatte einen fast flehenden Klang angenommen.

»Doch…«, meinte Gildofal nüchtern und zuckte mit den Schultern. Ihm schien Sumans Aufregung entweder völlig kalt zu lassen oder nicht aufgefallen zu sein. Vermutlich letzteres, da er sich das Datenpad direkt vor seine Augen hielt und versuchte die winzigen Symbole zu entziffern, »Lass mich mal überlegen. f\tengE r\tengE ent \tengI in, das liest sich als ›vereint im …‹ hmm… die nächste Formulierung ist seltsam l\tengI Kt d\tengE r d\tengU nk\tengE lh\tengE et… ›Licht der Dunkelheit‹? Was soll das denn sein?«

»Wieso kannst du das lesen? Turondur und Thonfilas haben sich die Zähne daran ausgebissen!«

Gilfea schaute seinen Freund überrascht an. Doch der lachte nur und meinte im lockeren Plauderton: »Für euch Menschen sind wohl alle Elben gleich, was? Turondur ist ein Hochelb des Stammes der Kinder Gildorils. Anderer Stamm, andere Schriftsprache. Obwohl Turondur dies eigentlich lesen können sollte. Schließlich besitzen unsere verschiedenen Schriften eine gemeinsame Wurzel. Dieses Symbol hier, da reden wir nicht über modernes Hochelbisch oder das heute übliche Reformelbisch. Diese Schriftzeichen sind wirklich archaisch, echtes Tengwar. Selbst in meinem Stamm dürfte es im besten Fall nur knapp eine Hand voll Schrift- und Geschichtsgelehrter geben, die dieses Zeichen entziffern könnten. Als Kind habe ich viel Zeit bei ihnen verbracht. Sie fühlten sich geschmeichelt, dass sich jemand für das wahre, echte alte Elbentum intressierte und lehrten mich die alten Sprachen.«

»Oh, bitte, Gildofal, ich flehe dich an«, flehte Suman. »Wenn dir dein und Gilfeas Leben lieb ist, erzähl niemanden etwas von dem, was du eben erzählt hast. Vergiss einfach, dass du diese Schriftzeichen je gesehen hast! Ich weiß jetzt, warum Segato weg ist. Er wollte uns retten und hat damit sein eigenes Leben verwirkt, so wie ich mit diesem Geständnis meins verwirkt habe.«

Sumans Verzweifelung war offen sichtbar. Er gab sich nicht mal mehr die Mühe, seine Emotionen kontrollieren zu wollen. In Verbindung mit seinen Worten, reichte es, um Gilfea in eine Art »Freunde vor schlimmen Dingen-Rettungsmodus« zu versetzen. Er stand auf, ging zu Suman und packte diesen mit beiden Händen am Kopf. Suman war von der Kraft überrascht, mit der Gilfea zupackte. Der junge Gildemeister hatte keine Chance sich Gilfeas Griff zu entwinden.

»Versuch es erst gar nicht!«, sprach Gilfea in einem bestimmenden und festen Tonfall, »Ich lasse nicht zu, dass ein Freund ein Problem alleine löst! Egal wie groß und gefährlich das Problem sein mag. Du packst jetzt aus! Ich will alles wissen, alles! Hast du verstanden?«

Suman zuckte vor Gilfeas Entschlossenheit zurück. Leise schluchzend brachte er ein »Ist gut!« heraus.

Und dann packte Suman aus. Er begann beim namenlosen Bösen, dem letzten Kampf und halben Sieg vor tausenden Jahren, dem Verrat des abtrünnigen Magiers, den Beschwörungsglyphen und dem Kampf der Gilde gegen das Böse. Während er erzählte, schien es, als wenn die Temperatur im Raum sank. Gildofal und Suman fröstelte es, von derart dunklen und bedrohlichen Dingen zu hören. Das namenlose Böse war nicht nur in der Gilde gefürchtet. Die Elben kannten den alten Feind ebenfalls. Sie waren es, die dafür verantwortlich waren, dass er keinen Namen besaß. Als sie im letzten Krieg gegen ihn kämpften und seine abgrundtiefe Bösartigkeit erleben mussten, verdammten sie ihn. Etwas, das alles Lebende verachtete, verdiente es nicht, einen Namen zu tragen. Und so kam es, dass die Gilde ihn als das namenlose Böse und die Elben als den namenlosen Feind kannten.

»Du und Segato, ihr zwei seid Meister der Gilde, oder?«, fragte Gildofal nachdem Suman mit dem ersten Teil der Geschichte fertig war.

Suman schnaubte verächtlich: »Pah, ein schöner Gildemeister bin ich! Kaum wird die See etwas rauer, bricht alles zusammen und ich verrate die Gilde. Im Prinzip könnte ich mir auch gleich eine Kugel in den Schädel schießen. Das würde eine Menge Arbeit ersparen.«

»Suman!«, schrie Gilfea den Gildemeister an, dass dieser vor Schreck in Deckung ging, »Ich will sowas nicht hören, hörst du! Nie wieder! Du bist ein Drachenreiter. Dein Leben gehört nicht dir allein! Du hast eine Pflicht übernommen. Oder ist dir Tingalen egal? Bedeutet sie dir nichts? Was ist mit uns? Gidofal und ich, wir lieben dich! Was ist mit Segato? Er ist durch die Hölle gegangen, um dein Leben zu retten. Und du willst es wegschmeißen? Und das alles nur wegen ein paar blöder Schriftzeichen?«

»Ihr versteht das nicht!«, Suman war ebenfalls am Schreien, »Habt ihr nicht zugehört? Es ist das namenlose Böse, das in unsere Welt zurückkehren will! Er ist der Grund dafür, warum die Gilde überhaupt existiert. Ihm Einhalt zu gebieten und es überall dort zu bekämpfen, wo es sein schändliches Haupt erhebt, ist unsere Aufgabe, der wir unser Leben verpfändet haben.«

Suman erklärte daraufhin, was es mit den Omegadirektiven auf sich hatte, dass jeder Gildemeister per Eid daran gebunden war, sie ohne zu hinterfragen auszuführen und was es bedeutete, diesen Eid zu brechen. Gilfeas Reaktion auf diese Erläuterungen überraschte nicht nur Suman, sondern auch Gildofal. Gilfea fing an zu lachen.

»Warum lachst du?«, fragte Suman unsicher.

Gilfea schüttelte seinen Kopf: »Ich lache über unsere Blödheit! Der namenlose Feind kann wirklich zufrieden sein. Statt ihn und seine Diener zu bekämpfen, bekämpfen wir uns gegenseitig! Das haben wir wieder perfekt hinbekommen. Findet ihr nicht auch, dass es Zeit wird, diesen Schwachsinn zu beenden?«

Gildofal sah seinem Freund in die Augen und endeckte ein subversives, hinterhältiges Funkeln in dessen Augen. Grinsend fragte der Elb: »Hast du das vor, was ich denke, was du vor hast?«

»Worauf du einen lassen kannst!«


»Er will also wieder in unsere Welt zurückkehren?«

Suman, Gildofal und Gilfea saßen zusammen mit Uskav und Turondur in dessen Arbeitszimmer beim Rat von Daelbar. Turondurs Augen funkelten. Suman hatte, widerwillig, seine Geschichte wiederholt.

»Eigentlich dürften wir nicht sonderlich überrascht sein, oder?«, fuhr Turondur fort, »Die Zeichen seiner Rückkehr waren da, wir waren einfach nur zu blind, sie zu sehen. In letzter Zeit wurden viel zu viele außergewöhnliche Drachen geboren. Von Mithval möchte ich gar nicht erst reden. Es war klar, dass sich etwas Gewaltiges zusammenbraut, aber wir wollten es nicht sehen. Ich sag es nicht gerne, aber wir haben uns zu lange um uns selbst gekümmert und sind darüber arrogant und selbstgefällig geworden. ›Daelbar, das Drachenheim‹ ist in Wirklichkeit ein elitärer Haufen eingebildeter Echsenliebhaber geworden, die von alten glorreichen Zeiten schwärmen. Wir haben es wohl nicht besser verdient, als dass uns unsere Faulheit jetzt in den Arsch beißt, oder?«

Turondurs Wortwahl mochte für einen aristrokratischen Hochelben, wie ihn, nicht unbedingt angemessen sein, doch traf es die Sachlage ziemlich exakt auf den Punkt. Über die Jahrhunderte war die Zahl der Drachenreiter nicht nur stark zurückgegangen, man war sich auch lange Zeit selbst genug gewesen.

»Weiß jemand, wo Segato steckt?«, fragte Uskav nach, »Wir können ihn unmöglich außerhalb Daelbars rumirren lassen, während die Gilde einen Preis auf seinen Kopf aussetzt.«

»Nein, wir wissen es nicht«, antwortete Suman, »In Daelbar ist er nicht mehr. Ich habe Tingalen gefragt, ob sie Ivo nicht erreichen könnte. Doch sie meinte, dass sie Ivo zwar spüren könne, er aber nicht antworten würde.«

»Dieser verfluchte kleine Kristralldrache!«, knurrte Uskav respektvoll.

»Ja«, stimmte Turondur zu. »Ivo würde Segato niemals verraten. Drachen könne manchmal sehr, sehr von dickköpfig sein.«

Für seine letzte Bermerkung erntete Turondur allgemeines zustimmendes Kopfnicken.

»Wem sagst du das!«, stöhnte Uskav und verdrehte ganz unorkisch seine Augen.

»Und was machen wir jetzt?«

Die Frage stand im Raum. Sie richtete sich an Turondur. Da er als Vorsitzender des Rates von Daelbars einem Regierungschef noch am nächsten kam und als alter Elb über einen reichen Erfahrungsschatz verfügte, lag es nahe, ihn nach seiner Meinung zu fragen. Da nun sämtliche Augen auf dem Hochelben ruhten, fühlte jener sich genötigt sich zu räuspern. Turondur machte keinen Hehl daraus, dass er sich in seiner momentanen Rolle nicht wohl fühlte. Ihm lag die Diplomatie näher. Durch sie wurde niemand verletzt oder getötet. Turondur war ein begnadeter Diplomat, der schon viele Kriege nur durch die Kraft seiner Worte und seinem Geschick im Verhandeln verhindert oder beendet hatte. Kein Wunder also, dass er nur widerwillig akzeptierte, dass die Zeit des Debattierens vorbei war.

»Schluss mit Lustig!«, Turondur hatte seine Entscheidung gefällt, »Ein Drachenreiter ist in Gefahr und wir werden ihn retten! Und ich habe da eine Idee, wie wir das anstellen könnten. Ist es wahr, dass es unmöglich ist, einen Gildemeister aufzuspüren, wenn dieser das nicht wünscht?«

Suman lächelte schief, »So sagt man.«

»Nun, dann macht es sicherlich keinen Sinn Hals über Kopf aufzubrechen. Wir sollten uns einen etwas intelligenteren Rettungsplan überlegen«, fuhr Turondur geschmeidig fort, wobei es in seinen Augen funkelte, »Vielleicht benötigt es einfach einer sehr empfindlichen Nase, zum Beispiel der eines Wolfes, um das Unmögliche möglich zu machen?«

Suman wechselte von Lächeln auf Grinsen: »Nur woher einen Wolf nehmen…«

Gildofal grinste ebenfalls und fixierte Turondur mit seinen Augen: »Tja, woher nur?«

Turondur hielt Gildofals Blick stand. Beide Elben starrten sich gegenseitig an, bis Gildofal plötzlich in Turondurs Augen etwas sah. Ein Zwinkern, ein unausgesprochener Gedanke: »Ich weiß, was du bist und du weißt, was ich bin. Wir werden darüber reden, aber nicht jetzt. Jetzt retten wir Segato.«

Gildofal nickte und meinte:»Ich glaube, ich habe eine Idee, wo man einen passenden Wolf finden könnte.«

»Gut!«, Turondur nickte zustimmend, »Allerdings wäre es mir lieb, wenn dieser Wolf nicht alleine unterwegs wäre. Er sollte ein paar Freunde mitnehmen, die ihm den Rücken freihalten. Ich glaube Suman und Gilfea sollten dich und deinen Wolf begleiten. Suman kennt Segato am Besten und könnte nützliche Tips geben. Während Gilfea und Mithval… Nun ja, manchmal muss man auch grob werden können.«

Jeder hörte in diesem Moment Mithval in seinem Kopf kichern. Turondurs Plan war sinnvoll. Da sowohl Eargilin als auch Tingalen noch viel zu jung waren, um zwischen den Welten fliegen zu können, war ein ausgewachsener Drache als Schutz eine gute Idee. Mithval als das Monster, das er inzwischen war, füllte diese Rolle perfekt aus. Tingalen war sogar noch so jung, dass Suman erstmals vor zwei Wochen auf ihr geritten und mit ihr geflogen war. Dieser, wenn auch kurze, Flug, war mehr als vielversprechend verlaufen. Wenn Suman seinen Fluglehrer richtig verstanden hatte, dann bildeten Suman und Tingalen eine fast perfekt Einheit beim Fliegen. Zusammen würden sie vermutlich einmal das gefährlichste Jagddrachenpaar abgeben, das er je gesehen hatte, geschweige denn ausbilden durfte. Dass Tingalen ein Jagddrache sei, wäre unverkennbar. Ihr langer, schmaler Körperbau war auf Geschwindigkeit, Schnelligkeit und Manövrierbarkeit ausgelegt. Die Betonung lag aber auf »würde«. Tingalen war eben noch kein Jagddrache und konnte Suman unmöglich über längere Strecken tragen.

»Und ich…«, Turondur zog die Aufmerksamkeit wieder auf sich, »werde mich wohl mal mit einem alten Freund über seine Prioritäten unterhalten müssen. Uskav, mein Freund, würdest du mich für ein paar Tage als Vorsitzenden des Rates vertreten?«

Es gehört schon einiges dazu, einen Uruk zu überraschen und in Verlegenheit zu bringen. Mit seiner Frage schaffte Turondur dieses Kunststück mit Leichtigkeit. Uskav zeigte einen Hauch von Rot in seinem Gesicht.

»Wer? Meinst du mich?«, rief das Monster von einem Ork verdattert.

»Gibt es noch einen anderen Uruk des Namens Uskav in diesen Raum? Ich wüsste Daelbar in keinen besseren Händen aufgehoben, als in deinen«, Turondur bog kurz seinen Kopf zur Seite und ließ seine Nacken- und Halsgelenke knacken, »Gut, streich Hände. Pranken wäre wohl treffender.«

Turondur war ohne jeden Zweifel ein abgebrühter Berufspolitiker, der sein Handwerk verstand. Uskav, einen Ork, einen Uruk, faktisch zum Regenten der Stadt der Drachen zu berufen, dürfte weit über die Grenzen Daelbars hinaus für Aufsehen und mehr als nur kontroverse Diskussionen sorgen. Zum einen war Uskav ein abtrünniger General und Heeresführer des Königs von Goldor II. Da Goldor nicht unbedingt eine innige Freundschaft mit Daelbar pflegte, könnte man Uskavs Präsidentschaft auf Zeit als eine Art Affront interpretieren. Was Turondur mehr als recht und absolut gewollt war. Goldors Propaganda behauptete mit gebetsmühlenartiger Eintönigkeit, Daelbar wäre ein Staat von arroganten, hochnäsigen Drachenliebhabern, ein elitärer Club in dem normalsterbliche Menschen bestenfalls niedere Dienstboten werden könnten. Eleganter, als mit Uskavs Vertretungspräsidentschaft, konnte man Goldors Lügen nicht enttarnen.

Zum anderen war Uskav eben auch ein Uruk. Uruks in Führungspositionen waren noch seltener als offizielle Kirchenmagier. Wenn die Drachen einem Ork öffentlich ein derartiges Vertrauen entgegenbrachten, dann war das ein Zeichen. Es war ein gefährliches Zeichen, denn es könnte andere Orks auf die Idee bringen, dass sie eben nicht Sklaven ihrer genetischen Zuchtprogrammierung waren. Es zeigte, dass man sich von ihr lösen und über sie hinaus wachsen konnte. Das Zeichen konnte leicht zum Saatkorn einer Revolution werden.

Turondur wusste ganz genau, was er tat. Der Hochelb mochte zwar kein gefürchteter Krieger oder mächtiger Magier sein, doch das Spiel mit Symbolen, Gesten und Sprache beherrschte er perfekt. Drei Tage nach der Besprechung mit Uskav, Gildofal, Suman und Gilfea war es soweit. Turondur übergab in der golden Halle des Rates feierlich Uskav seine Amtskette.

»Während meiner Abwesenheit soll General Uskav den Vorsitz des Rates unserer Stadt übernehmen. Stimmt mir der Rat in dieser Sache zu?«

Der Rat stimmte zu – einstimmig.

»Dann bitte ich dich, Uskav, den Amtseid zu leisten«, forderte ihn Turondur auf und reichte ihm einen Papierbogen mit der Eidesformel.

»Ich Uskav, Chargennummer UX-17-126104712, Urukzuchtstamm 172, schwöre, die Werte, Prinzipien und Ideale Daelbars zu schützen, zu wahren, zu vermehren und notfalls mit meinem Leben zu verteidigen.«

Noch nie hatte ein Uruk tosenden Beifall geerntet. Das heißt, im Prinzip schon, nur unterschied sich die Art, wie das jeweilige Publikum den Beifall spendete. Wenn bisher einem Uruk oder einem Ork applaudiert wurde, dann geschah dies nicht unbedingt freiwillig, sondern im Allgemeinen unter Androhung ernsthafter Konsequenzen, wie etwa erschossen zu werden. Der Rat der Stadt Daelbar spendete seinen Beifall freiwillig und gerne. Natürlich wurde, auf besonderen Wunsch eines gewissen aristrokratischen Hochelben, die feierliche Vereidigung Uskavs in das weltweite Nachrichtennetz eingespeist.

Im Gegensatz zu dieser öffentlichen Zermonie fand die Zusammenkunft einer kleinen Gruppe Drachenreiter am nächsten Morgen ohne die Anwesenheit elektronischer Kameras oder Berichterstattungsgnome statt. Überhaupt handelte es sich eher um eine diskrete, wenn nicht sogar heimliche, Veranstalltung. Suman, Gildofal und Gilfea standen zusammen mit ihren Drachen am Rande der Startrampe ihrer Drachenhöhle. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Im Osten war gerade einmal ein leichter rötlicher Schimmer zu sehen, als Turondur auf Toldin angeflogen kam.

»Freunde«, begann Turondur, »ich bitte euch nochmals inständig, seid sehr, sehr vorsichtig. Es ist wichtig, dass ihr Segato findet, aber bringt euch nicht selbst unnötig in Gefahr. Mithval, du sorgst mir dafür, dass alle wieder heil nach Hause kommen, ja?«

Der große Mithrildrache grinste breit und meinte: »Aye aye, sir!«

»Ich möchte, dass ihr auf Gilfea hört. Er verfügt noch über die meiste Erfahrung als Drachenreiter. Gildofal, du wirst dich um die Hundegeschichte kümmern. Suman, du kennst die Gilde am besten und weißt, wie sie arbeitet, welche Gefahren euch drohen. Unterstütze Gilfea. Und Gilfea, du hörst auf Suman, wenn er dir einen Rat gibt, ja?«

»Ja, Chef!«, antworteten die drei auf Turondurs Predigt. Der Elb nickte zufrieden. Alles war vorbereitet. Die Drachen der drei waren gesattelt, Suman würde auf Mithval mitfliegen, da Tingalen noch nicht groß genug war, um ihn die ganze Zeit tragen zu können. Eargilin war hingegen kräftig genug, um Gildofal selbst bis ans Ende der Welt zu bringen. Was er noch nicht konnte, war zwischen den Welten zu fliegen. Über diese Fähigkeit verfügte bisher nur Mithval.

»Dann ist es nun soweit. Ihr folgt Segato. Und ich werden… Nun ja… Ich werde eine alte Schuld begleichen…«

Ein Wiedersehen

»Wie ich Freundschaft definieren würde?«
»Ein Freund sagt ›Danke‹, wenn ich ihm in den Arsch trete.«

Profitius Spax Philosoph 2. Klasse

Turondur schwang sich auf Toldins Rücken, griff nach seinem Halteseil und strich seinem Drachen sanft und liebenvoll über die Flanke. Toldin reckte seinen Hals, gab ein schnurrendes Geräusch von sich und entfaltete schließlich seine Flügel. Mit einem gewaltigen Satz war der majestätische Silberdrache in der Luft. Zwei Schläge mit den Flügeln und er hatte genug Höhe gewonnen, um in einen sanften Gleitflug übergehen zu können. Toldin nahm Fahrt auf, stieß entlang des Bergs, der das Gästehaus trug, hinab ins Tal, machte sich schmal und stromlinienförming, um mit einem Blitz diese Welt zu verlassen und in den Raum zwischen den Welten einzutauchen.

Suman und Gildofal sahen dem Schauspiel staunend zu. Erst als sich ihre Augen vom Blitz des Übergangs erholt hatten und Toldin verschwunden war, räusperten sich die beiden jungen Drachenreiter.

»Ist es wirklich so beeindruckend wie es aussieht?«, fragte Suman.

»Zwischen den Welten zu fliegen?«, antwortete Gilfea, der als einziger von ihnen bereits zwischen den Welten fliegen konnte.

»Ja!«, antwortete Gildofal mit einem abwesenden Gesichtsausdruck. Er schaute immer noch in die Richtung, wo Toldin mit Turondur verschwunden war.

»Es ist wunderschön! Du wirst es erleben, wenn wir beide zu unserer ersten gemeinsamen Reise antreten. Worte können es nicht beschreiben. Habe noch ein klein wenig Geduld«, beantwortete Eargilin die Frage.

»Yup, das wird nett!«, pflichtete Tingalen bei.


Einige tausend Meilen entfernt, wesentlich südlicher als Daelbar und auch ein wenig westlicher, zerriss ein farbiger Blitz die Mörgendämmerung. Wie aus dem Nichts tauchte aus dem Blitz heraus ein Drache auf, auf dessen Rücken ein Elb von aristokratischer Gestalt saß. Die Leuchterscheinung war spektakulär, doch war niemand da, der ihre Schönheit würdigen konnte. Toldin und Turondur hatten den Raum zwischen den Welten über dem westlichen Meer verlassen, knapp 70 Meilen von ihrem eigentlichen Ziel entfernt.

Drache und Drachenreiter orientierten sich kurz am Stand der Sternbilder, dann wussten sie, in welche Richtung sie fliegen mussten. Ruhig und mit moderatem Tempo glitt Toldin dahin, genoss die frische Seeluft und machte sich einen Spaß daraus, seine Klauen durch das Wasser des Meeres zu ziehen und dabei unvorsichtige Fische zu fangen, die der Drache mit sichtlichem Genuss auch prompt verspeiste.

»Es ist lange her, dass wir das Meer gesehen haben.«

»Ja, mein Freund, du hast Recht. Es ist viel zu lange her«, seufzte Turondur, »Wie schmeckt dir der Fisch?«

»Vorzüglich! Möchtest du auch einen?«

»Ähm, danke, nein. Roher Fisch ist nicht unbedingt…«

»Ich könnte ihn dir braten?«, unterbrach Toldin Turondur und stieß ein kleines Feuerwölkchen aus.

»Ich glaube, ich lass es lieber«, antwortete Turondur und streichelte Toldings Halsschuppen.

»Du bist unruhig«, wechselte Toldin das Thema.

»Ja«, seufzte Turondur, »Es ist viele Jahre her, dass ich Erogal gesehen habe. Wie du weißt, trennten wir uns nicht unbedingt im Frieden.«

»Er hat dich durch Segato grüßen lassen. Er hat dir mitteilen lassen, dass es ihm Leid tat. Meinst du nicht, dass 30 Jahre auch schwere Wunden heilen können?«

»Ich hoffe es. Ich hoffe es inständig… Mein Verhalten Erogal gegenüber war unfair und falsch. Er hatte gute Gründe, auf mich sauer zu sein.«

Den Rest des Flugs verbrachten Turondur und Toldin schweigend. Sie genossen die frühe Stunde. Das Meer lag friedlich und ruhig unter ihnen. Die Sonne erhob sich gerade am Horizont, als die ersten Umrisse Crossars auftauchten und schnell größer wurden. Die Hafenstadt Crossar, Segatos und Sumans Heimat, besaß eine beeindruckende Skyline, insbesondere, wenn man sich ihr vom Meer aus näherte. Riesige Werfthallen säumten den südlichen Teil der Crossarschen Küstenlinie, während im Norden Kräne und Lagerhallen das Bild prägten. In der Mitte befand sich der Yachthafen zusammen mit einer zwei Meilen langen Promenade. Hier endete auch die Allee »Capitano Crossando«, Crossars Prachtstrasse, die vom Meer bis zum Parlament am Senatsplatz führte und von dem auch die Eichenallee abging, an der Turondurs Ziel lag.

Crossar war schon immer eine geschäftige Stadt. Selbst am frühen Morgen herrschte hektisches Treiben. Selbst die Promenade war mit fliegenden Händlern, Imbissverkäufern und Touristen bevölkert. Sie waren es, die die Ankunft eines Drachens, eines echten, leibhaftigen Drachens als erstes entdeckten. Zuerst schien es, als wenn ein hell funkelnder Stern über das Meer kommen würde. Doch als der Stern näher kam, konnte man erkennen, dass es sich um einen Silberdrachen handelte, der von der im Osten aufgehenden Sonne angestrahlt wurde. Der Drache schien riesig zu sein. Wobei den anwesenden Zuschauern die Vergleichsmöglichkeiten fehlten, da keiner je zuvor einen Drachen gesehen hatte. Jeder war vom Anblick der großen Echse fasziniert. Selbst die für ihre stoische Ruhe, die schon fast an Ignoranz reichte, berüchtigten Andenkenverkäufer, verließen ihre Verkaufshütten und starrten den Drachen an.

»Da sitzt ja jemand drauf!«, rief jemand.

»Es ist ein Elb!«, rief jemand anderes.

Toldin wusste um die Aufmerksamkeit, die er unter der Bevölkerung und den Besuchern Crossars verursachte. Er nahm es drachenhaft: er war amüsiert. Er ließ es sich auch nicht nehmen, im extremen Tiefflug über den Köpfen der Zuschauerschar hinwegzugleiten.

»Junge«, kommentierte Turondur die Egoshow seines Partners, »dir gefällt die Aufmerksamkeit, was?«

»Yupp!«, antwortete Toldin knapp und kicherte vor sich hin. Selten hatte Turondur seinen Drachen derart lehrbuchreif fliegen erlebt. Mit maximaler Eleganz, jeden Lufthauch ausnutzend, flog, nein schwebte, Toldin die »Capitano Crossando« hinauf zum Senatsplatz. Dort angekommen, nahm er mit ein paar Flügelschlägen Höhe auf und kreiste dreimal über dem Platz. Die Ehrenwachen vor dem Senatsgebäude waren hervorgetreten und wussten nicht, ob sie nun mit ihren Sturmgewehren auf die Echse anhalten oder doch lieber die Flucht ergreifen sollten. Um nichts falsch zu machen, taten sie gar nichts.

Toldin hatte seine Rundflüge beendet und hielt nun auf einen großen Gebäudekomplex zu, der sich an der Eichenallee 1 befand. Bei dem Häuserblock handelte es um das Gelände des Gildehauses Crossars. Es bestand aus dem eigentlichem Gildehaus mit Büros, Besprechungsräumen, Empfangs- und Festsälen, sowie den Wohnungen der Gildebrüder und der Residenz des Präfekten der Gilde. Daneben gab es noch die Gildeschule, das Wohnhaus der Schüler, ein weiteres Bürohaus und einen Festsaal. In der Mitte befand sich ein großer, begrünter Hof mit einem Springbrunnen. Genau über diesem Hof kreiste Toldin kurz, um wenige Momente später in dessen Mitte neben dem Brunnen eine perfekte Landung hinzulegen.

Die Schüler der Gildeschule, die sich gerade auf ihre erste Stunde vorbereiteten, waren die erste, die es nicht auf ihren Plätzen hielt und ins Freie stürmten. Staunend standen sie in respektvollem Abstand um Toldin herum und begafften den Drachen, der sie wiederum aufmerksam anschaute und, drachentypisch, vor sich hinschmunzelte.

»Der grinst!«, tönte es aus der Schülerschaft heraus.

»Würd ich an seiner Stelle auch,«, antwortete eine andere Stimme, »Er hält dich für einen Appetithappen, Schwabbelbacke!«

Aus der Masse der Schüler stolperte ein übergewichtiger Junge heraus, fiel auf den Boden, schlidderte ein Stück über den feuchten Rasen des Innenhofes und kam mit hochrotem Kopf kurz vor Toldin zu liegen. »Carlos, du Arsch!«, fauchte der übergewichtige Junge, während er sich berappelte und wieder auf die Beine kam. Ängstlich sah er den Drachen an.

»Hi du!«, meldete sich Toldin im Kopf des Jungen, »Keine Angst, ich fress dich schon nicht. Ich mach’ gerade eine Diät.«

»Glaub ihm kein Wort!«, tönte plötzlich eine kräftige, respekteinflößende Stimme quer durch den Hof. Das Gebrabbel der Schüler war sofort zu einem leisen Geflüster und Getuschel verstummt, »Toldin ist zwar kein Vegetarier, doch aus kleinen Jungs wie dir, Michele, macht er sich wirklich nichts. Nicht war Toldin?«

»Wenn du es sagst, Mattheo, oder sollte ich lieber Erogal D’Santo sagen?«, entgegnete Toldin und schaute den elegant gekleideten Mann an, der sich gerade den Weg durch die Schüler bahnte.

»Wie ich sehe, schleppst du immer noch diesen hochnäsigen Elb mit dir rum.«

»Alte Gewohnheiten wird man schwer los«, antworte Toldin.

Erogal hatte den Drachen erreicht und schaute zu Turondur hoch. Der Elb schaute kurz zu Erogal hinab, doch wandte er sich plötzlich ab. Zu Erogals größter Überraschung sah er Tränen in den Augen des Elbs.

»Turondur…«

»Mattheo…«

Turondur kletterte von Toldin herunter und kam vor Erogal zu stehen. Die beiden alten Freunde schauten sich gegenseitig in die Augen.

»Mattheo… Ich…«, begann Turondur, »Es tut mir…«

»Ich weiß…«, unterbrach Erogal Turondur, »Mir auch…«

Wieder schauten die beiden Freunde einander in die Augen und erkannten, dass die Schatten der Vergangenheit verschwunden waren. In dem Moment gab es für beide kein Halten mehr und sie fielen sich gegenseitig in die Arme.

»Verdammt, ich habe dich vermisst!«, fluchte Erogal, nachdem sich die beiden Männer wieder voneinander getrennt hatten, »Es freut mich… Nein, ich bin glücklich, dich nach so langer Zeit wieder sehen zu können!«

Für sein hochelbisches Wesen völlig untypisch, reagierte Turondur sehr verlegen: »Verdammt, ich habe dich auch vermisst!«

Erogal musterte Turondur. Ein wissendes Grinsen umspielte plötzlich seine Lippen: »Aber du bist wohl kaum vorbeigeflogen gekommen, um einfach mal eben ›Hallo‹ zu sagen, oder? Deswegen hättest du kaum den Weg von Daelbar hier her gewagt. Wie ich hörte, bist du inzwischen Vorsitzender des Rates geworden. Was treibt also den Vorsitzenden des Rates der freien Drachenstadt Daelbar ins Gildehaus von Crossar?«

»Ich muss mit dir sprechen, allein – Omegadirektive 2!«

»Interessant…«


Ein paar Minuten später saßen sich Erogal D’Santo und Turondur in der Bibliothek des Gildehauses von Crossar gegenüber. Es war die gleiche Bibliothek in der ich vom obdachlosen Straßendieb zum Gildebruder wurde. Turondur saß sogar im gleichem Sessel wie ich und auch die Tür der Bibliothek war ebenso hermetisch verschlossen, wie zu meiner Zeit. Nichts was innerhalb ihrer vier Wände gesprochen wurde, würde je den Weg hinaus finden.

»Die Omegadirektive also… Woher…«, Erogal unterbrach sich selbst und zeigte eine müdes Lächeln, als ihn die Dummheit seiner Frage bewusst wurde, »Natürlich… Suman und Segato! Die beiden lassen wirklich nichts aus, wenn es darum geht sich in Schwierigkeiten zu bringen.«

»Nein, wirklich nicht. Wenn man bedenkt, dass Suman der einzige ist, der jemals den Angriff eines Todesigels überlebt hat, könnte man deine Ansicht durchaus teilen.«

»Er schon, aber zu welchem Preis? Kasimir und Fingolf mussten uns dafür verlassen«, gab Erogal zu Bedenken.

»Segato konnte nicht wissen, welchen Plan Kasimir und Fingolf verfolgten, als sie sich bereit erklärten, Suman zu retten. Du kannst Segato dafür keine Vorwürfe machen«, verteidigte Turondur seine beiden Drachenreiter.

»Natürlich nicht. Ich werfe beiden nichts vor. Weder Segato, dass er alles für seinen Freund tun würde, um ihn zu retten, noch Suman, dass er nun lebt und Kasimir nicht mehr unter uns weilt.«

Für einen Moment schwiegen die beiden alten Freunde. Erogal schenkte ihnen je ein Glas einer starken alkoholischen Spezialität Crossars ein. Sie konnten es beide brauchen. Turondur nahm das ihm angebotene Glas und hielt es abwägend in seiner Hand. Er drehte es hin und her und schaute träumend und gedankenverloren in die funkelnden Lichtbrechungen der Facetten des geschliffenen Glases.

»Was denkst du?«, fragte Erogal leise.

»Ich schäme mich, dass ich dich nicht früher besucht habe. Ich schäme mich dafür, dir nicht verzeihen zu wollen. Ich habe dir die Schuld am Tod meiner Schwester gegeben und das nur, weil ich mir meine eigene Schuld nicht eingestehen wollte«, Turondur schnaubte verächtlich, »Vermutlich bin ich kein guter Elb. Wir sollen doch so edel, nobel und gerecht sein. War es gerecht, dich dafür zu strafen, dass ich mit Vaires Tod nicht klar kam? Mattheo oder Erogal, ich meine es ernst. Verzeihst du mir?«

Mit dem letzten Satz nahm Turondur einen großen Schluck aus seinem Glas. Erogal sah den Elben lange an, bevor er antwortete: »Ich habe dir schon vor langer Zeit verziehen. Es war schmerzhaft mitanzusehen, wie du dich selbst gequält hast. Wir beide haben Vaire geliebt. Du als ihr Bruder und ich als ihr Verlobter. Ich liebe sie noch immer. Mein Hass auf ihre Mörder ist noch genau so groß, wie vor 30 Jahren. Doch habe ich einen Weg gefunden, diesen Hass zu kanalisieren, ihn umzuformen, dass er mich nicht innerlich auffrisst. Ein Gildebruder zu werden, war die richtige Entscheidung. Ich bin froh, dass du einen Weg gefunden hast, deinen Zorn zu überwinden und dir selbst zu verzeihen. Turondur, ich war es immer und ich werde es immer bleiben – Dein Freund!«

Erogal nahm die Hand des Elben und drückte sie. Beider Männer Blicke trafen sich. Worte waren nicht nötig. Eine lange verloren geglaubte Freundschaft entflammte neu.

»Würde es dir etwas ausmachen, mich nicht zu töten?«, fragte Turondur plötzlich in einem halbscherzhaften Tonfall.

»Warum sollte ich dich töten wollen?«, antwortete Erogal mit einer Gegenfrage.

»Weil ich weiss, dass du ein Meister der Gilde bist. Ausserdem kennst du die Omegadirektiven. Das wären, soweit ich informiert bin, schon zwei Gründe, oder?«

»Mindestens zwei. Aber du weißt sicherlich, dass ich erst noch alle Informationen beschaffen muss, die mit der Omegadirektive in Zusammenhang stehen, bevor ich dich liquidiere.«

»Eine Galgenfrist? Wieviel Aufschub gönnst du mir denn?«

»Wieviel brauchst du? Vier-, fünfhundert Jahre?«, Erogal schüttelte seinen Kopf, »Was für schwachsinnige Regeln haben wir uns nur ausgedacht? Wenn ihr wirklich auf eine Beschwörungsglyphe des namenloses Bösen gestoßen seid, dann werden wir alle guten Mächte dieser Welt brauchen, um unser aller Leben zu retten. Wobei…«, Erogals Mine verfinsterte sich, »Für den Fall eines Sieges des Bösen, dürfte der Tod vermutlich noch das geringste Übel sein.«

»Ist dies der Standpunkt der Gilde oder dein persönlicher?«

Erogal seufzte: »Teil, teils. Seit einigen Jahren beobachte ich einen wachsenden Schatten. Seine Macht wächst und reicht inzwischen bis in die Gilde hinein. Ich will nicht sagen, dass wir Verräter unter unseren Reihen hätten – vermutlich noch nicht! Doch sein übler Einfluss wirkt trotzdem, vielleicht nicht direkt und unmittelbar, doch ebenso verheerend. Wusstest du, dass viele meiner Mitbrüder unsere Ziele und Ideale nicht mehr verstehen? Sie reden ständig von Ehre, dem Kampf gegen das Böse in dieser Welt und den hohen moralischen und ethischen Ideen und Idealen, denen sich die Gilde verschrieben hat und sie sogar symbolisiert. Doch sie verstehen ihre wahre Bedeutung nicht mehr. Sie sammeln Informationen, handeln mit ihnen oder üben politischen Einfluss aus. Wir sind zu einem Wirtschaftsunternehmen verkommen. Wir besitzen strategische Firmenbeteiligungen, wir treiben Handel. Alles, auch die Gildehäuser, werden an ihrer Rendite gemessen. Ein Haus, dass seine Ziele nicht erfüllt, wird geschlossen.«

»Was hat das mit der Omegadirektive zu tun?«

»Für diese neue Gattung von Mitbrüdern ist die Omegadirektive das gleiche, wie ein Haushaltsplan oder eine Handelsstrategie. Einmal beschlossen, wird er wortwörtlich ausgeführt. Verstehst du? Sie sehen nur das, was die Direktive von ihnen verlangt und arbeiten sie mit größter Präzision ab. Dabei verwechseln sie Umsetzung mit Sinn. Es gibt einen Sinn, einen Grund für die Existenz der Omegadirektiven. Doch der ist für sie unwichtig. Schlimmer noch, sie meinen, die Umsetzung einer Direktive sei der Sinn. Sie glauben, dass wenn sie die Regeln perfekt befolgen, es sie zu guten Gildebrüdern macht. Sie verstehen nicht, dass es einen Unterschied zwischen dem wirtschaftlichen Betrieb einen Gildehauses und dem Kampf gegen das Böse gibt. Beides läßt sich in Checklisten, Arbeitsanweisungen und Planziele gießen. Ich bin ehrlich zu dir, die Gilde wird zunehmend von geistlosen Technokraten beherrscht. Früher oder später sehe ich uns vor einer Spaltung.«

Turondur wirkte müde: »Dann ist die Situation schlimmer, als ich befürchtet habe.«

»Wer weiß. Vielleicht sehe ich auch einfach zu schwarz und meine Mitbrüder werden mich eines besseren belehren. Es gibt immer noch genügend Meister, denen ich vertrauen kann. Du hast von Meridus T’Saal und Septimus Na’Tohl gehört? Sie waren es, die Segato und Suman in Minas Rochsir und Blaufurt geholfen haben. Sie und noch ein paar andere werden nichts gegen Suman und Segato unternehmen und, soweit möglich, verhindern, dass andere etwas tun.«

»Ich dachte Meridus hätte sich geopfert?«

»Oh, Meridus besitzt mehr Leben als eine Katze. Er lebt und ist gerade dabei, einen neuen Allianz gegen das Böse zu knüpfen. Offenbar scheint der König von Goldor den Wassertechnikern Blaufurts etwas zu aufdringlich zu werden. Goldor versucht den Handel in Blaufurt unter seine Kontrolle bringen zu wollen.«

»Sylvestra?«

»Natürlich steckt unsere alte Freundin dahinter. Ihr Einfluss am Hof ist inzwischen dermaßen groß, dass Antharon ohne ihre Erlaubnis nicht mal mehr aufs Klo geht«, Erogal schnaubte verächtlich, stutze dann, kratzte sich am Kinn und begann hinterhältig zu lächeln: »Apropos Sylvestra. Wann hast du deine Schwester eigentlich das letzte mal gesehen?«

Turondur knurrte: »Vor 176 Jahren! Ich kann es bis heute nicht verstehen, warum sie ihr elbisches Erbe verleugnet und sich der Technokratie angeschlossen hat. Sie ist eine Elbin, aber sie leugnet es.«

»Es ist wirklich pikant. Die Päpstin der unifizierten Technokratie ist eine Prinzessin der Hochelben. Ein netter Witz!«, meinte Erogal bedingt amüsiert, »Aber du kennst den Grund, oder?«

»Dein Humor hat sich in den letzten 30 Jahren nicht verändert. Natürlich kenn ich den Grund«, entgegnete Turondur und schaute seinen alten Freund nachdenklich an, »Haben wir eigentlich eine Chance?«

»Die Welt zu retten?«

»Ja!«

»Bei optimistischer Schätzung steht es 120.000:1 gegen uns. Das jedenfalls, hat mein PDA-Implantat errechnet. Das ist doch eine Quote, bei der es sich lohnt zu kämpfen, oder nicht?«, Erogal grinste.

»Es ist einen Versuch wert«, grinste Turondur, etwas nüchternen fügte er hinzu: »Ich wünschte, unsere Chancen stehen besser.«

»120.000:1 ist nicht so schlecht. Außerdem haben wir noch ein Ass im Ärmel. Wie machen sich Suman und Segato?«, fragte Erogal mit auffällig arglos klingender Stimme.

»Die beiden sind jung. Es hat zwischen ihnen ziemlich gefunkt. Inzwischen sind sie zu viert.«

»Ach ja, natürlich. Gilfea und sein lycanthropischer Freund Gildofal«, kommentierte Erogal und versetzt Turondur ins Staunen.

»Woher weißt du das?«, fragte Turondur sofort nach.

»Hey, ich bin ein Gildemeister, vergessen? Es ist mein Job, soetwas zu wissen«, Erogal grinste kurz breit, um dann ernst zu werden: »Ich habe nie aufgehört ein Drachenreiterschüler zu sein. Vaires Tod hat mir das Herz gebrochen. Die Drachen rissen es mir anschließend aus der Brust und trampelten mit ihrer Entscheidung, mich nicht zu erwählen, fröhlich darauf herum. Du weißt, was geschehen ist?«

»Nur das, was mir Kasimir erzählte. Du bist ausgetickt, als dir die Drachen ihre Entscheidung mitteilten. Dann sprach Fingolf ein Machtwort und zitierte dich zu sich. Ihr, Fingold, Kasimir und du, habt dann zwölf Stunden lang miteinander gesprochen. Dannach hast du Daelbar verlassen.«

Erogal verzog sein Gesicht. Die Erinnerung schmerzte: »Es war ein klein wenig anders. Es stimmt. Ich bin ausgetickt. Doch das war nicht alles.« Erogals Augen wurden feucht, Tränen quollen ihm aus den Augenwinkeln, »Mein Leben war ein Trümmerhaufen. Vaire war tot! Mein Geliebte, die Frau, die ich heiraten wollte, starb in meinen Armen; in ihrem Brautkleid. Du warst von meinem besten Freund zu meinem größten Feind mutiert. Die Drachen lehnten mich als Seele ab und beraubten mich damit der Möglichkeit Rache zu nehmen. Ich war fertig mit der Welt. Am Abend nach der Entscheidung der Drachen habe ich drei Fruchtkapseln des Wadorabaums geschluckt.«

»Was?«, Turondur schrie Erogal an, »Du wolltest dich umbringen? Gegen das Gift des Wadorabaums gibt es kein Gegenmittel, du wärst nach drei Tagen eines entsetzlich qualvollen Todes gestorben. Nicht umsonst wird diese Frucht von weniger zivilisierten Kulturen als Hinrichtungsmethode verwandt. Moment mal, du müsstest tot sein!«

»Figolf hat mich gefunden. Dem alten Golddrachen konnte ich nichts vormachen. Er wusste sofort, was ich getan hatte und informierte Kasimir. Ich konnte mich inzwischen nicht mehr bewegen. Das Gift hatte bereits meine Glieder gelähmt. Kasimir war ein mächtiger Druide. Er brachte mich mit Fingolfs Hilfe in seine Höhle. Dort hielt er mir eine Gardinenpredigt, die sich gewaschen hat. Vom Gift gelähmt, konnte ich nichts anderes tun, als zuhören. Typisch Kasimir. Nachdem er fertig war, mir den Kopf zu waschen, braute er ein Gegenmittel und verabreichte es mir. Ja, der alte Druide hatte es faustdick hinter den Ohren. Er kannte tatsächlich ein Gegengift. Ich schlief sieben Stunden, währenddessen das Gegengift das Gift neutralisierte. Halbwegs fit, aber mit entsetzlichen Muskelschmerzen wachte ich irgendwann wieder auf. Kasimir saß mir gegenüber und unterbreitete mir einen unglaublichen Vorschlag.«

»Erzähl!«, Turondur war von Erogals Erzählung nicht nur überrascht, sondern auch fasziniert.

»Vorher möchte ich dir aber noch etwas zeigen«, entgegnete Erogal und erhob sich aus seinem Ledersessel, um zu einem der verschlossenen Bücherschränke zu gehen. Er öffnete dessen Tür, nahm ein bestimmtes Buch heraus und schlug es auf. Mit seiner rechten Handfläche berührte er die aufgeschlagene Seite. Das Buch flammte auf. Silbrig weißes Licht strahlte durch Erogals gespreizte Finger. Auf das Licht folgte ein Klicken. Das Bücherschrank, aus dem Erogal das Buch entnommen hatte, schwang lautlos zu Seite und gab den Zugang zu einer Nische frei, die sich hinter dem Schrank befand. In dieser Niesche befand sich ein einziges Objekt. Angestrahlt von Wärmelampen ruhte es dort auf einem kleinen Podest.

»Das, das, das ist…«, stammelte Turondur, bevor es ihm die Sprache verschlug.

»Ja, das ist das Ei eines Drachens. Es ist das Ei des Drachens, dessen Seele ich eines Tages werden darf.«

Fingolfs Versprechen

»Hüte dich vor Sex mit Orks!«

Leitsatz 11 des Ordens der Neovikinger

»Stop! Das mußt du mir ganz genau erklären. Wo hast du das Ei her? Wie alt ist es?«, Turondur war mächtig aufgeregt. Er war aufgesprungen und zum Ei gelaufen. So, wie es ausschaute, schien das Ei sehr alt, aber durchaus lebendig zu sein. Die Wärmelampen sorgten für die notwendige Hitze. Turondur war sehr verwundert. Zwischen Ablage des Ei und Schlüpfen vergingen meist nur wenige Tage. Es gab zwar Eier, die ein paar Monate ruhten, doch dieses Ei sprengte jeden Rahmen. Seine Hülle war dunkel, fast schwarz und von feinen Rissen überzogen, durch die ein rötlicher Schimmer heraussickerte.

»Bitte, laß es mich erklären!«, Erogal Stimme hatte einen flehenden Unterton.

»Ich höre!«, Turondur wusste nicht, was er von der Sache halten sollte. Um so nervöser, war er.

»Dieses Ei hat mir Fingolf gebracht«, erläuterte Erogal, »Wenn du mir nicht glaubst, dann frag’ Toldin. Er war dabei.«

»Yepp! War ich!«

Turondur konnte nur mit dem Kopf schütteln. Er wusste jetzt noch weniger, was er von der Sache halten sollte.

»Verstehst du es nicht?«, fragte Erogal Turondur, »Die Drachen hatten mir gesagt, dass ich nicht geeignet sei, ein Drachenreiter zu werden. Vaires Tod hatte mich verbittert. Für mich war das der Todesstoß. Erst Vaire, dann du und dann die Drachen. Nach meinem Selbstmordversuch wusch mir Kasimir den Kopf. Ich hätte besser zuhören sollen! Die Drachen hatten entschieden, dass ich zu jenem Zeitpunkt kein Drachenreiter werden dürfte. Das hieß aber lange noch nicht, dass ich es niemals werden würde. Ich schrie Kasimir und Fingolf an, dass ich ihnen nicht glauben könnte. Sie würden das nur behaupten, damit ich keinen Stress mache und mich mit meinem Schicksal abfinde. Darauf brachte mir Fingolf dieses Ei. Ich schämte mich so sehr, dass ich in Tränen ausbrach. Ich hatte Kasimir und die Drachen beleidigt und beschimpft, und was machen sie? Sie schenken mir ein Versprechen in Form eines Eis! Aus diesem Ei, so Fingolf, würde mein Drache schlüpfen und mich erwählen. Wann dies geschehe, läge ausschließlich an mir.«

»Ja, das passt! Es ist so typisch für unsere Echsen«, Turondur strich sanft über das Ei, »Du weißt, dass es bald soweit ist? Aus diesem Ei wird sehr bald ein Drache schlüpfen.«

»Ja, ich weiß. Er hat sogar schon zu mir gesprochen«, bestätigte Erogal, »Doch jetzt, wo es soweit ist, habe ich Angst.«

»Nein, habe keine Angst. Du warst ein sehr guter Drachenreiterschüler, du bist ein erfolgreicher und guter Gildemeister. Es gibt nichts, was du fürchten müsstest«, Turondur setzte sich wieder in seinen Sessel, »Erzähl mir lieber, was weiter geschah. Warum hatten Kasimir und Fingolf Daelbar mit dir verlassen?«

»Davon weiß ich nur einen Teil. Kasimir war nicht einfach nur ein Meister der Gilde. Er war ein Großmeister 1. Grades. Einer unserer geistigen Führer und Vordenker. Ihm habe ich es zu verdanken, erst ein Gildebruder und schließlich ein Meister zu werden. Kasimir brachte mich nach Crossar. Dank meiner Drachenreiterausbildung musste ich wenig hinzulernen, um ein Gildebruder zu werden. Während ich büffelte, trieb sich Fingolf in Crossar herum. Fingolf hielt sich außerhalb der Stadt versteckt. Ich weiß nicht, was er in der Stadt trieb. Ich weiß nur, dass er in den Archiven der Stadt und dem der Gilde uralte Dokumente studierte. Nach knapp einem Monat kam Kasimir zu mir und sagte, dass seine Arbeit erledigt sei, meine aber erst beginnen würde. Ich solle auf einen Jungen achtgeben, der in den nächsten Jahren geboren werden würde. Er wäre der Sohn einer professionellen Liebesdienerin sein. Meine Aufgabe sei es, ihn zu beschützen und später zum Gildeschüler auszubilden.«

»Kasimir wusste von Segato, bevor er geboren, ja sogar bevor er gezeugt wurde?«

»So unglaublich es scheint, aber genau so war es.«

»Ts!«, machte Turondur, »Da werden mir ein paar Ungereimtheiten klar. Ich hatte mich schon gewundert, wie ein einfacher Taschendieb einen Gildemeister beklauen konnte. Oder sollte ich lieber ›einen Großmeister‹ sagen?«

Erogal grinste breit: »Segato hätte nicht die geringste Chance gehabt, mich zu beklauen, hätte ich es nicht gewollt. Genau genommen, habe ich sogar ein wenig nachgeholfen, dass er mich als sein Opfer auswählte. Der Kleine hat gar keine Ahnung, dass ich über ihn gewacht habe. Die Bruderschaft der Taschendiebe wusste genau, dass Segato in ihren Gefilden wilderte und hätten ihm auch sofort die Kehle aufgeschlitzt, hätte ich nicht für Segato bezahlt.«

»Und Suman?«

»Suman ist ein lieber Junge mit böser Vergangenheit. Jeder scheint sich seine Hölle selbst zu wählen. Ich wählte über das Drachenei zu wachen. Suman wählte Xengabad. Du weißt, was er dort getan hat?«

»Ja, er hat seinen Körper für Informationen verkauft.«

»Ich wollte das nicht. Aber er bestand darauf. Ich hatte das Gefühl, dass er auf diese Weise für etwas in seiner Vergangenheit büßen wollte. Ich habe versucht nachzufragen, aber Suman wich den Fragen immer wieder aus. Ich war mit meinem Latein bereits am Ende, als Segato zu uns in die Schule kam. Suman besuchte bereits die Abschlussklasse und es war klar, dass er ein Meisterkandidat werden würde. Bereits während seiner Ausbildung wurde deutlich, dass Suman schwul war. Er hatte Glück, dass er bei uns gelandet war. Du kennst ja die Auffassung der Kirche zur Homosexualität?«

»Oh, ja«, Turondur verdrehte seine Augen, »Und mit Paula an der Spitze starb jegliche Hoffnung, dass sich daran in nächster Zeit etwas ändern würde.«

»Jedenfalls fiel mir auf, dass Suman Segato beobachtete. Für Schüler der Abschlussklassen ist es sehr ungewöhnlich, die Frischlinge auch nur eines Blickes zu würdigen. Als mich Suman dann sogar auf Segato ansprach, war mir alles klar. Er hatte sich in den Kleinen verliebt. Zu dem Zeitpunkt wusste ich aber noch nicht, dass Segato ähnlich gestrickt war. Ich hatte ihn gerade von der Straße aufgelesen. Der Junge war es gewohnt für sich selbst zu sorgen und war in der ersten Zeit entsprechend verschlossen. Ich erklärte also Suman, dass Segato für ihn tabu sei. Ein Fehler! Suman rastete aus. Was ich denn von ihm denken würde! Er würde sich nie an einen Knirps wie Segato ranmachen. Knirps! Die beiden sind knapp drei Jahre auseinander. Ich wollte Suman eigentlich nur klar machen, dass Segato sehr viel durchgemacht hatte und man ihn deswegen erst einmal in Ruhe lassen sollte, bis er sich bei uns in der Schule eingelebt hatte. Doch dazu kam ich gar nicht mehr. Suman rannte aus meinem Arbeitszimmer und sprach das Thema nie wieder an. Wenig später war seine Ausbildung abgeschlossen und er ging nach Xengabad.«

»Um dort mit alten, fetten Männern zu schlafen und nebenbei Informationen abzugraben.«

»Ja. Von Anfang an war mir diese Sache zuwider. Doch meine Meisterkollegen waren begeistert und Suman besitzt einen freien Willen. Ihn von dem Posten runter zu holen, würde sehr schwer werden. Als er dann auch noch die ersten hochklassigen Ergebnisse lieferte, war es für mich faktisch unmöglich, etwas gegen seine Tätigkeit zu unternehmen. Ich musste mir etwas anderes überlegen.«

»Segato?«, fragte Turondur rhetorisch.

»Ja, Segato«, Erogal nickte, »Durch puren Zufall kam raus, dass Segato ebenfalls schwul war. Er fragte mich etwas zu einem Bild von einem jungen Mann, dass er in einem Buch gefunden hatte. Worum es genau ging, weiß ich nicht mehr. Segato verplapperte sich und meinte, der Typ wäre süß. Als er merkte, was er gesagt hatte, lief er knallrot an. Ich erkärte ihm dann, dass er sich für nichts schämen müsse. Wenn er den Typ süß finden würde, dann wäre das vollkommen in Ordnung. Als sein Lehrer musste ich ihm natürlich noch mit auf den Weg geben, dass die Gilde alle Formen der Liebe als gleichwertig betrachtet.«

»Ach, du bist ja ein so herzensguter Mensch!«, seufzte Turondur überschwänglich herzlich.

»Ey, du Trümmerelb, verarschen kann ich mich alleine.«

»Mag sein, aber wenn ich es tue, macht es mehr Spaß!«

Erogal und Turondur grinsten sich gegenseitig an. Wie es schien, war das Schiksal bereit ihnen beiden eine weitere Chance für ihre Freundschaft zu geben. Turondur wiegte seinen Kopf hin und her: »Ich hätte dies hier schon wesentlich früher machen sollen. Ich hätte keine 30 Jahre warten dürfen, um mich bei dir zu entschuldigen.«

Erogal schüttelte seinen Kopf: »Das Thema hatten wir schon. Lass uns die Vergangenheit vergessen.«

»Du hast Recht. Erzähl bitte weiter, was mit Segato geschah.«

Erogal fuhr mit seiner Erzählung an der Stelle fort, an dem er mir erklärte, dass ich mich nicht schämen sollte, schwul zu sein. Natürlich wusste ich aus meinen Lehrbüchern, dass die Gilde keine Vorurteile gegenüber »anderen Lebensentwürfen« hegte. Ich empfand die Formulierung etwas hochtrabend und künstlich. Erst, als mir Erogal erklärte, dass die Gilde durchaus meinte, was sie sagte und mich ermunterte, mir einen netten Freund zu suchen, fühlte ich mich ein wenig sicherer. Mein Onkel, in dessen Haus ich eine Zeit lang wohnte, während er und meine Tante mich um mein Erbe betrug, zeigte gegenüber Schwulen eine ganz andere Wertschätzung. Sie kamen in seiner persönlichen Sozialrangordnung noch nach den Hurenkindern. Ich fragte mich später, was er wohl von der Kombination beider Klassifizierungen hielt: ein schwules Hurenkind. Denn nichts anderes war ich.

Erogals Entdeckung meiner sexuellen Orientierung löste bei ihm einen Denkprozess aus. Er schilderte Turondur, dass er sich daran erinnerte, dass Suman sich in mich verguckt hatte. Vieleicht bestand ja eine Chance, dass Suman seine Tätigkeit in Xengabad aufgab, wenn man ihm ein anderes Ziel gab. Mit anderen Worten, Erogal sorgte dafür, dass Suman und ich uns in Xengabad trafen. Suman sollte, so Erogal, mich ein klein wenig aufziehen und prüfen. In Wirklichkeit hoffte mein alter Mentor, dass wir uns dabei näher kamen. Es lief dann zwar doch etwas anders, aber das Ergebnis deckte sich ziemlich genau mit dem von Erogal geplanten. Man wird nicht Großmeister der Gilde, wenn man nicht in der Lage ist Menschen und Elben so zu manipulieren, dass sie in eine gewünschte Richtung liefen.

»Und wie es aussieht, hat mein Plan ja ganz gut geklappt«, beendete Erogal seine Schilderung.

»Besser als du denkst. Die beiden lieben sich abgrundtief«, Turondur schüttelte seinen Kopf, »Obwohl Segato eine merkwürdige Vorstellung davon hat, Suman seine Liebe zu zeigen. Einfach weglaufen! Ich kann verstehen, dass er Suman nicht in Gefahr bringen will, aber Weglaufen ist keine Lösung. Ich habe ihm seine drei Lieblinge hinterher geschickt.«

»Gildofal und Gilfea«, Erogal nickte nachdenklich, »Es hat mich überrascht… Du weißt was ich meine? Dass sie zu viert sind.«

»Nicht nur dich!«, gestand Turondur, »Es ist unheimlich die vier zusammen zu sehen. Sie ergänzen sich. Jeder bringt seine speziellen Fähigkeiten ein. Natürlich herscht zwischen den vier ein gewisser Konkurenzkampf, aber auf eine gute, produktive Weise. Die vier sind ein beindruckendes Team, bei dem wirklich die Summe der Teile mehr ist, als die Teile selbst. Wenn ihre Drachen ausgewachsen sind und alle ihre Erfahrungen gesammelt haben, dürften sie eine unschlagbare Einheit bilden. Das einzige, was du nicht machen darfst, ist sie morgens besuchen.«

»Wieso das nicht?«, fragte Erogal verwundert.

Turondur spielte unschuldig mit seinen golden Haarlocken: »Ähm, sie sind jung und schlafen zu viert in einem Bett. Wenn sie denn zum Schlafen kommen.«

Erogal prustete los: »Das dürfte selbst unsere beiden anderen Freunde noch beeindrucken, oder?«

Trunondur spielte weiter mit seinen Locken und schaute Erogal besonders arglos und unschuldig an: »Och, wenn du Roderick und Thonfilas meinst, glaube ich nicht, dass die beiden Gefahr laufen, in ihrem Liebesleben zu kurz zu kommen. Zumal sich unser Neovikinger zur Zeit in einer für ihn ungewollten Rolle wiederfindet.«

»Du sprichst in Rätseln. Was ist geschehen? Die beiden waren für mich das erste Liebespaar, die nicht nur unterschiedlicher Gattungen angehörten, sondern auch schwul waren. Für einen Jungen vom Lande, wie mich, war das ein Kulturschock!«

»Oh ja, ich kann mich noch erinnern, wie du zu mir gerannt kamst und aufgeregt erzählt hast, dass Roderick Thonfilas küssen würde und ihm sogar seine Zunge in den Hals schieben täte«, Turondur schmunzelte, »Du musst jetzt stark sein, aber die beiden haben ein weiteres mal die Gattungsgrenzen überschritten.«

Erogal sah Turondur erst ausdruckslos, dann nachdenklich und schließlich verwirrt an. Von einer Sekunde zur anderen wechselte sein Gesicht auf entsetzt: »Uskav, euer konvertierter Uruk?«

»Genau der! Aber nenn ihn nicht konvertiert. Uskav hat sich seine Freiheit hart erkämpft.« Turondur schilderte Erogal Uskavs Geschichte, wie er von seiner Züchtung erfuhr, wie er sich gegen seine genetische und magische Programmierung auflehnte, aus Goldor floh und dabei auf Gildofal traf und wie beide gerettet wurden. Sogar Gilfeas und Uskavs gemeinsame unheilsame Vergangenheit kam zur Sprache.

»Es war also nicht nur Taktik Uskav öffentlich zum stellvertretenden Ratsvorsitzenden zu wählen?«

»Wenn du denkst, Uskav sei eine Marionette, dann irrst du. Er verfügt zur Zeit über die gleichen Rechte und die gleiche Macht wie ich. Es gibt keinen Drachenreiter, der Uskav nicht blind sein Leben anvertrauen würde.«

»Aber nicht jeder seinen Arsch, oder?«

»Bei allen elbischen Göttern, bist du ördinär!«, tadelte Turondur Erogal scherzhaft, »Ich gebe allerdings zu, dass ich schon ziemlich verblüfft war, Roderick drei Tage lang humpelnd, aber mit seelig-verklärtem Dauerlächeln herumlaufen zu sehen.«

»Roderick?«, Erogal quietsche vor Verwunderung und schlug sich auf die Schenkel, »Etwa der ›Ich bin der härteste Neovikinger der Welt‹ Roderick? Dieser Roderick hat mit eurem Uruk geschlafen?«

»Genau der! Er, Thonfilas und Uskav wohnen, leben und schlafen seit ein paar Wochen zusammen.«

»Wow!«


Der Austausch dieser und diverser anderer Banalitäten zog sich noch eine Weile hin. Erogal und Turondur nahmen sich alle Zeit der Welt. In den vergangenen 30 Jahren war viel geschehen. Es gab viel zu erzählen. Aus einem frühen Morgen wurde Vormittag, aus Vormittag Mittag und aus Mittag Nachmittag. Als es schließlich Abend wurde, schlug Erogal vor, die Unterhaltung für das Abendbrot zu unterbrechen. Turondur sei selbstverständlich sein Gast, außerdem wäre die Küche des Gildehauses vorzüglich und rühmte sich auch der Kunst der Zubereitung elbischer Speisen. Turondur stimmte zu und meinte, er müsse sowieso nach Toldin sehen.

Elb und Gildemeister verließen die Bibliothek und begaben sich in den Innenhof des Gildehauses. Der Anblick, der sich ihnen dort bot, war interessant. Am auffälligsten war, dass etwas fehlte. Toldin war verschwunden. Was nicht verschwunden war, waren die Schüler. Sie standen nach wie vor im Hof und glotzten nach oben. Erogal folgte ihrer Blickrichtung und hätte sich fast vor Schreck an seiner eigenen Spucke verschluckt. Vor dem Blau des Himmels zeichnete sich die Siluette eines silbernen Drachen ab, der wildeste Kreise durch die Luft zog. Jedes Flugmanöver wurde von einem Jauchzen, Quieken oder Schreien begleitet, das aber nicht vom Drachen stammte. Erst bei näherem Hinsehen entdeckte Erogal, dass auf dem Sattel Toldins zwei Figuren saßen, die verblüffende Ähnlichkeit mit zwei seiner Schüler hatten.

Dieses Schauspiel währte noch ein paar Minuten, dann setzte Toldin zur Landung an. Mit atemberaubender Eleganz kam herabgestürzt, fing sich ab, stoppte seinen Flug unmittelbar über dem Boden und setzte mit seinen mächtigen Hinterläufen kontrolliert und weich auf.

»Leute, das war fantastisch!«, schrie einer der beiden Schüler, die auf Toldin geritten waren, während er vom Drachen herunter kletterte, »Toldin, du bist der tollste Drache den ich kenne!«

»Ich bin der einzige Drache, den du kennst. Trotzdem, es freut mich, dass es dir gefallen hat.«

»Wie ich sehe, hattest du deinen Spaß«, kommentierte Turondur den Zeitvertreib seines Echsenpartners.

»Spaß? Ich mache public relations. Ich verbreite ein positives Image! Stell dir vor, die Schüler glaubten doch tatsächlich, ich würde mich von Menschen und Elben ernähren. Sie wollten mir noch nicht mal glauben, dass ich keine Orks mag, weil die mir immer Sodbrennen bereiten.«

»Sekretär D’Santo, Sie schulden mir eine Erklärung, was ist hier eigentlich los? Was treibt dieser Drache in meinem Garten?«

Eine gebieterische, arrogant und anmaßend klingende Stimme unterbrach Toldins Unterhaltung mit Turondur. Sie ließ auch die Stimmen der Schüler bis auf einen leises Gemurmel verstummen. Mit schnellen, ausholendem Schritt eilte eine gewichtig auftretende Person aus Richtung der Residenz des Präfekten der Gilde auf Erogal und Turondur zu.

»Präfekt Trasolin Z’Ton, darf ich Ihnen einen alten Freund von mir vorstellen? Den Vorsitzenden des Rates von Daelbar, Turondur, Sohn des Turgor und Prinz zu Grauwald.«

Der Präfekt musterte Turondur ausgiebig. Noch bevor er etwas sagen konnte, sprach Turondur den Präfekten an: »Entschuldigen Sie, Präfekt Z’Ton, wenn mein Drache ein wenig Aufregung verursacht haben sollte.«

Trasolin Z’Ton machte eine wegwerfende Geste: »Nicht doch, entschuldigen Sie sich nicht, Herr Präsident.«

Erogal verdrehte seine Augen und schüttelte den Kopf vor so viel schleimiger Unterwürfigkeit, was der Präfekt aber nicht sehen konnte, da er neben Erogal stand. Er mochten seinen Präfekten nicht. Er war ein typischer Vertreter jener neuen Gattung von Gildebruder, die er für den Niedergang der Gilde verantwortlich machte. Ein Technokrat mit der Neigung nach oben zu schleimen und nach unten zu treten. Letzteres wurde sofort demonstriert: »Bruder D’Santo, warum haben Sie mich nicht informiert, dass wir einen so hohen, erwürdigen Gast in unserem bescheidenen Haus begrüßen dürfen? Das ist unverzeihlich!«

»Nein, nein, bitte! Tadeln Sie Bruder D’Santo nicht!«, Turondur schaltete nahtlos auf Politikermodus, »Dies ist ein rein privater Besuch, den ich meinem Freund Erogal abstatte. Mir lag es fern, Ihr Gildehaus in Aufregung zu versetzen. Machen Sie sich meinetwegen auf keinen Fall irgendwelche Umstände.«

»Aber nicht doch, mein Guter«, schleimte der Präfekt, »Sie bereiten uns überhaupt keine Umstände. Ganz im Gegenteil. Da sich heute, sehr überraschend, bereits andere Gäste in unserem Haus einfinden werden, würde ich Sie gerne fragen wollen, ob Sie uns die Ehre erweisen würden, an einem kleinen Bankett teilzunehmen?«

Turondur fühlte sich nicht wirklich motiviert, dem Wunsch des Präfekten nachzukommen. Dies war ein privater Besuch. Er wollte sich mit Erogal aussöhnen und Segatos Leben retten. Obendrein handelte es sich bei dem Präfekten nicht unbedingt um jemand, den man gerne um sich hatte. Doch wusste der Elb leider viel zu gut, dass ihm seine Position als Präsident des kleinen Drachenstaates auch zu unangenehmen Dingen verpflichtete. Und ein Bankett mit hochwohlgeborenen Herrschaften, die sich mit dem Austausch von Eitelkeiten beschäftigten, fiel für ihn auf jeden Fall in diese Kategorie. Die nächste Bemerkung des Präfekten, obwohl nicht an Turondur gerichtet, verstärkte seine Abneigung nur noch mehr.

»Bruder D’Santo, würden Sie sich währenddessen bitte um unsere Schüler kümmern? Sie haben…«

Obwohl als Frage formuliert, handelte es sich um eine Anweisung, die nicht zu hinterfragen war. Turondur war es ein inneres Bedürfnis, die Pläne des Präfekten ein wenig durcheinander zu bringen.

»Ich werde gerne Ihrer Einladung nachkommen«, erhob Turondur seine Stimme und fiel dem Präfekten rüde ins Wort, »allerdings muss ich darauf bestehen, dass mein alter Freund und Weggefährte, Ihr zuverlässiger Sekretär Bruder Erogal D’Santo, uns Gesellschaft leistet.«

Der Präfekt musste schlucken. Der Gedanke einen Untergebenen mit am Tisch des Bankett zu haben, widerstrebte ihm. Mit sichtlich eingeschränkter Begeisterung, willigte der Präfekt ein.

Staatsbanquett

»Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen.«
»Und führt im ungünstigsten Fall zum Krieg«

Aus den Erinnerungen Eusebius Praxter, Protokollchef a.D. des Königs von Goldor

»Du hättest mich warnen können!«, knurrte Turondur, während Erogal ihn zu einer Gästesuite führte, »Du weißt doch, wie ich solche Veranstaltungen liebe.«

Erogal wedelte abwehrend mit seinen Händen: »Nee, nee, nee! Ich habe damit nichts zu tun. Dir ist es vielleicht entgangen, aber wir haben die letzten Stunden zusammen verbracht. Woher sollte ich also wissen, dass unser Haus Gäste bekam und ein Bankett ausrichtet?«

Turondur knurrte erneut: »Ich weiß! Und ich hasse es, wenn du recht hast!«

Erogal musste schallend lachend: »30 Jahre und es hat sich nichts geändert! Du bist der gleiche grantelige Elb geblieben, den ich in Daelbar so überaus schätzen gelernt habe.«

»Ja, ja, ja!«, fauchte Turondur, mehr mit sich selbst im Streit, als mit Erogal, »Sag mir lieber, wo ich auf die Schnelle ein passendes Gewand für ein Bankett herbekomme. Ich kann wohl kaum als Präsident des Rates von Daelbar in meinen staubigen, speckigen Flugklamotten aufkreuzen.«

»Ach, ich weiß nicht, es verleiht dir ein herbes, fast verruchtes Image«, zog Erogal D’Santo seinen alten Freund auf, »Das, zusammen mit deinen markanten Wangenkochen, läßt dich richtig kerlig aussehen. Die Damen werden dich lieben.«

»Ich würde an deiner Stelle mal in deine linke Satteltasche schauen.«

»Argh! Ich werde alt! Wie konnte ich das vergessen!«, schon vor ewigen Zeiten hatte Turondur ein klassisches elbisches Gewand für alle Fälle in seiner Satteltasche deponiert. Die original elbische Machart und die Materialien, aus denen die Kleidung gefertigt war, ließ es auf Dauer frisch und makellos bleiben. Es handelte sich um eine Handwerkskunst, für die viele Firmen Goldors sehr viel Geld gezahlt hätten, die die Elben aber nicht bereit waren, zu verraten. Fabriken hatten, so die Elben, keine Seele. Der Stoff würde minderwertig werden, da man in der großindustriellen Fertigung keinen Respekt vor der Erschaffung eines Werkes, selbst so etwas banalem wie einem Kleidungsstück, hätte.

Erogal schlug vor, dass Turondur sich frisch machen sollte, während er seine Satteltaschen holen würde. Turondur dankte ihm und Erogal lief los. Toldin lag, gemütlich zusammengerollt, im Innenhof des Gildehauses.

»Hallo Mattheo!«, begrüsste der Drache Erogal.

»Toldin, alter Freund«, antwortete Erogal, blieb vor dem großen Silberdrachen stehen und strich ihm über den Hals, »es ist lange her, dass mich jemand mit diesem Namen angesprochen hat.«

»Wäre dir Erogal lieber?«, fragte Toldin bedächtig.

»Nein!«, rief Erogal ein klein wenig zu heftig und fügte leise hinzu: »Es ist nur so, dass dieser Name Erinnerungen weckt. Erinnerungen an Taten, für die ich mich schäme.«

»Was Fingolf zu dir sagte, gilt für uns alle. Wir Drachen hassen dich nicht. Wir haben dich niemals gehasst. Wir haben uns vor deinem Schmerz und deiner Verzweifelung nach Vaires Tod gefürchtet. Dein Hass auf ihre Mörder machte dich blind. Doch nun bist du ein Sehender! Du schreitest mit offenen Augen durch die Welt! In wenigen Tagen wirst du, wenn es dein Wunsch ist, ein Drachenreiter werden. Ein besserer, als du es vorher je sein konntest«, Toldin machte eine Pause in der er sich erhob, reckte und wieder hinlegte, »Und nun bring diesem alten Sack von einem Elben seine Klamotten und sorg dafür, dass er sich bei eurem Bankett nicht all zu sehr blamiert!«

Der Beginn des Bankett war für acht Uhr Abends angesetzt worden. Viertel vor sieben trudelten die ersten Gäste zum vorrausgehenden Empfang ein. Damit sah sich Turondur mt der heiklen diplomatischen Frage konfrontiert, wann es für ihn der richtige Zeitpunkt war, am Fest zu erscheinen. Eine zu späte, möglicherweise verspätete Ankunft, würde bestenfalls als Unhöflichkeit, schlimmstenfalls als Geringschätzung ausgelegt werden. Ein zu früh gewählter Auftritt wiederum vermittelte den Eindruck, neugierig oder sogar affektiert und publicitysüchtig zu sein. Turondur entschied sich daher fünf Minuten vor halb acht die Residenz des Präfekten zu betreten.

»Seine Exzellenz, der Botschafter der freien Diktatur Fandantos, Brigadier Emilio Santos mit seiner Gattin Elfriede.«

Das Defilee der Gäste war bereits im vollem Gange. Jeder Gast wurde vom Butler des Gildehauses, der die Funktion des Protokollchefs übernommen hatte, mit lauter Stimme angekündigt. Turondur war zufrieden. Er schien den richtigen Zeitpunkt gewählt zu haben, das heißt, er war mit dem Hauptfeld angekommen. Es hatte sich sogar eine kleine Schlange am Eingangsportal gebildet.

»Seine Exzellenz, der Millitärattaché des Branonischen Bundes, Oberst Casper Zansu.«

Der Festsaal war bereits mit weit über fünfzig Personen gefüllt. Während Turondur langsam zum Kopf der Schlange vorrückte, reihten sich hinter ihm weitere Gäste ein. Etwa die Hälfte der Gäste schienen Millitärs zu sein, was Turondur überhaupt nicht gefiel.

»Ihre Exzellenz, die Botschafterin der Demokratischen Republik Murato, Frau Sumati Sumbato samt Gatten.«

»Der arme Kerl!«, dachte sich Turondur. Muratu mochte sich eine demokratische Republik nennen, doch galt dies nur für Frauen. Männer hatten in jener Gesellschaft nichts zu melden, was sich in ihrer spärlichen Bekleidung niederschlug. Während Frau Sumbato in feinste, farbenprächtige Tücher gehüllt war, trug ihr Mann nur ein knappes Höschen. Der Rest war nackt und war geeignet im Bereich Muskelentwicklung selbst Uskav ernsthaft heraus zu fordern.

»Seine Exzellenz, der Gesandte der Grafschaft Harrasland, Vicomte Berengo von Harrasan.«

Dieser Gast war eine Überraschung. Beim Vicomte Berengo handelte es sich um niemand geringeren, als den Bruder des Grafen, Beril von Harrasan. Was trieb den Vizegrafen nach Crossar? Purer Zufall?

»Seine Exzellenz, der regierende Reeder der freien Handelstadt Crossar, Oberreeder Friedrich Amunsen.«

Turondur musste zugestehen, dass die Gästeliste dieses Bankett überaus illuster war, wenn selbst der Regierungschef Crossars diese Veranstaltung mit seiner Gegenwart beehrte. Man musste sich ernsthaft fragen, wer noch alles kommen würde. Turondur wartete geduldig. Ein Gast nach dem anderen wurde angekündigt. Die Mehrheit waren Mitglieder des diplomatischen Corps und vermutlich professionelle Veranstaltungsbesucher. Heute das Gildehaus, morgen die Botschaft von Goldor und übermorgen der Ratspalast Crossars.

Turondur hatte in seinem Leben bereits an etlichen Veranstaltungen dieser Art teilgenommen und kannte die Spielregeln. Er war kein Bauerntölpel und wusste sich auf dem ultraglatten Parkett der Politik zu bewegen, ohne dabei auf die Fresse zu fallen. Das mochte vulgär klingen, war aber zutreffend. Dieses Bankett war keine Versammlung netter Leute, die sich bei verzüglichem Essen freundlich über das Wetter unterhielten. Dieses Bankett war ein Haifischbecken.

»Seine Exzellenz, der Präsident der freien, demokratischen und magischen Drachenrepublik Daelbar, Turondur, Prinz zu Grauwald, Seele draconis argenteus Toldins«

Bei der Nennung dieses Namens und seines offiziellen Titels ging ein Raunen durch den Saal. Weit mehr als sechzig Augenpaare ruhten auf Turondur. Er konnte es sehen! Wie die Raubfische lauerten die Meute darauf, dass er einen Fehler beging und sich als elbischen Ökotrampel enttarnte. Nun, vieleicht lauerte nicht jeder darauf, aber doch weit mehr als die Hälfte der anwesenden Personen.

Turondur entschied sich in die Offensive zu gehen und steuerte den regierenden Reeder Crossars an. Schließlich befand sich Turondur in gewissen Sinne auf dem Hoheitsgebiet Crossars, wenn auch faktisch das Gelände des Gildehauses exterritoriales Gelände war. Es entsprach dem Gebot der Höflichkeit und des Respekts, ein paar Worte mit dem obersten Reeder der Stadt zu wechseln.

»Herr Oberreeder«, begann Turondur und reichte Friedrich Amunsen seine Hand zur Begrüßung, die wohlwollend angenommen wurde, »ich glaube, ich muss mich bei ihnen entschuldigen. Wenn ich mich nicht täusche, hat mein Auftritt heute Morgen für ein wenig Aufregung gesorgt.«

Der Oberreeder lächelte freundlich und hintersinnig. Turondurs elbischer Verstand fühlte, dass dieses Lächeln offen und ehrlich gemeint war: »Nicht doch! Entschuldigen Sie sich nicht, Herr Präsident!«

»Turondur! Bitte einfach nur Turondur. Für uns Elben haben Titel wenig Bedeutung«, unterbrach Turondur den Oberreeder.

»Nun denn, Turondur! Aber dann bestehe ich darauf, dass Sie mich Friedrich nennen!«, entgegnete Friedrich Amunsen und klopfte Turondur auf die Schulter, »Wissen Sie, es kommt selten vor, dass ein Drache, zumal ein riesiger Silberdrache, wie der Ihre, unsere Stadt besucht. Wenn meine Stadtschreiber es richtig recherchiert haben, wurden wir vor 30 Jahren das letzte Mal von einem Drachen beehrt. Es ist gut für den Tourismus. Und was gut für den Tourismus ist, ist gut für die Stadt. Von der kleinen Aufregung werden wir noch Wochen zehren können.«

»Dann haben sie sicherlich nichts dagegen, wenn ich mit Toldin noch ein paar Runder über Ihrer Stadt kreise?«, fragte Turondur gespielt arglos.

Der Oberreeder lachte laut polternd los: »Herr Präsident, Sie haben Humor! Es freut mich sehr, Sie kennen gelernt zu haben. Ich wür…«

Friedrich Amunsen brach seinen Satz mitten im Wort ab. Turondur sah, dass der Blick des Oberreeders an ihm vorbei in Richtung des Eingangs gerichtet war. Die freundliche Miene des Reeders und Regierungschefs Crossars verfinsterte sich: »Was will der Typ hier?«

Turondur drehte sich um und sah den neuen Gast, der den Oberreeder aus dem Konzept gebracht hatte.

»Seine Eminenz, der päpstliche Nuntius der unifizierten Technokratie, Kardinal Rudolfo!«

Kardinal Rudolfo? Was wollte der Chefdiplomat der Päpstin in Crossar? Rudolfo gehörte nicht zu den professionellen Partygängern des diplomatischen Corps, welcher von Manchen wenig schmeichelhaft als der diplomatische Lindwurm bezeichnet wurde. Wenn Rudolfo an einem Ort auftauchte, konnte man davon ausgehen, dass es um Krieg und Frieden ging. Und, als wenn dies nicht reichte, folgte mit dem nächsten Gast gleich ein weiterer Paukenschlag.

»Seine Exzellenz, der geheime Sondergesandte des Königreichs Goldors II, Graf Targon von Minas Dargosul.«

Zeichnete sich hier ein Bild ab? Erst erschien der Bruder des Grafen von Harrasland, dann Kardinal Rudolfo und nun der Sondergesandte Goldors?

»Und, wie gefällt dir die Party?«, Erogal D’Santo hatte sich Turondur diskret von der Seite genähert und reichte ihm ein Glas elbischen Perlweins. Erogal war perfekt gekleidet. Sein Smoking war Maßarbeit. Sämtliche Accessoirs waren von erlesenster Qualität und geschmackvoll aufeinander abgestimmt. Edel, aber nicht protzig. Erogals Auftritt entsprach exakt dem Stil der Gilde: diskret, aber mit Stil.

»Als mich der Präfekt zum Bankett einlud, ging ich eigentlich nicht von einem Staatsakt aus. Wenn dies ein kleines Bankett ist, wie sieht bei euch dann erst ein großes aus?«

»Es ist größer geworden, als wir gedacht haben. Ich war vorhin selbst etwas überrascht, als mich der Präfekt über diese Veranstaltung informierte. Das Bankett ist Teil der Friedensverhandlungen zwischen Goldor und Harrasland. Genaugenommen ist man vorerst nur dabei, die Chance für Friedensverhandlungen zu sondieren. Die treibende Kraft hinter den Verhandlungen ist Rudolfo. Wie ich hörte, hat er seine Befehle von ganz oben.«

»Paula? Was hat meine Schwester vor? Ich hätte eher vermutet, dass sie an einem schwelenden Konflikt zwischen Harrasland und Goldor interessiert ist.«

»Seltsam, nicht wahr?«, bestätigte Erogal und sprach leise weiter, »Es scheint übriegens, als wenn die Sondierungsgespräche von Pech verfolgt würden. Targon wollte erst dann nach Crossar kommen, wenn sich erste Ergebnisse abzeichnen sollten. Leider ist sein Unterhändler vorgestern schwer erkrankt. Niemand weiß so recht, was ihm eigentlich fehlt. Die Ärzte befürchten das Schlimmste. Targon musste daher selbst kommen. Aber auch im Lager von Harrasland gibt es Probleme. Der Sekretär des Vicomtes ist gestern schwer gestürzt und hat sich das Genick gebrochen. Und, um die Reihe der unglücklichen Zufälle voll zu machen, ist heute Nachmittag der Kronleuchter des Ratssaals von Crossar aus seiner Verankerung gebrochen und abgestürzt. Der Saal ist ein Trümmerhaufen. Nun hätte das Bankett aber genau in jenem Saal stattfinden sollen. Deswegen bat man uns, ob wir kurzfristig einspringen und einen Saal bereitstellen könnten. Natürlich haben wir zugesagt.«

»Natürlich habt ihr das. Außer den Crossanern seid ihr die einzige neutrale Macht bei diesen Verhandlungen.« Turondur musterte Erogal, »Du bist besorgt?«

»Ja!«, gestand Erogal, »Ich habe ein ungutes Gefühl. Zu viele hochgestellte Persönlichkeiten auf einem Haufen und dann dieser improvisierte Umzug vom Ratssaal hier her. Mir gefällt das nicht!«

»Weiß man schon, warum der Kronleuchter abgestürzt ist?«

Erogal lächelte gequält: »Du denkst das gleiche wie ich. Nein, man weiß es nicht, noch nicht. Aber die Untersuchungen laufen noch und ich habe es so einrichten können, dass ich über die Ergebnisse sofort informiert werde.«

»Glaubst du, jemand plant einen Anschlag auf das Bankett?«

»Dieser Gedanke ist mir gekommen. Mein PDA-Implantat hat eine Wahrscheinlichkeit von 30% errechnet. Das reicht mir, um nervös zu werden. Wir sollten uns unter die Gäste mischen und ein wenig umhören. Wustest du, dass du zum zentralen Thema des Abends geworden bist? Jeder fragt sich, was den Herrn der Drachen mit seinem mächtigen Streitross nach Crossar verschlagen hat.«

»Streitross? Ich?«, mischte sich Toldin ein.

»Dieser Drache hört wohl bei jedem Gespräch zu, oder?«

»Worauf du einen lassen kannst, Alter!«, immitierte Toldin die Sprache eines crossanischen Hafenarbeiters.

»Ich… Ähm, ich seh mich mal um«, beendete Turondur das Gespräch, klopfte Erogal freundschaftlich auf die Schulter und mischte sich, wie angeraten, unters Partyvolk. Inzwischen war es sehr voll geworden, so dass es recht unübersichtlich wurde. Sich bei all den Gästen zu orientieren, ja sogar jemanden gezielt auszumachen, war nicht einfach.

»Turondur zu Grauwald!«, tönte eine kräftige Stimme seitlich vorraus. Ihr Ursprung war nicht zu erkennen, da Turondurs Blick durch einen breiten Rücken verstellt war. Wie Eisblöcke auf hoher See trieben die Gäste unkontrolliert umher. Turondur nutzte eine sich plötzlich öffnende Lücke und schlüpfte hindurch.

»Es überrascht mich doch sehr, Sie hier zu sehen. Ich dachte alle Daelbaner wären Isolationisten. Wie kommt es, dass der Präsident des Rates persönlich sich außerhalb seiner Echsenstadt aufhält. Müssen Wir unser Weltbild etwa überdenken? Doch wer bin ich schon, dass ich solche Fragen lösen könnte – Ein kleines Zahnrad im Uhrwerk Ihrer technokratischen Heiligkeit.«

Wer da so tönte und schwadronierte, war niemand anderes als Kardinal Rudolfo. Wie es sich für einen waschechten Kleriker der Technokratie gehörte, trieften seine Worte vor Zynismus. Gestik, Mimik, Sprache, sein ganzer Habitus war herablassend und von Arroganz geprägt. Turondur fand es angemessen, aus dem selbstgefälligen Kardinal ein klein wenig Luft abzulassen.

»Aber bitte, Kardinal Rudolfo«, begann Turondur malizös, »Mindern Sie Ihre Größe nicht. Meine Schwester betrachtet Sie zweifelsohne als eines ihrer größten Zahnräder.«

Wie erwartet, lief der Kardinal kardinalrot an. Die Bezeichnung seiner Päpstin als »Meine Schwester« war ein Affront. Dass die anwesenden Gäste Turondurs Seitenhieb durchaus verstanden, konnte man an den stoppenden Gesprächen erkennen. Der eine oder andere Zuhörer reagierte sogar mit laut vernehmlichem Luftholen.

»Mir steht es nicht an, die Entscheidungen Ihrer Heiligkeit »Paula Sylvestra II« zu hinterfragen. Ich bin nur Ihr bescheidener Diener. Aus welchen Gründen es ihr gefällt mich mit einer Aufgabe zu betrauen, ist einzig und allein ihrer unendlichen Weisheit geschuldet«, bemerkte der Kardinal spitz.

»Wie geht es denn der Päpstin bei so viel Weisheit?«, stichelte Turondur.

»Selbstverständlich geht es ihr perfekt! Sie ist die Päpstin der unifizierten Technokratie, dem Bollwerk gegen jeglichen Aberglauben und Magiegläubigkeit. Ihre Aufgabe ist ihr Lebensinhalt. Es ist wahrlich eine Berufung.«

Turondur hörte, wie neben ihm ein paar Gäste sich mit einem gepressten »Mmmpfff« mühsam ein Lachen verkniffen. Kardinal Rudolfo hätte die Existenz von Magie selbst dann noch geleugnet, wenn sie ihm in der Form Toldins in den Hintern gebissen hätte.

»Das freut mich zu hören. Ich bedaure sehr, meine Schwester seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen zu haben. Gerne hätte ich sie besucht, doch war ich mir nicht wirklich sicher, ob ich am Hofe ihrer puren Technokratie willkommen wäre.«

Weitere »Hmmpffffs« waren zu hören. Kardinal Rudolfo wirkte nicht begeistert.

»Unser Haus steht jedermann offen, der einen klaren Blick für die Wahrheit besitzt«, entgegnete Kardinal Rudolfo salbungsvoll.

»Und was, wenn es mehrere Wahrheiten gibt?«, schaltete sich ein weiterer Gast ein. »Entschuldigen Sie, wenn ich mich in Ihr Gespräch einmische, aber ich halte Ihre Diskussion für sehr interessant. Mein Name ist Ole Olson aus dem Stamm der Neovikinger.«

Olson war ein Hüne, dem nur Turondur auf Augenhöhe begegnen konnte. Turondur wusste bereits vor dessen Selbstvorstellung, dass es sich bei dem Neovikinger um Ole Olson handelte. Nach meiner Ankunft in Daelbar hatte ich Turondur auch von dem denkwürdigen Abend in Xengabad erzählt, bei dem ich Olson das erste mal sah. Etwa 25 Jahre alt, aber durchtrainiert, attraktiv, gut 2 Meter groß mit leuchtend blonden Haaren, war Ole Olson mit niemandem zu verwechseln. Selbst Turondur musste eingestehen, dass der junge Mann vor ihm sehr ansprechend aussah, angefangen bei den inzwischen schulterlang getragenen Haaren, den eisblauen Augen, bis zum muskulösen breiten Kreuz.

»Entschuldigen Sie sich nicht Herr Olson. Ich bin immer begierig andere Meinungen zu hören.« Mit diesen Worten band Turondur Olson in das Gespräch mit ein, was Kardinal Rudolfo, wie so vieles, überhaupt nicht gefiel. Zu seinem Verdruss blieb ihm nichts anderes übrig, als mitzuspielen. Zu viele Augen waren auf ihn und die beiden anderen Diskutanten gerichtet, als dass er, ohne als Feigling oder beleidigt zu gelten, das Schlachtfeld hätte verlassen können, »Erzählen Sie uns von Ihren vielen Wahrheiten.«

»Oh«, Olson wirkte verlegen, »Sie, Präsident Turondur, sind das beste Beispiel dafür. In Ihrer Wahrheit sind Sie ein Elb, ein Wesen halb in unserer realen und halb in einer magisch-geisterhaften Welt verwurzelt. Sie werden mir zustimmen, dass sich Kardinal Rudolfo dies völlig anders darstellt. Habe ich recht, Eure Eminenz?«

»Natürlich haben Sie das, junger Mann! Magie? Geister? Ich respektiere das kulturelle Erbe der Elben. Doch bin ich nicht bereit in Folklore und Traditionen verwurzelte Mythen als Realität anzuerkennen. Wir leben in einer wissentschaftlich erklärbaren, ja sogar absolut determinierten Welt. Wer etwas anderes behauptet, lügt nicht nur, er versucht zu manipulieren.«

»Sehen Sie, zwei Wahrheiten!«, lachte Olson, »Welche ist jetzt die Richtige?«

»Die, für die Sie sich entscheiden«, antwortete Turondur ernst und doch gleichzeitig freundlich, »Jeder trägt seine eigene Wahrheit in sich.«

»Sie werden es vermutlich nicht wissen, aber Sie haben soeben fast wortwörtlich den 1. Leitsatz der Neovikinger rezitiert«, Olson lächelte, wenn auch etwas schelmisch und hintergründig, »Es tut mir leid, Kardinal Rudolfo, aber wie es aussieht, gefällt mir die Wahrheit Präsident Turondurs besser als die Ihre. Nichts für ungut.«

Kardinal Rudolfo wusste, wann er eine Schlacht verloren hatte. Die Zuschauer hatten Turondur zum Punktsieger erklärt. Rudolfo verneigte sich höflich und schritt von dannen. Die Menschentraube um die beiden Kontrahenten verteilte sich, nur Olson blieb bei Turondur.

»Sie wissen, wer ich bin?«

Turondur nickte: »Ihr Ruf eilt Ihnen voraus. Sie gelten als einer der erfolgreichsten Experten für heikle Transportfragen.«

»Manche nennen mich einfach einen Schmuggler.«

»Sie genießen aber auch den Ruf, zuweilen Aufträge mit eher endgültigen Resultaten anzunehmen. Ich hoffe, Sie haben keinen Auftrag bezüglich meiner Person angenommen. Ich würde es wirklich sehr bedauern, einen sympathischen Gesprächspartner zu verlieren.«

Turondurs Entgegnung auf seine Frage bracht Olson kurzzeitig aus dem Konzept. Er betrachtete den Elben von der Seite; seine Stirn kräuselte sich, als er über Turondurs Worte nachdachte. Nach ein paar Sekunden hellte sich sein Blick auf und er lächelte, wenn auch zurückhaltend.

»Nein, ich habe keinen Auftrag, der Sie betrifft.«

Die Betonung des »habe« war deutlich zu hören.

»Aber man hat Ihnen einen angeboten?«, schlussfolgerte Turondur.

Ole Olson nickte zögerlich und antwortete dann in Flüsterlautstärke: »In der Tat. Heute Morgen erhielt ich eine Anfrage, ob ich einen Auftrag übernehmen würde.« Olson machte eine Pause, um die Bedeutung seines nächsten Satzes zu betonen, den er Turondur auch nur leise zuraunte: »Für hundert Mithrilmünzen!«

Turondur zog beide Augenbrauen zusammen und starrte Olson fragend an. Olsen nickte, Turondur hatte richtig gehört.

»Ich sollte mich vermutlich geschmeichelt fühlen. Ein hundert Mithrilmünzen sind ein riesiges Vermögen. Wer könnte so viel Wert auf meinen Tod legen?«

»Ich weiß es nicht. Ich erhielt die Anfrage anonym. Vermutlich glauben Sie mir nicht, aber auch wir Assassine pflegen einen Moralkodex. Es ist eine Sache, korrupte Beamte in Frühpension zu schicken, die mehr Leichen in ihrem Keller liegen haben, als ich jemals produzieren werden. Gleiches gilt für die Auftraggeber aus der freien Wirtschaft, deren Geschäftsgebaren sich häufig wenig von denen der großen Gangsterfamilien unterscheidet. Leute wie Sie, sind hingegen eine völlig andere Sache. Sie repräsentieren das Gute. Ich weiß es, denn ich kenne das Böse. Ich habe in seine Augen gesehen. Dabei könnte ich das Geld ganz gut gebrauchen. Meinem letzten Auftrag ist leider jemand zuvor gekommen.«

»Ich bin neugierig. Darf man fragen wer?«

»Ich hatte einen Auftrag bekommen diesen widerlichen Zwerg, Boldin, aus der Welt zu schaffen. Ich mache kein Geheimnis um meinen Beruf. Ich töte gegen Bezahlung, von Angesicht zu Angesicht, schnell und schmerzlos. Meine Opfer müssen nicht leiden. Ganz im Gegensatz zu Boldins Opfern. Haben Sie mal einen seiner Produktprospekte gelesen? Seine Waffensysteme rühmen sich, besonders langsam und extrem qualvoll zu töten, bei null Risiko für den, der die Waffe einsetzt. Sie müssen nicht einmal in der Nähe sein. Ein Knopfdruck auf einer Fernbedienung genügt und sie verwandeln ganze Landschaften in Todeszonen. Ich riskiere bei jedem Auftrag mein eigenes Leben. Ich frage Sie, wer ist das Monster? Ich oder Boldin?«

»Wenn Sie von mir Absolution für Ihren Beruf erwarten, muss ich Sie enttäuschen. Die kann und will ich ihnen nicht geben«, Olson nickte stumm, er verstand. »In einem Punkt muss ich Ihnen allerdings Recht geben. Boldin war ein Monster. Bei dem Gedanken an seine Waffen wird mir schlecht. Ich bin ein Drachenreiter. Uns ist das Leben heilig, doch Boldin hatte sich vom Leben abgewendet.«

»Würden Sie einen Job für mich übernehmen?«, fragte der Elb unverholen.

Dieses mal zog Olson seine Augenbrauen hoch: »Einen Auftrag? Wen?«

Turondur schüttelte leicht seinen Kopf: »Eine andere Art Auftrag, bei dem Sie niemanden in Frühpension schicken sollen. Eher das Gegenteil davon. Könnten Sie sich vorstellen, Schutzengel zu spielen?«

Olson runzelte dir Stirn: »Vielleicht. Es käme drauf an, wen ich beschützen soll?«

»Oh, Sie kennen ihn. Segato G’Narn. Sie haben ihn in Xengabad kennen gelernt.«

»Ich erinnere mich an ihn. Es war ein interessanter Abend. Ein Gildebruder der noch grün hinter den Ohren war, inmitten einer Horde Hyänen. Er schlug sich wacker. Was ist mit ihm, dass er Schutz benötigt?«

»Sagen wir, er ist schuldlos in eine unglückliche Lage geraten. Um seine Freunde zu schützen, hat er Daelbar verlassen und ist untergetaucht. Es könnte sein, dass bestimmte Gildebrüder, aber auch andere Personen sich genötigt sehen könnten, ihn von der Last seiner irdischen Existenz zu erlösen.«

»Das haben Sie nett formuliert«, scherzte Olson und versuchte dabei Turondur Gesichtsausdruck zu lesen, »Wenn ich diesen Auftrag übernehme, könnte sich eine Situation ergeben, in der ich genötigt sein könnte, pyhsische Gewalt, vielleicht sogar ultimative Gewalt, anzuwenden.«

»Ich will es mal so sagen: Tun Sie, was Sie für notwendig erachten. Jeder, der hinter Segato her ist, steht auf der Seite des Bösen. Sie sagten, dass Sie das Böse kennen? Dann wissen Sie, gegen wen Sie antreten.«

»Oh, so heiß ist die Sache? Ich vermute mal, dass Ihr Freund, der Sekretär des Präfekten, nichts von unserer kleinen Abmachung erfahren soll?«

»Dann habe ich ihre Zusage?«

»Er klingt nach einer Herausforderung. Nur wundert mich, was ich ausrichten könnte. Da Sie sich dermaßen für Segato ins Zeug legen, nehme ich mal an, das er Ihnen viel bedeutet.«

»Er ist ein Drachenreiter.«

»Ich verstehe. Meinen Sie nicht, dass er sich gegen alle möglichen Angriffe auf seine Person selbst verteidigen kann? Schließlich hat er eine Gildeausbildung genossen. Glauben Sie mir, diese Leute können kämpfen.«

»Es sind nicht die möglichen Angriffe, die ich fürchte, sondern die unmöglichen. Ich will Ihnen nichts vormachen. Sie könnten bei der Sache selbst in Gefahr geraten.«

»Ich sagte ja schon, dass der Auftrag nach einer Herausforderung klingt. Gibt es noch etwas, was ich wissen sollte?«

»Ja, es gibt noch etwas. Segato hat drei Freunde, die ihn ebenfalls suchen. Es wäre nett, wenn Sie auf sie ebenfalls ein Auge werfen würden, sollten sich ihre Wege kreuzen. Ich glaube, Sie kennen einen von Segatos Freunden, Suman K’Tar«, Turondur schmunzelte hinterhältig.

»Suman K’Tar?«, Olson schaute, als wenn ihn eine schöne Erinnerung erfreute, »Ja, ich kenne Suman. Ich werde Ihren Auftrag übernehmen. Ich hätte nur noch eine Frage: Was beunruhigt Sie? Ich meine nicht den Auftrag. Sie erwecken den Eindruck in mir, als wenn Sie jetzt im Moment beunruhigt sind.«

»Sie sind ein guter Elbenkenner. In der Tat bin ich beunruhigt. Etwas mit dieser Veranstaltung stimmt nicht. Es haben sich ein paar zu viele Zufälle ereignet, dass diese wirklich zufällig sein könnten. Halten Sie mich ruhig für verrückt, aber mir ist, als wenn ich den Atem des Bösen fühlen könnte.«

»Ich halte Sie nicht für verrückt. Ich fühle es seit meiner Ankunft. Es liegt eine Spannung in der Luft, wie ich sie sonst nur von meinen Aufträgen kenne«, entgegnete Olson.

»Halten Sie mit mir die Augen auf?«, bat Turondur.

»Erwarten Sie etwa einen Anschlag?«

»Vielleicht. Ich weiß es nicht. Ein Freund stellt gerade Nachforschungen an. Ich stelle mir gerade folgende Frage: Was würden Sie tun, wenn Sie Friedensverhandlungen zwischen Goldor und Crossar verhindern wollten?«

Ole Olson schaute sich im Saal um, entdeckte den Gesandten des Königs, schaute weiter und machte auch den Vicomte Harraslands aus: »Ich vertehe!«

»Wenn dies Ihr Auftrag wäre, wie würden Sie vorgehen?«

»Ich würde bis zum Essen warten. Bedenken Sie, bei dieser Art Bankett gibt es eine vorgegebene Sitzordnung. Ich wüsste vorher, wo sich mein Ziel befinden wird. Dies ist ein Vorteil, den sich kein Attentäter entgehen lassen würde. Ich glaube, ich sollte mich tatsächlich einmal umschauen. Wir sehen uns«, entgegnete Ole Olson, nickte kurz und mischte sich unter das Partyvolk. Turondur war sich sicher, das Richtige getan zu haben. Olson war ein Profikiller, das heißt, er wusste, wie andere Profikiller dachten und ihre Aufträge planten. Wenn jemand tatsächlich einen Anschlag auf das Bankett geplant hatte, hatte Olson gute Chancen dies heraus zu finden.

Turondur wollte sich gerade wieder unter die Gäste mischen, als er am anderen Ende des Raums Erogal entdeckte. Der Gildebruder deutete mit seiner Hand auf eine Terassentür und signalisierte Turondur so, ihm nach draußen zu folgen. Turondur nickte zu Bestätigung und versuchte, sich einen Weg durch die Masse der Gäste zu bahnen. Dies erwies sich schwieriger als erwartet, denn der Präfekt des Gildehauses war gerade im Begriff, sich Gehör zu verschaffen, um eine Begrüssungsrede unter das Volk zu bringen. Nach vielen »Entschuldigen Sie bitte!« und »Dürfte ich kurz mal…« erreichte Turondur sein Ziel. Erogal winkte ihn nach draußen. Es war ein angenehm warmer Abend, weswegen man die Türen zur Terrasse der Residenz geöffnet hatte. Da zur Zeit jeder den Worten des Präfekten läuschte, war die Terrasse verwaist und Turondur mit Erogal halbwegs vor neugierigen Ohren geschützt.

»Die Sache wird ernst. Der Kronleuchter des Ratssaals ist nicht zufällig abgestürzt. Jemand hat mit einem Holzfäulezauber nachgeholfen. Der Dachbalken, der den Leuchter trug, ist vollkommen vergammelt. Niemand wäre je auf die Idee gekommen, dass jemand einen Zauber angewendet hätte, wäre da nicht der Haushofmeister des Rates gewesen. Vor drei Wochen wurde die Verankerung des Leuchters überprüft und die Ergebnisse sogar mit Bildern dokumentiert. Von Fäule war damals nichts zu sehen.«

»Welche Quoten gibt dir dein PDA-Implantat?«

Erogal seufzte matt: »Die Wahrscheinlichkeit für einen Anschlag auf das Bankett ist soeben auf 93% gestiegen!«

Point Blanc

»Die Kunst eines perfekten Anschlags besteht darin, mit minimalsten Mitteln ein Höchstmaß an Terror zu verbreiten.«

Aus Terror One-O-One, dem Leitfaden erfolgreicher Terroristen.

»Na reizend!«, knurrte Turondur nicht wirklich elbenhaft, »Ich hasse es, wenn ich recht behalte.«

»Ich habe unsere Sicherheitskräfte informiert, dass etwas geplant sein könnte. Sie mischen sich gerade unauffällig unter die Gäste und halten ihre Augen auf. Apropos Gäste, was wollte Olson von dir?«

»Eigentlich ging es eher darum Kardinal Rudolfo zu ärgern. Doch dann…«, Turondur zögerte ein wenig Erogal etwas vom Gespräch mit Olson zu erzählen, »Heute Morgen wurde Olson ein Auftrag angeboten. Er hat abgelehnt.«

»Ich dachte ein Assassin kann keine Aufträge ablehnen.«

»Grundsätzlich nicht. Ein Mitglied des Bundes der Berufsmörder ist verpflichtet jeden formal korrekten Auftrag anzunehmen, der ihm angeboten wird. Es gibt allerdings Ausnahmen.«

Viel war es nicht, was man über die Bruderschaft der Meuchelmörder wussten. Von denjenigen, die etwas wussten, wusste Turondur noch das Meiste. So war zwar allgemein bekannt, dass ein Auftragsmörder seine Aufträge nicht ablehnen konnte, geschweige denn, von ihnen zurücktreten, es sei den der Auftrag widersprach bestimmten Bedinungen. Welche dies waren, war geheim und nur der Bruderschaft bekannt. Somit gab es in Wirklichkeit gute Gründe und Situationen, in denen ein Auftrag eben doch abgelehnt werden konnte. Ein Grund zur Ablehnung ergab sich direkt aus einer der Basisregeln für Auftragsmörder und lautete: »Ein Projekt zur Zeit«

Ein Auftragsmord ist Präzisionsarbeit und bedarf umfassender Planung. Kollateralschäden jeglicher Art, und sei es auch nur ein Kratzer, waren bei Höchststrafe verboten. Ein Mitglied der Bruderschaft, das bei seinem Auftrag einen Unbeteiligten verletzt oder gar tötet, wurde automatisch selbst zum Objekt eines Auftrages. Dabei war es einerlei, ob der Kollateralschaden absichtlich, durch Nachlässigkeit oder einfach nur aus Versehen geschah. Um daher solche ungewollten Effekte auszuschließen, verlangte ein professionell ausgeführter Auftragsmord eben eine absolut perfekte Planung gefolgt von einer präzisen und fehlerfreien Umsetzung. Ein Profi dieser Zunft überließ nichts dem Zufall. Zwei Aufträge gleichzeitig zu planen und umzusetzen wäre bei diesem Qualitätsanspruch schlicht ein Ding der Unmöglichkeit. Jeder Auftrag forderte 100 prozentigen Einsatz.

Es war eine Folge dieser Basisregel, die im Falle Turondurs Olson den Auftrag ablehnen ließ. Die Zeit für Planung und Ausführung wäre zu knapp gewesen. Kein Auftragsmörder würde jemals einen Job annehmen, dessen Zeitfenster im Bereich von Stunden lag. Es blieb nicht nur keine Zeit für eine sorgfältige Planung, auch hätte man der Pflicht, das Ziel über dessen geplante Beseitigung vorher angemessen informieren zu müssen, nicht nachkommen können. Schließlich sollte das Opfer zumindest eine theoretische Chance besitzen, sich gegen sein unfreiwilliges Ableben zu wehren. Die Regeln der Bruderschaft der Meuchelmörder verlangte, dass dazu dem Opfer nicht weniger als 48 Stunden vor seiner Beseitigung ein 30cm langes und 1cm breites schwarzes Seidenband mit dem aus Goldfäden eingewebten Symbol der Bruderschaft überbracht werden muß. Ein interessanter Seiteneffekt dieser Nachricht bestand darin, dass der Attentäter von jenem Zeitpunkt an selbst zum legitimen Ziel für sein Opfer wird. Jedes Auftragsziel besaß das Recht, sich straffrei gegen seine Beseitigung zu wehren. War es dabei erfolgreich, besaß es sogar einen Anspruch auf die Auftragssumme, die der Attentäter ansonsten kassiert hätte. Natürlich abzüglich einer Vermittlungsprovision und Unkostenumlage seitens der Bruderschaft. Alles in allem war dies ein mehr als guter Grund, warum sich ein Attentäter sehr, wirklich sehr viel Zeit für seine Aufträge nahm.

»Und sowas erzählt er dir einfach?«, Erogal zog seine Augenbrauen hoch, »Wer war denn das Ziel?«

»Das war ich«, gestand Turondur und erntete einen entgeisterten Blick für diese Enthüllung. »Offensichtlich mache ich jemanden sehr nervös.«

»Und da stehst du noch hier rum?«, fauchte Erogal gedämpft und zerrte Turondur zurück in die Präfektur, »Begreifst du nicht? Du bist ein Attentatsziel! So wie du in der Öffentlichkeit rum läufst, könntest du dir gleich eine Zielschreibe auf die Stirn kleben.«

»Erogal, du übertreibst«, wurde Turondur sachlich, »Ich bin doch nur ein sekundäres Ziel. Dort«, Turondur zeigte auf die Masse der anderen Gäste, die inzwischen den Worten des regierenden Reeders Friedrich Amunsen lauschten, »befinden sich die wirklichen Ziele. Ich bin einfach nur ein Störfaktor. Niemand konnte ahnen, dass ich heute nach Crossar kommen würde. Der oder die Attentäter beziehungsweise ihr Auftraggeber befürchten, dass meine Präsenz ihren Plan vereiteln könnte. Warum, weiß ich nicht.«

Erogal musterte abwechselnd Turondur und die Gäste und gab dann zu bedenken: »Du bist der einzige Elb unter den Gästen. Mehr noch, du bist der einzige Drachenreiter.«

»Mag sein…«, Turondur wirkte nicht überzeugt. Zugegeben, Erogals Überlegung war logisch. Sein PDA-Implantat hatte ihr bestimmt eine sehr hohe Quote gegeben, doch irgend etwas in Turondurs Kopf war mit dieser Schlussfolgerung nicht zufrieden. Oder war es gar nicht sein Kopf? War es mehr seine Nase?

»Du hast etwas vergessen«, flüsterte Turondur Erogal zu, während sich gleichzeitig sein elbischen Augen gelb verfärbten und ein wolfsähnliches Aussehen annahmen, »Ich bin der einzige Lycanthrop in diesem Haus!«


Turondur mischte sich unter die Gäste. Mit seinen Wolfssinnen, die auf ihre Art schärfer und präziser waren, als seine Elbensinne, lauschte, spähte und schnupperte er die Reihen ab. Alles schien normal zu sein. Fast alles, bis auf einen eigentümlichen Geruch. Er war selbst für die Nase eines Wolfs viel zu schwach. Weswegen Turondur ihn nicht zuordnen konnte. Gelegentlich trug die Luft etwas heran. Es war mehr die Ahnung eines Geruchs. Doch weckte sie Turondurs Wachsamkeit. Der Geruch kam ihm bekannt vor. Es war unmöglich ihn genau zu identifizieren. Dafür waren die Gäste für Turondurs empfindliche Werwolfsnase zu stark parfümiert.

»Sehr geehrte Excellenzen, sehr geehrte Gäste! Darf ich Sie nun alle höflichst bitten, mir in den Festsaal zu folgen?«

Mit diesen Worten des Präfekten öffneten sich gleichzeitig sechs Flügeltüren zum Festsaal. Die Gäste zögerten keine Sekunde und betraten den feierlich geschmückten Raum. Drei Kronleuchter, zwei große und ein gigantischer in der Mitte hingen von der Decke und illuminierten den Raum mit brilliant strahlenden Elbenlichtern, welche durch tausende Glaskristalle der Lüster gebrochen und reflektiert wurden.

Direkt unter den drei Leuchtern verlief ein langer Tisch. Auf schneeweißen Tischdecken waren kunstvolle Blumengestecke drapiert worden, die sich mit mehrarmigen Kerzenleuchtern aus massivem Silber abwechselten. Die Stuhlreihen beiderseits des Tisches waren wie mit dem Lineal gezogen. Kein Stuhl schaute auch nur einen Millimeter vor. In exakt gleichen Abständen standen die Stühle hinter jeweils einem gedeckten Platz. Jeder Platz war genau so stil- und prunkvoll gestaltet, wie der andere. Auf einem massiven silbernen Platzteller lagen mehrere aufeinander gestapelte Teller aus feinstem Porzellan. Der Besteck nach zu urteilen waren sechs Gänge zu erwarten.

Natürlich gab es ein vorgegebene Sitzordnung. Schließlich handelte es sich um ein hochpolitisches Bankett. Als Gastgeber saß der Präfekt in der Mitte des Tisches. Zu seiner rechten saß der regierende Oberreeder, während zu seiner Linken Kardinal Rudolfo Platz genommen hatte. Der Platz auf Rudolfos anderer Seite war mit dem Sondergesandten Goldors belegt worden, was den Vicomte Berengo von Harrasan an die Seite des Oberreeders brachte. Auf der anderen Seite des Tisches, dem Präfekten unmittelbar gegenüber, hatte man Turondur platziert, was diesen sehr überraschte. Turondur zur Linken und damit dem Reeder gegenüber, saß Erogal. Ein Platz den Turondur dem Präfekten abgerungen hatte.

»Entschuldigen Sie meine Dreistigkeit, mein Sohn, aber sind Sie nicht der 1. Sekretär des Gildehauses?«, Kardinal Rudolfo scheute sich weder Erogal quer über den Tisch anzusprechen, noch auf die anmaßende Formulierung »mein Sohn« zu verzichten.

»Erogal D’Santo, zu Ihren Diensten, Bruder Rudolfo«, Erogal konterte, in dem er Rudolfo weder als Kardinal noch als Hochwürden ansprach.

»Ich wundere mich…«, Rudolfo legte eine spöttische Mine auf, »Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Aber ist es nicht recht ungewöhnlich, dass Sie als Sekretär an diesem Bankett… Herr Präfekt, erwarten Sie, dass wir heute noch zu Verhandlungen kommen, die von Ihrem Mitarbeiter fixiert und beglaubigt werden müssten?«

Oh, Erogal verstand nur zu gut, was Kardinal Rudolfo eigentlich ausdrücken wollte: Wieso ein Subalterner, eine Verwaltungshilfskraft, an einem Bankett der Excellenzen und Hochwürden teil nahm. Der Präfekt hüstelte verlegen, ihm war in seiner maßlosen Arroganz Erogals Anwesenheit ebenso unangenehm, wie dem Kardinal. Dies war der Zeitpunkt, ab dem Turondur eingriff: »Ich glaube, dass ich die Anwesenheit Sekretär ›D’Santos‹ noch am ehesten erklären kann.«

»Sie, Herr Präsident?«, schaltete sich der regierende Oberreeder ein.

»Erogal D’Santo ist ein Freund aus alten Tagen. Eigentlich galt mein Besuch Crossars ihm«, und an den Präfekten des Gildehauses gewandt, »Ich glaube, ich muss mich bei Ihnen, Herr Präfekt, nochmals aufrichtig entschuldigen, das Protokoll derart durcheinander gebracht zu haben.«

»Bitte entschuldigen Sie sich nicht!«, erhob nun der Vicomte Berengo von Harrasan seine Stimme, »Monsieur President, Ihr Erscheinen und das Ihres dragon, Ihres magischen Drachens, ist für Uns ein Zeichen der Hoffnung in dieser dunklen Zeit.«

»Also Bitte!«, schnaubte Kardinal Rudolfo verächtlich, »Diese sogenannten Drachen sind Fabelwesen. Das Reit- und Flugtier des ehrenwerten Präsidenten ist nichts weiter als eine große Flugechse. Vicomte, ich empfinde Ihren Hang zu unwissenschaftlicher Mystik für einen Diener des Staates, wie Sie es sind, doch sehr befremdlich.«

»Au contraire, Monsieur Cardinal! Als Diener des Staates fühle ich mich verpflichtet, offen und aufgeschlossen gegenüber allen Wundern unserer Welt zu sein. Sei es der Zauber der modernen Technik oder die arachische Mystik der Magie. Ihre Welt, Monsieur Cardinal, die der unifizierten Technokratie, ist mir zu analytisch und viel zu kalt. Ihr fehlt das Leben.«

»Präsident Turondur, was sagen Sie?«, der Sondergesandte Goldors II, Graf Targon, schaltete sich ebenfalls in die Diskussion ein. Seine Art Fragen zu stellen, zeigte deutlich, dass er ein professioneller Unterhändler und Verhandlungsstratege war. Natürlich wollte er Turondur zu einer Aussage verleiten, die dessen Glaubwürdigkeit diskreditierte. Erschwerend kam hinzu, dass Turondur kurz abgelenkt war. Ein schwacher Hauch des seltsamen Geruchs war an seiner Nase vorbeigeschwebt. Turondur versuchte gerade ihren Ursprung zu ergründen, als Graf Targon ihn adressierte: »Ist ihr Reittier eine Echse oder ein magischer Drache? Wie steht es um die berühmte elbische Magie?«

»Oh… Ähm… Elbische Magie?«, Turondur hüstelte und versuchte sich schnell auf Targons Frage zu konzentrieren. Jener nickte amüsiert und freute sich, den Elben scheinbar aus dem Konzept gebracht zu haben. Doch da täuschte er sich. Turondur schob das Thema ›seltsamer Geruch‹ beiseite und ging stattdessen auf die Frage des Sondergesandten ein: »Nichts für Ungut, Graf Targon, aber elbische Magie ist eine Erfindung der Nichtelben. Für uns ist das, was die Menschen und auch die Zwerge als Magie bezeichnen, ein selbstverständlicher und normaler Bestandteil unserer Kultur. Schauen Sie sich die Lichter der Kronleuchter an. Magische Elbenlichter werden sie genannt. Bei uns Elben tragen sie einen anderen Namen ›Lichter der Sterne‹. Meine Großmutter zeigte mir als Kind, wie ich aus Kristallen und Gebeten meine eigenen Lichter erschaffen kann. Ist es Magie? Ich weiß es nicht. In meiner elbischen Muttersprache gibt es kein Wort für Magie. Das Wort, dem Magie noch am nächsten kommt, läßt sich auch als Handwerk des Geistes übersetzen. Ich muss Sie enttäuschen, aber zum Thema Magie, kann ich nichts sagen.«

Natürlich entsprach jedes Wort Turondurs der Wahrheit. Genau so war Turondur natürlich davon überzeugt, dass er, die Elben, aber auch die Drachen, nach menschlichen Maßstäben magische Wesen waren.

»Sie sagen also, dass ›Magie‹ nur ein Etikett ist, dass andere Ihnen aufgeklebt haben?«, hakte Graf Targon nach.

»Ich…«, weiter kam Turondur nicht. Kardinal Rudolfo fiel dem Elb ins Wort: »Mein guter Graf Targon! Sie werden von einem Elb doch wohl keine klare Antwort erwarten, oder? Fallen Sie nicht auf die rhetorischen Tricks eines Elbenfürsten herein. Präsident Turondur ist nämlich viel mehr, als er uns weismachen will und behauptet zu sein. Oder sind Sie etwa nicht Erbe des Throns der Elben zu Grauwald? Ja, er ist ein Hochelb und beherrscht eben geheime Handwerkskünste, die man uns sterblichen Menschen seid Jahrhunderten verweigert zu erlernen. Natürlich ist es keine Magie! Aber glauben Sie ja nicht, dass es der Fürstenkaste der Elben nicht sehr gelegen kommt, dass es als Magie betrachtet wird! Nur so sind sie in der Lage, ihren überkommenen und illegitimen Anspruch auf Führerschaft zu wahren. Es sind alles nur billige Jahrmarkttricks und fauler Zauber. Wir müssen wirklich sehr dankbar sein, dass unsere ehrwürdige Päpstin, Paula-Sylvestra II, ihr ganzes Wirken einem Ziel gewidmet hat: Aberglaube und Mystizismus zu bekämpfen, sowie falsche Götzen von ihren Sockeln zu stürzen.«

»Amen!«, entwich es dem Oberreeder Crossars eben noch gerade so laut, dass man nicht wissen konnte, ab er absichtlich oder unabsichtlich ausgesprochen hatte, was er dachte. Da zwischen ihm und dem Kardinal der Präfekt saß, konnte Rudolfo nicht sehen, dass sich Amunsen über seine Tirade lustig machte. Die restlichen Gäste am Tisch schwiegen und schauten neugierig zu Turondur. Jeder wollte wissen, wie der Elbenprinz auf den direkten Angriff des Kardinals reagieren würde.

»Kardinal Rudolfo, Sie haben absolut recht. Ich bin ein Prinz der Sippe der Grauwaldelben«, Turondur lächelte den Kardinal freundlich an. Turondur beging nicht den Fehler eine unumstößliche Tatsache zu leugnen. »Genaugenommen belege ich Platz 2 der Thronfolge. Sollte mein Vater, König Turindal, diese Welt eines Tages verlassen, was hoffentlich noch weit in der Zukunft liegt, würde meine geliebte Schwester seinen Platz einnehmen. Es sei denn, sie verzichtet auf den Thron, um sich weiterhin ihrer großen Aufgabe zu widmen, die Magie zu bekämpfen.«

Turondur blinzelte der Kardinal keck und herausfordernd an, schaute dann auf seinen Teller, spießte mit einer gekühlten Gabel etwas von seinem Salat auf und schob sich das Grünzeug in den Mund. Nachdem er gekaut und geschluckt hatte, bemerkte Turondur mit Engelsmine: »Also dieser Feldsalat zusammen mit dieser excellenten Vinaigrette ist einfach traumhaft. Herr Präfekt, ein Kompliment an Ihren Küchenchef!«

Oberreeder Amunsen grinste breit.

Die nächsten Minuten waren von Schweigen geprägt. Kardinal Rudolfo bedachte Turondur mit giftigen Blicken. Der Präfekt wirkte hilflos und schien in erster Linie darum besorgt zu sein, sein Bankett nicht in einem Eklat enden zu lassen, was seinen Ruf als Gastgeber natürlich schädigen würde. Der Vicomte zeigte ganz offen seine Sympathie für Turondurs Position. Der regierende Oberreeder nahm die ganze Sache von der absurd ironischen Seite. Während der Sondergesandte Goldors II lustlos in seinem Essen herum stocherte. Turondur hingegen versuchte weiterhin die Quelle des Geruchs auszumachen, die alle paar Minuten seinen empfindlichen Geruchssinn reizte.

So vergingen drei Gänge. Die Kellner waren gerade dabei den 4. Gang, eine Gemüsepastete zu servieren, als sich Vicomte Berengo ein Herz fasste und das Wort ergriff: »Excusez-moi, Monsieur President Turondur! Eine Frage, die vorhin gestellt wurde, beschäftigt mich. Ihr dragon. Ist es nun wirklich nur ein einfaches geflügeltes Reittier oder wirklich ein magischer Drache?«

Turondur legte das Besteck beiseite, tupfte sich den Mund mit seiner Serviette ab und wandte sich dann dem Vizegrafen zu: »Vicomte Berengo. Ich kann nicht für Toldin sprechen. Aber Sie können ihn jederzeit selbst fragen, als was er sich definiert.«

»Ihn selbst fragen?«, staunte der Vicomte und zog beide Augenbrauen hoch, »Sie meinen, er spricht?«

»Warum sollte ich nicht sprechen können, Monsieur Vicomte?«, tönte eine fruchtig, saftige, erdige Stimme in den Köpfen der Gäste um Turondur. Kardinal Rudolfo schaubte: »Taschenspielertricks! Massensuggestion! Fauler Zauber!«


»Merde!«, entfuhr es dem Vizegraf nicht gerade standesgemäß. Turondur und Erogal schmunzelten. Toldin kicherte. Der Ausruf des Vizegrafen war alles andere als abwertend gemeint. Es war eher ein Ausdruck von Respekt. Der Drache hatte der Gruppe um Erogal lang und breit erklärt, dass er sich durchaus für ein magisches Wesen hielt. Schließlich wäre alles Leben eine Form von Magie, sogar das des Kardinals. Jener wollte gerade etwas entgegnen, als ein Gildebruder zu Erogal heran trat und ihm einen zusammengefalteten Zettel reichte. Mit ausdrucksloser Mine öffnete der Sekretär des Präfekten die Nachricht. Anschließend reichte er den Zettel weiter an Turondur.

»Gibt es irgend ein Problem?«, fragte der Präfekt besorgt.

»Ähm, nein. Es ist… nichts«, antwortete Erogal nicht sonderlich überzeugend, was kein Wunder war, denn der Inhalt des Schriftstücks hatte es in sich. Die Agenten, die Erogal mit der weiteren Untersuchung eines potentiellen Attentats betraut hatte, waren fündig geworden. In einem Lagerraum neben der Küche in der das Bankettmenü zubereitet wurde, hatte man die Leiche eines Kellners gefunden. Seine Kehle war durchgebissen wurden. Die Bissspuren deuteten auf einen Uruk hin. Ein aufgeklebtes Tatortfoto zeigte einen etwa 30 jährigen Mann in Kellnergarderobe. Sein weißes Hemd war mit seinem Blut durchtränkt. Sein Hals war so gut wie weg, doch sein Gesicht war noch gut zu erkennen. »Warum«, so fragte sich Turondur, »hatte der Uruk dem Mann nur die Kehle durchgebissen?« Es gab einfachere und weitaus weniger blutigere Methoden einen Menschen zu töten. Etwas an dieser Leiche war merkwürdig. Hätte dem Uruk der Sinn nach Menschenfleisch gestanden, hätte er sich mehr als nur etwas Hals einverleibt. Warum also dieser Biss?

Der Geruch war wieder da! Turondur verfluchte sich, dass ihm nicht einfallen wollte, woher er diesen Geruch kannte. Er schaute sich das Bild nochmals an. Es schien ein Lagerraum für Lebensmittel zu sein. Auf mehreren Wandregalen lagerten Konserven und Gläser mit allerlei köstlichen Inhalten. Neben dem Toten lag sogar eine offene, aber leere Transportkiste für sensible und empfindliche Ware. Das war aber auch schon alles. Nichts, was irgend ein Licht in die Sache bringen könnte. Trotzdem hatte Turondur das Gefühl, dass er ein Detail übersehen hatte.

Nach dem Hauptgang des Banketts drohte einer der grausigsten, aber leider unvermeidlichsten Programmpunkte: die Reden. Als erstes erhob sich der regierende Oberreeder der freien Handelsstadt Crossar, klopfte an sein Glas, räusperte sich und schaute freundlich in die Runde, bis ihm eine qualifizierte Mehrheit der Gäste ihre Aufmerksamkeit gönnte. Die Rede Friedrich Amunsens war kurz, pointiert und auf den Punkt. Er bedankte sich noch einmal ausdrücklich beim Präfekten der Gilde für seine Gastfreundschaft. Seine sofortige Bereitschaft, das Bankett im Gildehaus stattfinden zu lassen, nachdem durch einen unglücklichen Unfall der Ratssaal unbrauchbar geworden war, sei ein beispielloser Akt von Selbstlosigkeit und Hilfsbereitschaft.

Nach Amunsen ergriff Kardinal Rudolfo das Wort und lobte ebenfalls den Präfekten. Die Kirche und die Gilde hätten prinzipbedingt ihre ideologischen Differenzen, doch hier, bei diesem Bankett, würde sich die Gilde von ihrer besten und vorbildlichsten Seite zeigen. Rudolfo zeigte sich als eloquenter Redner. Selbst seine kleinen Sticheleien gegen Magie und die Gilde wurden mit charmanter Selbstironie vorgetragen, dass selbst Erogal und Turondur schmunzeln mussten.

Zum Schluss ergriff der Präfekt das Wort. Seine Rede war… Nun ja, schwach. Von allen Reden war seine am konventionellsten, langatmigsten und uninspiriertesten. Sein Timing für Witze war hundsmiserabel. Abgesehen davon waren seine Witze alt und alles andere als witzig. Der Präfekt war der einzige, der lachte. Die Gäste wären fast eingeschlafen, wäre der Präfekt nicht zum einzigen interessanten Punkt seiner Ansprache gekommen: »Sehr geehrte Excellenzen, werte Gäste. Zum Schluss dieses Banketts und meiner Rede möchte ich Ihnen allen nochmals für Ihre Bombenstimmung hahaha…«, ein einsamer Lacher des Präfekten, »danken und mich ebenso bombig«, peinliches Augenzwinkern des Redners, »bei Ihnen revanchieren. Herein mit dem Dessert – Eisbombe Crossar«

Aufs Stichwort flogen die sechs großen Flügeltüren auf und herein kam ein Trupp Kellner mit Funken sprühenden Eisbomben. Für die linke und rechte Seite des Banketttisches wurden je vier kleine Eisbomben aufgefahren. Für die Mitte des Tisches mit dem Präfekten, dem Kardinal, dem Oberreeder, den beiden Gesandten, Turondur sowie Erogal, trug der Oberkellner eine besonders große Eisbombe, deren silbernes Feuerwerk besonders brilliant funkelte und sprühte.

Im gleichem Moment, wie die Bombe hereingetragen wurde, nahm der seltsame Geruch wieder zu. Doch diesmal konnte Turondur ihn deutlich riechen. Er wurde so stark, dass es in seinem Hirn plötzlich »Klick« machte. Alle Puzzleteile rutschten an ihren Platz. Turondur griff erneut nach der Nachricht mit dem Tatortfoto und endeckte, was ihn irritiert hatte. Es stach ihm sofort ins Auge. Die Transportkiste für empfindliche Güter. Sie war in der Speisekammer so deplaziert, wie eine Elbin als Päpstin, denn Speisen wurden in ihr nicht transportiert. Die Kiste trug ein Firmenlogo bd, dem Symbol »Boldin Dynamics LLC«.

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Turondur riss seinen Kopf herum. Der Geruch war so stark, dass Quelle und Bedeutung schlagartig sonnenklar wurde. Es war der Geruch eines Uruks. Turondur starrte den Oberkellner an. Den Hochelb mit dem Geruchssinn eines Lycanthropen konnte man nicht täuschen. Turondur nutzte die Kraft seine Sippe. Ja, er war ein Prinz der Elben Einer der mächtigsten seiner Sippe. In einem Wimpernschlag enthüllte Turondur die Macht, die die Götter seinem Geschlecht verliehen hatten. Der Elb entflammte gleißend hell, wuchs an Größe und Erscheinung. In dieser Form enthüllte sich alles, was verborgen war. Der Oberkellner war ein Uruk. Ob er eine Maske trug oder man ihm ein menschliches Gesicht angezüchtet hatte, war dabei einerlei. Sein wahres selbst wurde offenbar. Und das, was der Uruk trug, wurde enthüllt. In der Tat trug er eine Bombe, wenn auch keine Eisbombe.

»Weicht zurück!«, donnerte Turondurs Stimme laut durch den Saal. Die Bombe in der Eisbombe hatte Turondurs magische Energieentladung bemerkt und sich scharf gestellt. Aus dem umhüllenden Speiseeis wuchsen tastende Tentakel heraus, »In der Eisbome steckte ein Todesigel!«

Ivoricalad

Blaufurt revisited

»Blaufurt? Sparen Sie sich den Weg!«

Aus Muriels Reiseführer. Anhang D – Überflüssige Reiseziele

Ivoricalad und ich waren nun mehr siebenundzwanzig Tage unterwegs. Wir hatten uns einer Beduinenkaravane angeschlossen. Genau genommen hatte ich mich der Karavane angeschlossen und Ivo während der überwiegenden Zeit unter einer Plane versteckt gehalten. Ich muss gestehen, dass ich mir den Wagen gewissermaßen ausgeliehen hatte. Wobei ich, in der Eile in der ich Daelbar verlassen hatte, es versäumt hatte, den Eigentümer über meine Absicht zu informieren. Ich hoffte, dass Thonfilas mir die Sache schon verzeihen würde.

Dass Ivo keine besonders große Lust verspürte, permanent unter einer Plane zu hocken, versteht sich wohl von selbst. Jedes mal, wenn sich die Möglichkeit bot, dass heißt wir uns unbeobachtet fühlten, schlüpfte er heraus und flatterte in der Gegend umher. Der kleine, oder sollte ich sagen, »winzige« Drache, entwickelte mit der Zeit ein erstaunliches Geschick beim Fliegen. Seine ersten Versuche wirkten anfangs noch eher unbeholfen und tolpatschig. Aber dieser Eindruck schwand mit der Zeit. Als Folge seiner geringen Spannweite entwickelte Ivo einen völlig eigenen Flugstil. Es war gänzlich anders als der anderer Drachen. Ivo erhob sich wild flatternd und scheinbar etwas mühsam in die Lüfte. Dort angekommen zog er dann mit verblüffender Leichtigkeit seine Bahnen, segelte wie ein Mauersegler über Feld und Wiese und landete schließlich sicher und punktgenau neben unserem Wagen.

Es war der Abend des sechsten Tages meiner Flucht. Ich hockte zusammen mit den Beduinen am Feuer und wärmte mich, knabberte an meinem Abendessen und lauschte dem traditionellen Sprechgesang meiner Karavanenführer.

»Du mußt deinen Drachen vor uns nicht verstecken. Laß ihn ruhig zu uns ans Feuer kommen.«

Der Chef der Karavane riss mich aus meinen Gedanken. Ich starrte ihn entsetzt an. Woher wusste er von Ivo?

»Du weißt nicht viel über mein Volk, oder?«, fragte der alte Beduine mit einem nachsichtigen Lächeln, »Wir wandern nicht einfach sorglos und unbedarft durch die Landschaft. Zu jeder Zeit halten Kundschafter vor und hinter uns Wache. Sie sichern unseren Weg und achten darauf, dass sich uns niemand unbemerkt nähert oder wir in einen Hinterhalt geraten. Die Wachen beobachten deinen Drachen, seit er das erste mal unter seiner Plane hervorgekrochen ist. Ihr seid unvorsichtig gewesen. Wenn eure Reise unentdeckt und geheim sein soll, solltet ihr euch vorher versichern, dass euch keine unfreundlichen Augen erspähen können. Aber hab keine Angst, niemand wird erfahren, dass ein Drache mit uns reist. Wir werden euch schützen.«

Ich war sprachlos. Meine Flucht verlief super – Super stümperhaft.

»Du erlaubst?«

Noch bevor ich Ivo holen konnte, war die kleine Echse bereits aus seinem Versteck gekrochen und hockte sich nun neben mich ans Feuer. Der alte Beduine musterte Ivo lange, zog an seiner Pfeife, inhalierte, atmete den Rauch wieder aus und nickte Ivoricalad anerkennend zu.


Die Reise zog sich hin. Ein Tag nach dem anderen verstrich. Ivo verbesserte seine Flugkünste, während die Beduinen darauf achteten, dass er dabei nicht von fremden Augen entdeckt wurde. Mir blieb nur, die triste und eintönige Landschaft zu betrachten und mich meiner Sorgen zu ergeben. War es die richtige Entscheidung, Suman zu verlassen? Ich liebte ihn und wollte ihm unbedingt nah sein. Doch konnte ich nicht riskieren, dass auch er ein Ziel der Gilde wurde. Ich musste ihn retten, auch wenn dies bedeutete, ihn aufgeben zu müssen.

Diese Gedanken waren es, mit denen ich versuchte mir einzureden, dass ich richtig handelte. Sicher, wirklich sicher und überzeugt, war ich von meiner Flucht nicht. Mir fiel nur nicht ein, was ich hätte anderes machen sollen.

Mein Ziel war Blaufurt. Die Stadt war zwei Flugtage von Daelbar entfernt. Leider war Fliegen keine Option. Ivoricalad war noch viel zu jung, dass ich auf ihm fliegen könnte. Außerdem hätte man einen Drachen, der einsam über die Welt flog, leichter entdecken können, als eine unauffällige Karavane. Mit den Beduinen zu ziehen, hatte noch einen anderen Vorteil. Die Karavane nahm einen Weg, den man als alles mögliche bezeichnen konnte, nur nicht als »direkt«. Ihr erstes Ziel lag nordöstlich von Daelbar, während Blaufurt südwestlich lag.

In einem weiten Bogen, der uns tief in die unwirtlichen Weiten der östlichen Tundra führte, erreichten wir erst am Nachmittag des achtundzwanzigsten Tages meiner Reise die Stadt an der Grenze zu Goldor. Der alte Beduinenchef verabschiedete mich und Ivo mit seinen Segenswünschen. Von da an waren wir auf uns selbst gestellt. Vorsichtig steuerten wir unseren Wagen in den tobenden Verkehr der Stadt.


Blaufurt – Diese Stadt war ein Moloch, ein brodelnder Hexenkessel. Enge Häuserschluchten, dunkle, dreckige Gassen, überfüllte und noch dreckigere Plätze. In Blaufurt durfte man nicht unter Platzangst leiden – oder an Sauberkeitswahn. Blaufurt war Stein gewordene Schäbigkeit. In den Strassen stapelte sich der Müll. Das meiste war Papier und Pappe von Verpackungen, die die unzähligen Im- und Exportläden in den Strassen entsorgten. Neben umfänglicher Siffresistenz benötigte man einen guten Orientierungssinn, wollte man sich nicht im wirren und verschlungenen Straßennetz verfangen. Ich verfluchte mich, bei meinem ersten Aufenthalt den Stadtplan nicht besser studiert zu haben.

Meine erste Aufgabe bestand darin, eine Bleibe für Ivoricalad und mich zu finden, in der wir unauffällig untertauchen konnten. Ich hatte bereits eine ungefähre Idee davon, was ich suchte, wusste aber noch nicht, wie ich sie umsetzen sollte. Alles hing mit meiner Entscheidung zusammen, warum ich überhaupt nach Blaufurt gegangen war.

In jeder größeren Stadt unterhielt die Gilde ein Haus. Nicht so in Blaufurt. Ebenso wie die Kirche besaß sie nur eine inoffizielle Mission. Die Stadtväter Blaufurt schätzten es nicht, wenn man ihnen zu sehr auf die Finger schaute oder sich in ihre Handelsgeschäfte mischte. Wollte man also in Blaufurt präsent sein, musste man sich an die Regeln der Patrizier halten und mit einer sehr kleinen Truppe auskommen.

Diesen Umstand wollte ich mir zunutze machen. Vermutlich war mein Verrat bereits ruchbar und ich zum Abschuss freigegeben worden. In jeder anderen Stadt würde es vor Gildeagenten nur so wimmeln. In Blaufurt, so hoffte ich, würde es zwar immer noch genug Agenten geben, aber bei weitem nicht so viele, dass ich eine Konfrontation mit ihnen nicht vermeiden könnte. Sollte es zum Äußersten kommen und mir ein Sweeperteam gegenüberstehen, sollte dies nach meinen Regeln geschehen.

Als erstes suchte ich die »Blaufurter Stadtbank« auf, einem Unternehmen, das sowohl für seine absolute Diskretion als auch für seine Verläßlichkeit bekannt war. Dort eröffnete ich ein Konto. Bei den Mitarbeitern des Institus handelte es sich um Beamte der Stadt. Schließlich hatte man es bei der »Blaufurter Stadtbank« mit keinem Privatunternehmen zu tun. Mein persönlicher Finanzagent war die Professionalität in Person. Er zuckte mit keiner Wimper, als ich fünf Mithrilmünzen über den Tisch schob. Selbst für das Spitzenfinanzinstitut Blaufurts war dies ein außergewöhnlicher Betrag. Absolut emotionslos quittierte mein Finanzagent den Empfang, respektive die Einzahlung, legte die Münzen in eine spezielle Schatulle, versiegelte sie und schob diese dann in ein gepanzertes Rohrpostsystem, welches die Münzen auf dem schnellsten Weg in den geheimen und schwer geschützen Tresorraum brachte. Um nicht ganz blank durch die Stadt zu laufen, hob ich eine angemessene Menge Geld ab, die ich mir in sogenannten Banknoten auszahlen ließ. Blaufurt war einer der wenige Staaten, die überwiegend mit Banknoten und nicht mit schweren und unhandlichen Münzen arbeitete. Man hatte in dieser Stadt sogar eine neue Art der Bezahlung erfunden, bei der überhaupt kein Geld, weder in Papier- noch in Münzform, ausgetauscht wurde.

Nachdem ich meine Geldgeschäfte erledigt hatte, begab ich mich auf die Suche nach einer Bleibe. Mir schwebte ein möbliertes Penthouse vor, vorzugsweise eins, das schwer einzusehen war und von außen unscheinbar wirkte. Nach einer weidlich dreistündigen Suche fand ich was mir vorschwebte, dank einiger Maklerempfehlungen, die mir mein Finanzagent auf den Weg gegeben hatte. Das Penthouse war zwar nicht perfekt, aber für meine Zwecke mehr als ausreichend. Das Gebäude besaß eine Tiefgarage, die mit einem gesonderten Fahrstuhl direkt mit der Wohnung verbunden war. Das Penthouse als solches war nicht ganz so unauffällig, wie ich es mir gewünscht hatte, bot aber genug Sichtschutz, um nicht auf einem Präsentierteller zu sitzen. Eine potentielle Gefahr, überlegte ich, könnten Scharfschützen sein. Zum Glück gab es nur einen Raum, in dem man zum Ziel werden konnte. Die anderen drei Räume überschauten ein sehr flaches Gelände und das auch nur, wenn man sich auf die umlaufende Terrasse begab. Innerhalb der Räume bot sich einen Schützen kein Ziel. Ein wirkliches Highlight stellte ein abgeschlossener kleiner Innenhof dar, der für diskrete Starts- und Landungen Ivos wie geschaffen war.

Blaufurt war preisgünstig, was zum allgemeinen schäbigen Erscheinungsbild der Stadt passte. Es schien üblich zu sein, Treppenhäuser, Hausfassaden, Vorgärten, Straßen, eigentlich jeden öffentlichen Raum, verfallen und in die totale Siffigkeit abdriften zu lassen. Hinter den Türen erschlossen sich hingegen prächtige Wohnungen mit wertvollen Einrichtungen. Wie ich später erfuhr, wollten die Blaufurter möglichen Einbrechern und Räubern keine Anhaltspunkte bieten, dass es sich bei einem Objekt um ein lukratives Ziel handeln könnte. Schnittstelle dieses Außen »Pfui« innen »Hui« Konzepts, bildeten die Türen. Ihre Außenseiten waren liebevoll gepflegte Scheußlichkeiten. Mehrschichtig abblätternde Farbe, schäbigste Tag-Bombings, sogar Brandflecken wurden auf die äußere Hüllen aufgebracht, dass man einfach nur Mitleid mit dem armen Bewohner haben musste und ihm am liebsten eine warme Mahlzeit spendieren wollte. Doch knapp hinter dieser peripheren Schicht schlummerten Meisterwerke meist zwergischer Schließmechanik, die jeder Tresortür mit Leichtigkeit das Wasser reichen konnte.

Mit anderen Worten: Der gemeine Blaufurter war ein angstzerfressener Sicherheitsfanatiker. Es soll Wohnblöcke geben haben, die derart herunter gekommen schienen, dass sie selbst Ratten zu ekelhaft waren, aber zur Hälfte von Multimillionären bewohnt waren. Hauptsache, niemand hegte Verdacht, es könnte hinter einer Tür etwas zu holen geben. Manche Blaufurter trieben es so weit, dass sie hinter ihre Eingangstüren spezielle Eingangsräume bauten, die das Schäbigkeitsdesign weiterführten. Es könnte ja sein, dass ein Nachbar zufällig einen Blick in eine geöffnete Tür warf.

Natürlich versuchte man sich auch im täglichem Leben nicht als wohlhabend zu verraten. Der Blaufurter war notorisch knauserig. Wacker hielt sich das Gerücht, dass der Kupferdraht von zwei Blaufurtern erfunden wurde, die sich gleichzeitig nach einem Penny bückten. Da nun die Blaufurter extrem geizig waren, feierten die Discountmärkte Urstände. Je billiger, desto besser. Um nun zu verhindern, dass die Bevölkerung an zu billigen Produkten Schaden nahm, stützte der Magistrat die Discounter über spezielle Zulagen. Das Geld dafür holte man sich über die horrenden Gebühren wieder rein, die die Stadt für jede Art von Dienstleistung verlangte. Da die » Blaufurter Stadtbank« der Stadt gehörte, blieb das Geheimnis wie wohlhabend ein jeder war, gewahrt. Denn zwei Dinge waren in Blaufurt absolut heilig: das Bank- und das Gebührengeheimnis.

Solange man also keine Rechtsgeschäfte tätigte, die sämtlichst gebührenpflichtig waren, war Blaufurt ein billiges Pflaster. Meine fünf Mithrilstücke waren außerdem so viel wert, dass ich mir die nächsten Jahrzehnte keine Gedanken machen musste, zu verhungern. Worüber ich mir hingegen Gedanken machen musste, war, was ich nun eigentlich tun wollte. Darauf warten, dass die ersten Gildemeister auftauchten, um mich zu liquidieren?

Spätestens hier, in meiner neuen Blaufurter Wohnung, musste ich entscheiden, wie es weitergehen sollte. Ginge es nur um mich, wäre die Entscheidung einfacher gewesen, doch ging es eben nicht nur um mich. Ich war schließlich nicht allein. Ivoricalad hatte ein Recht auf eine Zukunft.

Als erstes musste ich herausfinden, ob und in wie weit die Gilde überhaupt von meinem »Omega 2« Vorfall wusste. Ich war siebenundzwanzig Tage lang mit einer Karavane durch die Wildnis gewandert. Während dieser Zeit war ich von jegelichen Informationen und Nachrichten abgeschnitten. Die Beduinen nutzten keine Datenpads, mit denen man einen Inf-O-Matic Kanal empfangen konnte. Sie taten dies nicht etwa aus religösen Gründen, sondern einfach deswegen, weil Räuber die Geräte anpeilen konnten. So leicht wollte man sich nicht zur Beute machen.

Meine eigene oberste Direktive der nächsten Tage lautete also: Informationen beschaffen und Lage evaluieren. Und ich wusste auch, wie ich dies anstellen würde: Segato G’Narn würde wieder zu Prado Cassanter werden. Einem Schatten, der unsichtbar und geräuschlos die Stadt durchstreifte. Diesmal nicht als Dieb auf der Jagd nach ein paar Münzen, sondern als Dieb auf der Jagd nach Informationen.


Doch zuerst richteten Ivo und ich uns in unserem neuen Domizil ein; ein Unternehmen mit unerwarteten Hindernissen. Es begann mit dem an sich banalen Problem, Ivo unbemerkt in die Wohnung zu verfrachten. Ich steuerte unseren Wagen in die Tiefgarage und parkte ihn möglichst dicht an den Fahrstühlen. Die Idee bestand darin, in einem ruhigem Moment Ivo aus dem Wagen zu holen und in den Aufzug zu verfrachten, der direkt bis ins Penthouse führte. Nur… der ruhige Moment kam nicht.

Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was die Bewohner des Hauses eigentlich trieben, doch es verursachte einen Verkehr in der Tiefgarage, der locker mit einer mittleren Hauptverkehrsstraße mithalten konnte. Gut, ich übertreibe, aber trotzdem, die Frequenz mit der Leute von und zu ihren Fahrzeugen gingen, war ernorm. Alle paar Minuten kam ein Gleiter zur Einfahrt herein und wurde geparkt. Der Fahrer und gelegentliche Beifahrer schlenderten gemütlich zu den Fahrstühlen. Kam gerade kein Fahrzeug zur Einfahrt herein, vollzog sich prompt der umgekehrte Fall. Ein Hausbewohner kam mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage gefahren, suchte seinen schwebenden Untersatz und zuckelte schließlich gemütlich von dannen.

Ich verkroch mich in meinen Wagen und wartete. Stunden vergingen, Ivo knurrte ungehalten, doch der Verkehr schien nicht abebben zu wollen. Erst am späten Abend, inzwischen kurrte auch ich, nahm die Häufigkeit der Fahrten langsam ab. Gegen zwei Uhr Nachts kehrte tatsächlich Ruhe ein. Ich verließ den Wagen und prüfte die Lage. Vor die Einfahrt hatte sich zur Nacht ein schweres Gitter abgesenkt. Der Konstruktion nach zu urteilen, schien dieses Gitter es nicht sonderlich eilig zu haben, sich ein- oder auszurollen. Ein ankommendes Fahrzeug müsste eine ganze Weile warten, was Ivo und mir ausreichend Zeit geben sollte. Um nicht von einem plötzlich ankommenden Fahrstuhl überrascht zu werden, schickte ich einen nach dem anderen ins oberste Stockwerk. Ein Bewohner, der in die Tiefgarage wollte, müsste die Kabine erst rufen, was ich an den Stockwerksanzeigen über den Türen bemerken würde.

»Jetzt!«, rief ich Ivo.

Mein Drache schlüpfte unter der Abdeckplane hervor und hopste flink zu mir. Ein prüfender Blick auf Ivo und einer auf die Fahrstuhlkabine reichte. Wir hatten ein Problem. Meine Echse würde niemals in die Kabine passen. Ivoricalad war zwar klein, aber doch nicht so klein, wie ich ihn in Erinnerung hatte.

»Und nu?«

Ich kratze mich am Kopf. Mein PDA-Implantat rechnete hunderttausende Varianten aus, Ivo irgendwie in den Fahrstuhl zu bugsieren. Doch es änderte nichts. Was vom Volumen her theoretisch passte, war praktisch unmöglich. Das Vieh hatte schließlich Arme, Beine, Flügel und dergleichen, die man nicht beliebig falten und verdrehen konnte.

Ivo hockte vor mir auf dem Boden und beobachtete meine wirren Versuche passend zu machen, was nicht passen konnte.

»Was?«, fragte ich, als Ivo verdächtig unschuldig blinzelte.

»Nix!«, entgegnete die Echse. Mich beschlich ein Gefühl, dass ich von meinem Drachen innerlich ausgelacht wurde.

»Übrigens, Fahrstuhl 3 hat sich gerade in Bewegung gesetzt…«, bemerkte Ivo, als wenn es eine unwichtige Nebensächlichkeit wäre.

»Verdammt! Schnell, du musst zurück unter die Plane!«, mir stand der Angstschweiß auf der Stirn.

»Geht nicht…«, kommentierte Ivo und deutete mit seiner Schnauze in Richtung Parkdeck.

Mein Angstschweiß fing an, an Stirn und Schläfe hinab zu laufen. Ein einzelner Wagen kurvte auf der Suche nach einem Parkplatz zwischen den Parkreihen umher. Es gab keinen Ausweg. Ivo musste irgend wie in die Fahrstuhlkabine, sollte die Anwesenheit eines Drachens in Blaufurt weiterhin unendeckt bleiben.

»Sag das doch!«, kicherte Ivo.

»Was?«

»Das ich in die Kabine soll. Dreh dich um!«, kicherte Ivo weiter.

»Warum?«

»Ich bin schüchtern!«, kicherte Ivo immer noch.

Ich wusste zwar nicht warum, aber ich drehte mich um. Dieser Drache wollte mich verarschen, denn ich schaute auf eine verspiegelte Wand, die alles zeigte, was hinter meinem Rücken vorging. Was dort allerdings vorging, war nicht ganz klar. Ivo richtete sich auf, entfaltete seine Schwingen und fing dann an, weiß zu leuchten. Genaugenommen begannen die Ränder seiner Kristallschuppen zu leuchten, ähnlich Elbenlichtern. Das Leuchten nahm zu, entflammte den ganzen Drachen und hüllte ihn in eine Wolke aus Licht ein, sodass ich keine Konturen mehr erkennen konnte.

Und dann wurde er dunkel. Ich musste ein paar mal blinzeln, bevor sich meine Augen an die Abwesenheit des grellen Lichts gewöhnt hatten. Was ich dann allerdings sah, ließ mich doch massiv an meinem Sehsinn, respektive meinem Verstand, zweifeln. Ich drehte mich um, doch das Bild verschwand nicht. Vor mir stand ein junger, gut gebauter Mann – Splitterfasernackt!

»Nun schau nicht so! Mir ist kalt!«

»Ivo?«

»Nein, Paula Sylvestra II! Natürlich bin ich Ivo!«

Mein Verstand schaltete auf Autopilot. Noch bevor ich mental verdaute, dass Ivo kein Drache, sondern ein Mensch oder etwas menschenähnliches geworden war, schob ich ihn in die Fahrstuhlkabine. Im gleichem Moment tauchten ein älterer Herr und eine mittelalte Dame auf. Natürlich sahen sie, wie ich mit einem nackten jungen Mann eine Fahrstuhlkabine teilte.

»Ferkel!«, fauchte die Frau kurz bevor sich die Kabinentüren schlossen.

Metamorphose

»Anonymität – Diskretion – Gebührenordnung«

Inschrift über den Stadttoren Blaufurts

»Damit ich das verstehe, was bist du – ein Drache oder ein Mensch?«

»Ich bin ein Mensch, so wie du ein Drache bist.«

Warum können Drachen nie eine klare, einfache Antwort geben? Ivo saß mir im Wohnzimmer unseres Penthouses gegenüber. Ich wollte es einfach nicht glauben, aber Ivo war ein richtiger Mensch, ein Mann, etwa in meinem Alter, sehr gut gebaut, muskulös, aber nicht übertrieben, sondern einfach nur perfekt. Oder, anschaulicher ausgedrückt: Ivo war als Mann eine echte Sahneschnitte. Selbst angezogen verströmte er eine Attraktivität, die gefährlich war. Ivos Gesicht erinnerte an die Schönheit der Elben, obwohl ihm die elbentypischen Attribute fehlten. Er besaß weder spitze Ohren noch die unwirklichen tiefgründigen Augen der Elben. Sein Haar war zwar strohblond, doch nur halblang. Ich musste mir widerwillig eingestehen, dass mein Drache einfach rattenscharf aussah. Und das schlimme daran, der Kerl wusste das!

»Mach ich dich nervös?«, fragte mein schuppiger Partner ohne Schuppen und strich sich aufreizend eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Selbst seine Stimme war schön. Sie war sanft, sehr melodiös, aber gleichzeitig markant. Sie war völlig anders, als seine Drachenstimme und trotzdem war es zweifelsfrei Ivoricalads Stimme.

»Ja!«, knurrte ich, schüttelte meinen Kopf und seufzte, »Also, erklärst du mir, was das alles zu bedeuten hat?«

»Na gut«, entgegnete Ivo gespielt genervt, lächelte mich aufreizend an und begann zu erzählen.

»Wir Drachen, und damit bist, als meine Seele, auch du gemeint, existieren aus einem bestimmten Grund. Wir leben in dieser Welt, um das Böse zu bekämpfen. Soweit nicht neues. Du bist ein Bruder der Gilde, sogar einer ihrer Meister, du weißt also nur zu gut, was es heißt, gegen das Böse zu kämpfen. Jeder Drache erfüllt in seinem Leben eine bestimmte Aufgabe. Wir wissen nicht, welche Aufgabe dies sein könnte, aber wir wissen, dass uns bestimmte Gaben geschenkt wurden, um sie zu bewältigen. Du kennst Mithval, meinen überdimensionierten Bruder. Es gibt einen Grund warum er als Mithrildrache in diese Welt gekommen ist. Niemand weiß, welche Gaben in ihm schlummern, doch kann man erwarten, dass es etwas gewaltiges sein dürfte. Meine Gabe wurde mir vorhin bewusst. Ich kann mir eine menschliche Form geben. Jetzt ist mir auch klar, warum ich so klein bin. Ich war schon dabei, Minderwertigkeitskomplexe zu entwickeln. Als Drache bin ich doch bestenfalls Bonsaiklasse. Doch täusch dich nicht. Auch wenn ich aussehe, wie ein Mensch, so bin ich nach wir vor ein Drache. Nicht mal Uskav könnte mir eine Delle in den Pelz schlagen. Umgekehrt könnte ich mit ihm bequem den Boden auffeudeln und würde nicht mal ins Schwitzen kommen. Aber das weißt du ja, schließlich bin ich du.«

Ivoricalad hatte recht. Ich war er, genau so, wie er ich war. Ich fühlte es. Ich konnte unsere Melodie hören, unsere Musik, und mit etwas Konzentration sogar mit seinem Geist verschmelzen. Ich hörte, was er hörte, fühlte, was er fühlte und sah, was er sah. Ich betrachtete mich durch Ivos Augen. Es war ein gleichzeitig verwirrendes und erregendes Erlebnis. Mich beschlich ein böser Gedanke.

»Du Ferkel!«, wurde ich von Ivo scherzhaft getadelt. Da unser beider Bewustsein verschmolzen war, wusste mein Drache sehr genau, was ich dachte, »Ich möchte nicht wissen, wie du Suman das erklären willst, sollte er uns zusammen in einem Bett erwischen. Aber ich gebe dir Recht. Wir beide zusammen würde dem Begriff ›Selbstbefriedigung‹ eine völlig neue Dimension verleihen.«

»Ähm«, räusperte ich mich, »Ich habe mir nur rein hypothetisch vorgestellt, wie es wäre mit dir zu schlafen.«

»Ach? Rein hypothetisch?«, Ivo schaute mich schräg an, »Denk dran, mit wem du hier sprichst!«

»Warum musst du auch so extrem gut aussehen«, seufzte ich.

»Ähm, Das liegt an unserem Genpool. Es ist mir peinlich zu gestehen, aber meine DNA ist einfach perfekt.«

Dass auch eine ordentliche Dosis Magie in meiner Echse steckte, war in diesem Zusammenhang sicherlich nicht schädlich.


Wenn es an Ivo etwas gab, was ihm bestimmt nicht fehlte, war es mangelndes Selbstbewusstsein. Doch ich muss gestehen, seine menschliche Form vereinfachte meine Aufgabe ungemein. Wir konnten uns, ohne Aufsehen zu erregen, unter die Blaufurtianer mischen und unseren Geschäften nachkommen. Nein, Halt! Ohne Aufsehen zu erregen stimmte so nicht. Ivos Aussehen war aufsehenerregend. Frauen schauten sich regelmäßig um und bedachten ihn zuweilen mit mehr als eindeutigen Blicken, wobei sich manche lüstern ihre Lippen leckten. Selbst der eine oder andere Mann drehte sich nach Ivo um, wobei ihre Blicke eher von Neid geprägt waren. Interessant war die Reaktion des einzigen Elben, der uns in Blaufurt begegnete. Als er Ivo erblickte, schaute er zuerst irritiert drein, als wenn er nicht einordnen konnte, was er sah. Dann bildeten sich Denkfalten der Verwunderung, die sich schließlich in einem Ausdruck der Freude auflösten. Mit dieser Mine nickte er mir anerkennend zu und verwirrte mich damit.

»Er weiß, was ich bin. Er ist ein Elb, eine verwandte Seele. Die Augen eines Elbs sehen mehr, als die der Menschen. Sie können uns so sehen, wie wir wirklich sind. Ein Drache und seine Seele!«, erläuterte Ivo, »Er wird unser Geheimnis nicht verraten!«

Eine Überraschung barg Ivos neue menschliche Form dann doch. Es war am ersten Tag nach unserer Ankunft. Wir liefen durch Blaufurt, um ein paar Lebensmittel und Haushaltsgegenstände zu besorgen. Der Morgen startete trübe mit Nebel, tief hängenden Wolken und Nieselregen. Feuchte Luft aus dem Süden staute sich vor den Bergen Blaufurts und entledigte sich ihrer überschüssigen Nässe. Es war das typische Blaufurtet Mistwetter, wie es an mehr als hundert Tagen im Jahr herrschte. Es war der Preis dafür, dass Blaufurt überhaupt existierte. Zum einen sorgte es für volle Zisternen gefüllt mit besten Blaufurter Wasser, auf dessen Verkauf ein Gutteil des Vermögens der Stadt basierte. Zum anderen schützten die Berge vor den schneidenden Winden der nordwestlichen Eiswüste. Ohne sie wäre Blaufurt ein trockener, kalter Flecken Erde.

An jenem Tag meinte es das Wetter mit den Blaufurtern allerdings gut. Gegen späten Vormittag schmolz der Nebel dahin, die Wolkendecke riss auf, das Blau des Himmels kam zum Vorschein, die Sonne schickte ihre Strahlen zur Erde. Einer dieser Strahlen traf Ivoricalad.

»OOPS!«, meinte Ivo und traf es damit ziemlich genau auf den Punkt. Ein Kristalldrache bleibt ein Kristalldrache auch, wenn er eine menschliche Form annimmt. Meine kleine Echse zeigte unter Sonneneinstrahlung eine Neigung zur Transparenz. Er wurde zwar nicht vollständig unsichtbar, doch immerhin so weit, dass die Sonnenstrahlen durch ihn hindurch schienen. Seine Haut schien an den Stellen, die von der Sonne beleuchtet wurden, zu Glas oder Kristall zu werden. Das Licht brach sich in ihm, wurde teilweise funkelnd reflektiert oder schien hindurch. Zum Glück schob sich rechtzeitig eine Wolke vor die Sonne, bevor neugierige Augen etwas sehen konnten. Denn im gleichem Moment wie die Sonne hinter der Wolke verschwand, verschwand auch Ivos Durchsichtigkeit.

»Ich glaube, wir sollten etwas vorsichtiger sein.«

»Ich wage nicht, dir in diesem Punkt zu widersprechen«, meinte Ivo kleinlaut.


Wir erledigten unsere Besorgungen. Die Wohnung hatte ich zwar möbliert gemietet, doch fehlten so banale Dinge wie Bettwäsche oder Handtücher. Um keine unangenehmen Überraschungen zu erleben, durchsuchte ich das Penthouse ausgiebig nach Abhörgeräten oder versteckten Kameras. Man weiß ja nie. Ich belegte unser neues Heim mit ein paar Schutzzaubern und Reinigungsbeschwörungen. Nicht, dass ein Vormieter einen üblen Fluch oder, die Götter mögen uns beistehen, einen Poltergeist hinterlassen hatte. Doch wie es schien, war die Wohnung sauber.

Zurück in unserer Wohnung lief Ivo gleich in den Innenhof des Penthouses und experimentierte mit dem Sonnenlicht. Es war wirklich verblüffend. Nur an den Stellen, die von den Strahlen getroffen wurde, wurde Ivoricalds Körper transparent. In der Ruhe und Abgeschiedenheit unserer Wohnung konnten wir das Phänomen genauer studieren. Der Begriff »Kristall« traf den Effekt noch am Besten, denn das Licht wurde von Ivos Körper wesentlich stärker gebrochen, als dies Glas vermochte. Es entsprach eher dem Brechungsvermögen eines Diamanten und sah wirklich beeindruckend aus. Ivo, dem Schamgefühl eher fremd zu sein schien, entkleidete sich und stellte sich nackt in die Sonne. Sein ganzer Körper wurde schlagartig transparent und funkelte. Einzelne Stahlen verfingen sich in seinem Körper, wurden gebrochen, reflektiert und zauberten Lichtflecken auf Wände und Boden.

Am Abend unseres ersten Tages, Ivo hatte seine Drachenform angenommen und war dabei es sich im Innenhof gemütlich zu machen, lag ich im Bett und konnte nicht schlafen. Es war der erste Tag seit der Entdeckung der Glyphen und meiner darauf folgenden Flucht, dass ich allein mit meinen Gedanken war. Die Tage davor, während der Reise mit der Karavane, hatte ich mich ablenken können. In der freien Landschaft zu nächtigen war gefährlich und forderte Wachsamkeit. Doch nun, in der Sicherheit der eigenen vier Wände, gab es nichts mehr, mit dem ich mich ablenken konnte. Das Gefühl der Einsamkeit traf mich mit der Wucht einer Dampframme. Suman, mein geliebter Suman, fehlte mir. Ohne ihn an meiner Seite fühlte sich das Bett kalt und leer an. Trotz meiner Müdigkeit konnte ich nicht einschlafen. Im Dämmerzustand zwischen wachen und schlafen wälzte ich mich unrastig hin und her.

»Du wirst ihn wiedersehen. Vertrau mir!«, flüsterte Ivo in meinem Kopf.

Ich hoffte, dass mein kleiner Drache recht hatte. Trotzdem wurde ich von dem Gefühl der Einsamkeit überwältigt. Schluchzend verkroch ich mich tief im Kopfkissen. Doch dann kam Ivo. Mein Drache hatte wieder seine menschliche Form angenommen. Vorsichtig schlüpfte er zu mir unter die Decke und nahm mich in den Arm, hielt mich sanft und summte beruhigend unsere Melodie. Langsam wurde ich ruhiger und driftete in sanft in einen tiefen Schlaf.


Der nächste Morgen brachte einige Überraschungen. Die erste war Ivoricalad. Als ich aufwachte, war es mehr ein Aufschrecken, denn ich saß kerzengrade im Bett und brauchte eine Weile, um mich zu orientieren und zu begreifen, dass ich mich nicht in Daelbar sondern in Blaufurt befand und der nackte, attraktive Mann neben mir im Bett in Wirklichkeit kein Mann war, sondern ein Drache in der Gestalt eines jungen Mannes.

»Guten Morgen, Schlafmütze«, begrüßte mich Ivo, »Wusstest du, dass du schnarchst?«

Ivo grinste breit und ich wusste, dass ich nicht schnarchte. Ich blinzelte ein wenig und schaute Ivo dankbar an. Ohne ihn hätte es mich in der Nacht zerrissen. Ivo hatte mich getröstet, seine Stärke mit mir geteilt und mich gestützt. Trotz meiner Lage war ich glücklich. Glücklich die Seele eines Drachens wie Ivo sein zu dürfen.

Wie mein schuppiger Freund in seiner Menschengestalt so neben mir im Bett lag, überflutete mich eine Gefühlswelle der Zusammengehörigkeit. Zaghaft, fast ängstlich, streckte ich meine Hand nach Ivoricalad aus und flüsterte schüchtern: »Darf ich?«

Ivo antwortete in dem er mich anlächelte und nickte. Ivo lag auf der Seite und hatte sich mir zugewand. Ich berührte ihn an seiner Schulter, ganz leicht und nur mit meinen Fingerspitzen. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Vieleicht, dass er sich wie Glas anfühlte? Er tat es nicht. Ivos Haut fühlte sich warm wie Samt und sehr lebendig an. Meine Finger tasteten sich weiter vor. Ich ließ meinen Handballen Ivoricalads Schulter umschließen. Ein Schauer durchlief meinen Körper, dass ich eine Gänsehaut bekam, meine Augen kurz schloss und durch meine Zähne scharf einatmete.

Ivo schaute mich an. Er lächelte nicht, trotzdem war sein Blick freundlich und mitfühlend. Ivo zu berühren war gleichzeitig eine sinnliche und zutiefst verwirrende Erfahrung. Ich strich mit meiner Hand sanft über seinen Arm, von der Schulter über Oberarm, Ellenbogen, Unterarm und Hand und wieder zurück. Ich legte mein Hand auf seine Brust, Bauch und seine Wangen.

Ich zitterte. Tränen bildeten sich in meinen Augen, als ich Ivo die Arme schloss und sich unsere nackten Körper berührten. Es war, als wenn ich in Liebe ertrinken würde. Diesen Drachen zu berühren, ihn zu fühlen, war ein Erlebnis jenseits jeglicher physischen Erfahrung. Ich konnte fühlen, spüren, wie Ivo meine Berührungen empfand. Sein Geist ließ mich an seinem eigenen Erleben meiner Liebe teilhaben, was verdammt verwirrend war. Gleichzeitig fühlte ich aber auch seine Liebe zu mir, was es nur noch verwirrender machte. Ich begriff langsam, was es für einen Drachen eigentlich bedeutete, sich mit einer Seele zu verbinden. Ich sah die unendliche Verletzlichkeit dieser mächtigen und starken Wesen und verstand, warum sie auf eine Seele, einen Rettungsanker angewiesen waren. Dieses Erlebnis war etwas zuviel des Guten! Ich wimmerte vor Traurigkeit und Glück. Meine Tränen flossen ungehemmt meine Wangen hinab.

»Es ist gut!«, flüsterte Ivo in meinem Geist, »Ich halte dich.«

Was heißt hier halten? Wir, Ivo und ich, wurden eins – seelisch und körperlich. Kein Drachenreiter war seinem Drachen jemals so nah, wie ich und umgekehrt kein Drache seiner Seele.


»Na, mein Lieblingsdrachenreiter?«, Ivo lag neben mir. Ich lag auf dem Rücken, erschöpft und ausgepowert, aber glücklich. Mein Lieblingsdrache revanchierte sich und streichelte meine Brust. Verspielt gab mir Ivo einen Kuss.

»Danke!«, war alles, was ich sagen konnte.

Ivo antwortete auf seine Art und gab mir einen weiteren Kuss, dann noch einen, dann küsste er meinen Hals, meine Brustwarzen und meinen Bauch und meinen Schwanz.

»Ich danke dir!«, meinte Ivo schließlich und sprang mit einem gewaltigen Satz aus dem Bett. Noch in der Luft verwandelte er sich zurück in einen Drachen. Ivo breitete seine Schwingen aus. Vor mir stand ein hell strahlender Kristalldrache, schön aber auch mächtig, voller infernalischer Kraft. Ich stand, nackt wie ich war, auf und legte meine Hand auf Ivoricalads Brust. Ich fühlte sein Herz in seiner Brust schlagen. Jeder Schlag ließ Ivo weiß aufglühen. Das pulsierende Licht übertrug sich. Mit dem erstem Schlag glühte nur meine Hand auf, dann bereits mein Handgelenk, mein Unterarm, Schulter, Brustkorb. Schließlich war mein ganzer Körper von Ivoricalads Licht erfüllt.

»Tu es! Jetzt!«

Ich tat es. Obwohl Ivo und ich kein Wort gewechselt hatten, wusste ich, was er meinte. Ich schloss meine Augen und ergab mich dem Licht. Ich ließ den Kontakt zu Ivos Brust abreißen, streckte meine beiden Arme weit aus und spreizte meine Finger. In meinem Geist sah ich, wie sich zwischen ihnen eine Haut bildete, genau so, wie zwischen meinen Armen und meinem Oberkörper. Meine Füße verwandelten sich zu Klauen. Mein Kopf verformte sich. Aus meinem Mund wurde eine Schnauze. Mein Zähne wurden zu mächtigen Fängen. Mein Finger zu Krallen. Jede Zelle meines Körpers verwandelte sich.

»Fertig!«

Ich öffnete meine Augen und erschrak. Die Welt sah anders aus.

»Na, wie fühlt man sich als Drache?«, Ivo musterte mich amüsiert, »Du wirkst ein bisschen hilflos.«

»Seht ihr so die Welt?«, die Art mit Drachenaugen zu sehen empfand ich als sehr gewöhnungsbedürftig. Das Blickfeld war wesentlich weiter und wirkte eigentümlich verzerrt. Außerdem musste meine Sehschärfe drastisch zugenommen haben. Ich konnte Details in mehreren Metern Entfernung sehen, die ich vorher selbst dann nicht klar erkannt hätte, wenn ich sie mir direkt vors Auge gehalten hätte. Nur mit der Farbe schienen die Drachen auf Kriegsfuß zu stehen. Die Welt war zwar nicht schwarz-weiß, doch farbig war sie auch nicht.

»Man gewöhnt sich dran«, beantwortete Ivo meine Frage knapp, während er an meinem linken Flügel zupfte, »Komm mit zum Spiegel.«

Im Flur unserer Wohnung hing ein mannshoher Wandspiegel. Ich muss gestehen, dass ich mich ein klein wenig fürchtete, mich zu betrachten, doch Ivoricalad kannte keine Gnade. Er bugsierte mich vor das reflektierende Glas.

»Wow!«, war mein erster Kommentar, »Ich… ich bin ein Drache!«

»Vom Kopf bist Schwanz!«, kicherte Ivo.

Aus dem Spiegel schaute mir ein zweiter Kristalldrache entgegen, den ich unzweifelhaft als mich selbst identifizierte. Ich war ein Drache! Ich wollte kaum glauben, was mir der Spiegel zeigte. Ich drehte mich hin und her, hob meine Flügel, versuchte sogar etwas von meinem Rücken zu sehen, indem ich mich umdrehte und über die Schulter schaute.

»Dir gefällt, was du siehst?«, Ivo war zwar bestens gelaunt, doch glaubte ich ein klein wenig schlechtes Gewissen aus der Frage heraus zu hören.

»Jaaa…«, antwortete ich zurückhaltend, »Wieso?«

»Wieso was?«, wich Ivo aus.

»Hey, spiel keine Spielchen mit mir! Was ist los?«

»Aber nur wenn du versprichst, mir nicht böse zu sein«, Ivo wählte seine akustische Stimme und sah verlegen zu Boden.

»Das kann ich nicht. Ich weiß ja nicht, warum ich dir böse sein soll«, ich stupste Ivos Schnauze mit meiner Schnautze an. Zwei Drachen schauten sich tief in die Augen. »Na los, pack aus. Ich werd dir schon nicht den Kopf abreißen.«

»Na gut…«, seufzte Ivoricalad und packte aus. »Ich habe dich verführt, damit du mit mir schläfst.«

Ich war perplex: »Und bitte, warum?«

»Um aus dir einen Drachen machen zu können«, Ivo wandte sich wie ein Aal und grinste verlegen unsicher, »Irgendwie musste ich doch mein magisches Proteinpäckchen in dich hinein bekommen. Und da dachte ich mir, warum nicht das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.«

Unwillkürlich griff ich mir an meinen Hintern in dessen Tiefen noch vor wenigen Stunden Ivos anderer Schwanz wahre Wunder vollbracht hatte: »Wie bitte? Du hast mich gefickt damit… «

Ivo schaute mich schüchtern schief von unten an: »Und, bist du nun sauer?«

»Ähm… Äh, nein, glaube ich jedenfalls«, ich schüttelte meinen Kopf um wieder klar denken zu können, »Nein, ich bin dir nicht sauer. Es ist nur… Warum versuchen alle netten Typen mich zu verführen, statt mich direkt zu fragen?«

Ich musste an Suman denken und wie auch er versucht hatte, mich mit einem Liebeszauber ins Bett zu bekommen. Dabei hätte ich weder bei Suman noch bei Ivoricalad wirklich nein gesagt, hätten sie mich direkt gefragt.

Ivo hopste unsicher von einem Fuß auf den anderen, was bei Drachen immer wieder komisch aussah. Dabei vermied er, mich anzusehen. Er hatte wirklich ein schlechtes Gewissen.

»Hey, nu schau nicht so belämmert drein. Ich bin nicht sauer. Wie könnte ich. Es war ja nicht so, dass ich mich groß gewehrt hätte, mit dir zu schlafen, oder? Außerdem, schau mich an, ich bin ein Drache! Es ist merkwürdig, aber ich kann es kaum abwarten, diese Flügel auszuprobieren. Doch eine Frage musst du mir noch beantworten. Warum wolltest du mich zu einem Drachen machen?«

Ivoricalad schaute mich an und lächelte sichtbar glücklich, dass ich nicht sauer auf ihn war.

»Du hast die Antwort auf deine Frage schon gegeben. Ich musste dich zu einem Drachen machen, damit wir miteinander fliegen können. Schau mich an. Ich bin ein Mikrodrache und ich werde auch nicht wachsen. Einen Meter achtzig ist für einen Drachen wirklich nicht groß. Mit meiner Größe würde ich dich niemals auf meinem Rücken tragen können. Aber wir sind ein Wesen. Wir gehören zusammen. Deswegen musste ich eine andere Lösung finden.«

»Und was ist mit dieser Seelengeschichte? Ich dachte, ein Drache braucht eine Seele?«

»Was fragst du mich? Ich bin nur eine dumme Echse. Ich vermute, dass die gelehrten Eierköpfe in Daelbar mehr darüber wissen. Soweit ich weiß, brauchst du keine Seele, denn du bist ein Mensch, der die Form eines Drachens annehmen kann. Du siehst aus wie ein Drache, bist aber keiner. Ich wiederum seh aus wie ein Mensch, bin aber ein Drache. Ansonsten, frag meinen schlauen Bruder. Mithval ist der Intellektuelle in unserer Familie.«

Ich musterte Ivo. Ich betrachtete ihn mit den Augen eines Drachens. Er sah attraktiv aus. Es war verrückt, aber so wie ich Ivo in seiner menschlichen Form in meiner menschlichen Form extrem gutaussehend fand, so fand ich Ivo als Drache in meiner Drachenform ebenfalls super scharf. Seine Schnauze war einfach süß. Seine Fänge rattenscharf. Wenn er seine Schwingen ausbreitete, dann enthüllte er einen eleganten, muskulösen, perfekt geformten Körper. Selbst sein Drachenschwanz wirkte erotisch. Ich muss gestehen, dass mich dieser schuppige Kerl mächtig erregte, was in Anbetracht meines unbekleideten Körpers nicht unbemerkt blieb.

»Ich sag ja, dass Schwänze ihren eigenen Kopf haben«, kommentierte Ivo meinen Zustand, der bei ihm nicht wesentlich anders war. Selbst ein Drache, konnte ich Ivoricalads Mimik wesentlich besser lesen, als als Mensch. Was ich bisher als albernes Grinsen interpretierte, war in Wirklichkeit ein Ausdruck von innerer Freude. Es war nicht Ironie, sondern die pure Lust am Leben in Verbindung mit einem unerschöpflichen Vorrat an Humor.

Wie viel Humor Ivo besaß, zeigte er mir sofort. Mit seinem langen Drachenschwanz angelte er nach mir, umschlang meinen Körper und zog mich zu sich heran. Seine Schwingen umfingen mich, hüllten mich ein. Man mag es nicht glauben, aber Drachen können küssen! Unsere Schnauzen berührten sich auf eine Weise, wie ich es mir als Mensch niemals hätte vorstellen können. Bei allen Göttern war dieser Drache zärtlich! Er knabberte an meinen Schuppen. Ein Schauer nach dem anderen durchwaberte meinen Echsenkörper.

»Segato, halte dich nicht zurück. Du bist jetzt ein Drache! Liebe mich wie einer! Jetzt!«

Drachensex – Definitiv nichts für zartbesaitete Gemüter. Was jedem Mensch, Elb, Zwerg oder beliebig anderem Zweibeiner wie ein Kampf auf Leben und Tot erscheinen musste, war in Wirklichkeit ein Austausch von körperlicher Liebe und Zärtlichkeit, wie es vermutlich nur Drachen möglich war. Glücklicherweise sah niemand zu, als wir übereinander herfielen.


»Und Morgen bring ich dir das Fliegen bei!«

Frustration

»Es ist eine bittere, aber leider nicht zu verleugnende Wahrheit, dass es Wesen gibt, die sich Unserer fürsorglichen Kontrolle willentlich entziehen.«
»Es versteht sich von selbst, dass Wir alles nötige unternehmen, diesen Missstand zu beseitigen.«

Päpstin Paula Sylvestra II

»Und wenn du mich noch hundert mal fragst. Ich rieche nichts! Rein gar nichts!«, ein Wolf, bei dem es sich in Wirklichkeit um einen Lycanthropen handelte und auf den elbischen Namen Gildofal hörte, sprang auf seinen vier Pfoten wild in der Gegend umher, schnüffelte an jedem Strauch und schnupperte an jeden Stein. Er lief ins nahe Unterholz, kam zurück, lief ein Stück des Weges voraus, schnüffelte und schnupperte auch dort umher und kehrte schließlich wieder zum Ausgangspunkt zurück, »Tut mir Leid, aber ich habe die Witterung verloren. Riechst du was?«

Die letzte Frage war an Suman gerichtet, den anderen Lycanthropen, der vor den Füßen seines Drachens hockte. Im Gegensatz zu Gildofal lief Suman nicht wild in der Gegend umher, sondern hielt seine Nase hoch in den Wind.

»Nein, nichts, leider«, seufzte Suman niedergeschlagen.

Gilfea seufzte ebenfalls: »Also haben wir seine Spur endgültig verloren. Na gut, lasst uns überlegen, wie wir weitermachen wollen.«

Gilfea kletterte von Mithval herab und setzte sich auf dessen Fuß. Der überdimensionierte Mithrildrache bestand darauf, Gilfea als Hocker zu dienen. Schließlich war der Boden am Waldrand sehr nass und kalt und Gilfeas Gesundheit garantiert abträglich. Der junge Drachenreiter wartete geduldig, bis sich seine beiden Freunde in ihre menschliche respektive elbische Form zurückverwandelt hatten.

»Und nu?«, brachte es Suman trocken auf den Punkt.

Vier Tage waren seit meiner Flucht aus Daelbar vergangen. Anfänglich kamen die drei Freunde und ihre Drachen zügig voran. Meine Spur war für die feinen Nasen meiner lycanthrophischen Freunde deutlich zu lesen. Einmal Witterung aufgenommen waren Suman und Gildofal kaum zu halten. Doch ihr Glück verließ sie prompt, als am späten Nachmittag des dritten Tages das Wetter umschlug und es zu regnen begann. Was als feiner, nerviger Nieselregen begann, wuchs sich in der Nacht zu einem starken und konstanten Landregen aus. Der Morgen des vierten Tages begann dann zwar mit einem strahlend blauen Himmel und Sonnenschein, doch hatte der Regen jegliche Spuren hinweggewaschen.

»Gehen wir logisch vor. Wohin könnte Segato gegangen sein? Wir wissen, dass er sich einer Beduinenkaravane angeschlossen hat, doch das bringt uns nicht weiter, da wir nicht wissen, welches Ziel sie hatte«, analysierte Gildofal.

»Ich weiß zwar nicht, wohin er gegangen ist, aber vieleicht hilft es, zu wissen, dass alles, was Segato jemals gesehen hat, Xengabad, Minas Rochsir und Crossar war. Ihr dürft nicht vergessen, dass er direkt nach seiner Ausbildung zum Gildebruder nach Daelbar gekommen ist. Wenn ihr mich fragt, ist er vermutlich zurück nach Crossar gegangen. Seine Heimatstadt kennt er wie seine Westentasche. Dort hat er mehrere Jahre als illegaler Dieb versteckt gelebt. Wenn ich er wäre, würde ich nach Crossar gehen und dort untertauchen«, gab Suman zu bedenken. Er kannte mich von meinen drei Freunden am besten. Gegen seine Überlegung war nichts einzuwenden. Warum war ich nicht auf die Idee gekommen?

»Was ist mit Blaufurt?«, fragte Gildofal.

»Keine Ahnung«, gestand Suman und zuckte mit den Schultern, »Wie ihr wisst, lag ich während meines Aufenthalts in Blaufurt auf Eis, sprich, in einem Sarg. Alles, was ich über Blaufurt weiß ist das, was mit Segato erzählt hat. Es muss eine gesetzlose, versiffte, hässliche und gefährliche Handelsstadt sein, in der man vermutlich ebenfalls gut untertauchen könnte. Wenn ich es mir recht überlege, klingt Blaufurt ebenfalls wie ein Ziel.«

»Also wohin? Crossar oder Blaufurt?«, fasste Gilfea die beiden Alternativen zusammen und schaute fragend von Suman zu Gildofal und wieder zurück.

Gildofal zuckte mit den Schultern. Suman hingegen meinte: »Crossar! Es wäre unlogisch, wenn er nicht auf seine Erfahrungen bauen täte.«

»Also Crossar«, Gildofal wirkte nachdenklich, »Hat einer von euch beiden eine Idee, wie wir da hinkommen?«

»Öhm!«, war alles, was Gilfea darauf antworten konnte, bevor er Suman einen hoffenden Blick zu warf. Der seufzte einmal auf, kratzte sich am Kinn und zuckte nochmals hilflos mit den Schultern: »Von hier nach Crossar sehe ich nur drei Wege; einer unwahrscheinlicher als der andere.«

Womit Suman mehr als recht hatte. Die drei waren mir zwar gefolgt, waren aber deutlich langsamer, als meine Beduinenkaravane. Ihr Standort befand sich einen halben Tag vom Rand der östlichen Tundra entfernt. Die Beduinen hatten 24 Tage für deren Durchquerung gebraucht, wobei sie ihre Route in- und auswendig kannten. Mein unerfahrenen Freunde würden locker die Hälfte länger, also gut 40 Tage brauchen. Immerhin würden zwei der drei Varianten sie ebenfalls nach Blaufurt bringen. Route 1 führte über das Meer. Dies hieße über Blaufurt nach Minas Rochsir zu reisen und dort eine Passage nach Crossar zu buchen. Die entscheidenen Schönheitsfehler dieses Weges hießen Minas Rochsir sowie Mithval, Eargilin und Tingalen.

Das Land zwischen Blaufurt und Minas Rochsir, sowie Minas Rochsir selbst, war kein anderes als das Königreich Goldor II und damit faktisch Feindesland. Allerdings gab es, wollte man eine Seepassage nutzen, wenige bis keine Alternativen zu Minas Rochsir. Die Feste beherbergte den letzten großen Hafen im Norden, wenn man von ein paar kleinen Häfen der Neovikinger entlang der nördlichen Westküste ab sah. Nur dort hätte man eine reale Chance eine Fahrt zu buchen. Doch selbst dies, dürfte sich als ausgesprochen schwierig entpuppen. Welches Schiff würde drei Drachen mitnehmen wollen?

Route 1 schied somit aus. Mit Route 2 sah es nicht wesentlich besser aus: der direkte Landweg. Auch er führt nach Blaufurt und von dort weiter nach Kreuzstädt am Grünsee. Statt dann aber die Reichsstrasse 3 nach Minas Rochsir zu nehmen, führte die Route nach Süden über die Reichsstrasse 1 quer durch Goldor. Route 2 war somit ebenfalls alles andere, als ein geeigneter Weg für drei Daelbarianer samt ihrer Drachen.

Was blieb war Route 3: Durch die Tundra zum Ödland von Erudor. Der Weg führte zwar nicht durch Feindesland, doch war hier das Land selbst der Feind. Bot die Tundra noch eine Vegetation mit dichten Nadelhölzern, Flechten und Moosen, gab es im Ödland von Erudur nichts außer Fels, Sand, Stein und einen permanent wehenden Wind aus dem Norden. Jetzt, im Frühjahr, war dieser Wind noch derart eisig, dass kein vernunftbegabtes Wesen es wagte, die Steinwüste von Nord nach Süd zu durchqueren.

Meinen Freunden boten sich somit drei gleichermaßen unmögliche Routen. Die Stimmung war auf einen Tiefpunkt gesunken. Sie hatten meine Fährte verloren, ahnten nur ungefähr, wo ich mich aufhielt, und waren mit drei wenig erfolgversprechenden Alternativen konfrontiert. Die drei Drachenreiter schauten sich frustiert an. Keiner wagte, etwas zu sagen.

»Es gäbe da vielleicht noch einen anderen Weg.«

Gildofals leise Stimme klang vorsichtig, fast unsicher, als wenn er ihr selbst nicht trauen wollte. Abgesehen vom gelegentlichen Fiepen einzelner Vögel und dem leisen Rascheln der Nadelbäume, war es still, so dass Gildofals Bemerkung sowohl von Suman als auch von Gilfea registriert wurde. Beide schauten auf, sagten aber nichts.

»Wir könnten den Pass der silbernen Schatten versuchen«, Gildofals Stimme wurde noch ein wenig vorsichtiger und leiser.

Suman reagierte. Er atmete laut aus. So laut, dass die anderen beiden Drachenreiter vor Schreck zusammenzuckten.

»Ich könnte dir auch mein Schwert geben, damit du mich gleich hier und jetzt erschlägst«, ätzte Suman sarkastisch, »Das wäre jedenfalls angenehmer, als von den Bestien des Passes bei lebendigem Leibe zerfetzt zu werden.«

Gildofal schüttelte ernergisch seinen Kopf: »Nein! Sie werden uns nichts tun.«

»Wie kommst du darauf?«, Gildofals Vorschlag hatte Gilfeas Neugier geweckt. Sein Freund war niemand, der Vorschläge unterbreitete, die einem faktischen Selbstmord gleichkämen. »Warum meinst du, dass uns die freien Wölfe des Nordens nichts antun werden? Es heißt, sie dulden niemanden in ihrem Territorium.«

Die silbernen Schatten – Es waren Rudel freie Wölfe, die die Berge nordwestlich von Blaufurt bewohnten. Sie galten als wild, agressiv und nicht beherrschbar. Niemand hatte es bisher geschafft, sie zu unterwerfen, obwohl es etliche Versuche gegeben hatte. Jeder einzelne war gescheitert. Von denen, die es versuchten, blieb nicht viel mehr zurück, als ein paar abgenagte Knochen. Die freien Wölfe widerstanden der Versuchung, sich einer der Seiten anzuschließen. Sie folgten weder den Versprechungen der Anhänger des Bösen, noch den Verheißungen der Seite der Guten. Die silbernen Schatten hörten nur auf ihre eigene Stimme.

»Er hat es mir gesagt – Victor zu Lebelfallas. ›Suche die Freundschaft derjenigen, die dir verwandt sind. Behandle sie mit Respekt und dir wird Hilfe gewährt.‹ Ich geb zu, es klingt krude. Aber es ist eine Erinnerung, die Victor in meinem Kopf zurückgelassen hat. Der Pass würde uns an die nordwestliche See bringen. An der Küste gibt es Siedlungen der Neovikinger. Vielleicht bietet sich dort eine Möglichkeit auf einem ihrer Schiffe nach Crossar zu gelangen.«

Suman wiegte ratlos seinen Kopf hin und her. »Wölfe also?«, murmelte er und betrachtete seine rechte Hand, die er in eine Wolfspfote verwandelt hatte, »Es käme auf einem Versuch an. Tingi, was meinst du dazu?«

Tingalin, die junge Jagddrachendame, hob ihren Kopf und blinzelte Suman an: »Es klingt gefährlich. Trotzdem glaube ich, dass ihr es versuchen solltet.«

»Ich seh das genau so«, mischte sich Eargilin halb ernsthaft ein, »Und wenn euch die Viecher krumm kommen, grillen wir sie.«

Um seiner Position spielerisch mehr Nachdruck zu verleihen, ließ Eargilin zwei kleinen Feuerbälle aus seinen Nasenlöchern entweichen.

»Hey!«, rief Gildofal begeistert, »Seid wann funktioniert dein Feuer?«

Jeder Drache benötigte eine Weile bevor er in der Lage war, Feuer zu speien. Das Feuerspeien gehörte zu jenen Fähigkeiten, die sich während ihrer vierjährigen Reife entwickelten.

»Ich wollte dich überraschen«, meinte Eargilin larmoyant. Gildofal hörte sofort, dass seinem Drachen noch etwas anderes unter den Krallen brannte.

»Und?«, forderte der Elb seinen Drachen auf, »Da ist doch noch etwas mehr, sonst wärst du sofort angekommen und hättest mir dein Feuer gezeigt. Raus damit.«

»Ich bekomme einen Wachstumschub«, gab Eargilin zu.

»Oh, Schei…!«, knurrte Gildofal, während Gilfea sich ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen konnte.

»Wann ist es soweit?«

»Heute Nacht.«

Wachstumsschübe galten sowohl für die Drachen als auch für deren Seele als sehr spezielles Erlebnis. Niemand konnte vorher sagen, was während eines Schubs passieren würde. Nur das Ergebnis war bekannt. Mit jedem Schub wuchsen Drache und Seele stärker zusammen und verschmolzen mental mehr und mehr zu einer Einheit. Die Drachen nahmen dabei massiv an Größe und Kraft zu. Auch ihre spirituellen Fähigkeiten und ihre Intelligenz wuchs. Dieser Prozess vollzog sich nicht langsam, sondern eruptiv und würde jeden Drachen in den Wahnsinn stürzen, wäre da nicht seine Seele, die ihn während der ganzen Zeit psychisch stützte. Dabei profitierte der Drachenreiter ebenfalls von den Schüben seines Drachens. Auch er wurde mit jedem Schub stärker und ausdauernder. Der Drachenreiter eines ausgewachsenen Drachens war jedem normalen Menschen oder Elben kräftemäßig haushoch überlegen. Die Kehrseite der Geschichte bestand darin, dass die Auswirkungen eines Wachstumsschubs nicht auf den Drachen beschränkt blieben. Manch ein Drachenreiter erlebte dabei unvergessliche Erlebnisse.

Gilfea konnte sich noch ziemlich gut an Mithvals Wachsstumsschübe erinnern und wusste, was zu tun war. Er entschied, nach einem geeigneten Platz für ein Lager zu suchen und dort ihr Zelt aufzuschlagen. Er wählte eine kleine Lichtung, die etwas abseits vom Weg lag und nicht von zufällig vorbeikommenden Reisenden entdeckt wurde, wenn sie nicht explizit danach suchten.

Die drei Drachenreiter bauten schnell ihr großes Zelt am Rande der Lichtung auf, während die Drachen es sich mehr in ihrer Mitte gemütlich machten. Mithval, der einzige ausgewachsene Drache der drei, wusste noch am besten, was Eargilin bevor stand und war entschlossen, seinem Freund zu helfen. Kurz bevor Gildofal in das fertig aufgebaute Zelt ging, um sich auf das Kommende, was dies auch immer sein mochte, vorzubreiten, schaute er noch einmal zu seinem Drachen hinüber. Eargilin bemerkte seinen Blick und nickte ihm aufmunternd zu.

»Mithval meint, bisher hätten noch alle Seelen die Sache überstanden. Es gibt also keinen Grund anzunehmen, dass du das nicht packen wirst. Ganz im Gegenteil, ich weiß, dass du das für uns beide schaffst! Du bist meine Seele!«

Gildofal blinzelte Eargilin noch einmal zu und ging dann ins Zelt. Dort wurde er bereits von Gilfea erwartet. Gilfea versuchte eine aufmunternde Mine zu wahren, was ihm nur bedingt gelang. Er wusste nur zu gut, wie intensiv die Wachstumsschübe eines Drachens von seiner Seele erlebt wurden. Alles, was Gilfea machen konnte, war dafür zu sorgen, dass sich Gildofal entspannte und es einfach passieren ließ. Leider konnte man Suman nicht unbedingt als hilfreich bezeichnen. Der junge Drachenreiter war dermaßen aufgeregt, dass er wie ein angestochenes Huhn im Zelt auf und ab lief. Schließlich wusste er nur zu gut, dass das, was Gildofal diese Nacht bevor stand, ihm ebenfalls bald widerfahren würde.

Gilfea riss sich zusammen und entschied Zuversicht zu verbreiten: »Leute, entspannt euch. Es wird schon alles gut gehen. Wir sind zwar nicht in Daelbar, aber wir sind zu dritt und haben unsere Drachen dabei. Mithval wird auf Eargilin aufpassen, während Tingalin das Gelände bewacht.«

Die anderen beiden Drachenreiter entspannten sich – etwas. Es lohnte sich auch nicht, nervös auf und ab zu laufen, denn es passierte nichts. Jedenfalls nicht in den nächsten zwei Stunden. Gilfea nutzte die Zeit, um etwas von den Nahrungsmitteln zuzubreiten, die sie aus Daelbar mitgenommen hatten. Gildofal lehnte zwar dankend ab. Um etwas Essen zu können, war er viel zu aufgeregt, doch Suman nahm die von Gilfea dargereichten belegten Lembashäppchen dankbar an.

Es waren etwa drei Stunden vergangen, die drei Freunde hatten sich in ihr gemeinsames Nachtlager zurückgezogen, als Gildofal plötzlich zusammenzuckte: »Es beginnt!«

Mehr brachte er nicht über seine Lippen, denn unmittelbar danach wurde er von einem heftigen Krampf durchgeschüttelt. Gildofal verdrehte seine Augen, bäumte sich auf und wandte sich wie ein Aal. Ein gurgelnder Laut entwich seinen Lippen.

Seine Freunde waren zu Stelle. Gilfea, der ähnliches mit Mithvals Wachstumsschüben durchlebt hatte, handelte ruhig und überlegt. In klaren und einfachen Worten sagte er Suman, was dieser machen sollte. In erster Line ging es darum, darauf zu achten, dass sich Gildofal bei seinen Anfällen nicht selbst verletzte. Suman hielt Gildofals Hände, während Gilfea dessen restlichen Körper im Auge behielt. Während eines Wachstumsschubs bestand immer die Gefahr, sich selbst unabsichtlich zu verletzen. Die zahlenmäßig am häufigsten auftretenden Schäden waren gebrochene Fingerknochen, die sich die Drachenreiter beim unkontrollierten um sich schlagen zuzogen. Es hatte, vor etlichen hundert Jahren aber auch schon den Fall gegeben, dass sich sich ein Reiter ein Stück seiner eigenen Zunge abgebissen hatte.

Der erste Anfall ebbte genau so schnell ab, wie er gekommen war. Gildofal wurde ruhiger. Das Gurgeln und Keuchen ging in Stöhnen und tiefe regelmäßige Atemzüge über. Er trat in die zweite Phase des Wachstumsschubs ein. Suman begann zu kichern. Gilfea wusste sofort, was Sumans Aufmerksamkeit erregt hatte und zu dessen amüsierter Reaktion führte.

»Er hat ’n Steifen!«, bemerkte Suman und deutete auf Gildofals Körpermitte.

»Was zu erwarten war«, entgegnete Gilfea, »Das war bei Mithval und mir genau so. Eargilin wird geschlechtsreif. Du solltest nicht zu dicht ran gehen. Es könnte sein, dass…«

»Du meinst, er könnte…«, weiter kam Suman nicht, denn er wurde von Gildofals Stöhnen unterbrochen, das nicht nur laut sondern inzwischen auch eindeutig lüstern klang. Der Drachenreiter hatte seine Augen weit aufgerissen, was nicht hieß, dass er bewusst irgendetwas von dem wahrnahm, was um ihn gerade geschah. Gildofal und Eargilin befanden sich in ihrer eigenen Welt. Hätten Suman und Gilfea aus ihrem Zelt geschaut, hätten sie gesehen, wie sich ein junger Drache mitten auf der Lichtung hin und her wälzte. Sie hätten gesehen, wie sich Arme, Flügel, Rumpf und Beine des Drachen verlängert hätten und gehört, wie die Knochen in der Echse unter lautem Knirschen und Krachen wuchsen. Eargilin durchlebte Höllenqualen, die für ihn nur dadurch erträglich wurden, dass seine Seele ihn emotional hielt und stützte. Eargilin wuchs aber nicht nur, er reifte auch. Aus einem Kinderdrachen wurde ein potenter Jungdrache, dessen sexuelle Lust ebenso schnell wuchs, wie seine Knochen.

Der Wachstumsschub schien seinem Finale entgegen zu streben. Die Windungen, die Gildofal vollführte, nahmen an Stärke und Leidenschaft zu. Die Laute, die der Elb von sich gab, waren wenig elbenhaft, dafür aber um so brunftiger. Suman war gewarnt worden. Mit einem letzten orgiastischen Stöhnlaut befreite sich die aufgestaute Energie des ersten Wachstumsschubs. Von der Lichtung drang ein tiefes ohrenbetäubendes Drachenbrüllen ins Zelt hinein. Gildofal bäumte sich auf und entlud sich … direkt auf Suman.

»Ich hab’ dich ja gewarnt!«, Gilfea grinste schadenfroh und reichte Suman ein Taschentuch, damit sich dieser die Unmengen flüssigen Proteins von Gesicht und Brust wischen konnte.

»Wahnsinn!«, meinte der Gildebruder und Drachenreiter, während er das Tuch nahm und sich säuberte, »Wir haben nicht mal seinen Schwanz angefasst. Laufen diese Wachstumsschübe immer so ab?«

»Nicht immer, aber viele. Mein kleiner Elbenschatz wird jetzt tief und fest bis morgen durchschlafen. Dieser Wachstumsprozess ist für Drache und Seele sehr anstrengend. Schau ihn dir an. Er ist bereits eingeschlafen.«

Suman stutzte. Etwas an Gildofal irritierte ihn: »Bild ich mir das nur ein oder sieht unser Lieblingselb kerliger aus, soweit sowas bei einem Elben überhaubt möglich ist.«

Gilfea schüttelte verneinend den Kopf, um Sumans Frage zu bejahen: »Nein, du täuscht dich nicht. Gildofal ist, so wie du und ich, auch ein Drache. Eargilins Wachstumsschub beschränkt sich nicht auf den Drachen. Gildofal dürfte ein paar ordentliche Muskelpäckchen dazugewonnen haben und auch etwas drachenhafter geworden sein.«

»Drachenhafter?«

»Das was du mit »kerlig« meinst, etwas härtere Gesichtskonturen, schmalere Hüften, flacherer Bauch, breiteres Kreuz. Alles in allem, nichts, was einen hässlicher machen würde.«

»Tiefstapler!«


Der nächste Tag begann für Gildofal mit einem ausgewachsenen Muskelkater und höllischen Kopfschmerzen. Jede einzelne Muskelfaser seines Körpers meldete sich zu Wort. Der erste Laut, den Gildofal von sich gab, war dann auch nicht viel mehr, als eine zufällige Aneinanderreihung von Vokalen: »Uuuuuuaaaaaa!«.

Gilfea war sofort zu Stelle und reichte seinem Freund eine Tasse dampfenden Kräutertees, den ihm Thonfilas vor einiger Zeit für solche Fälle gegeben hatte. Gildofal atmete zuerst nur die Dämpfe durch seine Nase ein, doch nach ein paar Momenten nahm er einen vorsichtigen ersten Schluck.

Der starke Sud entfaltete sofort seine Wirkung. Die Schmerzen in Gildofals Muskeln ließen nach und auch sein Kopf wurde klarer.

»Wie geht es dir?«, wollte Gilfea wissen und strich seinem Freund verliebt über die Wange.

»Seltsam!«, war die Antwort des Elben, »Einerseits fühle ich mich wie ausgekotzt, andererseits habe ich aber auch das Gefühl, Bäume ausreißen zu können.«

»Willkommen im Club!«, lachte Gilfea und küsste seinen Freund.


Die drei Freunde verbrachten einen weiteren Tag in ihrem provisorischem Lager. Gildofal und insbesondere Eargilin sollten sich von dem Wachstumsschub vollständig erholen. Der arme Drache war alles andere als fit. Eargilin meinte, seine Knochen würden sich anfühlen, als ob sie aus Gummi wären. Die Echse döste mehr oder weniger den gesamten Tag vor sich hin. An Fliegen war überhaupt nicht zu denken. Dies änderte sich erst am darauffolgenden Tag. Mit den ersten Sonnenstrahlen erhob sich ein prächtiger, blauschimmernder Jungdrache in die Lüfte, spie vor lauter Lust ein Salve Feuerbälle in den Himmel und begrüßte den Tag mit einem tiefen, kräftigen Drachenbrüllen. Eargilin fühlte sich wie neu geboren und so sah er auch aus. Der Babyspeck, die leichte Pummeligkeit eines Babydrachens war verschwunden. Vor dem Zelt der drei Freunde landete ein schlanker, juveniler Seedrache. Sonne fiel auf seine Schuppen, verfing sich in ihnen und ließ sie erstrahlen. Mit weit gespreizten Schwingen erwartete Eargilin seine Seele. Stolz und glücklich trat Gildofal aus dem Zelt. Dies war sein Drache – Eargilin – Die blaue Flamme des Meeres.

Mit Eargilins Wachstumsschub war der Zeitplan, mit der die drei Drachenreiter mich verfolgten, um drei zusätzliche Tage in Verzug geraten. Es sollte nicht bei diesen bleiben. Der Pass der »silbernen Schatten« lag unter optimalen Bedingungen dreißig Tage Fußmarsch entfernt. Nun stellten drei junge Drachenreiter, die noch grün hinter den Ohren waren, und drei Jungdrachen nicht unbedingt optimale Bedingungen dar. Gildofal schätzte, dass sie ingesamt eher 40 Tage unterwegs sein würden. Es wurden 52. Nach zwei Wochen Wanderung, während derer sie gut vorankamen, zwang sie ein weiterer Wachstumsschub Eargilins zu einer Rast von drei Tagen. Der zweite Wachstumsschub des Drachens fiel für Drache und Seele wesentlich anstrengender aus, als der erste. Gildofal wurde von Schmerzen und Fieberträumen geschüttelt. Einen ganzen Tag lag er auf seiner Liege und ergab sich der Agonie. Suman und Gilfea konnten nichts anderes tun, als ihm den Schweiß von der Stirn zu tupfen und über ihn zu wachen. Während der ganzen Zeit war von Eargilin nichts zu sehen und zu hören. Der Drache hatte sich in die nahen Bergwälder verkrochen und tauchte erst am Abend des zweiten Tages wieder auf.

Der zweite Wachstumsschub, obwohl stärker und intensiver, brachte keine so drastischen Veränderungen mit sich, wie der erste. Es schien fast so, als ob mit dem ersten Anfall das Fundament für Eargilin gelegt worden war. Größe, Körperbau, die ganze zukünfte Gestalt Eargilins wurde dabei festgelegt. Der zweite Schub füllte diese Anlagen mit Substanz. Eargilin nahm etwas an Größe und Kraft zu. Er wurde agiler, seine Sehkraft schien sich vervielfacht zu haben. Und auch Gildofal veränderte sich. Suman und Gilfea waren sich sicher, noch nie einen derart muskulösen Elben gesehen zu haben, wie Gildofal.

Der Pass der silbernen Schatten

»Ich halte Gebirge für überbewertete Landschaftsdekoration, die zeitweise wohl en vouge waren.«

Viertelgott Zoonx der Zoonixi zum Thema »Weltgestaltung«

Am Mittag des zweiundfünfzigsten Tages erreichten Gilfea, Gildofal und Suman samt ihrer Drachen den Fuß des Schattenmassivs. Es war ein Teil des Gebirgszugs, welcher sich von weit aus dem Süden Harraslands bis hoch zum fernen Rand des nordwestlichen Eismeeres hinzog. Ein schneebedeckter Gipfel leuchtete in der Mittagssonne, nachdem der Berg die Tage davor permanent in Wolken gehüllt war. Grau-blauer Fels dominierte die Landschaft. Angsteinflößend ragten hohe Zinnen weit zum Himmel hinauf. Von Schatten und Dunkelheit erfüllte Einschnitte zerfurchten den Berg. Hier, jenseits der nördlichen Provinz Goldors, galten die Höhen als unüberwindlich. Seine Hänge waren steil, felsig und nur von spärlicher Vegetation bedeckt.

»Hier lang!«, rief Gildofal, dessen Stimme am Fels widerhallte und ihr einen schrillen und krächzenden Klang verlieh, »Dort müsste eine Klamm sein. Ich erkenne die Formation aus Victor zu Lebelfallas Erinnerungen.«

Und tatsächlich, einige wenige hundert Meter weiter öffnete sich der Fels zu einer schmalen Schlucht, aus der ein Gebirgsbach herausschoss.

»Ist dies der Weg?«, fragte Suman. Gildofal nickte nachdenklich. Die drei Freunde standen vor einem Problem. Die Klamm war bestenfalls vier, fünf Meter breit. Es gab sogar Bereiche, an denen der Fels noch enger zusammen stand und sich fast über ihren Köpfen schloss. Die Drachen würden nicht folgen können und selbst für ihre Reiter schien die Klamm kaum begehbar zu sein. Dafür war der Bach, der der Klamm entströmte, viel zu reißend. Während der Berg von Wolken umhüllt war, musste sich deren Feuchtigkeit abgeregnet haben. Wenn es einen Weg durch die Schlucht gab, dann war dieser zur Zeit von reißendem, eiskaltem Wasser überflutet.

Die Vorfolgungsjagd der Drachenreiter schien ein jähes Ende gefunden zu haben. Für die Drachen, die sich vielleicht noch am Fels festkrallen konnten, war die Klamm zu eng. Für ihre Reiter war der Bach in ihr zu reißend.

»Gibt es keinen anderen Weg?«, fragt Suman Gildofal.

»Ich weiß es nicht. In Victors Erinnerungen gibt es nur diesen Weg. Hier sollte nur ein kleines Rinnsal fließen«, entgegnete Gildofal frustriert.

»Und wenn uns Mithval einen nach dem anderen zum Pass trägt?«,

Eargilin, doch vor allen Tingalen, mochten zu jung sein, um ihre Reiter den Berg hinauf zu tragen, doch Mithval war kräftig genug. Er würde die drei Flüge spielend absolvieren können.

Mithval schaute den Berg hinauf: »Ich müsste mit Gildofal zuerst fliegen. Er kennt das Gelände aus Lebelfallas Erinnerungen und kann einen Landeplatz ausmachen. Als nächstes hole ich Suman, dann dich. Eargilin wird bis dahin bei dir bleiben.«

Gilfea schaute zu Gildofal, Gildofal schaute zu Suman, dann zu Mithval: »Warum nicht? Versuchen wir es.«

Gilfea warf noch einen Blick den Berg hinauf und nickte: »Tun wir’s!«

Gildofal kletterte auf Mithval hinauf und nahm in Gilfeas Sattel Platz. Der große Drache entfaltete seine Flügel. Mit zwei kräftigen Schlägen war er bereits hoch über Sumans und Gilfeas Köpfen. Gilfea war beeindruckt, seinen Drachen aus dieser Perspektive zu sehen. Drei Sekunden später war Mithval nur noch ein kleiner dunkler Punkt am Himmel. Dort kreiste er lange Zeit umher, flog gelegentlich dicht an den Fels heran und setzte sogar dreimal zur Landung an. Das Gelände schien schwierig zu sein. Soweit Gilfea sehen konnte, versuchte Mithval an einem Felsvorsprung halt zu finden, doch der Stein zerbrach unter der Kraft seiner Krallen, so dass einzelne Felsbrocken in Sumans und Gilfeas Nähe herabregneten.

Erst nach zwei weiteren Versuchen fanden Mithval und Gildofal einen Ort, der geeignet schien, denn zwei Minuten später setzte Gilfeas Drache zur Landung an. Gildofal war nicht mehr an Bord.

Danach ging alles sehr schnell. Als nächstes folgte Suman, drei Minuten später Gilfea. Aus der Höhe betrachtet, zeigte der Berg einen vollkommen anderen Charakter und enthüllte seine wahre Natur. Was am Fuß wie eine kompakte Masse Fels aussah, präsentierte sich als eine zerfurchtete und zerklüftete Felswüste. Enge, dunkle und vermutlich sehr tiefe Schluchten durchzogen ebenso den Berg, wie gleißend weiße Gletscher riesige Hochplateus bildeten. Es war ein atemberaubender Anblick.

Gilfea ahnte, warum Gildofal und Mithval so lange gebraucht hatten, einen passenden Landeplatz zu finden. So hart wie der Fels waren auch die Kontraste. Hier gleißend Helligkeit, dort schwarze Dunkelheit. Je nachdem, ob die Sonne mit ihren Strahlen einen Ort erreichen konnte. In beiden Fällen war es fast unmöglich Entfernungen und Strukturen richtig ausmachen zu können. Es sei denn, man kam sehr dicht an den Fels heran. Mithval war bei der Erkundung mit Gildofal bei jedem Anflug in Gefahr gelaufen, mit einem Felsvorsprung zu kollidieren, der durch ungünstige Lichtverhältnisse erst aus nächster Nähe sichtbar wurde. Nach etlichen erfolglosen Anläufen hatte Gildofal dann ein Plateau ausgemacht, das groß und eben genug war, dass Drachen und Reiter darauf sicher landen konnten. Trotzdem war es alles andere als groß. Man musste aufpassen, wohin man trat oder man stürzte etliche hundert Meter in den Tod. Es war auch kein wirklich gemütlicher Ort. Ein scharfer, kalter Wind wehte vom Pass herab.

»Seht, dort geht es hinauf zum Pass«, erläuterte Gildofal und zeigte auf einen Einschnitt im Gebirge, nachdem sie alle sechs wieder zusammen waren.

»Müssen wir hochklettern? Könnte uns Mithval nicht einfach hinüber tragen?«

»Nein, der Berg ist zu hoch. Die Luft ist zu dünn, als dass ich euch tragen könnte. Ich befürchte, ihr müsst sogar eure Satteltaschen selbst tragen.«

Das nördliche Teil des Schattenmassiv galt als einer der höchsten Gebirgszüge der bekannten Welt. Niemand, weder Mensch, Zwerg noch Elb, konnte diese Berge überqueren. Die Luft war zu dünn, das Wetter mörderisch und der Fels tückisch. Jeder, der es versuchte, war gescheitert. Die meisten hatten ihren Übermut sogar mit ihrem Leben bezahlt. Der einzige Weg war der Pass. In Wirklichkeit war es gar kein echter Pass, sondern viel mehr ein schmaler Durchstich, eine dunkle enge Schlucht von wenigen Metern Breite in die noch nie das Sonnenlicht vorgedrungen war. Für die Drachen war die Schlucht unpassierbar. Sie war viel zu eng, als dass die Echsen hindurchfliegen und zu lang, als dass sie hindurchgehen könnten. Drachen waren alles andere als gute Läufer. Es gab keine andere Möglichkeit, als sich zu trennen.

Nachdem die drei Drachenreiter und Drachen die Lage untereinander besprochen hatten, wurde entschieden, die Wanderung erst am nächsten Tag fortzusetzen. Die Drachen sollten sich an die dünne Luft gewöhnen. Außerdem musste das Gepäck abgeladen werden. Bis auf Gilfeas und Gildofals Sättel würden die Drachen nichts tragen können.

»Wir werden uns wohl von einigen Dingen trennen müssen«, bemerkte Suman nachdenklich, als er den Berg Gepäck sah, mit dem die drei Reiter unterwegs waren, »Es ist viel zuviel, als dass wir es mitschleppen könnten.«

Gepäck zurück zu lassen war ein herber Rückschlag. Es waren gute und nützliche Dinge, die die drei Reiter mit sich führten. Sich von ihnen zutrennen, war schwer, denn jedes Teil war vorher mit Bedacht ausgewählt worden und konnte eigentlich nicht entbehrt werden. Etwas zurück zu lassen, konnte sich möglicherweise im weiteren Verlauf der Reise bitterlich rächen.

Schweren Herzens begannen Suman, Gildofal und Gilfea die Sachen auf drei Haufen zu verteilen. Dinge, auf die man nicht verzichten konnte, landeten auf dem ersten, Dinge auf die man verzichten konnte auf dem zweiten und Dinge, bei denen das nicht so eindeutig zu sagen war, auf dem dritten und letzten Haufen. Jener stellte sich am Ende als der Größte hinaus. Es blieb also nichts anderes übrig, als ihn gemeinsam durchzugehen.

»Seile?«, Suman hielt drei Bündel Elbenseil in seiner Hand.

»Wir sind im Gebirge. Vielleicht müssen wir klettern.«

Suman quittierte Gildofals Antwort mit einem Stirnrunzeln und legte das Seil zur Seite. Die Sache könnte langwierig werden.

Jeder einzelne Gegenstand wurde begutachtet und diskutiert. Zwei Drittel des ungeklärten Gepäcks gelangten so auf den Haufen der Dinge, die man leider zurücklassen musste. Doch ein Drittel entpuppte sich als kniffelig. Es waren Dinge, die man nur schwerlich entbehren konnte, insbesondere im gefährlichen Hochgebirge. Die drei schauten lange auf Ausrüstungsteile. Man war sich einig, dass wengistens ein Notzelt mitgenommen werden müsste. Änliches galt für Schlafsäcke. Immerhin würde man auf einen verzichten können, wenn man die verleibenden zwei zusammen knüpfte.

So ging es weiter. Nach gut zwei Stunden hatten die drei Drachenreiter ihr Gepäck auf ein absolutes Mindestmaß reduziert. Die zurückbleibenden Ausrüstungsgegenstände wurden in zwei Elbendecken gehüllt, zu einem Paket zusammengebunden, in eine Felskuhle gelegt und mit schweren Gesteinsbrocken gesichert. Die Decken würden das Eindringen von Feuchtigkeit verhindern und neugierige Tiere abhalten. Vieleicht bot sich irgendwann die Möglichkeit, die Sachen wieder abzuholen.


Man nächtigte zu dritt in den zwei zusammengebundenen Schlafsäcken in einem Notzelt. Draußen heulte der Wind. Die Plane des Zeltes flatterte laut und wild, schützte aber doch vor der Kälte der Nacht und hielt seine Insassen warm. Dicht aneinandergepresst versuchten die drei Drachenreiter zu schlafen und etwas Energie für den nächsten Tag zu tanken.

Etwas abseits des Zelts hatten sich Mithval, Tingalen und Eargilin in eine Felsnische verkrochen. Der große Mithrildrache hatte seine Schwingen über seine Freunde ausgebreitet. Es war ein ungemütlicher und lebensfeindlicher Ort, an die es die Truppe verschlagen hatte.

Der nächste Tag begann so, wie der vorherige aufgehört hatte, mit Wind. Eisig und schneidend, bis dass die Augen tränten und das Einatmen in der Nase schmerzte, blies er um den Berg. Nach einem kurzen und kargen Frühstück, bestehend aus Lembas und Wasser, war es so weit. Die Drachen waren bereit für den Abflug.

»Wir sehen uns auf der anderen Seite!«

Mit diesen Worten Mithvals erhoben sich die drei Drachen in die Lüfte. Ihre Reiter schauten ihnen nach, bis die Echsen aus ihrem Blickfeld verschwunden waren. Schweigend wurden drei schwere Rucksäcke geschultert. Der mühsame Marsch zum Pass begann.


Die ersten Kilometer des Aufstiegs gingen sich leichter an als erwartet. Das Gelände war zwar felsig und uneben, doch war der Untergrund fest und die Steigung nur moderat. Man kam gut voran und hatte nach einer Stunde deutlich mehr Wegstrecke hinter sich gelassen, als man zu hoffen wagte. Nach etwa zwei Stunden begann sich das Gelände langsam zu ändern, es wurde steiler und der Untergrund lockerer. Immer häufiger musste man darauf achten, wohin man seinen Schritt setzte, um keine Gesteinsbrocken los zu treten. Was anfänglich ein breiter Weg war, schrumpfte mehr und mehr auf einen schmalen Pfad zusammen, der sich immer dichter an den Fels schmiegte. Konnten die drei Freunde zu Beginn noch locker nebeneinander gehen, stiefelten sie nun vorsichtig hintereinander her. Jenseits des Pfades fiel das Gelände steil ab und wurde mit jedem Meter steiler, bis der Pfad direkt entlang eines tiefen Abgrunds verlief. Die drei Reiter drückten sich so gut es ging an den Fels, denn ein falscher Schritt hätte fatale Folgen nach sich gezogen.

Immerhin gab es einen Pfad. Und so, wie er sich den Berg entlang zog, war dieser Pfad nicht natürlichen Ursprungs, sondern von Zwergen- oder Menschenhand angelegt worden. Dem erbärmlichen Zustand nach zu schließen, dürfte der Weg seine letzte formende Hand vor ein paar hundert Jahren gesehen haben.

Weitere drei Stunden vergingen. Trotz der herrschenden Kälte und des ewig wehenden Winds wurde es Suman und Gilfea heiß. Gildofal, als Elb, steckte die Anstrengungen wesentlich besser weg, musste sich aber dem Tempo seiner beiden Freunde anpassen. Es war Zeit für eine Pause. Die beiden Menschen mussten sich erholen. Als man zu einer Kehre kam, an der der Pfad ein wenig breiter war, forderte Gildofal eine Rast ein. Niemand widersprach ihm. Schweigend und an die Felswand gekauert, um sich vor dem Wind zu schützen, tranken die Drachenreiter etwas Wasser aus ihren Schläuchen und verzehrten zwei Lembasbrote. Trotz der Müdigkeit, die allen in den Knochen steckte, gehörte der Rastplatz nicht zu einem Ort, an dem man längere Zeit verweilen wollte. Eine halbe Stunde später war der Trupp wieder auf den Beinen.

Der Pfad schien kein Ende zu nehmen. Hinter jeder Biegung setzte er sich unerbittlich fort. Ab und zu schaute Gilfea zum Berg hinauf. Drohend und unheilvoll strahlte der schneebedeckte Gipfel in der Sonne. Kamen sie dem Gipfel näher? Gilfea hatte nicht das Gefühl. Der Weg stieg zwar ununterbrochen an, doch hatte er nicht den Eindruck, wirklich an Höhe zu gewinnen. Dies änderte sich erst, als sich nach etlichen Kehren der Weg entlang eines Überhangs führte, der einen weiten Blick über das Tal freigab. Gilfea entdeckte das Plateau, von dem sie am Morgen aufgebrochen waren. Es lag weit, sehr weit unterhalb ihrer momentanen Position. Gilfea schätzte die Entfernung auf gut über 1500 Meter. Offenbar waren sie doch voran gekommen und hatten an Höhe gewonnen, wenn auch langsam und sehr mühsam.

Nach diesem Wegpunkt änderte sich der Charakter des Pfades ein weiteres mal. Er wurde etwas breiter und weniger steinig, dafür aber dunkler und schattiger. Links und rechts türmten sich Felsspitzen auf, die das Licht der Sonne zerstückelten. Gleißend helle Wegstücke wechselten sich mit sehr dunklen ab und ermüdeten die Augen, die sich nur schwer dem permanten Wechsel von hell auf dunkel anpassen wollten. Das Gelände wurde immer zerklüfteter. Hier und da konnte man Wasser plätschern hören, aber sehen konnte man es nicht. Nach einem etwa hundert Meter langen Stück über eine von der Sonne hell erleuchtete Schotterstrecke, zog sich der Pfad in einen dunken Einschnitt zurück und endete abrupt an einem Wasserfall.

»Ein Sackgasse. Und nu?«, knurrte Suman erschöpft und schaute zu Gildofal.

Gildofal zuckte mit seinen Schultern. Ein Wasserfall kam in Victors Erinnerung nicht vor, der Pfad als solches allerdings schon. Er musste hier irgendwo weiter gehen. Der Elb schaute sich um. In der Felsnische war es sehr dunkel, fast Nacht, was Gildofal als Elb nicht wirklich behinderte. Trotzdem hätte er darauf achten sollen, wo er hin trat. Vom Sprühnebel des Wasserfalls durchnäßt, hatten sich glitschige Algen auf dem Fels angesiedelt, auf denen Gildofal auch prompt ausrutschte. Er hatte Glück im Unglück und fiel nach vorne, durch den Wasserfall hindurch. Hinter dem Wasservorhang versteckte sich ein Durchstich, nicht breiter als Gildofal selbst. Von da aus ging es durch einen engen Felsengang bis zu einer in den Fels geschlagenen Treppe. Von da an ging es steil bergauf. Die drei Drachenreiter füllten ihre Schläuche am Wasserfall und begannen mit dem Aufstieg. Stufe um Stufe kletterten sie dem Pass entgegen.

Die Treppe hatte man im Zickzack in den Berg getrieben. An ihren Wendepunkten befanden sich kleine Absätze, die mehr als einer Person Platz boten. Ansonsten war die Treppe so schmal, dass man sehr genau aufpassen musste, wohin man trat. Hinzu kam, dass sich das Bauwerk in einem erbärmlichen Zustand befand. Etliche Stufen waren vom Frost brüchig geworden und zerbröselten, sobald man einen Fuß auf sie setzte. Gildofal ging voran. Als Elb wog er fast nichts und besaß die besten Reflexe. Brach eine Stufe unter ihm zusammen, behielt er trotzdem die Balance und stolperte nicht.

»Was für eine blöde Idee diesen Weg zu wählen«, jammerte Gilfea, »Ach, was ist eigentlich mit den Wölfen? Ich habe noch keinen gesehen oder gehört.«

Gildofal wartete bis zur nächsten Kehre, hielt dort an und drehte sich zu Suman und Gilfea um. Bevor er Gilfea antwortete, wechselte Gildofal einen wissenden Blick mit Suman.

»Sie sind da!«, erklärte Gildofal sachlich, »Sie beobachten uns, seit wir den Wasserfall passiert haben. Wenn mich meine Nase nicht täuscht, markiert er die Grenze ihres Territoriums. Siehst du den Felsbogen dort oben?«

Gildofal zeigte mit seiner rechten Hand zum Pass hoch. Gilfeas Blick fixierte den Punkt, auf den sein Freund zeigte. Zwölf weitere Kehren höher endete die Treppe. Dort gab es einen Einschnitt im Fels, der wie ein Torbogen aussah.

»Dort erwarten sie uns.«

Gilfeas Blick ging sofort in Richtung des Torbogens. Wölfe? Gilfea hatte Angst vor großen Hunden insbesondere vor Wölfen. Dass sein Freund ein Werwolf war, spielte dabei keine Rolle. In Gildofals oder Sumans Nähe hatte er sich nie gefürchtet, obwohl die beiden in ihrer Wolfsgestalt furchteinflößend sein konnten. Er hatte selbst erlebt, wie ein Gildebruder von Angst gepackt das Weite suchte. Simian G’Tar, einer der Absolventen, der von Erogal als Personal für das Gildehaus in Daelbar geschickt wurde, wollte sich die Drachen in ihrer Höhle anschauen und war dort über Suman in Wolfsform gestolpert. Der junge Simian war schreiend aus der Halle gerannt. Gilfea konnte seine Angst verstehen. Damals, als er noch ein Kind war, gab es in seinem Dorf Bauern mit zwei großen Wachhunden. Die zwei Monster, so kamen sie Gilfea jedenfalls vor, schienen es auf ihn abgesehen zu haben. Immer wenn ihn Besorgungen, die er für seinen Lehrer machte, in die Nähe des Hofes brachte, kamen die beiden Hunde angeschossen. Sie bellten und knurrten ihn an, bis der Bauer nach ihnen rief. »Wölfe?«, dachte Gilfea bei sich, »Wenn das mal gut geht…«

Die Wölfe waren schlau. Die zwölf Kehren bis zum Torbogen waren anstrengend. Jeder Fremde, der es wagte ihr Territorium zu durchqueren, musste die Stufen erklimmen und kam erschöpft und geschwächt bei ihnen an. Suman und Gilfea ging es nicht anders. Das stundenlange klettern und wandern forderte seinen Preis. Die dünne Luft der Berge tat ihr übriges. Nur Gildofal mit seiner elbischen Biologie war noch fit und frisch.

Als Suman die letzte Stufe erklommen hatte, hing ihm die Zunge bis zu den Kniekehlen. Gilfea ging es nicht besser. Erschöpft und ausgepowert ließen sich die beiden Drachenreiter zu Boden fallen. Ihre Umgebung nahmen sie überhaupt nicht wahr. Dass der natürliche Torbogen den Weg zu einer Art Felsenhalle bildete, registrierten die beiden nur nebenbei. Erst als sich Gildofal neben sie stellte und ihnen mit gepresster Stimmte zuraunte, »Egal was gleich passiert. Rührt euch nicht!«, flammte in ihnen ein Funken Wachsamkeit auf. Gilfea und Suman schauten auf. Vor ihnen hatte sich ein riesiger, wilder Wolf aufgebaut, während eine ganze Meute kleiner Wölfe die drei Drachenreiter langsam einkreiste.

Silberfels

»Männer? Ganz nett im Bett, aber sonst zu nix zu gebrauchen«

Xulula Oberamazone der östlichen See

Gildofals Befehl sich nicht zu rühren verursachte bei Gilfea nur sarkastische Amüsiertheit. Eingekreist von einer Meute tödlicher Wölfe verspürte Gilfea auch nicht die geringste Neigung auch nur mit einem einzigen Muskel zu zucken. Ganz im Gegenteil. Als der große, böse Wolf direkt vor ihnen sein Maul aufriss, dabei vier extrem lange, speicheltriefende Fänge entblößte, seinen Kopf in den Nacken warf und losheulte, musste Mithvals Seele seine ganze Kraft darauf konzentrieren, nicht den Schließmuskel seiner Blase zu entspannen.

»Ihr seid in unser Reich eingedrungen!«, knurrte der Wolf, der offensichtlich der Anführer der Meute war. Er war etwas größer als die anderen. Sein Fell trug eine grau, silbern, schwarze Zeichnung, die stark der der Felsen des Gebirges glich, »Seid ihr bereit, den Preis für euer Verbrechen zu zahlen?«

Gilfea wähnte sich in einem Albtraum. Von den Worten des Wolfs verstand er kein Wort. Er ahnte nicht einmal, dass es Worte waren, die der Schnauze des Monsters entwichen. Für ihn klang es nur wie aggressives Gebrüll. Suman und Gildofal hingegen verstanden jedes einzelne Wort, obwohl der Leitwolf einen sehr harten Akzent pflegte, was überraschend genug war. Tiere, von Drachen und ähnlichen magischen Wesen abgesehen, besaßen ihres Wissens nach keine Sprache. Dieses Wolfsrudel bildete offenbar eine Ausnahme.

Vor Panik beging Gilfea einen schweren Fehler. Durch die starre Haltung, in der er verharrte, bekam er einen Wadenkrampf. Gilfea sprang auf und wollte das betroffene Bein ausschütteln und darauf herum hüpfen. Doch soweit kam er gar nicht. Aus heiteren Himmel sprang ihn ein Wolf an und riss ihn zu Boden. Ein weit aufgerissenes Maul mit dolchartigen Eckzähnen wenige Zentimeter von seiner Kehle entfernt hielt ihn Schach.

»Rühr dich nicht!«, raunte Gildofal Gilfea aus dem Mundwinkel zu, ohne dabei auch nur ein Blinzeln lang den Leitwolf aus den Augen zu verlieren. Der stand lauerend vor ihm. In seinen Augen loderte Hass und Verachtung.

»Wir sind nicht eure Feinde!«

Gildofal hatte seine Stimmbänder und seinen Kehlkopf so verändert, dass der Wolf ihn verstehen konnte. Gildofal hatte seinen ganzen Körper unter Spannung gesetzt. Ein Zucken des Wolfes würde genügen und er würde sich augenblicklich in einen Wolf verwandeln.

»Lüge!«, knurrte der Wolf, »Ihr Zweibeiner seid alle unsere Feinde. Ihr jagt uns. Ihr vertreibt uns aus unseren Landen. Ihr hetzt uns in die kalten Bergen. Es gibt zu wenig Nahrung. Doch fressen müssen wir! Es sind jetzt unsere Berge und unser Gesetz.«

Niemand würde auf die Idee kommen, von einem Wolf überragende rhetorische Fähigkeiten zu erwarten. Trotzdem empfand Gildofal das Geknurre des Wolfs wenig verständlich. Obendrein klang das Gerede von Nahrung, Feinden, Fressen und Gesezt wenig verheißungsvoll, eher besorgniserregend. Die ganze Situation wurde von Sekunde zu Sekunde merkwürdiger, denn nachdem der Leitwolf seinen Spruch abgelassen hatte, passierte nichts. Er stand knurrend und zähnefletschend vor Gildofal und tat sonst nichts. Rein gar nichts.

»Und?«, fragte der Elb schließlich.

»Und was?«, fragte der Wolf.

»Du sagtest, dass dies hier eure Berge seien und euer Gesetz«, erläuterte Gildofal geduldig, »Und ich fragte: ›Und?‹. Wie geht es jetzt weiter. Wir drei sind Reisende. Wir haben euch nichts getan und haben es auch nicht vor. Wir möchten nur den Pass überqueren. In Frieden und Freundschaft.«

Zur Verblüffung Gildofals schien der Wolf unsicher zu sein. Er knurrte zwar noch betont aggressiv, doch schien er damit eher Unsicherheit überspielen zu wollen. Als wenn er nicht wissen würde, was nun zu tun sei.

»Du kennst das Gesetz!«, knurrte ein anderer, etwas kleinerer, aber jüngerer Wolf, »Es sind Zweibeiner. Sie sind in unser Land eingedrungen. Ein Biss und wir haben Nahrung für viele Tage!«

»Ich kenne das Gesetz!«, keifte der Leitwolf, »Aber diese Zweibeiner sind anders, als die die uns jagen!«

»Das Gesetz ist eindeutig!«, knurrte der andere Wolf ungeduldig, »Warum zögerst du? «

»Weil diese uns nichts getan haben! Sie haben uns nicht gejagt. Sie sind offen und nicht heimlich in unser Land gekommen.«

»Dann fordere sie auf, um ihr Leben zu kämpfen. So lautet das Gesetz!«, knurrte der andere Wolf und fügte mit einem verschlagenen Unterton in seiner Stimme fort: »Oder lass mich es tun, Häuptling!«

»Nein! Ich bin der Anführer des Rudels«, bellte der Anführer des Rudels und zu Gildofal gewandt, »Du hast es gehört. Ihr drei müsst mit uns kämpfen. Dies verlangt das Gesetz, an das ich gebunden bin.«

Gidofal verstand. Der Leitwolf schien ein intelligentes Tier zu sein, doch stand er unter Druck. Der andere, junge Wolf hatte Ambitionen auf die Rudelführerschaft und würde seinen Leitwolf sofort herausfordern, würde dieser Schwächen zeigen. Gildofal schaute sich die beiden Tiere genau an. Der Leitwolf schien nicht wesentlich älter zu sein, als sein rudelinterner Gegner, aber weiser. Er hatte ein kluges, aufgewecktes Gesicht, ganz im Gegenteil zum anderen Wolf, der eher verschlagen, lauernd und hinterhältig wirkte. Gildofal war überzeugt, dass der Leitwolf nur das Wohl seines Rudels im Sinn hatte, wohingegen die Motivation des anderen zweifelhaft und uneindeutig war.

Gildofal entschied, dem Leitwolf zu helfen: »Ihr wollt mit jedem einzelnen von uns kämpfen?«

»Ja! Auf Leben und Tod!«

»Ich mach dir einen Vorschlag«, entgegnete Gildofal und hoffte, dass Suman seine Idee begriff und Gilfea, der vom gesamten Gespräch nicht das Geringste verstanden haben dürfte, nicht durchdrehte, »Ich bin Gildofal. Ich kämpfe mit einem von euch. Verliert ihr, gewährt ihr uns eine sichere Passage. Verliere ich, ergeben wir uns.«

Der große Leitwolf näherte sich Gildofal und schaute ihm direkt in die Augen. Für den Bruchteil einer Sekunde wechselte der Elb seine Elbenaugen zu Wolfsaugen und hoffte, dass der Leitwolf begriff, was und wer er war.

»So sei es!«, verkündete der Leitwolf laut, »Ihr habt es gehört! Der fremde Zweibeiner ist bereit mit einem von uns um sein und das Leben seiner Gefährten zu kämpfen. Wer von euch nimmt die Herausforderung an? Oder soll ich, Silberfels, gegen den Fremden antreten?«

Sofort begann ein Teil der Meute »Steinschlag! Steinschlag! Steinschlag!« zu rufen. Stolz und von seiner Überlegenheit überzeugt, trottete genau jener Wolf zu Gildofal, der sich bereits die ganze Zeit als Scharfmacher präsentiert hatte. Gildofal war nicht überrascht.

»Bist du bereit zu sterben?«, verhöhnte der Wolf, der offenbar Steinschlag hieß, den Elb, und leckte sich mit seiner langen Zunge über die Zähne.

»Du erlaubst, dass ich mein Gepäck und meine Waffen ablege?«, fragte Gildofal gelassen.

»Sicher!«, antwortete Steinschlag amüsiert von der Dummheit des Zweibeiners, »Lass dir ruhig Zeit und bereite dich auf das Unvermeidliche vor. Weißt du, ich werde dich nicht gleich töten. Dafür hasse ich euch Zweibeiner viel zu sehr. Ich werde dich langsam zerfetzen, dass du mich anbettelst, dir die Kehle durchzubeißen.«

Gildofal schüttelte innerlich seinen Kopf. Steinschlag war ein bösartiges, von Hass zerfressenes Tier.

»Bist du bereit zu sterben?«, knurrte Steinschlag.

»Bist du es?«, entgegnete Gildofal und ließ sich nach vorne auf seine Arme fallen. Noch im Flug verwandelte er sich in seine Wolfsform. Steinschlag sprang entsetzt zur Seite. Gildofal war ein Riese von einem Wolf, gut doppelt so groß wie Silberfels. Das hinderte aber Steinschlag nicht daran ihn anzugreifen. Kaum hatte er den ersten Schock überwunden, dass Gildofal wohl doch nicht die leichte Beute sein würde, die er sich ausgerechnet hatte, sprang er laut »Betrüger« brüllend auf Gildofal zu.

Gildofal wusste, dass der Kampf nicht leicht werden würde. Er war zwar mehr als doppelt so groß als sein Gegner, dafür hatte der aber wesentlich mehr Erfahrung, wie man als Wolf kämpft. Seinen Plan, Gildofal häppchenweise zu töten, hatte Steinschlag sofort fallen lassen. Stattdessen zielte er direkt auf Gildofals Kehle. Vor Gilfeas und Sumans Augen, sowie denen der gesamten Meute, spielte sich ein Kampf zweier wilder Wölfe ab. Ein großes bellendes, keifendes Fellknäul rollte über das Plateau.

Suman, der als Lycanthrop natürlich jedes Wort verstanden hatte, welches zwischen Gildofal und den Wölfen gewechselt wurde, verhielt sich still, war aber bereit notfalls in das Geschehen einzugreifen. Der Wolf, der ihn eigentlich in Schach halten sollte, folgte, wie die meisten Mitglieder des Rudels, dem Kampf zwischen Gildofal und Steinschlag. Nur Gilfea verstand nichts und musste stattdessen mitansehen, wie sein Freund und Geliebter mit einem wilden Wolf kämpfte.

Minuten vergingen in denen weder das Kampfgejaule noch die Kampfkraft der beiden Kontrahenten sichtbar abnahm. Die Situation schien sich eher zuzuspitzen, als sich zum weiß, schwarz und grau-silber rot zur Farbe der Felle mischte. Wenigsten einer der beiden Wölfe war verletzt und blutete. Weder Gildofal noch Steinschlag gelang es ernsthaft zu Punkten, schließlich war beiden klar, dass es um mehr ging, als nur um verletzten Stolz durch einen verlorenen Kampf.

Gildofal ahnte, was den Kampf entscheiden würde. Sein Gegner war ihm ebenbürtig. Durch Kampftechnik würde es zu keiner Entscheidung kommen. Es würde derjenige verlieren, der als erster ermüdete und an Kraft verlor. Steinschlag wusste, dass er das sein würde. Er war von einem leichten Kampf ausgegangen, Menschen und Elben waren eine leichte Beute. Man konnte sie zwar nicht so leicht erlegen, wie Orks, doch immer noch leicht genug, dass man eigentlich kein Risiko einging. Doch dieser Elb war anders. Er war ein Zauberer, ein Betrüger, der seine Form wechseln konnte. Steinschlag ahnte, dass es ihm an den Kragen gehen würde, sollte ihm nichts einfallen.

Steinschlag kam ein Gedanke »Schiefergrau« Schiefergrau war zwar nicht unbedingt Freund, doch fürchtete er Steinschlag genug, dass er ihm helfen würde. Er musste den Kampf nur in Schiefergraus Nähe verlagern. Mit ein paar gezielten Ausweichmanövern sorgte er dafür, dass sich der Kampf in diese Richtung verlagerte. Im richtigen Moment warf Steinschlag Schiefergrau einen vielsagenden Blick zu. Der Wolf blinzelte. Er verstand, was Steinschlag von ihm wollte. Er hasste den Gedanken den Kampf zu manipulieren, doch er würde es tun. Steinschlag war der kommende Leitwolf. Sollte es soweit sein, wäre er Schiefergrau etwas schuldig. Für einen Wolf, der eher schächer und in der Rangordnung eher im unteren Drittel zu finden war, konnte solch ein kleiner Gefallen überlebensnotwendig sein.

Schiefergrau ahnte, was Steinschlag plante. Er würde einen Ausfall machen, der ihn und Gildofal über Schiefergrau stolpern ließ. Im Kampfgetümmel würde niemand erkennen können, wer wer ist. Schiefergrau konnte dann unauffällig Gildofal so verletzten, dass dieser abgelenkt wird und seine Deckung vernachlässigen würde. Genau in dem Moment wollte Steinschlag sein Fänge in Gildofals Nacken schlagen und dessen Genick zermalmen. Der Plan, obwohl improvisiert, war wasserdicht. Selbst wenn jemand sehen sollte, dass Schiefergrau den Fremden biß, könnte man dies immer noch als Schreckreaktion erklären.

Steinschlags Plan nahm konkrete Formen an. Das Kampfgeschehen hatte sich bis auf wenige Schritte Schiefergrau angenähert. Das erforderte zwar, einen Teil der eigenen Deckung aufzugeben, doch kämpfte dieser Fremde sowieso viel zu zurückhaltend. Steinschlag verachtete ihn. Dieser Fremde, Gildofal, war weich. Er mochte stark und kräftig sein und die Form eines Wolfes besitzen, doch sein Herz war das eines Zweibeiners. Er zögerte Steinschlag zu töten und das, so dachte sich Steinschlag, wird sein Schicksal besiegeln. Seine Weichlichkeit wird ihn vernichten.

Steinschlag krallte sich an Gildofal fest, gab ihnen beiden einen Schubs, dass sie zusammen über die Kampffläche rollten und dabei Schiefergrau überrollten. Der sprang auf und wirbelte herum. Gerade in dem Moment als Schiefergrau zuschnappen wollte, sah er wie Gildofal blutete. Schiefergrau hielt inne. Es war keine tödliche Wunde, nicht mal eine, die den Wolf in seinem Kampf behindern dürfte. Aber das war auch nicht der Grund, warum Schiefergrau zögerte. Es war Gildofals Blut selbst, das ihn irritierte. Ein Tropfen fiel auf Schiefergraus Pfote. Wie in Zeitlupe sah der Wolf, wie das Blut als tiefroter Tropfen auf sein schiefergraues Fell fiel und in hunderte kleiner Spritzer zersprang. Schiefergrau traute seinen Augen nicht. Die feinen Spritzer strahlten golden auf. Vom der Stelle, an dem das Blut seine Pfote berührte, ging ein warmes, liebevolles Gefühl aus. Was dieser fremde Wolf auch immer sein mochte, Schiefergrau konnte ihn nicht verraten.

Steinschlag kochte vor Wut. »Schiefergrau, du Idiot, warum hilfst du mir nicht?«, tobte es in Steinschlag, »Wenn das hier vorbei ist, werde ich mir dich noch vorknöpfen!« Doch im Moment hatte Steinschlag andere Probleme, als sich mit einem Feigling und Verräter zu beschäftigen. Er musste diesen abscheulichen Zweibeiner besiegen. Steinschlag kämpfte. Er versucht jeden Kampftrick den er kannte. Warum wurde dieser verdammte Zweibeiner nicht müde?

»Ich will dich nicht töten!«, rief Gildofal ihm zu.

»Aber ich dich!«, heulte Steinschlag und rammte seine Zähne in Gildofals Hinterläufe.

Gildofal brüllte vor Schmerz. Er wollte diesen Kampf nicht und noch weniger wollte er diesen Wolf töten. Gildofal wusste, dass er es konnte. Steinschlag war ihm kräftemäßig unterlegen. Steinschlag konnte dies bisher durch seine überlegene Kampftechnik ausgleichen, aber er wurde müde. Gildofal fühlte, dass die Angriffe seines Gegners schwächer und weniger genau wurden. Steinschlag wurde zusehends langsamer.

»Ich bitte dich, gib auf!«, flehte ihn Gildofal an.

»Niemals!«, schrie Steinschlag und setzte zum entscheidenen Sprung an. Seine Hinterläufe katapultierten ihn vorwärts. Er wollte Gildofal auf die Brust springen, ihn umwerfen und ihm im selben Moment die Kehle durchbeißen. Dieser Zweibeiner war schach, wenn er ihn, Steinschlag, anbettelte aufzugeben.

Steinschlags Angriff scheiterte. Es scheiterte an seiner Überheblichkeit. Gildofal sah den Angriff kommen, nahm die Wucht aus Steinschlags Attacke und verwandelte sie in das Gegenteil. Noch im Fallen vollführten die beiden Wölfe ein Drehung um die eigene Achse, so dass Steinschlag hart mit seinem Rücken auf dem Boden aufschlug. Plötzlich fand er sich in der Lage wieder, die er eigentlich für Gildofal geplant hatte. Die Wucht des Aufschlags raubte ihm die Kraft. Geschlagen lag er am Boden und erwartete das Unvermeidliche.

»Los!«, brüllte Steinschlag Gildofal an, »Tu es! Bring es zu Ende!«

»Nein!«, entgegnete Gildofal leise, »Ich wollte dich nie töten.« Und laut, an die gesamte Meute: »Hört Ihr Wölfe. Ich verschone Steinschlags leben! Wir sind nur drei Reisende, die eine sichere Passage von euch erbitten.«

Darauf hatte Steinschlag nur gewartet. Dieser Gildofal war einfach viel zu naiv. Mit einem Satz, den niemand erwartet hatte, war wieder auf den Beinen. Gildofal, der den Angriff nicht kommen sah, stolperte rückwärts. Steinschlag witterte seine Chance, diesen widerlichen, arroganten Zweibeiner ein für alle mal aus der Welt zu schaffen. Er riss sein Maul auf und sprang auf Gildofals Kehle zu. Siegessicher biss er zu.

Schiefergrau jaulte auf als sich Steinschlags Zähne in seine Flanke bohrten. Der sonst vom Rudel wenig beachtete Wolf war schützend vor Gildofal gesprungen. Er musste den Fremden retten. Er fühlte, dass es seine Pflicht war. Steinschlag hatte den Kampf verloren und aufgegeben. Gildofal hatte ihm sein Leben geschenkt. Das konnte jeder sehen. Steinschlags anschließender Angriff war Unrecht.


»Was?«, brüllte Steinschlag verwundert. Die Meute, die während des Kampfes ein anfeuerndes Geheul angestimmt hatte, war verstummt. Alle Wölfe wichen vor Steinschlag zurück. »Was ist? Ich habe gesiegt! Wäre Schiefergrau, dieser Verräter, nicht dazwischen gegangen, würde dieser Zweibeiner tot vor uns liegen.«

Vor ihnen lag nur Schiefergrau. In seiner Flanke klaffte ein tiefe Wunde die stark blutete. Aus glasigen Augen schaute der Wolf zu Gildofal hoch, der sich über ihn gebeugt hatte: »Bitte verzeih uns, Wolf des goldenen Blutes, bitte verzeih uns.«

»Da hört ihr es!«, keifte Steinschlag, »Schiefergrau gibt seinen Verrat sogar zu! Lasst uns die drei Fremden jetzt töten! Ich habe Hunger!«

»Geh!«, donnerte die Stimme die Stimme Silberfels’, des großen Leitwolfs, über das Plateu, »Du, Steinschlag, hast verloren. Du hattest aufgegeben. Der Kampf war zu Ende. Siehst du nicht, was du angerichtet hast. Schiefergrau verblutet, er zahlt für deine Unehrlichkeit, die eines Wolfes dieser Meute unwürdig ist. Geh! Ich verbanne dich aus unserem Rudel. Geh!«

»Was? Du verbannst mich? Du alter, weichlicher Wolf! Brüder, hört nicht auf ihn. Folgt mir! Tötet die Fremden!«

Kein Wolf hörte auf Steinschlag. Ganz im Gegenteil. Ein Wolf begann Steinschlag anzubellen, ein zweiter folgte, dann ein dritter. Immer mehr Wölfe stimmten mit ein und bellten Steinschlag an. Der zog verächtlich seine Lefzen hoch, entblößte seine Eckzähne, fauchte die Meute einmal an und verschwand.

»Bitte«, wandte sich Gildofal an den Leitwolf, »Bitte lass meinen Freund Gilfea Schiefergrau untersuchen.«

Der Leitwolf nickte. Er wusste zwar nicht, was es noch helfen sollte, denn Schiefergrau war dem Tode geweiht. Die Wunde blutete sehr stark. Doch Silberfels täuschte sich. Kaum war Gilfea bei Schiefergrau passierte etwas wunderbares. Der seltsame Zweibeiner legte seine Hände auf die Wunde des Wolfes. Gilfea schloss seine Augen und begann eine Beschwörungsformel zu rezitieren. Der Wolf war schwer, sehr schwer verletzt. Gilfea wusste, dass der notwendige Heilzauber sehr viel Kraft kosten würde. Doch es musste sein. Schließlich hatte dieser Wolf das Leben seines Freundes gerettet.

Gilfeas Hände begannen pulsierend zu glühen. Dieses Glühen übertrug sich auf Schiefergrau. Die Ränder seiner klaffenden Wunde begannen zu funkeln und zu glitzern, als würden sie brennen. Vor den Augen der ungläubigen Wölfe bildete sich neues Gewebe, das die Wunde schließlich schloss. Schiefergrau stöhnte auf, nicht vor Schmerzen, doch vor Erschöpfung. Gilfea hatte zwar seine Verletzungen geheilt, doch hatte der Wolf sehr viel Blut verloren. Steinschlag hatte seine Eckzähne tief in Schiefergraus Fleisch geschlagen und dabei mehrere größere Adern verletzt.

»Wie geht es Schiefergrau?«, fragte Silberfels ängstlich. Auch wenn er es sich als Leitwolf nie anmerken ließ, sorgte er sich um jeden einzelnen seines Rudels. Er fühlte sich für sie verantwortlich. War einer seiner Wölfe verletzt, spürte Silberfels die Verletzung ebenfalls.

»Die Wunde wurde geheilt«, erläuterte Gildofal ernst, nachdem er Gilfea über Schiefergraus Zustand befragt hatte, »Doch Schiefergrau hat viel Blut verloren, sehr viel Blut. Es hängt nun an Schiefergrau und seinem Lebenswillen, ob er es schafft. Die nächsten Stunden werden es zeigen.«

»Ich bin ein schlechter Anführer«, flüsterte der Leitwolf leise, »Ich hätte es niemals zum Kampf kommen lassen dürfen. Ich habe gewusst, dass ihr anders seid als die anderen Zweibeiner, die uns jagen. Doch ich habe nichts gesagt. Ich hätte den Kampf verhindern müssen.«

»Ihr habt getan, was Ihr für Euer Rudel für richtig gehalten habt. Macht Euch deswegen keine Vorwürfe. Was wäre geschehen, wenn Ihr Euch nicht an euer Gesetz gehaltet hättet? Steinschlag hätte Euch herausgefordert und er hätte gewonnen. Nicht, weil er stärker oder besser als Ihr wäre, sondern, weil er unehrlich und unfair kämpft.«

Silberfels bedachte Gildofal mit einem dankbaren Blick: »Können wir etwas für Schiefergrau tun?«

»Gibt es ein Höhle oder einen geschützten Ort, an den wir ihn bringen können? Schiefergrau braucht Wärme und Ruhe, damit sich sein Körper erholen kann.«

»Ja, die Höhle unserer Sippe liegt nicht weit entfernt. Etwas mehr als eine Meile von hier. Doch wie sollen wir ihn dorthin bringen?«

»Ich werde ihn tragen!«, antwortete Gildofal und verwandelte sich wieder in einen Elben. Ganz vorsichtig nahm er Schiefergrau in seine Arme und begann ihn zu tragen: »Silberfels, zeige mir den Weg.«

Der Kristall des Lichts

»Vegetarierer sind das Letzte!«

Pruzzel, Mutterpflanze einer wohlschmeckenden Gemüsesorte

Gildofal trug Schiefergrau vorsichtig bis zur Höhle der Wölfe. Silberfels führte sie auf verborgenen, aber für Gilfea und Gildofal gut begehbaren Wegen zu einem unauffälligen schattigen Einschnitt im Berg. Zwielicht umfing sie. Gilfea rechnete schon mit einem finsteren Loch. Doch er täuschte sich. In der Höhle der Wölfe leuchtete ein Licht und gab den Blick auf ein wirklich großes Rudel frei.

»Dies ist meine Familie«, verkündete Silberfels stolz und gleichzeitig bekümmert. Die drei Drachenreiter sahen sofort warum. Silberfels, Schiefergrau und insbesondere der abtrünnige Steinschlag wirkten kräftig. Doch das Bild täuschte, denn die meisten Mitglieder des Rudels waren dünn und unterernährt. Die Wölfe hungerten.

»He, Blechechse, seid ihr schon über den Berg?«, rief Gilfea seinen Drachen.

»Nein und ich befürchte, dass wir es auch nicht schaffen werden. Der Berg ist zu hoch und die Luft zu dünn. Meine Kräfte würden vielleicht reichen – Gerade eben so. Tingalen und Eargilin haben keine Chance. Wir kommen zu euch.«

»Warte, ich habe eine Idee…«, meinte Gilfea und wandte sich an Gildofal, der damit beschäftigt war, Schiefergrau auf ein Moosbett zu legen. Die beiden Drachenreiter wechselten ein paar Worte miteinander, bis Gildofal nach einer Weile zustimmend nickte und fröhlich in sich hineinschmunzelte. Gilfea hockte sich in eine Ecke der Höhle und rief seinen Drachen. Mit wenigen Worten erklärte der seiner Echse, was er von ihm wollte. Mithval und die zwei anderen Drachen stimmten sofort zu.

Weiter passierte ersteinmal nichts. Die Aufgabe, die die Drachen so bereitwillig übernommen hatten, würde sie eine Weile beschäftigen, sodass Gilfea die Zeit nutzte, sich ein Bild vom Wolfsrudel zu machen. Er schaute sich um. Das erste, was ihm auffiel, war, dass ihm etwas nicht auffiel. In der Höhle roch es nicht nach Wolf. Es roch sogar nach fast gar nichts. Die Luft war frisch, mit einem leichten Duft von Kräutern oder feuchten Moos. Dies war nicht sonderlich überraschend, da weite Teile des felsigen Bodens mit Moos belegt war, das Gilfea erst entdeckte, nachdem sich seine Augen an das herrschende Zwielicht gewöhnt hatte. Eigentlich hätte die Höhle finster wie ein Walfischbauch sein müssen. Der Eingang war gut verdeckt und von Felsen überschattet, doch es war nicht dunkel. An verschiedenen Stellen sickerte grünliches Licht herein.

Gilfea schaute neben sich und entdeckte, dass der Fels von feinen Kristallfäden durchzogen war, aus denen Licht herausströmte. Die Wölfe hatten die Linien mit Moossoden abgedeckt, wodurch sich das an sich weiße Licht grün färbte. Gilfea wollte das Licht näher untersuchen und schob das Moos neben sich ein wenig zur Seite, als er eine interessante Entdeckung machte. Das Licht reagierte auf ihn. Oder waren es die Kristallfäden? An den Stellen, an denen er mit seinen Fingern über den Fels strich, veränderte das weiße Licht seine Intensität und Farbe. Es wurde heller und erstrahlte goldfarben, fast, als wären die Kristallfäden Fenster, durch die Sonnenlicht in einen dunklen Raum strömte.

»Wie sind da! Essen fassen!«

Mithval meldete sich mit seiner mächtigen Stimme in den Köpfen der drei Drachenreiter. Suman und Gildofal schmunzelten als sie Silberfels baten, ihnen vor die Höhle zu folgen. Zögernd und vorsichtig trottete der Anführer des Rudels hinter den beiden Freunden her. Der große Wolf war kaum ins Sonnenlicht getreten, als er vor Schreck erstarrte. Silberfels wollte seinen Augen nicht trauen. Ein gigantischer Drache zu dessen linker und rechter Seite jeweils ein kleiner Drache saß, hockte vor einem Berg Rindern und Wildschweinen. Es war Nahrung! Gute proteinreiche Nahrung für seine Familie.

»Ich habe nicht gelogen, als ich dir sagte, dass wir Freunde sind«, sprach Gildofal, der neben Silberfels stand und seine elbische Hand als Zeichen der Freundschaft auf dessen Rücken ruhen ließ, »Dein Rudel hungert. Ich weiß, dass dies keine endgültige Lösung eures Problems darstellt, aber es ist ein Anfang.«

»Danke!«, hauchte Silberfels schwach. Dem Wolf fiel es schwer, Haltung zu wahren. Das frische Fleisch, das die Drachen gebracht hatten, würde Leben retten. Die betroffenen Rinder und Wildschweine wären vermutlich deutlich anderer Meinung gewesen, hätten sie gewusst, was ihnen bevor stand. Allerdings bekamen sie nicht wirklich eine Chance sich darüber zu beklagen, im Magen eines Wolfs zu enden. Eargilin, Tingalen und sogar der überzeugte Vegetarier Mithval konnten eiskalte und blitzschnelle Killer sein. Keine zukünftige Mahlzeit bemerkte etwas von seiner Bestimmung. Die mächtigen Klauen der Drachen sorgten dafür.

Was folgte, war eine Szene, die nicht unbedingt dazu geeignet war, als Vorbild für ein episches Landschaftsgemälde zu dienen. Ein Rudel ausgehungerter Wölfe, die über einen Fleischberg aus Rindern und Wildschweinen herfällt, stellt keinen Anblick dar, den man auch nur ansatzweise als ästhetisch bezeichnen könnte; die Geräuschkulisse aus knurpsenden Knochen und schmatzenden Fleischstücken vermutlich ebenfalls nicht.

Nach zwei Stunden war alles vorbei. Rinder und Schweine waren verzehrt. Eine satte Meute lag in ihrer Höhle und verdaute. Wohin die Drachenreiter auch schauten, sahen sie nur glückliche und dankbare Gesichter. Die Wölfe waren wirklich dankbar. Es gab Jungtiere, gerade dem Welpenalter entwachsen, die noch nie ein Stück Fleisch gefressen hatten. Jetzt lagen sie in ihren moosgepolsterten Ecken der Wolfshöhle und knabberten seelig auf einem Stück Rinderknochen herum.

Silberfels hielt sich bei der Fressorgie zurück und sicherte sich erst am Ende ein gutes Stück Fleisch. Ebenfalls gesättigt, hockte er neben den drei Drachenreitern: »Ich danke euch. Ihr habt heute viele Leben gerettet.«

»Du brauchst uns nicht zu danken. Verrate uns lieber, warum ihr nicht auf die Jagd geht. Wenn es hier nicht genügend Nahrung gebt, warum verlasst ihr die Berge dann nicht?«, erwiderte Gildofal.

»Wir können nicht fort«, antwortete Silberfels, »Es ist unsere heilige Pflicht hier in den Bergen zu leben und zu wachen. Ich werde es euch zeigen. Folgt mir!«

Silberfels sprang auf seine vier Pfoten und führte die drei Freunde in den hinteren Teil der Höhle. Tief in dunklen Schatten verborgen lag ein kleiner, niedriger Gang verborgen. Für Suman und Gildofal stellte dies kein großes Problem dar. Sie nahmen einfach ihre Wolfsform an. Gilfea hingegen musste sich arg winden und, für ihn ungewohnt, auf allen vieren kriechen. Zum Glück weitete sich der Gang nach wenigen Metern, so dass sich der Drachenrenreiter wieder aufrichten konnte.

Wie schon die Wolfshöhle war auch der Fels, der den Gang umschloss, von leuchtenden Kristalladern durchzogen. Das diffuse Licht sorgte für ausreichend Helligkeit. Nach gut zwanzig Metern weitete sich der Gang und gab den Blick auf eine große Höhlenhalle frei.

Die drei Drachenreiter stoppten mitten in der Bewegung. Auch die Wände dieser Höhle war von Kristallfäden durchzogen. Genaugenommen nahmen sie von hier ihren Ursprung. Sämtliche auch noch so verästelten Fäden liefen im Zentrum der Höhle zusammen. Dort befand sich ein kleines Felspodest auf dem ein hell leuchtender Kristall ruhte.

»Dies, meine Freunde, ist der Kristall des Lichts!«, verkündete Silberfels feierlich, »Es ist unsere Aufgabe ihn vor den Feinden des Lebens zu schützen und zu verteidigen.«

Vorsichtig und langsam näherte sich Gildofal dem Kristall. Als er nur noch knapp zwei Meter entfernt war, begann sich die Strahlkraft des Kristall zu verstärken. Feine, funkelnde Lichtstrahlen, weiß, kristallklar und durchzogen vom Schimmer eines fernen Regenbogens flammten auf und warfen helle Lichtflecken auf die Wände.

Silberfels bellte vor Schreck auf, starrte dann Gildofal, Suman und schließlich Gilfea an. Zitternd und bebend verneigte sich der große Wolf vor den drei Drachenreitern. »Ihr, ihr seid die Götter der Prophezeihung!«, stammelte Silberfels, »Oh, welche Sünde habe ich auf mich genommen, euch mit Steinschlag kämpfen zu lassen. Bitte, edle Herren, zürnt nicht mit meinem Volk! Richtet über mich, aber verschont meine Brüder und Schwestern!«

Gildofal trat einen Schritt vom Kristall zurück und schaute zu Suman, der schüttelte nur seinen Kopf. Götter? »Wohl kaum!«, dachte der Elb bei sich und näherte sich dem vollkommen verängstigten Wolf. Sanft und liebevoll legte er eine Pfote auf Silberfels Schulter: »Niemand zürnt mit dir oder deinem Volk. Ich glaube auch nicht, dass wir Götter sind. Immerhin…«, Gildofal zögerte einen Moment, »Der Kristall des Lichts? Er könnte von meinem Volk stammen oder von jemandem, der mit meinem Volk freundschaftlich verbunden ist. Bitte, Silberfels, Freund, erzähle mir etwas von der Prophezeihung.«

Leider stellte sich raus, dass Silberfels sehr wenig von der Prophezeihung wusste. Das geheime Wissen über sie, wurde von Rudelführer zu Rudelführer weitergegeben. Auch Silberfels sollte in ihr Geheimnis eingeweiht werden, doch bevor Eisbach, Silberfells Vorgänger, ihm sein Wissen anvertrauen konnte, wurde dieser von Orks niedergeschlagen. Blutend und tödlich verletzt, schleppte sich Eisbach in die Wolfshöhle. Um seinen unmittelbar bevorstehenden Tod wissend, wählte er Silberfels als seinen Nachfolger aus. Hier, in der Höhle des Kristalls, versuchte Eisbach noch Silberfels in das Geheimnis einzuweihen, doch schwanden seine Kräfte schneller, als er erzählen konnte. Eisbach starb in Silberfels Armen, nachdem der junge Wolf ihm versprochen hatte, das Rudel mit seinem Leben zu schützen und den Kristall vor allen Feinden des Lebens zu verteidigen.

Beide Aufgaben entpuppten sich schnell als schwieriger, als Silberfels je für möglich gehalten hatte. Zum einen unternahmen die Orks regelrechte Wolfsjagden. Sie stellten Silberfels Rudel überall nach. Vor allem trennten sie die Wölfe von deren Jagdgründen ab. Silberfels Rudel sah sich plötzlich mit zwei wenig attraktiven Alternativen konfrontiert. Entweder sie verhungerten oder wurden von Orks erschlagen. Es dauerte nicht lange, dass sich im Rudel Unmut über Silberfels Führung regte. Steinschlag nutzte die prekäre Situation, um Silberfels Position anzugreifen.

»Ich will ehrlich zu euch sein«, gestand Silberfels den Drachenreitern, »Wenn ihr nicht mit Steinschlag gekämpft hättet, wäre ich es gewesen. Vieleicht nicht heute und auch nicht morgen. Doch Steinschlag war bereit mich herauszufordern.«

»Hast du irgend eine Idee, was es mit diesem Kristall auf sich hat?«, fragte Suman den Wolf.

»Nein, nicht wirklich«, seufzte Silberfels, »Eisbach meinte, es sei eine Waffe gegen das Böse. Es könnte aber auch sein, dass ich ihn falsch verstanden habe. Eisbach war schon sehr geschwächt, als er mir dies erzählte.«

»Hat er noch mehr erzählt?«, fragte Gildofal.

»Ja, doch war dies sehr verworren und unverständlich. Eisbach fieberte und sprach wirr. Er sprach sogar in einer fremden Sprache.«

»Was erzählte er?«, drängte Gildofal. Der Elb hatte plötzlich das Gefühl, dass das Zusammentreffen mit den Wölfen kein Zufall war.

»Er sprach vom einem geflügelten Sternenhimmel und dessen kleinem Bruder, dem Mond, dessen Licht wir hüten. Aran Galadrisil, Ivoricalad und…«

»Gwae Mith’Raca«, fiel Gildofal Silberfels ins Wort.

»Ja, das ist richtig!«, rief Silberfels erstaunt, »Du kennst das Geheimnis?«

»Nein, das nicht. Aber ich kenne die Namen. Aran Galadrisil hast du gesehen. Es ist Mithval, der Drache der Drachen, den du vorhin gesehen hast. Ivoricalad ist sein Bruder. Und es stimmt, sie sind wie Sternenhimmel und Mond. Mithval ist schwarz wie die Nacht und funkelnd, wie die Sterne. Ivoricald ist das Licht des Mondes, klein, aber hell strahlend. Und… Gwae Mith’Raca – Das bin ich!«

Unter allen anwesenden Drachenreitern besaß Suman in seiner Eigenschaft als Gildemeister den analytischten Verstand. Sein PDA-Implantat war in dieser Hinsicht sicherlich nicht schädlich. Während Gildofal Gilfea das Gespräch mit Silberfels übersetzte, spielte Suman ein paar Hypothesen durch.

»Gildofal«, begann Suman zögernd, »Kann dieser Kristall ein Teil Ivoricalads sein?«

»Er ist ein Teil von jedem von uns!« mischte sich Mithval kryptisch ein, »Und, du Gwae Mith’Raca, bist der Schlüssel!«

»Der was? Schlüssel?«, Gildofal schüttelte verdaddert seinen Kopf.

»Drachengebrabbel für ›Du sollst das Teil berühren‹«, bemerkte Gilfea trocken.

»Oh! Ähm… Nun ja…«, Gildofal verfluchte sich, dass er auf diese Idee nicht selbst gekommen war.

Zum zweiten Mal näherte sich Gildofal dem Kristall. Ein weiteres Mal flammte dieser hell auf. Die Linien der Kristallfäden erstrahlten und traten deutlich hervor.

»Warte!«, rief Suman und zeigte auf die Linien, »Seht ihr das?«

Gildofal hielt inne und folgte der Richtung von Sumans Hand. Zuerst sah er nur die hellen Linien. Sumans Hand vollzog einen weiten Bogen über die gesamte Breite der ihm gegenüberlegenden Wand: »Seht ihr es?«

Und plötzlich, als wenn wäre er bisher mit Blindheit geschlagen gewesen und von einer Sekunde zur nächsten geheilt worden, sah er, was Suman ihm zeigen wollte. Noch bevor Gildofal etwas sagen konnte, fasste Gilfea es in Worte: »Es ist eine Schrift. Die Linien sind Buchstaben, Wörter, ganze Sätze! Manches ist von Moos und Wurzeln überwuchert, kommt, Suman, lass es uns schnell freilegen.«

In windeseile befreiten Suman und Gilfea die Höhlenwände von alten Wurzeln und feuchten Moos. Je weiter sie kamen, desto deutlicher zeichnete sich nicht nur die Schrift an den Wänden ab, sondern nahm auch an Menge zu. Die Kristallfäden waren verästelt wie ein Baum. Dem Stamm, dass heißt dem Kristall, entsprangen dicke Äste, die sich an den Wänden immer weiter auffächerten und in feinsten Linien endeten, die erst sichtbar wurden, nachdem sie von Moos und Flechten befreit wurden.

Nachdem sämtlicher Bewuchs entfernt war, näherte sich Gildofal dem Kristall ein wenig mehr, damit selbst die dünnsten und winzigsten Linien deutlich wurden. Es war ein wahrer Augenöffner. Die ganze Höhle war ein Dokument.

»Kannst du es lesen?«, fragte Suman Gildofal.

»Ja, mehr oder weniger. Die drei großen Stämme bilden drei Sätze. Das ganze Astwerk… Das kann Wochen dauern. Ich bin kein Schriftgelehrter«, antwortete Gildofal abwesend, um anschließend leise vor sich hin zu murmeln. Gildofals Lippen bewegten sich, als er den elbischen Text las und für sich übersetzte. Schließlich las er ihn laut vor.

. h\tengE r\tengI w \tengA j\tengU l\tengO l\tengI\shortT c\tengO n .
c\tengO t\tengU m\tengO r \tengU\shortT\tengE z\tengE\shortT\tengO\shortT \ \tengA nn\tengA v\tengA\shortT \ .
p\tengO ld\tengO r\tengE\shortT \ \tengA r t\tengU r\tengE\shortT \ c\tengA l\tengO\shortT \ .

»herwi anglulocion. cotumor uesseo annava. poldore ar ture calo. Den Herrn der Drachen. Den Feinden des Namenlosen als Geschenk. Die Kraft und Macht des Lichts.«

Luftnummer

»Drachenkrallen sind Mist!«

Segato nach einer eigenwilligen Landung

»Fliegen?«

Ich schaute Ivo aus meinen noch ungewohnten Drachenaugen ungläubig an. Meinte mein schuppiger Freund ernsthaft ich solle fliegen? Mit Flügeln?

»Sicher. Du willst doch so nicht durch die Straßen laufen?«

Mit »so« umschrieb Ivo meine neue alternative Erscheinungsform. Neben Segato G’Narn, dem lieben, braven Gildebruder und Drachenreiter, gab es von nun an auch Segato G’Narn den Drachen. Mit anderen Worten: Ich war eine Echse. Genaugenommen konnte ich mich in eine verwandeln, was Ivo zu verdanken war. Wenn ich jedem einen Rat geben soll, dann diesen: Schlaft niemals mit einem Drachen der menschliche Gestalt annehmen kann. Es sei denn, ihr seid auf unerwartete Abenteuer aus.

Es war der Morgen nach meiner ersten Verwandlung. Ich hatte gut, geradezu perfekt geschlafen. Genaugenommen hatte ich in den Armen eines unwiderstehlich gut aussehenden Typen namen Ivoricalad geschlafen. Zusammen mit meinem Drachen in einem Bett zu liegen war ein seltsamen Gefühl. So ganz anders, als mit Suman oder meinen anderen beiden Freunden. Ivo gefiel sein menschlicher Körper. Bot er ihm doch die Möglichkeit sich nachts an mich zu kuscheln. So frech und vorlaut meine Echse nach außen auch auftrat, so sehr verbarg sich unter seinem schuppigen Panzer ein schüchterner kleiner Kerl.

Es war weder Lust noch Gier nach Sex, die ihn zu mir trieb, sondern pure Sehnsucht und das Gefühl von Einsamkeit in dieser fremden Stadt. Ich wusste es, weil Ivo ein Teil von mir war.

Das Kuscheln lief komplett züchtig und keusch ab. Wir genossen die körperliche Nähe, das wars dann aber auch. Bis auf einen liebenvollen und sinnlichen Kuss am nächsten Morgen passierte nichts zwischen uns. Wir starteten unseren Tag wie zwei ganz normale junge Männer. Aufstehen, Blase entleeren, duschen, Zähne putzen, anziehen und frühstücken. Ivo, dieser durchgeknallte Drache, war völlig wild auf Schokoelbenringe mit Milch. Er schaufelte tatsächlich drei große Schalen in sich rein.

»Was? Ich bin ein Drache im Wachstum. Die Teile sind voller Vitamine, Mineralien und Ballaststoffe.« Wer war ich schon, dass ich meinem Drachen widersprechen würde?

Nach dem Frühstück forderte Ivo mich auf, ich solle in meine Drachenform wechseln, was ich sofort tat. Ähnlich wie Suman und Gildofal fiel mir die Verwandlung von Mensch zu Drache und Drache zu Mensch immer leichter.

»Komm doch mal mit nach draußen«, bat mich Ivo und meinte damit den kleinen Innenhof unseres Penthouses. Von allen Seiten umbaut, bot es vollständigen Sichtschutz vor neugierigen Blicken.

Mit Drachenfüßen zu laufen, ist dämlich. Ich würde es nicht mal laufen nennen. Tapsiges Hopsen trifft es viel besser. Aber eine andere Fortbewegungsart war mit diesen krallenbewehrten Klauen kaum möglich. Ivo machte es sich einfach. Er hatte sich nicht verwandelt, sondern ging, aufrecht auf zwei menschlichen Beinen, schmunzelnd nach draußen.

»Lach du nur!«, knurrte ich ihn gespielt mürrisch an, »Ich hab ja immer gesagt, dass ihr Drachen ziemlich lächerlich ausseht, wenn ihr versucht zu laufen.«

»Wenn die Götter gewollt hätten, dass wir laufen sollen, hätte sie uns die Flügel genommen!«, wandte Ivo altklug ein, »So, und jetzt bring ich dir das Fliegen bei.«

»Fliegen?«


Ivo bat mich, in die Mitte des Innenhofes zu gehen. Ich hopste hin. Er selbst stand im Schatten am Rand des Hofs und schaute mir zu.

»Das, was sonst deine Arme sind, sind deine Flügel«, meinte Ivo, er sprach mit einem Vollidioten? »Nein, einem Halbidioten«, beantwortete meine Echse meine rhetorische Frage, »Für uns Drachen ist Fliegen genau so natürlich, wie für dich Laufen oder selbst Gehen. Aber du bist kein echter Drache, sondern ein Mensch, der die Form eines Drachens annehmen kann. Du wirst das Fliegen lernen müssen.«

»Ich weiß«, gestand ich offen und auch ein klein bisschen verlegen, »Ich habe nicht die geringste Idee, was ich mit diesen Dingern anfangen soll.«

Ivoricalad grinste: »Spreiz deine Arme, deine Flügel aus.«

Ich befolgte die Anweisung und entfaltete meine Drachenarme.

»Deine Flughaut ist sehr empfindlich. Schließe deine Augen und fühle den Wind, wie er über deine Schwinge weht.«

Wir befanden uns im obersten Stockwerk eines der höchsten Gebäude Blaufurts. Hier wehte ein konstanter Wind, der, zwar abgeschwächt, doch selbst bis in den Innenhof reichte. Ich schloss meine Augen und konzentrierte mich auf meine Flügel. Und tatsächlich fühlte ich den Wind. Meine Drachenflügel waren wie ein empfindliches Messinstrument. Ich konnte präzise bestimmen, aus welcher Richtung der Wind wehte, trotz der im Innenhof herrschenden Quer- und Gegenströmungen, denn die konnte ich genau so erkennen und von den anderen unterscheiden. Außer der Richtung fühlte ich auch die Stärke und Geschwindigkeit, mit der der Wind über meine Flügel strich. Ich begann zu experimentieren und veränderte die Stellung, den Anstellwinkel und das Profil meiner Flügel, obwohl mir das niemand vorher gezeigt hatte. Instinktiv fand ich eine Konfiguration, bei der ich das Gefühl hatte leichter zu werden. Meine Flügel produzierten Auftrieb!

»Ah!«, hörte ich Ivo in meinem Kopf, »Du fühlst es! Der Wind ist dein Freund, er hebt dich in die Luft. Er trägt dich.«

Und so ging das Training weiter. Genaugenommen war es Trockentraining. Ivo zeigte mir verschiedene Flügelstellungen, die ich sofort ausprobierte. Das ging so den ganzen Vormittag, bis ich total erschöpft eine Pause einforderte. Drachenflügel ausgebreitet in die Luft zu halten, kann verdammt anstrengend sein.

»Für ’nen Menschen machst du dich überraschend gut. Heute Nacht, im Schutz der Dunkelheit und des abnehmenden Mondes, werden wir den Segelflug ausprobieren.«

»Meinst du das ernst?«

»Yepp!«, meinte Ivo, »Und lass dich vom Gelächter der Vögel nicht irritieren. Am Flugstil können wir später feilen«, sprachs und ging in die Küche, um unser Mittagsessen zuzubereiten. Wo hatte dieser Drache kochen gelernt?

Nach einem wirklich vorzüglichen Essen – Wirklich, wo hat dieser Drache nur so gut kochen gelernt? – ging das Training weiter. Was so viel hieß, dass ich unendlich viele Flügelstellungen üben und den Wind fühlen durfte. Als die Dinge begannen komplexer zu werden, nahm Ivo seine Drachenform an, damit ich an seinem Vorbild sehen konnte, wie ich mich zu verhalten hatte. Das ganze Training wurde von Minute zu Minute anstrengender und ich müder. Am späten Nachmittag zeigte Ivo schließlich Erbarmen und schickte mich ins Bett: »Schlaf! Du musst heute Nacht fit und wach sein.«

Man muss sich das mal vorstellen. Mein Drache erteilte mir Befehle und ich befolgte sie sogar. Ich war viel zu müde, um ihm zu widersprechen. Schlapp und mit hängenden Flügeln trottete ich los.

»Hast du nicht etwas vergessen?«, meldete sich Ivo in meinem Schädel. Ich blieb stehen und drehte meinen sehr flexiblen Drachenhals in seine Richtung: »Was?«

»Deine Flügel?«, Ivo entblößte seine messerscharfen Zähne und grinste hinterhältig.

Ich war wirklich zu müde. Ich wäre einfach durch die Terrassentür ins Innere der Wohnung gelatscht. Das heißt, ich hätte es versucht und wäre am Türrahmen schmerzhaft gestoppt worden.

»Ähm, ja…«, knurrte ich matt, verwandelte mich zurück in einen Menschen, schlurfte ins Schlafzimmer, legte mich ins Bett und war innerhalb weniger Sekunden tief und fest eingeschlafen.

Ivoricalad ließ mich bis zum Abend schlafen. Als die Dämmerung einsetzte kam er zu mir und weckte mich sehr sanft auf. Zum Abendbrot gab es ausschließlich leichte Kost, wie Salate und Fruchtsaft. Ivo meinte, ich sollte nicht mit vollem Bauch versuchen zu fliegen. Ein weiser Rat. Mein Magen drehte sich beim Gedanken ans Fliegen auch so im Kreis.

Gegen Mitternacht, in Blaufurt begann langsam die kurze Zeit relativer Ruhe, führte mich mein Drache in unseren Innenhof. Offenbar meinte es Ivo ernst, als er meinte, dass ich in der Nacht fliegen würde.

Wir begannen mit Lockerungsübungen. Ich hatte zwar nie einen Drachen gesehen, der vor einem Flug seine Sehnen dehnte und Gelenke lockerte, aber wenn mein schuppiger Partner meinte, dass es notwendig wäre, wollte ich ihm nicht widersprechen. Nach den Lockerungsübungen folgten die zu erwartenden Dehnübungen. Danach drückte mir Ivo einen kleinen Rucksack in die Hand, den ich mir umschnallen sollte. Anschließend ging es auf das Dach. Mein Herz rutschte mir in die Hose.

»Scheiße, ist das hoch!«, fluchte ich im Flüsterton, als ich mich an den Rand des Hochhauses getastet hatte. Ich begann zu zittern. Hatte ich schon von meiner Höhenangst erzählt?

»Och nöh… Das ist doch nicht hoch.«

Ivo stand neben mir. Genaugenommem hatte er sich direkt an die Dachkante gekrallt und schaute in der Dunkelheit der Nacht aus, wie einer dieser altertümlichen Wasserspeier, wie man sie an sehr alten Gebäuden zuweilen sehen konnte.

»Darf ich dich darauf aufmerksam machen, dass du genau so aussiehst, wie ich?«, grinste mich Ivo an, »Na, dann entfalt mal deine Flügel.«

Ich tat wie mir geheißen und breitete meine Schwingen aus. »Wow!«, kaum, dass ich meine Flügel entfaltet hatte, verfing sich bereits der Wind in ihnen und verpasste mir unerwarteten Auftrieb. Mir wurde plötzlich der ungemein praktische Nutzen meiner Drachenklauen klar, mit denen ich mich blitzschnell wie Ivo an der Dachkante festkrallte. Andernfalls hätte es mich einfach vom Drach gefegt. Ich hätte nie gedacht, dass diese komischen Hautlappen, die sich zwischen meinen Armen und meinem Körper als Flügel aufspannten, solche Kräfte einfangen konnten. Was hieß hier eigentlich Flügel? Flügelchen wäre ein passender Begriff. Ivo und ich waren etwas größer als ein groß gewachsener Mensch und selbst bei dieser Minigröße schienen ernorme Kräfte an unseren Flügeln zu zerren. Welche Urgewalten mussten erst bei Drachen wie Eargilin, Toldin und insbesondere Mithval wirken? Und dabei sah es immer leicht und fast spielerisch aus, wenn Monsterdrache Mithval seine Kreise zog. In mir keimte plötzlich ein neu gewonnener Respekt für meine schuppigen Ritter der Lüfte auf.

»Bist du bereit?«, riss mich Ivo aus meinen Gedanken.

»Nein!«, schrie ich panisch.

»Perfekt!«, amüsierte sich mein Echsenfreund, »Es ist wirklich ganz einfach. Breite deine Flügel aus und lass dich fallen. Du wirst sehen, dass dich deine Flügel sofort tragen werden. Wir werden heute nur ein paar Gleitflugübungen machen. Konzentriere dich einfach darauf, zu fliegen, die Luft zu spüren und zu gleiten.«

Ivo meinte es wirklich ernst. Da stand ich nun, ein kleiner ängstlicher Gildebruder in Drachengestalt, der sich vom Dach eines Hochhauses stürzen soll. Mir wäre der Angstschweiß ausgebrochen, nur besitzen Echsen keine Schweißdrüsen. Alles, was mir blieb, war panisch zu zittern. Ich mochte keine großen Höhen. Ich mochte sie noch nie. Crossar, meine Heimatstadt, besaß sehr wenige große Gebäude. Der Senat war eines der größten. Bei einem Ausflug mit der Gildeschule stand auch die Besichtigung der Kuppel an. Ich hätte mir vor Angst fast in die Hose geschissen, wäre Erogal nicht gewesen und hätte mich beruhigt und mir zugeredet. Ich überwand meine Angst – gerade eben. Mir war es tatsächlich gelungen, die Kuppel zu erklimmen und vom Besucherring hinab ins Plenum zu schauen. Aber das auch nur, weil sich zwischen der Empore des Besucherrings und dem Plenum ein massives Eisengitter befand. Als mich später die Erde wieder hatte, war meine Kleidung schweißgetränkt und klitschnass.

Und nun stand ich hier, auf dem Dach eines der höchsten Häuser Blaufurts, und krallte mich an die Dachkante.

»Vertrau mir!«, tönte Ivoricalad in meinem Schädel. Seine Stimme summte in meinem Kopf weiter und zauberte jene Melodie herbei, die unsere Verbindung zueinander verkörperte. Ein Welle von Wärme und Sicherheit durchflutete meinen Körper. Zu meiner eigenen größten Verwunderung löste sich meine Angst in nichts auf. Es war unbegreiflich, aber ich ließ mich fallen. Die Nacht hüllte mich ein. Ich stürzte das Hochhaus hinab, dem Boden entgegen. Instinktiv, so, als hätte ich es schon tausende Male getan, entfaltete ich meine Schwingen. Der Fahrtwind verfing sich in meiner Flughaut und verlieh ihr ein Profil. Mit einem Ruck veränderte sich meine Bewegung. Aus einem senkrechten Sturz wurde eine Parabelbahn. Und plötzlich, ich wollte es selbst kaum glauben, schoss ich waagerecht über die Dächer Blaufurts hinweg, gewann an Fahrt und stieß wieder hinauf in die Höhe.

Fliegen! Ich flog tatsächlich. Langsam dämmerte es mir, warum die Drachen so glücklich und selbstverloren wirkten, wenn sie sich in die Lüfte erhoben. Mit dem Wind zu spielen, ihn zu erspüren, seine Launen zu entdecken und zu nutzen, war einfach fantastisch. Ich tat nichts, außer zu segeln. Ich schlug nicht aktiv mit den Flügeln, sondern veränderte nur hin und wieder ihre Position und Form. Wenn ich bisher dachte, dass ein reiner Segelflug prinzipbedingt recht kurz sein musste, so wurde ich eines besseren belehrt. Ich lernte eine neue Freundin kennen, die Thermik. Am Hochhaus gab es Aufwinde, die ich nutzen konnte, um Höhe zu gewinnen. Gleiches galt für einen nahe gelegenen Hügel. Wenn ich wollte, konnte ich ewig weiterfliegen, ohne auch nur einen Flügelschlag gemacht zu haben.

Ivo gesellte sich an meine Seite. Ohne dass wir ein Wort miteinander wechseln mussten, zeigte er mir, wie man als Drache richtig flog, wie man Thermik auch an Stellen erfühlen konnte, an denen man sie nie vermutet hätte. Ich lernte, wie man zielgenau und mit hoher Geschwindigkeit zwischen zwei eng beieinander stehenden Häusern hindurch flog.

Ich war keine 5 Minuten in der Luft und begann die Fliegerei bereits zu lieben. Mit dem Wind zu spielen, ihn zu jagen und von ihm in die Höhe getragen zu werden, war ein Spaß, wie ich ihn mir nie vorgestellt hätte. Mein Traum als Gildeschüler in Crossar war Drachenreiter zu werden. Damals hätte ich es nie für möglich gehalten, dass sich dieser Traum jemals erfüllen würde. Doch dann selbst zum Drachen zu werden, selbst auf den eigenen Schwingen durch die Lüfte zu segeln, stellte selbst diesen Traum in den Schatten.

»Komm, wir fliegen zurück. Du hast heute viel, sehr viel gelernt«, beendete Ivo meine Flugstunde viel zu früh. Wir steuerten noch einmal den nahe gelegenen Berg an, schraubten uns in seiner Thermik in die Höhe und segelten dann zurück zu unserem Hochhaus.

Das Fliegen mochte ein phantastisches Erlebnis gewesen sein, das Landen war es nicht. Ich packte mich richtig auf die Drachenschnauze. Ivo lachte sich kringelig. Immerhin wurde mir nun klar, warum Drachen immer ein paar Zentimeter über dem Boden abbremsen und sich dann auf den Boden fallen lassen. Mit Drachenklauen landen zu wollen, indem man einfach ein wenig mitläuft, ist eine wirklich dumme Idee.


Am nächsten Morgen ging mein Training weiter. Ivoricalad mochte mein Drache sein, das hinderte ihn aber nicht daran, ein unerbittlicher Lehrer zu sein. Dieses mal stand Flattern und Flügelschlag auf dem Lehrplan. Ivo zeigte mir dir verschiedenen Grundformen des Drachenflugschlags. Ich war überrascht, wie viele Möglichkeiten es gab, sich mit Flügeln in die Luft zu erheben. Je nachdem, welche Wirkung man erreichen wollte, gab es eine andere Technik. Die erste Technik war der Senkrechtstart, die sich als eine wirklich kräftezehrende Angelegenheit präsentierte. Ähnlich kräftezehrend war der Speedschlag, mit der man rasend schnell wurde. Es folgten der kräfteschonende Reiseflugschlag, einige grundlegende Steuermanöver und der Stopflug, damit ich mich beim Landen nicht wieder auf die Schnauze packte. Für letzteres war ich Ivo wirklich dankbar.

Abgesehen vom veränderten Training war der Tag eine Wiederholung des Vortages. Ivo kochte wieder ein erstklassiges Mittagessen. Ich fragte mich erneut, wo ein Drache sowas lernt. Danach folgte noch mehr Training und ein Nickerchen bis in die Nacht. Die Nacht wiederum gehörte uns – Die Nacht und der Himmel über Blaufurt.

Mit meinen neu erworbenen Flugkünsten konnte ich mich hoch in die Lüfte erheben, an Ort und Stelle verharren und auch meinen Segelflug besser kontrollieren. All dies geschah heimlich und im Schutze der Dunkelheit. Niemand sah uns, bis vielleicht auf einen vorbeihuschenden Schatten und das Rauschen der Luft. Als Ivo den Flugunterricht mit mir begann, stand der Mond sieben Tage vor Neumond. In den nächsten 14 Tagen und Nächten brachte mir Ivo die Grundlagen der Drachenfliegerei bei. Ich lernte und übte bis zur Erschöpfung. Ich war ein bereitwilliger und wissbegieriger Schüler, doch fehlte es mir an Ausdauer, Kraft und Kondition. Längere Strecken, die mehr als eine Stunde gingen, schaffte mein Körper nicht.

»Noch nicht!«, korrigierte Ivoricalad mich und kam auf das Thema Wachstumsschübe zu sprechen. Ich wusste doch, dass an der Drachenreiterei ein Haken war. In meinem und Ivos Fall schien der Haken aber etwas größer auszufallen: »Ich will ehrlich zu dir sein. Die Wachstumsschübe könnten, ähm… fordernder werden, als dies sonst für Seelen üblich ist. Du bist jetzt zum Teil auch körperlich ein Drache.«

»Und was bedeutet fordernder?«, fragte ich leicht nervös.

»Oh, ähm… nun ja… Was meinst du, ob die Einrichtung unseres Apartments wohl sehr teuer war?«

Informationen

»Vorsprung durch Technik«

Paula-Sylvestra II Päpstin der unifizierten Technokratie

Ivoricalads Wachstumsschübe war nichts, weswegen wir uns unmittelbare Gedanken machen mussten. Seiner Selbsteinschätzung nach würde der erste Schub frühestens in einem halben Jahr ins Haus stehen. Es sei denn, er käme früher. Ich war fasziniert von solch präzisen Aussagen. Ivo grinste nur blöd. Grundsätzlich hatte mein Drache natürlich Recht. Seine Entwicklung würde halt so verlaufen, wie dies für Drachen üblich war: unvorhersehbar und chaotisch. Sich Gedanken nach dem Strickmuster »Was wäre wenn…« zu machen, wäre Energieverschwendung gewesen. Es gab dringendere Probleme.

Unser bisheriger Blaufurtaufenthalt hatte etwas von Urlaub. Unverdientem Urlaub um präzise zu sein, denn eigentlich befand ich mich auf der Flucht. Es war an der Zeit, die Aufmerksamkeit der Gilde weg von Daelbar, hin auf Blaufurt und mich zu lenken. Nachdem mir Ivo die Grundzüge des Drachenflugs beigebracht hatte, reduzierten wir mein Training, damit wir uns um meine eigentliche Aufgabe kümmern konnten.

Ich begann damit, mich nach Informationsagenten umzusehen. »Freier Informationsagent« war die blaufurtianische Berufsbezeichnung für bezahlte Spione. Sie besorgten einem so ziemlich jede Information, solange die Bezahlung stimmte. Wollte man sein eigenes Gewissen nicht allzu sehr belasten, war es im Allgemeinen besser, nicht so genau nachzufragen, wie die Informationen beschafft wurden. Stellte sich nur die Frage, an welchen Informationen ich eigentlich interessiert war. Was könnte für die Gilde, über das unerwartete Auftauchen der Glyphen hinaus, noch interessant sein? Natürlich, ihr Fundort!

Suman und ich hatten den Datenkristall, der die Beschwörungsglyphen enthielt, auf Boldins Yacht entdeckt. Es wäre sicherlich interessant zu erfahren, wo Boldin sie gefunden hatte.

Ich war mir ziemlich sicher, dass Boldin eine derart heiße Ware nicht länger als nötig auf seiner Yacht lagern würde. Sein vorzeitiges Ableben bewies sogar, dass Boldins eigene Einschätzung der ihm zu Verfügung stehenden Zeit eindeutig zu lang war. Der Datenkristall und das Drachenblut dürften, meiner und meines PDA-Implantates Einschätzung nach, nicht länger als zwei höchsten drei Wochen an Bord gewesen sein. Also, wo war Boldin vor seinem Aufenthalt in Xengabad?

Mir, dass heißt eigentlich war es mein PDA-Implantat, fiel eine Bemerkung Boldins ein, als Alexander Vaughan ihre gemeinsame Reise schilderte: »Ach ja, dieser Dreckshafen. Ich hätte ihn nicht ansteuern wollen, aber wir mussten Kraftstoff bunkern.«

Dieser »Dreckshafen« war Tharbad und mithin die zweitgrößte Stadt Goldors. Mir kam damals Boldins Bemerkung unnötig und überhastet vor, als wenn er eben genau von jener Stadt ablenken wollte. Tharbad rückte damit in den näheren Fokus meiner Nachforschungen.

Ich beauftragte drei verschiedene Informationsagenten unabhängig voneinander mit der Aufgabe, mir so viele Infomationen über Boldin und dessen Firma Boldin Dynamics zu besorgen, wie sie nur finden konnten. Insbesondere, ob er in Tharbad nur seine Yacht auftanken ließ, wie er in Xengabad behauptet hatte. Der Zwerg und Waffenfabrikant Boldin galt zu seinen Lebzeiten nicht ohne Grund als exzentrisch und paranoid. Der Mann schirmte sein Privatleben besser ab, als die Päpstin. Öffentlich bekannt war nur, dass er unermesslich reich war und fast ausschließlich auf seiner Yacht oder unter seinem Berg Boldinusul lebte, von denen er aus seine Firma führte. Alles andere waren unbestätigte Gerüchte. So soll er von allen sieben Zwergenkönigen aus dem Reich der Zwerge verbannt worden sein. Etwas, was vor ihm noch keiner geschafft hatte.

Während meine angeheuerten Agenten ausschwärmten, beschäftigte ich mich damit, mir die Nachrichten der letzten Wochen anzusehen. Während der Reise mit der Karavane war ich vom Weltgeschehen komplett abgeschnitten. Die Beduinen hielten nichts von Datenpads und Nachrichten, ganz im Gegensatz zu den Einwohnern Blaufurts, die fast einen Kult darum machten. Auch meine Wohnung verfügte über einen Informationsterminal, wie man das Nachrichtenverteilsystem hier nannte. Über den selbstverständlich kostenpflichten Dienst konnte ich mir alles, was in den letzten Wochen in der Welt geschehen war, ansehen oder nachlesen.

Mein erstes Interesse galt der Gilde. Stand ich bereits auf ihrer Exekutionsliste? War mein Verrat ruchbar geworden? Zwei einfache Fragen, die überaus schwierig zu beantworten waren. Die Gilde gab schließlich keine Liste der am meisten gesuchten abtrünnigen Gildemeister heraus. Man musste alle offiziellen und inoffiziellen Quellen genau studieren, zwischen den Zeilen lesen und verschiedene Informationsbrocken miteinander in Verbindung setzen. Dabei war mir der wichtigste und einfachste Weg verwehrt: mein Meisterbuch. Stand ich bereits auf der Abschussliste, würde die Benutzung meines Buchs sofort meinen Standort verraten. War mein Verrat noch nicht aufgeflogen, konnte umgekehrt eine aktive Informationssuche Verdacht erregen. Mir blieben also noch die externen Quellen.

Als erstes wies ich mein Informationsterminal an, sämtliche Nachrichten der Wochen seit meiner Flucht aus Daelbar aufzulisten, in denen die Gilde erwähnt wurde, sortiert nach Relevanz. Was immer das auch bedeuten mochte. So leistungsfähig das Blaufurter Informationssystem auch sein mochte, es basierte auf Technologie und benötigte Zeit. Während ich also auf die Informationen warten musste, blieb mir genügend Zeit mit Ivoricalad ein paar Flug- und Flügelbewegungsmuster zu trainieren. Mein Drache war mit meinen Lernfortschritten sehr zufrieden.

Nach etwas mehr als drei Stunden meldete das Informationsterminal, dass die Informationen für einen Preis von drei Blaufurtianischen Gulden zum Abruf bereitstehen würden. Ich fluchte über den unverschämten Preis, bezahlte und las die Informationen. Mein PDA-Implantat leistete Schwerstarbeit, als es sofort damit begann, Querverweise zu erstellen, in allgemeinen Meldungen verborgene geheime Botschaften zu entschlüsseln, Wahrheit von gezielter Desinformation zu trennen.

Die erste geheime Nachricht, die ich dechiffrieren konnte, betraf Meridus T’Saal, den Arzt und Gildemeister Minas Rochsirs. Wie es aussah, war es ihm gelungen mit den Wassermeistern Blaufurts ein Abkommen zu treffen. Den Wassermeistern schien der zunehmende Machtanspruch des Königs von Goldor auf Blaufurt ein wenig zu weit zu gehen. Eine Allianz mit der Gilde kam da gerade recht. Meridus T’Saal war von nun der geheime Resident der Gilde in Blaufurt. Schließlich musste der Schein gewahrt bleiben. Ein offzielles Gildehaus blieb natürlich unmöglich. Ich ahnte, was mit »geheimer Resident« gemeint war. Meridus hatte sich den Wassermeistern als Gildemeister offenbart. Im Gegenzug hatten sich die Wassermeister ihm offenbart. Das Geheimnis blieb gewahrt und schuf eine Verbindung von Vertrauen zwischen der Gilde und den Führern dieser Stadt.

Diese Nachricht ließ mich gleichzeitig erleichtert aufatmen und besorgt frösteln. Meridus lebte und war nicht in den Zisternen der Stadt ertrunken. Die war eine gute Nachricht. Meridus war ein Freund. Allerdings, war er wirklich noch ein Freund? Würde er die Omegadirektive umsetzen und mich töten? Meridus war ein sehr erfahrener Gildemeister und stand etliche Hierachiestufen über mir.

Ich studierte weitere Nachrichten, die die Gilde betrafen. Nach zwei Stunden Nachrichtenlesen, mir rauchte der Kopf, mein PDA-Implantat war heißgelaufen, war ich mir sicher, dass mein Fund der Beschwörungsglyphen unbemerkt geblieben war. Nur warum? Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ein solcher Fund auf Dauer vor der Gilde geheim zu halten war – auch nicht in Daelbar. Spätestens dann wäre jedem Gildemeister klar geworden, warum ich Daelbar geflohen war.

Ich wollte mich schon wundern, als ich eine Nachricht las, die nur am Rand mit der Gilde zun tun hatte und daher vom Suchsystem meines Informationsterminals als eher irrelevant eingestuft worden war. Der Titel lautete:

»Terroranschlag in Crossar«

Der Artikel war bereits mehrere Wochen alt. Wenn ich die Tage richtig berechnete, dann muss der Anschlag ein oder zwei Tage nach meiner Flucht aus Daelbar stattgefunden haben. Der Inhalt ließ mir das Blut in den Adern gefrieren:

»Ein Orkattentäter hat am gestrigen Abend versucht das Staatsbankett anläßlich der Friedensverhandlungen zwischen der Grafschaft Harrasland und dem Königreich Goldor II zu sprengen. Das feige und hinterhältige Attentat wurde durch das geistesgegenwärtige Verhalten des 1. Sekretär der Gilde, Erogal D’Santo, und dem Präsidenten der freien, demokratischen und magischen Drachenrepublik Daelbar, Turondur, Prinz zu Grauwald, vereitelt. Offziellen Quellen zu Folge konnte die Urheber des Attentates bisher nicht ermittelt werden. Der Ork war mit einer Selbstzerstörungseinrichtung präpariert, die selbsttätig aktiviert wurde, als dem Attentäter klar wurde, dass sein Angriff scheitern würde. Experten aller beteiligten Seiten tappen somit im Dunkeln, zumal es an potentiellen Zielen nicht gemangelt hätte. Teilnehmer des Banketts waren neben den bereits genannten der Gesandte des Königs Goldor II, Graf Targon von Minas Dargosul, sein Gegenspieler, Vicomte Berengo von Harrasan, Bruder des Grafen von Harrasland. Als Vermittler und Moderatoren waren anwesend der regierende Reeder der freien Handelstadt Crossar, Oberreeder Friedrich Amunsen, der päpstliche Nuntius der unifizierten Technokratie, Kardinal Rudolfo und als Veranstalter des Banketts, der Präfekt des Gildehauses zu Crossar.«

Turondur? Was trieb dieser Elb in meiner Heimatstadt? Ich wusste, dass eine Verbindung zwischen Turondur und Erogal bestand. Die beiden waren durch ein gemeinsames Schicksal aneinander gebunden. Ein Schicksal, das die beiden aber auch mehrere Jahrzente entzweit hatte. Nun war gegen eine Aussöhnung zwischen beiden Männern nichts einzuwenden. Erogal und Turondur hatten es auf jeden Fall verdient, Freunde zu sein. Was mich überraschte war der Zeitpunkt. Ausgerechnet zwei Tage nach meiner Flucht aus Daelbar fliegt ihr Präsident nach Crossar, um sich mit meinem Lehrer und Mentor zu versöhnen? Mein PDA-Implantat bestätigte meinen Verdacht, in dem es die Wahrscheinlichkeit für einen Zufall mit unter 5 Prozent bewertete.

Der Abruf aller Artikel, die sich mit dem Attentat von Crossar beschäftigten, belastet mein Konto mit einem weiteren blaufurtianischen Gulden. In den insbesondere bei Frauen sehr beliebten Gesellschaftsmagzinen, wie »Prinzessin des Herzes« wurde das Attentat zu steinerweichenden Herzschmerzgeschichten verwurstet. Ein Blatt fabulierte vom schnittigen (und unverheirateten) Vicomte Berengo und einem selbstlosen Rettungsakt. Ein anderes Machwerk handelte das Attentat mit zwei Zeilen ab, um den Rest des Artikels mit Bildern, Petitessen und Kritiken über die Bekleidung der Gäste zu füllen. Turondur Gewänder wurden in jenem Artikel als zwar »klassisch elbisch«, aber auch als »wenig angemessen für einen Staatspräsidenten und Prinzen zu Grauwald« getadelt. Alles in allem, viel Gelaber mit wenig Inhalt.

Da waren die Artikel der großen Nachrichtenagenturen schon wesentlich gehaltvoller. In einem Leitartikel des Chefredakteurs einer der renommiertesten Zeitungen, dem Crossanische Tagesanzeiger, wurde die alles entscheidende Frage gestellt: »Wem nützt es?« Der Arktikel blieb dem Leser eine klare Antwort zwar schuldig, war deswegen aber nicht weniger interessant. Denn eigentlich musste die Antwort »Niemandem« lauten. Da es aber eben ein Attentat gegeben hatte, musste es jemanden geben. Dies, so der Artikel, sei sehr beunruhigend. Eine unbekannte Kraft, die vor Attentaten nicht zurückschreckt, sei eine Bedrohung der gesamten Welt. Eine Bedrohung, der man nur vereint und gemeinsam entgegentreten könne.

Der Chefredakteur des Tagesanzeigers musste entweder ein sehr weiser Mann oder aber ein Meister der Gilde sein. Die Hintermänner des Attentats mochten zwar unbekannt sein, doch war ihre Handschrift klar erkennbar. Es war die Handschrift des namenlosen Bösen.

Ich überflog noch ein paar weitere Berichte allgemein seriöser Publikationen. Der Grundtenor war überall der gleiche. Das Attentat machte keinen Sinn. Wer könnte ein Interesse daran haben, die Friedensverhandlungen zwischen Harrasland und Goldor zu konterkarieren? Beiden Staaten hatten allein schon durch die Personen ihrer Unterhändler deutlich gemacht, wie wichtig ihnen ein Friedensabkommen war. Die Kirche wiederum zog gerne im Hintergrund die Strippen und war mehr als einmal am Ausbruch militärischer Auseinandersetzungen beteiligt, doch gehörten Attentate nicht zu ihren Werkzeugen. Die Kirche liebte eher das diskret eingeflüsterte Wort als die direkte physische Aktion. Außerdem hätte man niemals das Leben Kardinal Rudolfos, eines Mannes aus dem inneren Machtzirkel der Päpstin, riskiert. Und die Gilde? Bei allen persönlichen Problemen, die ich mit meinen Mitbrüdern hatte, schloss ich die Gilde kategorisch aus. Die Gilde als Attentäter hätte schwarz zu weiß und weiß zu schwarz gemacht.

Was ich bei allen Artikeln schmerzlich vermisste, waren Aussagen zu Opfern und Verwundeten. Hier wichen die Beiträge erheblich voneinander ab. Die Bandbreite reichte von »Blutbad im Gildehaus zu Crossar« bis zum komplett gegensätzlichen »Elbenprinz verhinderte Blutbad in Crossar«. Nur meine brennendste Frage blieb unbeantwortet: Wie ging es Erogal? Wie Turondur? Lebten sie noch? Waren sie verletzt? Welche Opfer gab es sonst? So sehr ich auch suchte, ich fand keine Antwort auf diese Fragen. Ein kleines Stadtteillokalblatt Crossars erklärte warum: »Um die anstehenden Ermittlungen der Hintergründe des Attentates nicht zu gefährden, sind die Vertreter sämtlicher beteiligten Gruppen der Friedenskonferenz übereingekommen, eine Nachrichtensperre zu verhängen.«

Die Frage blieb und nagte an meinen Nerven: Wie ging es meinen Freunden, Erogal und Turondur? Lebten sie noch? Waren sie verletzt? Würde ich sie jemals wiedersehen?


Die nächsten Tage vergingen ereignislos. Trotz Investition zweier weiterer Gulden gelang es mir nicht, weitere Erkenntnisse zu Tage zu fördern. Es war frustrierend. Und hätte mich Ivo nicht mit Flugtraining und regelmäßigen nächtlichen Ausflügen bei Laune gehalten, wäre ich vermutlich vor Sorge und unbestimmter Wut durchgedreht. Nach sechs Tagen, ich war gerade dabei zum hundertsten mal die Zeitungsartikel durchzuarbeiten, meldete sich einer meiner Informationsagenten, Simon Nachtwasser.

»Nachtwasser hier. Sie hatten mich doch gebeten, den Weg dieses Zwerges, Boldin, von Xengabad aus zurück zu verfolgen?«, begann er mit einer rhetorischen Frage, die ich bejahte. »Nun, es wird Sie möglicherweise interessieren, dass Boldin ein wenig geflunkert hat, wenn er behauptete Tharbad nur zum Bunkern von Treibstoff angelaufen zu haben.« Mit diesem Satz genoss der Informationsagent meine vollständige Aufmerksamkeit. »Die Yacht lag viereinhalb Tage in Tharbad. Genaugenommen lag sie in Becken 17, dem privaten Hafenteil der Boldinwerke. Ich habe Ihnen alle Infomationen an Ihr Terminal hochgeladen. Schauen Sie sich alles in Ruhe an. Ich bin da noch etwas auf der Spur, was Sie vermutlich interessieren könnte. Bis dahin, danke für Ihr Geld.«»Danke für Ihr Geld!«, galt in Blaufurt als ein sehr wohlwollender und freundlicher Gruß.

Der Typ war gut, soll heißen, er leistete hervorragende Arbeit. Das Dossier, das er mir schickte, enthielt nicht nur genaue Reisedaten. Boldins Yacht hatte tatsächlich viereinhalb Tage in Tharbad geankert. Dafür, dass Boldin diese Stadt nicht sonderlich schätzte, sind viereinhalb Tage eine reichlich lange Zeit. Stellte sich also die Frage, was Boldin in Tharbad wollte. Ich und mein PDA-Implantat waren uns ziemlich sicher, dass das Drachenblut und der Datenkristall in Tharbad auf die Yacht gekommen war. Vor Tharbad hatte sie über zwei Monate die Küstenline zwischen Südharrasland und Nordwestgoldor abgefahren und dort die verschiedensten Yachthäfen, wie Crossar oder Xengabad, angelaufen, um dort aber selten länger als einen Tag zu bleiben. Boldins Reiseorte folgten einem Muster, der Aufenthalt in Tharbad war die Ausnahme in diesem Muster.

Tharbad – Zweitgrößte Stadt Goldors und Zentrum der industriellen Produktion. Tharbad – ein verfluchter Ort. Nach allem, was ich während meiner Ausbildung über diese Stadt gelesen und an Bildern gesehen habe, war Tharbad der menschen-, elben- überhaupt lebensfeindlichste Ort Goldors, wenn nicht der ganzen Welt. Hier schmiedeten Orksklaven den Waffenstahl des Königs. Es war ein Ort der Gestrandeten, Entwurzelten und Verzweifelten. Wer anderswo scheiterte oder wem sein Hab und Gut genommen wurde, weil er die Steuern des Königs nicht mehr zahlen konnte, den verschlug es früher oder später nach Tharbad, dem Vorhof zum Reich der Toten und Verdammten.

Berichte der Gilde sprachen von einer Stadt, in der es keine Farbe gab, nur grau und schwarz. Selbst die Haut der Menschen, ihre Gesichter und Hände, war grau und schwarz. Die Luft, die sie atmeten, atmen mussten, war verpestet. Der Fluss, der Tharbad durchströmte, war eine schwarze ölige Brühe, die sich ins Meer ergoss und im Umkreis vieler Seemeilen jedes Leben im Meer tötete. Gigantische Fabriken mit hohen Schornsteinen, aus denen Tag und Nacht schwarzer Rauch quoll, säumten den Fluss und pumpten ihre Abwässer in ihn hinein.

Wer in Tharbad lebte, leben musste, hatte nichts mehr zu verlieren. In keinem anderen Ort, nicht mal in Blaufurt, war ein Leben weniger wert, als dort.

Außer den schwarzen Fabriken Tharbads, gab es noch etwas anderes, was diese Stadt zu einem verfluchten Ort machte. Einem Ort des Schreckens und der Angst. In Tharbad stand der Barad baul, der Turm der Qual, der größte Kerker Goldors. In Goldor hieß es, dass schuldig gesprochene Verbrecher, die vor die Wahl gestellt wurden, zwischen einer Haft in Barad baul oder dem Tod durch den Strang zu wählen, immer den Strang wählten. Es gibt Dinge, die sind schlimmer als der Tod. Barad baul war eines dieser Dinge. Die meisten Verurteilten, die nach Barad baul gingen, kehrten nie von dort zurück. Die, die zurückkehrten, waren verändert, nicht mehr sie selbst.

Alles in allem war Tharbad kein Ort, an dem ich meinen nächsten Urlaub verbringen wollte. Trotzdem beschlich mich das ungute Gefühl, dass ich eben jenem Ort sehr bald einen Besuch abstatten würde.

»Vermutlich hast du Recht…«, war alles, was Ivoricalad zu dem Thema bemerkte.


Ich weiß nicht, ob er ein Naturtalent war oder ihn der Zufall auf die richtige Fährte gebracht hatte, jedenfalls entpuppte sich Simon Nachtwasser, einer der drei Informationsagenten, als absoluter Glücksgriff. Bereits sein erster Bericht enthielt mehr Informationen, als die beiden anderen zusammen genommen ermittelt hatten. Was soll ich sagen, bis auf überhöhte Rechnungen und Spesenanzeigen, hatte ich bisher gar nichts gesehen. Der Informationsagent lieferte nicht nur die Spur nach Tharbad, er schien sich sogar daran festzubeißen. Neun Tage nach seinem ersten Bericht kontaktierte er mich erneut.

»Wissen Sie, dieser Zwerg, Boldin, muss ein ziemlich hohes und mächtiges Tier gewesen sein. Die Leute in Tharbad sind berüchtigt für ihr mitteilsames Wesen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Kommt man allerdings auf das Thema ›Boldin‹ oder ›Boldin Dynamics‹ zu sprechen, werden sie plötzlich sehr wortkarg. Immerhin, mit entsprechender Motivation gelang es mir trotzdem ein paar Dinge zu erfahren. Das hört sich alles nicht wirklich gut an. Auf keinen Fall ist es als Gutenachtgeschichte geeignet. Also, Boldin Dynamics genießt in Tharbad eine Sonderbehandlung was offizielle Stellen betrifft. Kein Staatsdiener des Königs würde es wagen, gegen die Interessen dieser Firma zu handeln. Die Mitarbeiter sind quasi unantastbar. Ich habe von einem ehemaligen Schankwirt gehört, dem man den Laden zugemacht hat, nachdem er sich mit einem Typen von Boldin Dynamics angelegt hat. Der wollte seine Zeche nicht bezahlen, weswegen der Wirt die Polizei holte. Nun, die hatten nichts besseres zu tun, als seinen Laden zu verwüsten, die haben sogar reingepisst und reingesch… ähm, nun ja … Sie können es sich denken. Jedenfalls haben sie anschließend dem Wirt wegen ›unhaltbarer hygienischer Zustände‹ die Schanklizenz entzogen.«

»Das eigentlich interessante ist, dass niemand weiß, was in Boldins Werk eigentlich produziert wird. Es gibt Gerüchte, beunruhigende Gerüchte, wonach zum Tode verurteilte aus »Barad Baul« an Boldins Werk geliefert worden sein sollen. Natürlich hat niemand selbst etwas gesehen und genauso natürlich weiß niemand, was mit den Leuten dort gemacht wurde. Mich würde es schon reizen, einen Blick hinter das Werkstor von ›Boldin Dynamics‹ zu werfen. Nur dürfte das meine Fähigkeiten überfordern. Das Werkgelände ist mit einem absolut tödlichen Secure-O-Fence Perimeterschutz gesichert. Da kommt kein Floh rein, ohne dass sämtliche Alarmglocken läuten und der Floh geröstet, gegrillt, zerstrahlt, verhext oder sonstwas wird. Aber vielleicht haben wir Glück. Heute Nacht treffe ich mich mit einem ehemaligen Arbeiter des Ladens. Er meint, er könnte mir spektakuläre Informationen geben. Nun ja, abwarten. Vermutlich will er nur Geld haben. Aber man weiß ja nie.«

Ich war beeindruckt, was Nachtwasser in so kurzer Zeit in Erfahrung gebracht hatte. Mit meiner nachdrücklichen Mahnung, bitte, sehr sehr vorsichtig zu sein und sich auf keine gefählichen Sachen einzulassen, beendete ich das Gespräch. Trotzdem, ich hatte ein mulmiges Gefühl. Dass Boldin ein Monster war, stand außer Frage. Nur Monster entwickeln und produzieren Waffen wie die Todesigel. Zu was war dieser Zwerg noch fähig, dass er dafür Todeskandidaten benötigte? Allein der Gedanke daran ließ meine Nachkenhaare sich sträuben.


Ich hasse es, wenn sich meine Ahnungen bestätigen. Die Warnung, die ich Simon Nachtwasser mit auf den Weg gegeben hatte, stellte sich als vergeblich heraus. Am Mittag des folgenden Tages erhielt ich eine anonyme Nachricht, die mir das Blut in meinen Adern gefrieren ließ. Sie bestand aus einem kurzen Text und einer Reihe von Bildern. Die Bilder zeigten der Reihe nach die einzelnen Stadien des Todes des Informationsagenten Simon Nachtwasser. Man hatte ihn zu Tode gefoltert und sich dabei sehr viel Zeit gelassen. Der Text dazu lautete: »Ein freundlich gemeinter Rat: Mischen Sie sich nicht in Dinge ein, die Sie nicht verstehen und die Sie nichts angehen. Den Tod Ihres kleines Spions haben allein Sie zu verantworten, Herr Segato G’Narn, stellvertretender Sekretär des Gildehauses von Crossar!«

Splitter und Scherben

»Bomben sind die Vorschlaghammer der Diplomatie«

Aus den Erinnerungen Eusebius Praxter, Protokollchef a.D. des Königs von Goldor

»Weicht zurück!«, donnerte Turondurs Stimme durch den Festsaal. Vom puren, weißen Seelenlicht des Elben geblendet begann der Urukattentäter unkontrolliert umher zu taumeln und hielt dabei den aktivierten Todesigel in der Eisbombe in seinen Händen. Dessen Tentakel tasteten gierig nach einem Ziel, das seinem vorbestimmten Suchmuster entsprach. Uruks gehörten offensichtlich nicht dazu. Die feinen Antennen züngelten eher in Richtung Erogal, Kardinal Rudolfo und den anderen Teilnehmern der Friedensverhandlungen. Am Stärksten reagierte der Igel in Turondurs Nähe, ihn zischelten die Tentakel regelrecht an.

Professionelle Partygänger, welche es gewohnt waren, von Empfang zu Empfang zu pendeln, brachte so schnell nichts aus der Ruhe. Ganz gegenteilig reagierte ein Großteil der hiesigen Gäste ausgesprochen träge und eher genervt. Was fiel diesem Wichtigtuer von einem heruntergekommenen Elbenprinzen bloß ein, sich dermaßen übertrieben in Szene zu setzen und ein bisher wunderbares Festbankett zu stören? Konnte er damit nicht wenigstens bis nach dem Dessert warten?

Nur sehr langsam sickerte die Erkenntnis in die Hirne der Bankettteilnehmer, dass es sich bei Turondurs Warnruf und Zauber um alles andere als Profilierungssucht handelte. Vielmehr bestand eine ernste und sehr konkrete Bedrohung für Leib und Leben. Aber davon wollte man eher nichts wissen. Man war halt wenig geneigt, sich mit etwas anderem, als den wirklich vorzüglichen Speisen der Gildeküchenmeister zu beschäftigen.

»Erogal, bring die Leute hier raus, schnell!«, rief Turondur. Sein alter Freund reagierte, im Gegensatz zum phlegmatischen Partyvolk, sofort und begann die Gäste in Richtung der nächstgelegenen Notausgänge zu scheuchen. Man ließ sich nur widerwillig scheuchen.

»Verdammt, die Ausgänge sind verschlossen!«, brüllte Erogal, als die Türen sich weigerten sich öffen zu lassen. Die Situation spitzte sich zu. In der Mitte des Festsaales torkelte ein von Turondurs Magie geblendeter Selbstmordattentäteruruk umher und drohte jederzeit in einen Pulk unschuldiger Gäste zu stolpern. Gleichzeitig schlug die Lahmarschigkeit der Gäste in Angst um, als sie begriffen, welche Gefahr der Uruk bei sich trug und dass ihnen der Fluchtweg versperrt war. Panik lag in der Luft.

Turondur begriff, dass er schnell handeln musste, wollte er eine Katastrophe verhindern. Er musste den Uruk stoppen. Egal welcher Preis dafür zu zahlen war. Turondurs Hände griffen in die Luft, vollführten geschmeidige Formen uralter Beschwörungen, die er mit einem heiligen Gesang begleitete, der nur noch von einer Hand voll Elben beherrscht wurde. Turondur rief die höchsten Götter seines Stammes an und die Gerufenen erhörten seine Bitte. Zwischen seinen Händen entflammte das Feuer der Geister der Stammesväter. Ein Feuer aus der Altvorderzeit, der Zeit vor der Erschaffung von Sonne und Mond.

»Kann mir mal jemand sagen, was dieser ganze Hokuspokus soll?«, platzte unvermittelt der Präfekt des Gildehauses in Turondurs Konzentration. Der Mann entpuppte sich als noch begriffsstutziger, als das amüsiersüchtige Partyvolk: »Ich glaube, Herr Turondur, sie schulden mir eine Erklärung! Ich kann ja verstehen, dass sie Kardinal Rudolfo beeindrucken… Oh, was ist das…«

Dass der Präfekt des Gildehauses ein speichelleckender Technokrat ohne jegliche Kultur war, stand für Turondur seit ihrer ersten Begegung außer Frage. Dass der Präfekt ein ignoranter, inkompetenter Trottel war, zeigte sich erst jetzt. Bis zum überraschten »das« schien der Mann nicht im Ansatz begriffen zu haben, was gerade in seinem Festsaal geschah. Als er es schließlich begriff, war es zu spät, der Todesigel feuerte ein Projektil ab. Der Präfekt brachte noch ein überraschtes »Oh!« über seine Lippen, dann brach er mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen.

Soweit dies überhaupt möglich war, wichen die Gäste des Banketts noch weiter zurück, pressten sich dicht an die Wand des Saals, doch der Uruk torkelte weiter umher. Wenn Turodur eben noch versucht hatte, die Sache mit einer Beschwörung eines Wortes der Macht zu beenden, hatte der Narr von einem Präfekten ihm diese Möglichkeit geraubt und damit vermultich ihrer aller Schicksal besiegelt. Beschwörungen dieser Art wiederholt man nicht eben einfach mal. Alleine die Energie mit den Händen zu bündeln, ihr eine Form zu geben, war ein zehrender Kraftakt. Doch mitten im Punkt höchster Konzentration gestört zu werden, kam einem Schlag mit einem Felsbrocken gleich. Das Feuer der Götter zwischen seinen Händen geriet außer Kontrolle und brach aus. Ein Blitz zuckte aus dem Feuerball hervor und traf den Elbenprinzen am Kopf. Turondur brach besinnungslos zusammen und fiel zu Boden, sein Licht verblasste und verschwand, der Uruk war nicht mehr orientierungslos. Blitzschnell erfasste er die Situation, schaute sich um, suchte und erkannte sein Ziel, auf das er direkt zu hielt, auf Kardinal Rudolfo!


Wie aus dem Nichts blitzte plötzlich eine Schwertklinge auf. Die Luft sirrte, als der kalte Stahl durch sie hindurchjagte. Dann gab es einen dumpfen Schlag, gefolgt von einem schneidenden Geräusch und dem Klatschen von Blutstropfen, die auf eine feste Unterlage geschleudert wurden. Die Uruk schaute verdattert und mit weit aufgerissenen Augen drein, dann verlor er seinen Kopf. Sein Schädel rutschte einfach von seinem Hals. Der Mund formte noch lautlose Worte, dann wurde der Kopf unter seinem eigenen herabstürzenden Körper begraben und mit ihm der Todesigel.

»So!«, ließ sich der Vicomte Berengo vernehmen, während er sein Schwert mit einer Stoffserviette des Bankettisches abwischte, »Ich glaube die Party ist vorbei.«

Im selben Moment als der Uruk niedergesteckt wurde öffneten sich die Türen des Festsaals. Offenbar war es gelungen, jemanden außerhalb des Saals zu erreichen, der wiederum die versperrten Türen löste. In Windeseile leerte sich der Saal. Zurück blieben nur noch Erogal, Graf Targon, Kardinal Rudolfo, Oberreeder Amunsen, Vicomte Berengo und Erogal D’Santo. Am Boden lagen, wenn auch aus unterschiedlichsten Gründen, ein Uruk, der Präfekt und Turondur. Der Uruk war schlicht und ergreifend tot, der Präfekt bald auch und bei Turondur wusste man es nicht genau.

»Helft mir den Präfekten und Turondur aus den Saal zu tragen«, forderte Erogal die Eminenzen wenig protokollgerecht auf. Niemand zögerte, alle packten zu und trugen die beiden Überlebenden aus dem Saal. Auf dem Weg hinaus kam ihnen Ole Olson entgegen, der einen kleinen drahtigen Mann hinter sich her zog.

»Dieser Giftzwerg versuchte sich aus dem Staub zu machen, als ich ihn dabei erwischte, wie er sich an den Türen des Festsaals zu schaffen machte. Seht was er bei sich trug!«

Ole Olson präsentierte der staunenden Gesellschaft nichts geringeres als eine Todesigelfernsteuerung. Niemand sagte etwas, sondern starrte wechselweise auf die Fernbedienung, den sich in Agonie windenden Präfekten und den mutmaßlichen Drahtzieher des Attentates.

Erogal D’Santo war der Erste, der seine Fassung wieder fand. Das heißt, er war der erste, der sich aus seinem Schockzustand befreien konnte, was vermutlich an dem in ihm aufbrodelnden Zorn lag, als er den Attentäter erkannte, auf in zu stürzte und am Kragen packte: »Presidus K’Gata! Warum verrätst du uns? Sag es! Ich brech dir jeden einzelnen Knochen! Wer steckt hinter dem Attentat? Wer bezahlt dich? Rede, du Verräter! Wie ist der Code, um den Igel abzuschalten? Rede, du Wurm, rede!«

Erogal schüttelte den Gildebruder Namens Presidus K’Gata kräftig durch, doch der reagierte nicht, sondern schaute ihn und die anderen mit einer Mischung aus Abscheu und Verachtung an: »Ihr sollt verrecken!«

Plötzlich gelang es K’Gata sich irgendwie Erogals Griff zu entwinden. Kaum war er frei, sprang er zur Seite. Griff mit seiner Rechten Hand sein linkes Handgelenk und und drehte es, wider normaler Körperphysik, um 360 Grad.

»Er ist eine Bombe!«, schrie Olson und sprang dabei gleichzeitig auf den Attentäter zu. Mit der vollen Wucht seines Körpers stieß er K’Gata durch die geöffnete Tür des Bankettsaals, packte die Türflügel und riss sie knallend zu: »Deckung!«

Presidius K’Gata detonierte und mit ihm der Todesigel. Die Explosion verwüstete den Festssaal und hätte dabei auch fast Erogal und die anderen Gäste verletzt oder gar getötet. Ihre relative Unversertheit verdankten sie einzig Olsons Geistesgegenwärtigkeit, einer sehr stabilen Saaltür, geöffneten Notausgängen auf der anderen Seite des Saals und dem Umstand, dass alle, so gut wie es unter den gegebenen Umständen möglich war, in Deckung gesprungen waren.

»Ist jemand verletzt?«, fragte Olson, während er sich selbst Staub und herabfallenden Putz von seiner Kleidung klopfte. Die Angesprochenen stöhnten verstört, antworteten aber einer nach dem anderen mit einem »Nein!«. Der eine oder andere hatte sich leichte Prellungen zugezogen, doch im großen und ganzen waren alle wohlauf. Alle, bis auf den Präfekten und Turondur.

Der Elbenprinz lag besinnungslos neben Erogal. Nach dem sich die erste Aufregung gelichtet hatte, fand Erogal Zeit, sich um seinen alten Freund zu kümmern. Doch da gab es nichts zu kümmern. Turondur war besinnungslos oder lag eher im Wachkoma, wenn man es richtig betrachtete. So sehr es Erogal D’Santo drängte, sich um seinen alten Freund zu kümmern, so sehr musste er sich zuerst mit anderen Dingen beschäftigen. Eines der Dinge, die seine Aufmerksamkeit erforderte, war Kardinal Rudolfo und die Unterhändler, die immer noch anwesend, etwas abseits miteinander sprachen und sich zu beraten schienen. Nach ein paar Minuten, in denen Erogal mehrfach den Zustand Turondurs und des Präfekten auf Veränderungen überprüfte, trat unerwartet Kardinal Rudolfo zu Erogal heran.

»Wir wissen, dass dies nicht der richtige Moment ist, doch möchte wir uns bei Ihnen und der Gilde bedanken. Sie und Prinz Turondur haben unser aller Leben gerettet. Harrasland und Goldor sind übereingekommen noch heute mit Friedensverhandlungen zu beginnen. Außerdem tritt ab sofort ist ein Waffenstillstand in Kraft«, Kardinal Rudolfo seufzte, von der Arroganz und Überheblichkeit der Kirche war nicht mehr viel übrig, »Es scheint, als wenn wir alle gegeneinander ausgespielt wurden. Eine unbekannte Macht hegt allen Anschein ein Intersese daran, dass sich Harrasland und Goldor bekriegen. Niemand, auch die Kirche nicht, sieht sich gern als Spielball fremder Interessen.«

Erogal D’Santo nickte. »Stimmt!«, dachte Erogal, »Wenn jemand alle gegeneinander ausspielt, dann seid ihr das.« Die Kirche der unifizierten Technokratie war alles andere als ein Knabenchor. Sie war eine handfeste Konkurrenz der Gilde und griff zuweilen zu sehr fragwürdigen Mitteln bei der Durchsetzung ihrer Interessen. Manche Dinge, die die Kirche tat, betrachtete die Gilde sogar als amoralisch und verachtenswert. Persönlich traute Erogal Kardinal Rudolfo eine Menge zu, von schamloser Lüge bis hin zum Mord, wenn es aus Sicht der Kurie notwendig sein sollte. Doch etwas in der Stimme des Kirchenfürsten überzeugte Erogal davon, dass es Rudolfo ernst meinte.

»Sie bitten die Gilde um Hilfe?«

Natürlich konnte der Kardinal nicht vollständig aus seiner Haut, weswegen er sehr vorsichtig formulierte: »Sagen wir lieber, wir bieten der Gilde eine Partnerschaft an. Wer immer hinter diesem Attentat steht, wird nur gemeinsam enthüllt werden können.«

Erogal nickte zustimmend: »Ich glaube, die Gilde wird sich Ihrem Vorschlag nicht verschließen.«

Im selben Moment kamen zwei Gildebrüder herangeeilt. Mit für Außenstehende kaum warnehmbaren Gesten teilte einer der Brüder Erogal D’Santo mit, dass er sehr wichtige Nachrichten hatte, die allerdings nur für ihn bestimmt waren. Erogal überlegte, wie er den Kardinal und die Unterhändler gleichzeitig höflich und schnell los werden konnte. Ihm kam eine Idee. Warum nicht etwas Kooperation und Unterstützung für die Friedensverhandlungen anbieten. Er wandte sich an Kardinal Rudolfo: »Lassen Sie sich von diesem Bruder bitte in unsere Bibliothek führen. Nach diesem Attentat mache ich mir Sorgen um die Sicherheit der Verhandlungspartner. In der Bibliothek sind Sie und die Unterhändler sicher, es ist ein geschützter Raum. Dort wird sie nichts bedrohen außer dem, was sie selbst mit hineinbringen. Wenn Sie die Türen schließen, wird alles, was innen vertraulich gesprochen wird, niemals den Weg nach draußen finden.«

»Ich danke Ihnen!«, entgegnete der Kardinal und ließ sich von einem der beiden Gildebrüder in Richtung Bibliothek führen. Als die Gruppe außer Sichtweite war, fragte Erogal D’Santo den zweiten Bruder: »Was gibt es denn Wichtiges?«

Der Angesprochene antwortete nicht sofort sondern deutete auf Ole Olson. Erogal stutzte. Er war über sich selbst verblüfft. Wieso traute er dem Neovikinger? Gut, Turondur hatte ihm vertraut, doch der lag bewusstlos am Boden. Erogal zuckte mit den Schultern und entschied seinem Instinkt zu folgen: »Es ist in Ordnung. Sprich!«

Der Gildebruder sprach: »Die Leiche im Festsaal ist nicht Bruder K’Gata. Wir haben ihn in seiner Wohnzelle gefunden. Nach dem Attentat haben wir sofort seine Zelle aufgebrochen, um dort nach Spuren zu suchen. Wir fanden welche: Bruder K’Gatas toten Körper, eingehüllt in eine Art Kokon aus einem transparentem organischem Material. Der fortgeschrittenen Verwesung nach muss er bereits eine Weile tot sein. Der Kokon verhindert, dass Gerüche nach außen gelangen. Er scheint sogar zu leben und Bruder K’Gata zu verdauen. Wer immer also in den letzten Wochen als K’Gata aufgetreten war, war ein Double.«

Dies war bereits das zweite Mal, dass sich ein Doppelgänger in das Gildehaus einschleichen konnte. Wer war noch eine Fälschung? Wem konnte man noch trauen? Erogal fluchte: »Wir waren zu nachlässig, zu selbstsicher! Zu überzeugt von der eigenen Überlegenheit!«

Mit diesen Gedanken im Kopf wanderte Erogals Blick über den reglosen Körper Turondurs. Die Augen des Elben waren weit geöffnet, doch schauten sie nicht hinaus in die Welt. Turondur schien etwas völlig anderes zu erblicken.

»Was ist das?«

Ole Olson hatte sich zu Erogal gesellt. Auch er versuchte den Zustand des Elben zu ergründen, in dem er ihn genau untersuchte. Dabei kam er zwangsläufig auch zu Erogals Augen.

»Sehen Sie das auch? Seine Augen funkeln«, flüsterte Olson leise, so dass nur Erogal D’Santo seine Worte hören konnte. Durch den Neovikinger aufmerksam gemacht, schaute Erogal D’Santo genauer hin. Olson hatte recht. In Turondurs Augen funkelte etwas. Oder genau, in seinen Augen flackerten Lichter.

»Ich brauche eine Lupe!«, rief Erogal D’Santo dem verbliebenen Gildebruder zu, der die Nachricht von K’Gatas Tot überbracht hatte, »Im Physiklabor der Schule gibt es welche! Schnell!« Der angesprochen Gildebruder nickte hastig und eilte hinfort.

In Segatos Schädel arbeitete es auf Hochtouren. Wie konnte er Turondur helfen? Toldin! Er musste Turondurs Drachen fragen. Schließlich bildeten Drache und Reiter ein Wesen. Erogal sprang auf und rannte durch eine der Terrassentüren in den Innenhof des Gildehauses in dem es sich Toldin bequem gemacht hatte.

Der sonst so mächtige Drache lag müde und schläfrig im Gras. Als Erogal zu ihn herantrat, schaute er kaum zu ihm auf.

»Was ist mit Turondur? Wie kann ich ihm helfen?«

»Du kannst nichts für ihn tun. Turondur hat versucht euch alle zu retten. Er hat die Götter seines Stammes beschworen. Es war ein mächtiger Zauber, den er entfachen wollte. Doch dann kam dieser Trottel von einem Gildehauspräfekten und hat seine Konzentration gestört. Peng!«

»Peng?«

»Peng! Der Zauber geriet außer Kontrolle und hat Turondur getroffen. Ein Teil seines Geistes, seiner und meiner Seele, wurde dabei aus seinem Körper geschlagen und treibt nun körperlos durch die Welt. Turondur wird erst erwachen, wenn seine Seele ihren Weg zurück findet.«

»Und wenn nicht?«

»Werden er und ich hier in eurem schönen Gildehaus sterben.«

Erogal war viel zu geschockt, als dass er etwas entgegnen konnte.

»Soweit ist es ja noch nicht«, versuchte Toldin zu beruhigen, »Und in der Zwischenzeit könntest du Turondur bitte zu mir bringen und ihn zwischen meine Arme legen.«

Erogal D’Santo eilte zu Turondur zurück. Ole Olson wartete bereits ungeduldig auf ihn und gestikulierte wild mit einer Lupe, die man ihm inzwischen gebracht hatte.

»Sehen Sie!«, rief Olson Erogal zu, »Die Augen funkeln nicht, es ist viel mehr so, als wenn man durch sie hindurch an einen anderen Ort sehen kann.«

Turondur schaute selbst, nachdem ihm Olson die Lupe gereicht hatte: »Sie haben Recht! Was ist das? Kennen Sie den Ort?«

Erogal reichte dem Neovikinger das Schauglas zurück. Der hielt es direkt über Turondurs Augen. Lange drehte und schwenkte er die Lupe hin und her. Plötzlich kräuselte sich die Stirn des blonden Hünen. Erogal meinte den Gesichtsausdruck deuten zu können. Ole Olson hatte etwas wiedererkannt: »Und?«

»Ich kennen den Ort!«, meinte Olson langsam. Aus seiner Stimme konnte man deutliche Abneigung heraus hören: »Es ist Tharbad.«

»Tharbad?«, schrie Erogal angewidert, als hätte er in benutztes Taschentuch gegriffen.

Olsons Mine ferfinsterte sich, »Es ist noch schlimmer als das. Es ist der ›Barad baul‹, der Turm der Qual und euer Freund und Schüler, Segato G’Narn steht vor seinem Tor!«

Wahnsinn mit Methode

»Hoffnung ist die Droge der Ahnungslosen!«

Aus dem Buch Erkentnisse des grauen Orakels von Traxx

Turondur brauchte eine ganze Weile bis er realisierte, was geschehen war. Eben noch befand er sich im Festsaal des Gildehauses von Crossar, jetzt trieb er körperlos über der Welt. Körperlos – Eine sehr gewöhnungsbedürftige Erfahrung, die man erst einmal verarbeiten muss, selbst für einen Elben. So ist es mit einem Körper im Normalfall relativ leicht, sich dort hin zu bewegen, wo man hin will. Ohne Körper war dies… schwieriger. Nach einer Reihe wenig erfolgreicher Versuche durch Konzentration eine bestimmte Richtung einzuschlagen, ließ sich Turondur vorerst treiben.

Turondur musste einsehen, dass er in die Rolle eines passiven Beobachters verbannt war. Er sah eine Welt, die ihm präsentiert wurde. Willentlich? Gab es einen Grund, warum er sah, was er sah? Warum er einen bestimmten Ort besuchte und einen anderen nicht?

Das erste Ziel, den Turondurs körperloser Geist ansteuerte, war Daelbar. Turondur erschrak. Was sah sein Geist? Die Gegenwart? Die Zukunft? Auf jeden Fall war der Anblick erschreckend. Daelbar wurde belagert. Bereits weit vor den Grenzen Daelbars lagerten riesige Ork- und Urukheere. Sie hatten die Stadt weiträumig eingekreist. Diese Belagerung war nicht planlos und chaotisch, wie für Orks üblich, sondern präzise strukturiert. In regelmäßigen Abständen waren hell und hoch lodernde Feuer errichtet worden, die die Bogenschützten Daelbars blenden sollten. Katapulte schleuderten giftig grüne Feuerbälle über die Stadtmauer, die sich am Ort ihres Aufschlags in klebrigen, ätzenden, kriechenden Schleim verwandelten. Gleichzeitig versuchten unzählige Drachen die Orkheere aufzumischen. Entweder bestrichen sie ganze Kompanien mit Drachenfeuer oder pflügten mit ihren Klauen durch die Reihen der Feinde. Die Gegenwehr wäre effektiv gewesen, hätten sie nicht gegen Unmassen von Orks, Uruks, Trollen und Warags ankämpfen müssen. Es war, als wenn man versuchte einen Ameisenhügel mit einer Kuchengabel zu zerstören, ohne dabei von den Ameisen gebissen zu werden.

Je weiter sich Turondur Daelbar näherte, desto deutlicher konnte er das Schlachtgeschehen beobachten. Auf einem Turm des Ratsaals stand Uskav und dirgierte die Verteidigung, was Turondur ein wenig befriedigte. Sein Vertrauen in den Uruk bestätigte sich. Uskav zum Verteidigungsminister und stellvertretenden Ratspräsidenten zu machen, war eine richtige und weise Entscheidung gewesen.

Doch war dies die Gegenwart? Oder war es die Zukunft? Vielleicht auch nur eine mögliche Zukunft?

Die Belagerungsschlacht änderte sich. Eine Gruppe riesiger Trolle zog einen gigantischen Wagen heran auf dem eine giftgrün funkelnde Kugel lagerte. Sie schwebte etwas über dem Wagen und wurde von einer Art Gestell an Ort und Stelle gehalten. Turondur erkannte die Kugel. Sie glich haargenau den Konstruktionsplänen jener Waffe, die sie in Segatos Datenkristall vorgefunden hatten. Die Waffe wurde in Position gebracht. Allein beim Anblick dieser bösartig glimmenden Kugel wurde Turondur schlecht. Denn diese Waffe war bösartig, bösartig und tödlich. Erst auf den zweiten Blick sah Turondur, dass die Trolle, die den Wagen zogen, ständig gegen neue ersetzt wurden. Nach einer halben oder dreiviertel Meile starben die Trolle. Ihre Kadaver waren von klaffenden Wunden zerfressen, deren Ränder grünlich glitzerten. Nach ein paar Minuten war von den Körpern der Trolle nur noch blanke Knochen übrig. Orks, die das Pech hatten, den sterbenden Trollen zu nahe zu kommen, genaugenommen ihren Wunden, ereilte das gleiche Schicksal. Ein giftgrüner Glitzer fraß ihre Körper auf.

Turondur ahnte, was diese Waffe war. Sie war der Tod oder etwas noch schlimmeres. Es war eine Waffe, die weder Freund noch Feind kannte, sondern ausschließlich Leid, Verderben und Vernichtung. Und diese Waffe wurde gegen Daelbar und alles wofür diese Stadt stand in Stellung gebracht.


Eine Art Wind erfasste Turondur. Das Bild Daelbars verblasste. Turondurs treibender Geist wurde hinweggeweht. War es eine Warnung die er gesehen hatte? Eine Vision, die ihm zeigen sollte, was geschehen konnte? Er war sich sicher, dass es nicht die Gegenwart war, die man ihm gezeigt hatte. Es war die Zukunft für den Fall seines Scheiterns.

Turondur körperloser Geist trieb durch zeitlose Wolken und Dunst. Es gab gute Gründe, warum man mit Beschwörungszaubern vorsichtig sein sollte. Dass ihn dieser Idiot von einem inkompetenten Gildehauspräfekten derart ablenken konnte, dass er die Kontrolle über seine Beschwörung verlor, war eigentlich unverzeihlich – sich selbst und dem Präfekten gegenüber. Turondur war schon klar, dass er nicht ewig körperlos umher treiben konnte. Schließlich gab es da noch seinen Körper und vor allem gab es Toldin. Ohne Turondurs seelische Verbindung konnte der Drache nicht überleben und ohne Toldin konnte Turondur nicht leben. Grundsätzlich, das fühlte Turondur, war die Verbindung zwischen ihm und seinem Drachen nach wie vor vorhanden. Nur war das Gefühl sehr schwach, mehr eine verzerrte Reflexion. Nichts, was ihm und Toldin auf Dauer zum Leben ausreichen könnte.


Der Dunst um Turondur lichtete sich und gab den Blick auf eine andere Szene frei. Wieder handelte es sich um eine Schlacht. Wieder kämpften Orks. Er kannte diese Schlacht. Sie entstammte der Vergangenheit. General Uskav, prätorianischer Uruk erster Klasse, General und Meister des Mordes Seiner Majestet des Königs von Goldor metzelte mit seinen Orks ein Dorf nieder. Turondur kannte dieses Dorf, obwohl er es nie gesehen, geschweige jemals einen Fuß hineingesetzt hätte. Es war das Dorf Gilfeas. Es war die Nacht, in der eine Horde Orks auf der Suche nach Gilfea alles niedermetzelte, was sich bewegte.

Und dann sah Turondur ihn, den Diener des namenlosen Bösen, wie er sich dem Haus Meister Arbogasts näherte. Turondur sah ihn und wäre vor eisiger Furcht erstarrt, hätte er einen Körper besessen. Es gibt nichts in der Welt der Menschen, das ein Elb fürchten müsste. Doch dieser Mensch, denn es war ein Mensch, weilte nur zum Teil in der Welt der Menschen. Ein Teil von ihm wandelte, wie Turondur, in der Welt der Geister und Wesen des Lichts und des Schattens.

»Dies ist nicht dein Kampf, Elbenbrut!«, zischte der Mensch Turondur durch Raum und Zeit zu, »mit dir werden wir uns bald, sehr bald beschäftigen. Doch jetzt verschwinde!«

Die winterlichen Eiswinde der Einöde Erudors waren wärmende Lüfte gegen die Kälte dieser Stimme. Dieser Mensch hatte sich einer Macht verpflichtet, die finsterer und bösartiger nicht sein konnte. Turondur war sich sicher, dass dies einer der Diener des namenlosen Bösen war.

Gespannt sah Turondur was folgte. Auf der Schwelle des Hauses von Meister Arbogast entfachte ein magische Kampf zwischen Gut und Böse. Der finstere Diener hatte nicht mit der Stärke, dem eisernen Willen und der ultimativen Entschlossenheit des Alten gerechnet. Meister Arbogast fegte ihn mit einem Wort von ultimativer Stärke hinfort. Der finstere Diener wurde seiner Körpers beraubt, ein Teil seiner Kraft büßte er ein, aber vernichtet wurde er nicht. Zurückgeschlagen vielleicht, geschwächt zumindest für eine Weile, aber nicht vernichtet. Meister Arbogast zahlte einen hohen Preis für diesen vorläufigen Sieg. Er zahlte mit seinem Leben, da er fast seine gesamte Lebenskraft in dieses eine Wort der Macht investiert hatte. Immerhin erfüllte es seinen Zweck, Gilfea zu retten.

Turondur sah und hörte mit an, wie Meister Arbogast seinem Schüler letzte Worte auf den Weg gab, dann floh Gilfea, rannte in Richtung seines Schicksals in Form eines Dracheneis – Mithval.

Doch etwas Kraft steckte noch in Meister Arbogast. Gilfea war geflohen, als der alte Meister Turondurs Geist entdeckte. Mit einem verschmitzten Lächeln befahl er den körperlosen Geist des Elben zu sich.

»Prinz Turondur?«, flüsterte der Alte spöttisch, »Was treibt ihr soweit entfernt von eurem Körper?«

»Ich…«, stammelte Turondur.

»Ich wollte euch nicht in Verlegenheit bringen«, schmunzelte Meister Arbogast, »Ihr seid zur rechten Zeit am rechten Ort.«

»Was?«, es kam selten vor, dass jemand einen alten Elben wie Turondur verblüffte. Meister Arbogast gelang es mit Leichtigkeit.

»Das namenlose Böse hat euch zu mir gebracht. Eine Glyphe wurde gefunden«, Meister Arbogasts Kräfte schwanden, sein Körper wurde zusehends durchsichtig, »Das namenlose Böse verfolgt einen Plan. Nun, wir auch. Mein Teil bestand darin Gilfea zu schützen«, der alte Schriftgelehrte schaute verträumt in Richtung Gilfeas Fluchtweg, »Ich kann ihn sehen. Gilfea und Mithval, es hätte nicht besser sein können.«

»Aber…«, stammelte Turondur.

»Was? Woher ich weiß, was geschehen wird?«, der Alte kicherte albern, »Schau mir in die Augen, Kleiner!«

Und Turondur schaute. Und während er schaute, verstand er. In den Augen Arbogasts funkelte ein tiefes, rotes, glühendes Feuer, ähnlich dem Feuer eines Drachens, doch anders.

»Nein, ich bin kein Drache, wie du. Meine Sippe ist eine andere, doch entstammen wir dem gleichen Feuer«, erklärte Arbogast, ohne wirklich etwas zu erklären, »Bevor ich meinen Aufenthalt in dieser Welt beende, habe ich noch eine Aufgabe zu erfüllen: Hausaufgaben verteilen!« Der Alte grinste hinterhältig: »Ich war wohl zu lange Gilfeas Lehrer. Nun gut! Deine Aufgabe, mein lieber Turondur, wird dir alles andere als gefallen. Du wirst deiner Schwester einen Besuch abstatten. Das namenlose Böse kennt viele Tricks, die Lebenden zu manipulieren, Verrat und Lüge sind nur zwei davon. Deine Schwester ist kurz davor einen schweren Fehler zu begehen. Der Weg zur Hölle ist bekannterweise von guten Absichten gepflastert.«

Turondurs Geistkörper zuckte zusammen. Er sollte seiner Schwester einen Besuch abstatten? Dann doch lieber eine Schlacht mit 3000 Orks und 50 Bergtrollen. Die waren wenigstens berechenbar, doch seine Schwester, Paula-Sylvestra II, sie war – Turondurs Geist stockte – seine große Schwester!.

»Doch vorher werde ich dich an ein paar Orte schicken, an denen ein paar deiner Freunde gerade im Begriff sind, sich in allergrößte Schwierigkeiten zu begeben. Ich glaube, es wäre eine gute Idee, ihnen zu helfen. Dir fällt sicherlich etwas ein.«

Mit diesen Worten verschwand Meister Arbogast und mit ihm das Dorf. Turondur körperlose Seele wurde von einem Wirbel erfasst, der ihn an verschiedenste Orte schleuderte. Er sah Gilfea, Suman und Gildofal umringt von Wölfen, er sah Uskav mit dem Rat der Stadt Daelbar diskutieren, er sah seinen Vater weit im Norden von Grauwald gegen eine Horde Bergtrolle kämpfen, er sah den König von Goldor in seiner Halle und er sah Segato, wie er einsam und allein vor dem abscheulichen Tor des Barad baul stand, wissend, dass er sich in eine Falle begab.


Erogal D’Santo staunte nicht schlecht, als plötzlich und unerwartet der neben ihm auf einer Liege ruhende Turondur stöhnte und sich mit einem Ruck aufrichtete.

»Turondur!«, rief der verblüffte aber ebenso erleichterte Gildemeister, »Du hast zurückgefunden!«

»Ja, das habe ich!«, lächelte Turondur seinen Freund an, dann verhärtete sich sein Gesicht: »Ich muss mit Ole Olson sprechen! Ich habe einen Auftrag für ihn. Es muss einen Toten töten!«

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