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Blaues Licht

Teil 7 - Rücksprung

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Inhaltsverzeichnis

 

Michi fühlt sich angemacht

Worin Michael Müller aus falschen Gründen die Fassung verliert

Michi glotzte erstaunt auf den Bildschirm, kratzte sich am Ohr und brach schließlich in ein ohrenbetäubendes Gelächter aus. Er war der Einzige, der lachte, was er beim ersten Luftholen dann auch merkte. Als Michi dann Ralfs und meine ernsten Gesichter sah, schaute er ungläubig von einem zum anderen, schüttelte seinen Kopf und brüllte erneut vor Lachen los.

»Ihr glaubt die Grütze doch nicht ernsthaft, oder?«, fragte Michi nach etlichen Minuten, in denen er lachte, Luft holte, wieder lachte, sich Tränen aus den Augen wischte, lachte und wieder Luft holte. »Nee, ne? Ihr glaubt das? Ich fass es nicht!«

Ich hingegen empfand die Situation alles andere als zum Lachen. Ich fühlte mich vielmehr so, als wenn ich gleich zwischen mehreren Stühlen saß. Auf dem Bildschirm des PCs meines Vaters strahlte die Startseite eines Entwicklungslogbuchs. Soweit handelte es sich noch nicht um ein Problem. Ein Problem wurde das Logbuch erst durch die Art der protokollierten Entwicklung, denn der Projekttitel ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.

GEN/CHEM-I-XP


GENetical/CHEMical Induced eXtra Perception

Entwicklung eines genetisch/chemischen Produktsystems zur Erzeugung von extrasensorischen Fähigkeiten.

Eigentlich konnte ich Michi keinen Vorwurf daraus machen, dass er sich über den Versuch totlachte, dass eine renommierte Pharmafirma, sich an einem derart obskuren, respektive dubiosen Thema, wie dem Übernatürlichen versuchte. Es wäre nicht die erste Firma, die sich mit einem solchem Projekt lächerlich machte. Vermutlich hätte ich mich genauso wie Michi verhalten und an der Vernunft meines Vaters gezweifelt, sich für diese Spökenkieckerei hinzugeben.

Man beachte den Konjunktiv. Hätte -- Ich hätte mich wie Michi schiefgelacht, wenn da nicht die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit gewesen wäre. Ereignisse, die unzweifelhaft einen übersinnlichen Hintergrund besaßen. Ereignisse, in deren Zusammenhang mir Ralf sehr nachdrücklich klar gemacht hatte, dass ich die Existenz genau dieser übersinnlichen Fähigkeiten um jeden Preis geheim halten sollte. Wie sollte ich also Michi erklären, dass ich das Versuchsprotokoll meines Vaters nicht lächerlich fand, sondern sehr ernst nahm.

Michi mochte vieles sein. Eins war er nicht, nämlich dumm. Viel mehr besaß Michi einen messerscharfen Verstand. Allerdings gelang es ihm perfekt, diese Tatsache zu verbergen. Michi hatte keine Probleme damit, als Skater-Punk mit eher schlichtem Gemüt zu gelten. Ich hatte sogar den Eindruck, dass Michi dieses Image sogar kultivierte. »Die Frauen finden Intelligenz eher abtörnend«, erläuterte Michi sein Imagekonzept. Doch Michi war eben nicht dumm. Er war hochintelligent. Michis Stärken lagen im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich, was ihm regelmäßig die besten Noten in unserer alten Klasse in Physik, Chemie und Mathe einbrachte. Es gehörte zu seiner Art der Imagebildung, diese Tatsache herunterzuspielen. Doch Michis größte Leidenschaft waren Rätsel. Kein Wunder, dass er ein begnadeter Hacker war. Welcher andere Typ würde Kryptografie als sein Hobby nennen? Ich war mir absolut sicher, dass Michi die Schutzmechanismen des Versuchsprogramms auch so hätte knacken können, solange man ihm nur genügend Zeit und Ruhe gab.

Diese Lust am lösen von Rätseln war es, die mir in diesem Moment Bauchschmerzen bereiteten. Noch lachte Michi, doch sobald er wieder ernst werden würde, würde er beginnen sich Gedanken zu machen. Warum sahen Ralf und ich so ernst aus? Wie konnte es sein, dass, aus Michis Sicht, ich mich nicht über das Projekt meines Vaters lustig machte?

Ich kannte Michi genau. Er würde mich fragen. Und dann? Sollte ich Michi anlügen? Sollte ich die Wahrheit sagen und damit gegen einen ausdrücklichen Wunsch von Ralf handeln?

Mit nur einem einzigen Freund gab es solche Probleme bisher nicht.

Mit einem um Hilfe ringenden Blick schaute ich zu Ralf.

Ralf schaute ernst zurück. Seine orange leuchtenden Augen deuteten darauf hin, dass er intensiv über etwas nachdachte. Als er dann auch noch seine Unterlippe mit Daumen und Zeigefinger knetete, er seine Augenlieder zu schmalen Schlitzen zusammenzog, seine Augen plötzlich rot aufflammten und er sich zu Michi drehte, war ich sicher, dass er mit einem ähnlichen Dilemma zu kämpfen hatte, wie ich.

Und dann tat Ralf etwas Überraschendes. Er packte Michi mit seinen Händen an dessen Schultern, hielt ihn fest und starrte Michi tief in die Augen, wie ein Hypnotiseur im Varieté. Im ersten Moment zuckte Michi zusammen und wollte vermutlich lautstark protestieren, sich wahrscheinlich sogar losreißen. Doch als er seinen Mund öffnete, um etwas zu sagen, kam kein Wort heraus. Stattdessen weiteten sich seine Augen. Michis Gesichtsmimik entspannte sich, wurde völlig schlaff. Ralf Mimik wirkte hingegen hochkonzentriert, stark angestrengt, wenn ich die Schweißperlen auf seiner Stirn richtig interpretierte. Die ganze Aktion dauerte etwa eine halbe Minute, dann löste Ralf seinen Griff.

»Verdammt!«, schrie Michi und stieß Ralf so heftig von sich weg, dass dieser über seinem Stuhl stolperte und hin fiel, »Fass mich nicht an ...«

Ich war von Michis Ausbruch völlig überrumpelt worden, so merkte ich nicht sofort, dass Ralf total erschöpft auf dem Boden lag. Erst als ich ein Stöhnen hörte, sprang ich auf und half Ralf auf die Beine.

Etwas benommen schob er mich freundlich beiseite, um sein Gleichgewichtssinn wieder zu erlangen. Noch deutlich schwankend meinte er zu mir: »Es ist schon Ok. Ich brauch nur einen Moment ...«

»Nichts ist Ok!«, schrie Michi wütend. »Ich habe nichts dagegen, dass ihr zwei schwul seid. Verdammt, ich denke, ich habe mich euch gegenüber absolut korrekt verhalten, keine blöden Sprüche gebracht und euch so behandelt, wie jeden anderen meiner Freunde. Shit, dann kann ich doch wohl von euch das gleiche erwarten. Ihr seid schwul. Ich bin es nicht! Also ...«

»Nein! Michi, bitte, warte ...«, hörte ich Ralf sagen. Hörte ich Ralf sagen? Ja und Nein. Ich war mir nicht ganz sicher. Es war zwar Ralfs Stimme, aber in ihrem Klang viel potenter. Sie war melodischer, wärmer, lauter, eingängiger und räumlicher (5.1-Surround). Ihn ihr lag eine zwingende Kraft und unterschwellige Macht, der ich nur mit größter Anstrengung widerstehen konnte. Michi konnte es nicht. Seine aufschäumende Wut verpuffte ins Nichts. Als wenn Ralf zu einem Hund »Platz« gerufen hätte, gehorchte Michi und wurde ruhig.

»Bitte setzt euch beide hin und hört mich an.«, Ralfs Stimme war wieder völlig normal, der Bann war gelöst und Michi wollte sofort wieder aufbrausen. Sofort schob Ralf ein flehendes »Bitte!« nach.

Ich kannte Michi. Er konnte zwar ein total sturer Arsch sein, aber er fällte selten vorschnell ein Urteil. Wenn Ralf etwas erklären wollte, sollte er seine Chance haben.

Ralf seufzte: »Michi, bitte verzeih mir!«

Das war alles? Ralf musterte Michi ganz genau. Der kräuselte seine Stirn. Nachdem er sich beruhigt hatte, begann er erst über das nachzudenken, was Ralf eigentlich mit ihm gemacht hatte. Als er es begriff, wurde Michi krebsrot.

»Shit! Du warst in meinem Hirn! Du hast mich gar nicht angeschwult! Shit! Shit! Shit!«, tobte er, blieb aber sitzen.

»Ja! Ich bin ein Telepath! Verstehst du, was ich sage? Ein Telepath!«

Michi wechselte von rot auf kreidebleich: »Aber, aber, aber ...«

Michi schielte aus den Augenwinkeln auf den Monitor des Computers: »Dann ist das da kein Unsinn?«

Michi kombinierte sehr schnell, denn plötzlich starrte er mich an: »Dann hat dein Vater mit dir PSI-Experimente gemacht?«

»Ich weiß es nicht. Ich vermute es. Ich denke, wir werden die Antworten im Programm finden«, antwortete ich.

Michi schaute wieder zu Ralf und sein Blick war finster: »Warum bist du in meine Gedanken eingedrungen? Hast du eine Ahnung, wie sich das anfühlt. Ralf, das war echt brutal!«

Ralf schien sich zu schämen, denn er konnte Michi nicht in die Augen schauen: »Ich weiß. Ich weiß, was ich getan habe. Ich hoffe, dass du mir verzeihen kannst. Bitte, es tut mir leid. Mir fiel keine Alternative ein, ich musste es tun! Michi, du musstest verstehen, dass übernatürliche Kräfte eine Realität sind. Du hättest es uns sonst niemals geglaubt, wenn wir es dir nicht bewiesen hätten.«

»Entspann dich!«, Michi massierte seinen Schädel. »Du tust ja fast so, als wenn du mich vergewaltigt hättest ...«

Ralf zuckte zusammen, denn genau das, eine Vergewaltigung, war es nach seinen ethischen und moralischen Regeln. Mit belegter Stimme flüstert Ralf: »Aus meiner Sicht, war es eine Vergewaltigung. Bitte, Michi, ich schäme mich so.«

»Hey, Ralf ...«, Michi wurde weich. Er war so erstaunt, wie sehr Ralf die Sache mitnahm, dass ihm sein Wutausbruch schon wieder leidtat. Michi war nicht der harte Kerl, als der er gerne erschien. Michis rechte Hand näherte sich Ralfs Kinn und hob es an. Ralf schaute auf, er sah Michi in die Augen: »So schlimm war es nun auch nicht. Es war eben nur sehr merkwürdig und ungewohnt, deine Stimme im Kopf zu hören. Es hat mich total erschreckt. Ich habe nicht nachgedacht, was ich sagte. Ralf, bitte, mach dir keine Vorwürfe. Ich kenne mich. Du hattest wirklich keine andere Chance mich zu überzeugen. Aber, bitte, mach' sowas nie wieder ohne mich vorher zu warnen! Ich bin immer noch nicht völlig überzeugt, dass es übersinnliche Kräfte wirklich gibt. Aber eine Sache ist da noch. Wenn ich das eben richtig verstanden habe, dann sagtest du vorhin ,uns`? Tobi, bist du etwas auch ein Telepath?«

»Ralf meint ja, ich wäre einer!«, ich sagte ja, dass Michi nicht auf den Kopf gefallen war. »Wir haben uns gestern über ein paar merkwürdige Dinge unterhalten, die mir widerfahren sind und die ich mir nicht erklären konnte. Ralf meinte, ich müsse ein Telepath sein. Es gäbe keine andere Erklärung.«

»Krass!«, kommentierte Michi.

»Ralf?«, fragte ich meinen Freund. »Du hast mir gestern ziemlich deutlich klar gemacht, dass wir niemanden etwas über unsere Fähigkeiten erzählen dürften.«

»Stimmt ... Im Prinzip ...«

»Wie jetzt? Ist Michi die Ausnahme von der Regel? Oder tust du es, weil er mein wichtigster Freund ist? Also Freund, nicht Freund wie du.«

»Ich weiß, was du vermutest. Ich mache diese Ausnahme, weil Michi dein ältester und wichtigster Freund ist und, weil ich dich nicht in einen Loyalitätskonflikt stürzen will. Es nicht zu erzählen, hätte doch bedeutet, dass du etwas vor ihm hättest verheimlichen müssen. Möglicherweise hättest du sogar lügen müssen. Das kann ich unmöglich von dir verlangen. Das ist es doch, was du vermutest, oder? Glücklicherweise spielt das alles keine Rolle.«

»Hä?«, kam es synchron von Michi und mir.

»Michi ist psionisch aktiv.«

Michi zog die Augenbrauen hoch. Ich glotzte ihn an: »Michi ist was? Psionisch aktiv? Was heißt das?«

»Das ist ja genau das Problem. Ich weiß es nicht.«

»Stop! Halt! Moment mal!«, mischte sich Michi verständlicherweise ein. »Du meinst, ich bin auch ein ... Telepath? Das ist doch Unsinn, oder?«

»Du bist definitiv kein Telepath. Du passt in keine PSI-Kategorie, die ich kenne. Für mich bist du auf telepathischer Ebene wie ein weißes Blatt, als wenn du nicht da wärst. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Bei jedem anderen Menschen kann ich etwas von seinem Bewusstsein fühlen. Ich muss mich nur darauf konzentrieren. Bei dir ist da nichts. Absolut nichts. Um mit dir auf telepathische Basis zu sprechen, musste ich mich unheimlich anstrengen. Ich hab' das Gefühl eben mal 5 km gelaufen zu sein. Mir ist immer noch tatterig. Ich hätte deine Gedanken hören müssen, aber da war nichts. Ich versteh das nicht. Wisst ihr was ich glaube? Michi besitzt eine völlig andere Art Übersinnlichkeit. Ich kann es nicht besser ausdrücken ... Kann ich mal etwas ausprobieren?«

»Später!«, Ralfs Neugier in allen Ehren, aber mich interessierte im jenem Moment in erster Linie der Inhalt der beiden CDs, was ich dann auch kund tat.

»Natürlich«, Ralf griff nach meiner Hand, streichelte mir den Unterarm und lächelte mich verliebt an. »Ich kann meinen Versuch auch später machen. Du hast recht, diese CDs sind wichtiger.«

»Und heiß!«, mischte sich Michi plötzlich ein. »Ich habe euch doch gesagt, dass ich alle Versuche des Rechners überwache, Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen. Eben hat er versucht einen HTTPS-Request, eine SSL-gesicherte Webverbindung zum Server der Firma deines Vaters aufzubauen.«

»Bist du sicher, dass keine Daten rausgehen?«

»Absolut sicher!«, bestätigte Michi mit absoluter Sicherheit in seiner Stimme.

»Hölle! Hätten wir die Kiste und das Programm einfach so gestartet, wüsste NextChem jetzt, dass jemand die Projektdaten meines Vaters ließt.«

»Sie wissen mehr«, korrigierte mich Michi. »Sie würde durch die Kryptokarte wissen, dass es der PC deines Vaters war. Anhand der dynamischen IP-Adresse des Providers lässt sich zudem ungefähr die geographische Lage des DSL-Anschlusses bestimmen. Die meisten Provider organisieren ihren IP-Adresspool nämlich geographisch. Mich beschleicht das Gefühl, dass wir wesentlich vorsichtiger sein sollten.«

»Du weißt gar nicht, wie recht du damit hast!«, bemerkte ich beiläufig. Ich hatte begonnen, die ersten Projektdateien zu laden und mir anzusehen.

Hund, Katze, Maus

Worin man mit Karten spielt und Michi sich als unfreiwilliger Spielverderber entpuppt

»Wenn ich die Projektdaten richtig verstehe, ist mein Vater seit 7 Jahren Projektleiter. So lange scheinen die schon zu versuchen, künstlich psionische Fähigkeiten zu erzeugen.«

Mit diesen Worten begann ich die Daten der CD in Worte zu fassen. Die ersten 2 Jahre schien man mit der Grundlagenforschung beschäftigt gewesen zu sein. Wenn ich alles richtig verstand, war die Firma, bei der mein Vater arbeitete, in den Besitz von PSI potentem Genmaterial gelangt. Andere Forschungsgruppen (es waren also noch andere an dem Thema dran) hatten mit Hilfe von Tierexperimenten nachgewiesen (so behaupteten sie), dass PSI-Fähigkeit nicht ausschließlich angeboren sein muss, sondern das man sie erzeugen kann. Das Projekt meines Vaters schien nun darin zu bestehen, dieses Konzept vom Tierversuch auf den Menschen zu übertragen.

Wie ich Ralf und Michi diese Worte vorlas, lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. Was war Paps? Eine neuzeitliche Ausgabe von Dr. Frankenstein?

Ich überflog die restlichen Seiten des Projektlogbuchs, indem ich nur die jeweiligen Kapitelüberschriften vorlas und nur, wenn es schien interessant zu werden, mich dem eigentlichem Kapitel zuwandte. Danach war das Projektteam vor rund vier Jahren zu der Entscheidung gekommen, dass ein Versuch am Menschen möglich sei. Es folgte eine Liste von Versuchspersonen, die meisten Mitarbeiter der Firma, aber auch ein paar Leute, insbesondere Jugendlichen kurz nach der Pubertät, die man von Außen hinzugezogen hatte. Die Liste umfasste 47 Namen und einen Eintrag ohne Namen. Ich klickte auf den Eintrag und wählte die Menüoption »Details anzeigen«

Der Eintrag war von meinem Vater vor gut drei Jahren angelegt worden. Offensichtlich eine Versuchsperson, die anonym bleiben sollte. Meine rechte Hand begann zu zittern, kalter Schweiß trat auf meine Stirn.

Ich musste die Maus mit beiden Händen packen, um sie bedienen zu können. Menüoption »Projekt öffnen« Das Programm antwortete mit einer Dialogbox »Bitte legen Sie Datenträger 2 ein, um die Projektdateien zu öffnen.« Ich tat, was das Programm sagte: Wie in Trance entnahm ich die ein rote CDR und legte die blaue ein. Die Dialogbox verschwand. Der Computer begann die Daten von der CDR zu laden.

GEN/CHEM-I-XP-Projektdatei


Objekt : vanBrüggen, Tobias Christian Peter

Alter: 17 Jahre
Geschlecht: männlich
Stauts: aktiv

»Damit wissen wir also endlich Bescheid«, kommentierte Michi die Projektdatei. »Unsere Vermutung schien also zu stimmen. Dein Vater hat dich als Versuchskaninchen benutzt. Damit können wir zwei Fragen als geklärt betrachten. Was das für Kapseln sind und wieso du ein Telepath bist.«

Abwägend wackelte ich mit meinem Kopf hin und her. Bei den Kapseln war ich bereit Michi Recht zu geben. Die Vermutung, dass mein Vater mit seinem Projekt Erfolg gehabt hatte, lag zwar nah, aber ich war skeptisch. Statt zu antworten, las ich das Logbuch des Versuchsobjektes Objekt: vanBrüggen, Tobias Christian Peter vor.

7.3.1998
Beginn des Langzeitversuchs Prüfung der Eignung des Objekts nach standardisierten Verfahren vanBrüggen/Sömmering-Delta 7.
15.3.1998
Prüfergebnis Objekt zeigt einen Potentialindex von 17. Dies ist der dritthöchste Index der gesamten Versuchsgruppe. Anlage der Gendatenbank. Berechnung des Medikationsplans initiieren.
2.5.1998
Medikationsplan Um die Unvoreingenommenheit des Objekts zu garantieren, wird die Verabreichung der Testsubstanz als Vitaminpräparat getarnt. Als interessanter Seiteneffekt ist der pubertär/juvenile Karakter des Objekts und die damit verbundene Unzuverlässigkeit bei der Substanzaufnahme anzumerken. Monitoring angeraten
23.5.1998
Start der Substanzaufnahme Objekt hat planmäßig mit der Aufnahme der Testsubstanz begonnen.

War es das wirklich?

War alles, was ich in letzter Zeit erlebt hatte, Produkt eines perversen Versuchs einen PSI-Mutanten zu erzeugen?



Widerwillig las ich weiter. Die klinische Distanz, man könnte es auch Arroganz nennen, mit der der Versuchsbericht geschrieben war, erzeugte Übelkeit.

Immerhin wurden mir ein paar Merkwürdigkeiten der letzten Jahre klar. Warum ich z.B. ab und zu morgens Einstichstellen an meinem Körper fand, erklärte der Bericht mit der Abnahme von Blutproben. Am jeweiligen Vorabend hatte ich wohl jeweils ein Betäubungsmittel erhalten, damit ich nachts beim Aderlass nicht aufwachte.

Gelegentlich wurde ich wohl auch, unter starker Betäubung, in die Firma meines Vaters verbracht, in der man mit mir dann umfangreiche Versuche anstellte. CT, EEG, NMR, Nervenreizleitungsmessung und Ähnliches. Das ganze Programm. Es war immerhin eine Erklärung für gelegentlich Brummschädel, mit denen ich manche Morgende aufwachte. Es handelte sich um eine Nachwirkung der Narkose.

Ergebnisse des Versuchs gab es auch. Er verlief bisher Negativ! Obwohl das Potential für die Entwicklung extrasensorischer Fähigkeiten zu wachsen schien, konnten sie niemals wirklich nachgewiesen werden. Alles war da. Eine signifikante Erhöhung von speziellen Neurotransmittern im Gehirn, die Existenz bestimmter Hormone, die Erhöhung der Hirnaktivität. Alles sprach für einen Erfolg. Aber bis zum Schluss des Berichts war noch keiner eingetreten. Der Bericht endete am Tag vor meinem ersten Treffen mit Ralf im Plattenladen und empfahl den Abbruch des Experiments.

Wie ich so auf die Zeilen des Versuchberichts starrte, begann ich etwas an meinen Vater zu verstehen. Seine Gereiztheit, seine schlechte Laune und sein immer aggressiveres Verhalten mir gegenüber schien seine Ursache in diesem Experiment zu finden. Wenn man zwischen den Zeilen las, konnte man ungefähr erahnen, unter welchem extremen Erfolgsdruck er stand. Es stand nicht explizit da, aber sein Chef schien Resultate zu verlangen und zwar um jeden Preis. Ein anderes Versuchsobjekt, Reimer, Nadja, verstarb infolge akuten Kreislaufversagens.

»Das ist doch ausgemachter Bockmist!«, neben mir polterte Ralf laut los.

»Was?«

»Telepathen mit ein paar Pillen züchten zu wollen. Unsinn! Wenn man Telepath ist, dann von Geburt an. Bei manchen Menschen bleibt diese Fähigkeit ein Leben lang inaktiv, bei anderen ruht sie, wartet aber latent darauf zu erwachen. Fast immer ist es ein äußeres Ereignis, etwa ein Schicksalsschlag, starker emotionaler Stress, der die Kräfte erweckt. Das heißt aber eben nicht, dass sie erst dann entstanden sind. Sie waren schon immer vorher dagewesen.«

»Und was ist mit den Kapseln?«, fragte Michi, den das Thema zu interessieren schien. Seinen Ärger über Ralf hatte er komplett vergessen.

»Die Kapseln ...«, Ralf sinnierte und hielt nachdenklich seinen Kopf schief. »Vermutlich haben die Kapseln überhaupt nichts gemacht. Bestenfalls, aber das wäre noch zu prüfen, haben sie Tobis Kräfte verstärkt.«

»Wie kannst du dir so sicher sein? Was, wenn es doch die Kapseln waren?«, wandte ich ein.

»Das kann unmöglich sein. Du bist der Beweis dafür, dass die Kapseln Humbug sind. Deine Fähigkeiten sind vollständig ausgebildet! Du weißt instinktiv, wie man bestimmte Techniken anwendet. Wir haben es beide selbst erlebt. Diese Techniken erlernt man nicht, indem man Pillen schluckt. Dazu ist ein spezielles Training notwendig.«

»Aber ich habe nie trainiert!«, wandte ich ein.

»Eben! Das ist der Punkt! Du hast niemals trainiert und trotzdem beherrscht du Techniken, für die normale Telepathen jahrelang üben müssen. Selbst wenn es eine Substanz gäbe, die psionische Fähigkeiten erzeugen könnten, würde sie dir nicht beibringen, wie du sie nutzt. Allerdings gibt es an diesen Kapseln etwas, dass ich beunruhigend finde. Der Wirkstoff scheint selbst psionisch zu sein, anders kann ich mir nicht erklären, warum er in deiner und meiner Gegenwart aufleuchtet.«

»Aber bei mir leuchtet es nicht! Ich denk, ich besitze auch Fähigkeiten?«, brachte Michi seine Frustration über das Nichtleuchten zum Ausdruck.

»Weil deine Fähigkeiten anders sind. Wie gesagt, ich weiß nicht, was du bist. Ich stelle mir die Unterschiede, wie die polarisierten Funksignale eines Satellitensenders vor. Wenn du nicht den richtigen Polarisationswinkel an deiner Antenne einstellst, empfängst du nichts.«

Während Michi und ich noch über Ralfs Bild nachdachten, begann Ralf in seinem Rucksack etwas zu suchen. Schnell wurde er fündig und hielt einen Stapel Karten in seiner Hand: »Ihr kennt doch dieses Gedankenleseexperiment. A nimmt eine Karte auf und denkt an das Symbol, dass er sieht. B muss jetzt erraten oder in den Gedanken von A lesen, was dieser für ein Symbol sieht. Mich würde sehr interessieren, wie wir gegeneinander abschneiden.«

Der Stapel enthielt 120 Karten. Als Erstes versuchte ich mein Glück bei Ralf, d.h. Ralf hob die Karten vom Stapel und ich versuchte in Ralfs Gedanken zu lesen. Zuerst sah ich gar nichts und fühlte mich abgelenkt. Der halbe Stapel war durch und ich hatte gerade mal 5 Treffer erzielt, obwohl ich mich wie ein Besessener anstrengte.

Ralf legte den Kartenstapel beiseite: »Entspann dich. Gedankenlesen ist selten eine Frage der Kraft, sondern der Offenheit für die Gedanken des Anderen, wenn er dir seinen Verstand so bereitwillig öffnet, wie ich. Kraft benötigst du nur, wenn du Gedanken beeinflusst, Widerstände brechen oder in eine bestimmte Richtung lenken willst. Wir fangen nochmal von vorne an.«

Ralf mischte die Karten und ich entspannte mich. Ich versuchte es immerhin. Atemtechnik! Ich schloss die Augen und versuchte ruhig und gleichmäßig zu atmen. Als ich die Augen wieder öffnen wollte, stoppte mich Ralf: »Nein, lass deine Augen zu. Deine Augen können dich täuschen. Vertrau ...«

»Der Macht?«

»Quatschkopf! Nein, vertrau dir. Öffne dich einfach ...«

Das sagte er so einfach. Wie öffnet man sich? Mit einem Dosenöffner? Ich versuchte es. Ralf sagte »Erste Karte!« und ich versuchte seine Gedanken zu lesen: »Ein Kreis.«

»Richtig!«

»Ein Quadrat!«

»Richtig!«

Und so ging es weiter. Nachdem der Stapel durch war, hatte ich nur fünf Fehler gemacht.

»Wow!«, meinte Michi und drückte damit aus, was ich selbst dachte.

Ralf und ich tauschten die Rollen. Ralfs Fähigkeiten waren demoralisierend. Nicht nur, dass er nicht den geringsten Fehler machte, er kannte die Antworten bereits, bevor ich die Karte aufnahm.

»Ich kann sehen, was du sehen wirst.«, erklärte er und gab mir damit ein kleines philosophisches Rätsel über die freie Entscheidungsfähigkeit auf.

Zum Schluss kam Michi an der Reihe. Erneut entpuppte sich mein alter Freund als Überraschung: während es weder mir noch Ralf gelang auch nur eine Karte zu erraten, die Michi abhob, erriet er rund 74%. Ich war geplättet, während sich für Ralf ein Verdacht zu bestätigen schien.

»Und nun, großer Meister?«, bracht Michi meine und seine Konfusion zum Ausdruck.

»Michi ist anders. Das ist ein Fakt. Wenn mich Tobi abblocken würde, würde ich das sofort merken. Bei dir kann ich einfach nichts sehen. Es ist, als wenn du aus psionischer Sicht nicht existieren würdest. Dabei besitzt jedes Lebewesen ein gewisses Feld, dass man erfühlen kann. Bei dir ist da einfach ein Loch. Ich verstehe das nicht.«

»Das wollte ich dich überhaupt schon lange fragen. Woher weißt du so viel über diesen PSI-Kram? Gibt es da eine Schule, die man besuchen kann?«

Wenn ich »lange« sagte, dann meinte ich damit »seid gestern«. Aber eben seit gestern lag mir diese Frage auf dem Herzen. Ralf wusste sehr viel über das bewusste Thema. Ich vermutete mal, dass man nicht einfach in die nächste Bibliothek gehen konnte, um sich dort ein Buch »Gedankenlesen für Anfänger« auszuleihen. Also, woher wusste Ralf so viel?

»Es gibt eine kleine, sehr kleine Gruppe von extrem potenten Psionikern. Sie sind die sogenannten Wächter. Wie viele es sind, weiß ich selbst nicht so genau, aber ich vermute, dass es keine hundert weltweit sind. Diese Wächter hüten das Wissen um unsere Fähigkeiten und sie geben dieses Wissen weiter. Sie sorgen dafür, dass Menschen wie wir aufgefangen werden, bevor wir Schaden anrichten.«

»Schaden?«

»Na ja, wie erklär ich das am besten?«, Ralf kratzte sich am Kopf. »Ich glaube, ich habe schon erwähnt, dass die Kräfte lange Zeit ruhen, bis sie bei emotionalen Stress plötzlich ausbrechen. Ich sollte noch erwähnen, dass die weitaus meisten Telepathen schwul oder lesbisch sind und dass der emotionale Stress fast immer das Coming Out ist. Ich weiß ja nicht, wie du dich bei deinem Coming Out gefühlt hast, aber meins war ziemlich heftig. Dabei rede ich jetzt nicht von dem Coming Out gegenüber Freunden oder der Familie, sonder dasjenige dir selbst gegenüber. Jetzt stell dir mal einen Typen, so 16 Jahre alt, vor, der über telekinetische Kräfte verfügt. Diesem Typen haben seine lieben Mitschüler gerade als ,schwule Sau` beschimpft, ganz ohne zu wissen, dass er wirklich schwul ist. Unser hypothetischer Junge liegt zu Hause, heult sich das Hirn aus dem Schädel und lässt seinen ganzen Frust fließen. Plötzlich macht es in seinem Schädel Klick, und ohne, dass der Typ etwas davon weiß, mischen sich seine Kräfte ein.«

»Ist dir das passiert?«

Ralf lachte: »Nein, glücklicherweise nicht, aber jemanden, den ich kenne. Ohne massiven Einsatz der Wächter hätte der Typ ein 12 stöckiges Wohnhaus zerlegt.«

»Krass!«, kommentierte Michi.

»Ich mag deine Untertreibungen. Aber ihr habt jetzt ungefähr eine Vorstellung, was ich mit Schaden meine. Dabei ist Telekinese noch eine der harmloseren Fähigkeiten. Es gibt wirklich sehr merkwürdige Kräfte, gegen die eine Wasserstoffbombe wie ein Kinderspielzeug wirkt. Nichts ist daher wichtiger, als dass die Fähigkeiten eines neu erwachten Telepathen geschult werden. Er muss lernen, sie zu kontrollieren, damit sie weder für ihn noch für andere eine Gefahr darstellen.«

»Ich würde gerne einen der Wächter kennen lernen«, vielleicht konnten sie mir ein paar Fragen beantworten. Jedenfalls hoffte ich es.

Ralf verzog sein Gesicht und schaute niedergeschlagen zu Boden: »Da gibt es ein Problem. Etwas, dass mich massiv beunruhigt. Meine Wächter sind verschwunden. Ben, mein Mentor, wenn ihr so wollt, und sein Freund sind weg. Es gibt nicht die geringste Spur von ihnen. Wenn ich wollte, konnte ich Ben immer erreichen, aber da ist nichts. Wenn ich einen telepathischen Ruf aussende, kommt keine Antwort. Das Merkwürdige ist, dass ich ständig das Gefühl habe, er wäre in meiner Nähe. Aber warum antwortet er mir dann nicht?«

»Kennst du noch andere Wächter?«

Ralf verzog erneut sein Gesicht. Man merkte, dass sich seine Begeisterung in engen Grenzen hielt

»Ja, es gibt noch andere Wächter, aber die würde ich ausgesprochen ungerne einschalten. Ben, genaugenommen, Benedict van Orthen und Marcus Sebastianus II, kurz Marc, sind das Haupt der Wächter. Was manche der anderen nicht davon abhält, mit den beiden Jungs zu konkurrieren. Manch einer könnte ihre Abwesenheit als Führungsschwäche auslegen.«

»Politik?«

»Politik!«

»Ein Sommernachtstraum« (alternative trash edit) -- Part I

Worin Brennholz zu unmoralischen Zwecken aufgehäuft wird.

»Bleibst du heute Nacht hier?«

»Nein, ich glaube, ihr wollt lieber allein sein, oder«, antwortete Michi und schaute auf seine schon etwas ältere aber stoßfeste G-Shock. »Ich glaub, ich mach mich sofort auf den Weg.«

Michi verabschiedete sich und ging.

In den letzten Stunden hatten wir endlos diskutiert oder Ralf zugehört, doch die Zeit wagte es weiter zu laufen. Es war halb eins und wir hatten bestenfalls ein Viertel der Fragen angerissen, die sich zwangsläufig aufdrängten. Ralf hatte uns einen kurzen Überblick über die Organisation der Wächter gegeben. Die Wächter waren besondere übersinnlich begabte Menschen. Besonders deswegen, weil ihre Fähigkeiten weit über die normaler Telepathen hinausgingen. Allerdings waren solche Menschen extrem selten. Nach allem, was man wusste, wurde nur alle paar hundert Jahre ein Wächter geboren. Und meistens kündigte die Geburt eines Wächters nichts Gutes an. Kriege, Naturkatastrophen, gesellschaftliche Umbrüche folgten ihrem Auftauchen wie ein unausweichlicher Fluch.

Diese Wächter besaßen nicht nur stärkere und vielfältigere Kräfte, sie wurden auch weit aus älter als normale Menschen, sogar selbst als normale Telepathen. Ralfs Mentor war Benidict van Orthen, ein Mönch aus dem 14. Jahrhundert, auch wenn er nicht älter als Mitte dreißig aussah. Marcus Sebastianus war sogar noch älter. Auch er war Mönch gewesen. Als dritter Sohn eines norditalienischen Landgrafen ging er mit 15 ins Kloster, das war im Jahre 813. Auch er sah bestenfalls nach Mitte dreißig aus.

Niemals in ihrer Geschichte ist ein Wächter eines natürlichen Todes gestorben. Die meisten wurden gewaltsam getötet, entweder als Ketzer, als Hexer oder einfach, weil sie den normalen Menschen unheimlich waren. Kein Wunder, dass sie sich sehr schnell darauf besannen, nicht als Telepathen erkannt zu werden. Aber es waren nicht nur normale Menschen, die sie töteten, es gab auch andere Telepathen. Telepathen, die nicht nach den ethischen und moralischen Grundsätzen der Wächter lebten, sondern der Überzeugung waren, dass die normalen Menschen eine minderwertige Gattung wären. Deswegen verfolgten sie die Wächter, denn diese würden mit ihrer Achtung vor jeder Art Leben, den Telepathen ihr Geburtsrecht als überlegene Species verwehren.

Schließlich gab es noch die Wächter, die keinen gewaltsamen Tod fanden. Sie verschwanden einfach. Spurlos, von einer Sekunde auf die andere. Niemand hat jemals herausgefunden, wohin sie gegangen sind. Oder man hatte vergessen, es Ralf zu erzählen.

Was man Ralf erzählte, war die Agenda der Wächter. Man erzählte sie ihm sogar häufiger, als ihm lieb war. Spätestens als er begann davon zu träumen, wusste er, dass es reichte. Die Wächter verstanden eine ihre Hauptaufgabe darin, anderen Telepathen das Leben zu erleichtern, oder es erst überhaupt möglich zu machen. Die Erleichterung bestand darin, die unausgebildeten Telepathen zu ausgebildeten Telepathen zu machen. Das bedeutete Lernen, Lernen, Üben und dann nochmal Lernen. Wie lese ich die Gedanken eines Hundes und fange dabei nicht an, den Mond anzubellen. Wie teleportiere ich mich an einen anderen Ort, ohne dabei meine Bekleidung zu verlieren. Und vor allen: wie verhindere ich, dass Nichttelepathen einen als Telepathen erkannten und verfolgten, jagten und möglicherweise sogar töteten. Man wusste ja nie, auf was für merkwürdige Idee verunsicherte Nichttelepathen so alles kommen konnten.

Die andere Hauptaufgabe der Wächter, überhaupt aller Telepathen war, gute Menschen zu sein, egal ob dies bedeutete, Omi Müller über die Straße zu helfen oder einen transdimensionalen Materiefresser aus der Galaxie NGC2644 daran zu hindern, das Ruhrgebiet als Zwischenmahlzeit zu verdrücken. Obwohl Letzteres selten gewürdigt wurde.

Die Wächter hatten auch eine Organisationsstruktur. Ganz dem Machtspielchen aller Primaten leistete man sich eine Hackordnung und nannte es Demokratie. Auch Telepathen sind nicht von Selbsttäuschungen gefeit.

In erster Linie waren die Wächter so etwas wie Mönche, da ihre Aufgabe in der Lehre und Forschung bestand. Allerdings lebten die wenigsten in einem Kloster, sondern ganz normal unter der nichtpsionischen Bevölkerung. Sie gingen sogar ganz profanen Berufen nach, vom Kuhbesamer, über Balletttänzer und Frauenarzt, bis hin zum Geschäftsführer einer mittelständischen Wurstwarenfabrik. Es soll sogar Friseure unter den Wächtern gegeben haben.

Ein paar wenige Mönchswächter lebten in geheimen Quartieren, in denen auch die Ausbildung der Telepathen stattfand. Ihr Aufgabe oder Berufung bestand in der Aufrechterhaltung der Kommunikation zwischen den Telepathen, in der Dokumentation und Archivierung der Geschichte aus telepathischer Sicht und in der Forschung, also der Suche nach Antworten auf Fragen, wie: Woher kommen die Telepathen? Was für PSI-Kräfte gibt es? Wie kann man sie am besten einsetzen? Warum sind die geilsten Männer eigentlich immer vergeben oder hetero? Gerade an der letzten Frage bissen sie sich die Zähne aus.

In diesen geheimen Quartieren tagte auch der Rat, einem von allen Telepathen gewähltes Gremium. Genau so, wie jeder wählen konnte, war auch jeder wählbar. In der langen Geschichte der Wächter und des Rates gab es immer wieder Phasen von Streit und Zerrissenheit. Ein altes Problem, dass immer dann auftauchte, wenn zu viele Alphamännchen auf einem Haufen waren. Dies führte in der Vergangenheit dazu, dass für 200 Jahre ausschließlich Frauen den Rat bildeten, bis auch diese Ratsstruktur durch inneren Streit zerbrach. Offensichtlich lag das Problem nicht in einem zu viel an Testosteron.

Die letzten Jahrzehnte zeichneten sich durch eine Phase erstaunlicher Vernunft aus, was möglicherweise an Marc und Ben lag, die seit langen den Vorsitz bildeten. Die Vorsitzenden, es mussten immer zwei sein, wurden von den Ratsmitgliedern gewählt. Marcs und Bens Wahl galt fast schon als pure Formsache. Das dumme an der Sache war, man konnte die Wahl zum Vorsitz nicht ablehnen. Ein vorgeschlagener und gewählter Telepath war Vorsitzender, ob er wollte oder nicht. Weder Ben noch Marc wollten gewählt werden, aber genau das machte sie immer zu Topfavoriten. Leute, die gewählt werden wollten und sich vorsichtig in Position brachten, hatten keine Chance, gewählt zu werden. Eine Lehre hatten die Telepathen und insbesondere die Wächter in ihrer mehrtausendjährigen Geschichte gelernt: Der, der nach Macht strebt, strebt nicht nach Weisheit. Böse Zungen behaupten, das Motto wäre ein Witz und Marc hätte es in den 30iger Jahren in einer Packung Frühstücksflocken gefunden.

In der letzten Zeit, so erzählte Ralf, gab es im Rat eine gewisse Unruhe. Die Wahlperiode ging zu Ende und Neuwahlen standen ins Haus. Jemand im Rat war dabei Stimmung gegen Marc und Ben zu machen, hielt sich aber bedeckt, um seine eigenen Wahlchancen nicht zu verspielen. Statt offen sein Interesse am Vorsitz zu dokumentieren, blieb es bei Gerüchten, Andeutungen und diskreten Gesprächen. Der Rat war nervös.

Man kann sich leicht vorstellen, dass dies somit der denkbar ungünstigste Zeitpunkt für das Verschwinden von Marc und Ben war. Niemand wagte daran zu denken, ob es sich möglicherweise um ein endgültiges Verschwinden handeln könnte. Noch ungünstiger und beunruhigender wurde die Sache dadurch, dass sich die Anzeichen mehrten, dass der alte Feind nach langer Zeit der Ruhe dabei war, sich zu regen.

»Und was denkst du?«, fragte Michi nachdenklich, als Ralf mit seiner Schilderung der Wächter am Ende war.

»Ich glaube nicht, dass wir Marcus Sebastianus und Benedict van Orthen jemals wiedersehen werden. Es ist nur ein Gefühl, aber ein sehr starkes. Sie sind weg!«

»Wohin?«, fragte ich.

»Ich weiß es nicht«, knurrte Ralf. »Es ist sogar noch schlimmer. Ich habe seit Tagen permanent das Gefühl, Ben würde direkt hinter mir stehen und ständig über die Schulter schauen.«

»Das ist in der Tat merkwürdig. Sogar für deine Verhältnisse.«



Ich lag kaum in meinem Bett, Ralf an mich geschmiegt, da war ich auch schon eingeschlafen. Selten war ich dermaßen müde, wie nach diesem Abend. Mein Schlaf kam zwar schnell, aber er war unruhig. Ralfs Erzählung von der Geschichte der Wächter und Telepathen, der Inhalt der CDs, die E-Mail meines Vaters, Carsten und Nils, Joe und sein Vater, sogar der Sex mit Ralf vermischten sich zu einer kruden Traumachterbahnfahrt. Es fing damit an, dass ich meinen Vater auf einer Art Thron sitzen sah. Er hatte mahnend seinen Zeigefinger gehoben und sprach mit dröhnender Stimme: »Denk immer an Omas Geburtstag!« Schräg hinter dem Thron meines Vaters sah ich Nils, der mit einer Hand seine erpressten Schutzgelder zählte, während er »Ach wie gut das niemand weiß, dass ich Rumpelheizchen stieß!« sang und mit seiner anderen Hand die Beule in seiner Hose massierte.

Verwirrt drehte ich mich um und sah Michi eng umschlungen mit einem Mädchen. Ich kannte es, konnte mich aber nicht an seinen Namen erinnern. Plötzlich fiel mir auf, dass die zwei auf einem mittelalterlichen Marktplatz standen. Ich selbst stand auf dem Marktplatz. Vor, hinter, rechts und links von uns befanden sich große Menschenmengen. Wir standen also mitten in einem Massenauflauf, der seltsamerweise komplett in schwarz/weiß präsentiert wurde. Selbst der Ton war nur Mono.

»Das hier ist Geschichte, die ist immer in Schwarz/Weiß und Mono!«, erklärte das Mädchen, obwohl ich gar nicht gefragt hatte.

Von einem Moment auf den anderen kam Bewegung in die Menschenmenge. Auf einem Holzkarren, den ein Esel zog, wurde ein Mann zur Mitte des Marktplatzes gekarrt. Die Menge wich dem Wagen aus. Man schien Angst zu haben. Dabei gab der Mann eine absolut jämmerliche Figur ab. Statt Kleidung war er nur mit einer Art schmutzig langem Hemd bekleidet, das zudem eher graugelblich als weiß war. Der Typ selbst schien in einer Art Delirium zu sein. Sein Gesicht war blutig und mit Wunden übersät. Der Folterknecht hatte ganz Arbeit geleistet.

»Wir haben Glück! Heute wird ein Hexer verbrannt. Das hat man davon, wenn man mit dem Teufel im Bunde ist. Endlich werden wir wieder ruhig schlafen können«, ein kleines hutzeliges Altmütterlein laberte mich von der Seite an. Ich erschrak. Kaum hatte sie ihren Satz gesagt, entdeckte ich auch schon den Scheiterhaufen samt Henker.

Trotz der offensichtlichen und weniger offensichtlichen Wunden und Verletzungen verströmte der Gefangene eine unterschwellige Würde und Standfestigkeit. Man mochte ihm unter der Folter die Knochen gebrochen haben, seinen Willen aber nicht.

Der angebliche Hexer blickte auf, sah seinen Henker an und nickte ihm zu. Mir lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, als ich sah, wie der Delinquent seinem Scharfrichter für seine nun folgende Arbeit vergab. Aber der Gefangene vergab nicht nur seinem Henker. Er vergab uns allen, uns den Zuschauern und seinen Richtern. Er sprach leise und mit stockender Stimme, wobei er gelegentlich kleine Blutklumpen ausspuckte. Doch obwohl er leise sprach und der Marktplatz groß war, konnte man ihn gut, sogar sehr gut verstehen.

Während er sprach, ließ er seinen Blick über die Menge streichen. Er begann auf der Seite, an der sein Henker stand. Als er die Mitte der Menschenmenge erreichte, konnte ich ihn erstmal voll sehen. Ich zuckte zusammen. Der arme Kerl war fast noch ein Junge, bestenfalls 20 oder 22 Jahre alt. Weder das getrocknete Blut noch die Wunden und Verletzungen waren in der Lage gewesen, seine Schönheit zu vernichten. Er war schön. Er hatte ein markantes, geradezu elegantes Gesicht mit ausdrucksvollen und wohlproportionierten Zügen. Sein Mund schien primär für Lachen und Strahlen gemacht worden zu sein. Selbst in jenem Moment umspielte ein leises, nachsichtiges Lächeln seinen Mund. Fast hatte man den Eindruck, er wollte sagen: »Vergebt ihnen, sie wissen ja nicht, was sie tun.«

Und dann hatte er auch noch Augen.

Der Schwarz/Weiß-Film zoomte auf sein Gesicht und wurde farbig. Seine Augen waren eisblau. Noch während ich die Klarheit dieser Augen bewunderte, richtete sich plötzlich sein Blick auf mich. Der Zoom des Films schnellte mit einer ruckartigen Bewegung des »focus pullers« zurück in die Totale. In der gesamten Menschenmenge hatte der Junge auf dem Scheiterhaufen mich erspäht und sah mich an. Mich!

»Seht!«, schrie das Altmütterchen. »Hier ist sein Buhle! Sein Liebesknabe!«

Ich zuckte zusammen. Die Hutzelomi zeigte auf mich, die Menschen um mich wichen vor mir zurück und ich bekam Angst. Doch dann sah ich erneut die Augen des Jungen auf dem Scheiterhaufen. Sie leuchteten, strahlten ... Sie strahlten mit goldenen und silbernen Funken!

Ich konnte nicht anders und drehte mich um. Die Menschenmenge hatte um mich eine Lichtung geschaffen und bewaffnete Bogenschützen bahnten sich einen Weg, um mich zu verhaften. Ich drehte mich mehrfach um meine eigene Achse, suchte einen Ausweg, drehte mich erneut in eine andere Richtung und mit mir drehte sich das Bild. Dankenswerterweise zeigte plötzlich das Bild eine andere Szene und keine Vorbereitung für eine Exekution oder meine Verhaftung auf einem mittelalterlichen Marktplatz. Das Bild zeigte ... Ja was eigentlich? Diese Szene war mehr als merkwürdig. Sie war esoterisch. Ich war von Hunderten, Tausenden, nein Millionen und abermillionen Lichtern umgeben. Sie schwebten, so wie ich, frei im Raum. Manche flackerten schwach, andere strahlten hell und in irisierender Farbfülle. Einige der Sterne kamen sich näher, berührten sich, schienen sich regelrecht zu umschlingen und einen fantastischen Tanz aufzuführen. Gelegentlich flammten sie dann nach einiger Zeit gleißend auf, leuchteten silbern und golden, durchzogen von blauen Adern, um sich dann in einer Eruption von Licht voneinander zu trennen.

»Schaust du anderen Leuten gerne beim Sex zu?«

Ralf schwebte neben mir und schüttelte verwundert seinen Kopf.

»Wie würdest du es finden, wenn uns jemand bei Poppen zu sieht?«

Ungläubig starrte ich auf zwei ineinander verschlungene Lichter, die besonders stark pulsierten: »Das ist ...?«

»Ja, was denkt du denn, wo du hier bist?«

»Ähm!«, stammelte ich und blinzelte. Dann sah ich, wie ein Licht ein anderes umschlang, während das andere eher lustlos die Umschlingung geschehen ließ. Das erste Licht begann zu pulsieren, zu flacken und schließlich zu in einer Kaskade von Licht auszubrechen, während das zweite Licht nur müde und gelangweilt blinkte und für eine viertel Sekunde etwas heller wurde.

«Heten!«, knurrte Ralf und ergänzte. »Typisch, er hat seinen Spaß und sie spielt ihm einen Orgasmus vor.«

«Ähm!«, kommentierte ich und wechselte erneut den Traum.

»Ein Sommernachtstraum« (spaced out remix) -- Part II

Worin man von Kitsch umzingelt wird.

Dieser Traum war nicht nur in Farbe, er war in LSD-Color. Nicht, dass ich mit jener Droge jemals Erfahrungen gesammelt hätte. Aber die Koloriertheit der Umgebung sah wirklich aus, als hätte ein Technicolorfarbberater an Blättchen geleckt. Grün war grüner, Rot war blutiger und vom Blau will ich gar nicht erst anfangen. Nur die silbernen Glitzersternchen konnte ich nicht unterbringen. Neben dieser visuellen Reizüberflutung peppte diese Traumsequenz ihren Gesamteindruck zusätzlich mit Hypersurround auf. Es gab nicht nur mindestens drei Front- und Hecklautsprecher, viel schlimmer, es gab sogar oben und unten welche. Nörgler könnten jetzt einwenden, dass die Wirklichkeit gänzlich ohne Lautsprecher auskäme. Schall von oben kommt halt von oben. Prinzipiell ist gegen diese Form des Rationalismus nichts einzuwenden, nur verfehlt es ihr Ziel um mehrere Astronomische Einheiten (AE).

Von was für einer Wirklichkeit reden?

Mal ehrlich, ich war in einem Traum, der nichts anderes wollte, als eine gezielt künstliche Wirklichkeit zu schaffen. Und das schaffte der Traum wirklich blendend. Abgesehen von den rein formalen Aspekten, wie Ton und Bild, künstelte mein Traum auch am inhaltlichen Setting.

Ich möchte es einmal so versuchen. Der bisherige Traumverlauf war surreal, jetzt wurde es wuschelig. Multiple Kopien meiner selbst, welche um alle möglichen (und unmöglichen) Achsen gedreht im Raum schwebten, wiederholten permanent die gleichen Worte. Jeder aber ein anderes. Eines meiner Selbstbilder, es stand auf dem Kopf, sagte in einem drei Sekundentakt das Wort »Verantwortung« auf. Ein anderes, das mir nur den Rücken zeigte, meinte ständig »New York«.

Das ging so eine ganze Weile, bis sich meine Kopien zusammenrollten und erst einmal nichts hinterließen, bis auf einen weißen Punkt. Man zoomte heran und der Punkt wurde größer, nahm Konturen an und zeigte Carsten, wie er frei im Raum schwebte und langsam um seine X-, Y- und Z-Achse rotierte. Nach ein paar Sekunden zoomte das Bild wieder heraus. Carsten schrumpfte und verschwand. Wieder ein Zoom und Joe rotierte frei im Raum.

Es folgten Michi, Nils, mein Vater, ich, ein paar Leute, die ich nicht kannte, etliche Mitschüler, meine Mutter und, und, und.

»Was soll das sein? Bin ich in einem Computerspiel oder was?«

»Nein in einem Traum«, meinte eine Kopie von mir, grinste und zeigte mir seinen, dass heißt meinen, Stinkefinger. Ich griff nach der Plasa-Repeater-Rifle, die netterweise gerade neben mir umherschwebte, und knallte den Typen ab. Es gab ein lustiges elektronisches Melodiechen, es plöppte und mein Pseudoich verwandelte sich in 10.000 Punkte, die farbig blinkend als Schriftzug 5 Sekunden lustig im Raum schwebten.

»Level-1«, meinte eine Stimme und die Umgebung veränderte sich.

Plötzlich stand Michi mitten auf einer Fläche aus weißen und schwarzen auf Hochglanz polierten Marmorfliesen.

»Ich bin die Störgröße!«

Sprachs und tippte mit seiner Fußspitze auf den Boden. Das perfekte Schachbrettmuster vor seinen Füßen verzerrte, verdrehte und verwirbelte sich. Ich zog irritiert meine linke Augenbraue hoch. Eine Nachtigall zitierte sehr melodisch Texte von Wittgenstein, irgendetwas mit Philosophen, Gläsern und Fliegen.

Ein Lichtblitz (türkis) flammte auf und Michi war weg. Die Marmorfliesen ebenfalls.

»Und?«

»Ich bin verwirrt.«

»Tja, bei solch einem Traum wäre ich das auch. Dein Unterbewusstsein ist die reinste Rumpelkammer.«

Lichtblitz (blau, weiß, violett).

»Level-1 completed.«, meinte die gleiche Stimme von eben. Mitten im Raum erschienen Bonuspunkte für Kreativität, Improvisation, Ausdruck und Volkstanz. Ich bekam kein Extra-Ball.

»Level-2«

Jetzt wurde es nett. Ich poppte mit Ralf. Sehr sinnlich und sehr intensiv. Netterweise hob die Traumwirklichkeit einige Beschränkungen bezüglich unserer Gelenkigkeit auf, was sehr interessante Möglichkeiten eröffnete.

Poppen? Mehr als das. Es war eben nicht nur eine rein körperliche Vereinigung, sondern verband uns seelisch und geistig. Ich fühlte nicht nur seine Haut, sondern drang unter sie. Ertastete, was er ertastete, roch was er roch, sah, was er sah und schmeckte, was er schmeckte. Dumm nur, dass Ralf das Gleiche in umgekehrte Richtung ebenfalls empfand. Die Feedbackschleife war verwirrend und sorgte für leichte irritationsbedingte Kopfschmerzen. Aber sie waren es Wert. Obwohl nur ein Traum, fühlte ich mich noch nie jemandem so nahe.

Doch nichts währt ewig. Ralf begann sich von mir zu lösen, von mir wegzudriften. Zuerst bemerkte ich nur, dass unserer Kontakt lockerer wurde. Dann riss er plötzlich komplett ab. Von einer Sekunde auf die nächste fühlte ich mich leer und verlassen. Ich zuckte zusammen riss meine Augen auf, als hätte ich noch nie mit ihnen gesehen. Ralf trieb von mir weg. Sein Gesichtsausdruck war panisch. Er streckte seine Arme aus, um sich an mir festzuhalten. Ich tat das Gleiche. Aber es funktionierte nicht. Wie bekamen uns zu fassen, aber eine unbekannte Kraft zog uns unerbittlich auseinander.

Die Panik trieb mir Tränen der Verzweiflung in die Augen. Alles war vergeblich. Ralf entfernte sich immer weiter von mir. Bald war er nur noch ein undeutlicher Punkt in der Ferne.

Mein Herz schlug wie verrückt. Als wenn es nicht reichte, dass Ralf rein körperlich verschwand, schien auch die Erinnerung an ihn in mir zu schwinden. Sie rann mir wie feiner Sand durch die Finger. Ich konnte ihn nicht festhalten. Ich war verzweifelt. Tatsächlich hielt ich in meinen beiden Händen einen Haufen glitzernden Quarzsand. Unaufhörlich rieselte er mir durch die Finger. Er wurde immer weniger. Panik und Verzweiflung ergriffen mich. Der Sand! Dieser scheiß Sand! Ich konnte ihn nicht aufhalten. Unaufhörlich rieselte es. Ich konnte sehen, wie er immer weniger wurde. Bald war nur noch ein kleiner Bodensatz übrig.

Ich presste meine Finger aneinander, damit fest aneinander, damit sie möglichst dicht schlossen. Aber dieser verdammte Sand war so fein, so extrem fein, dass er immer wieder einen Weg fand, meiner Hand zu entweichen.

Staub! Fassungslos starrte ich auf meine Hände. Meine Handinnenflächen waren nur noch von einer dünnen blassen Staubschicht bedeckt. Ein stechender Schmerz pulsierte in meiner Brust. Ich hatte etwas verloren. Etwas Wichtiges, etwas sehr Wichtiges. Aber ich konnte mich nicht mehr erinnern, was es war. Ich sah nur meine beiden leeren Hände.

Mir quollen Tränen aus den Augen und fielen auf den Staub in meiner Hand. Die Tropen schlugen auf meiner Haut auf und zerstoben in Myriaden kleiner glitzernder Mikrotropfen.

»Game Over«, tönte es.

Um mich wurde es still und dunkel. Für eine Zeit, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, war ich mit mir und meinen Gedanken allein.

»Warum weinst du?«, fragte mich eine angenehme, wohltönende Stimme, die offenbar mein leises Wimmern gehört hatte.

Ich sah mich selbst. Ich sah mich in einer Ecke hocken. Ich war ein kleiner verschüchterter Junge.

»Mein Sand ...«, sah ich mich antworten.

»Was ist mit deinem Sand?«, fragte die Stimme.

»Ich habe ihn verloren. Er ist weg! Alles ist weg«, antworte der kleine Junge in der Ecke.

»Das ist alles?«, lachte die Stimme fröhlich. Sie klang nicht so, als wenn sie sich über den kleinen Jungen amüsieren würde. »Dann müssen wir wohl deinen Sand suchen gehen.«

Die Stimme nahm mich an die Hand und wir gingen den Sand suchen.



»Findest du das nicht albern? Feinen glitzernden Quarzsand suchen, in Allegorie zu inherenten Verlustängsten?«

»Wie jetzt?«

»Du träumst kitschig. Mit Verlaub, megakitschig

»Ich wüsste nicht, was dich mein Traum angeht! Wer bist du überhaupt? Und was hast du in meinem Traum zu suchen?«

»Ich? Das ist jetzt nicht wichtig. Wichtig ist etwas anderes. Sogar sehr wichtig. Man könnte sagen lebenswichtig. Meinst du, du kannst dir etwas merken?«

»Hey, ich bin erst 17 und bisher noch nicht verkalkt!«

»Mag sein. Aber wir befinden uns in einem Traum von dir. Kannst du dich an deine Träume erinnern, wenn du morgens aufgewacht bist?«

»Ähm, selten. Und dann nur ganz vage.«

»Sag' ich doch! Aber du musst dich erinnern! Du und Ralf, ihr beiden müsst unbedingt ins Hauptquartier, oder wie Ralf es nennte, ins Kloster, kommen. Hast du mich verstanden?«

»Ins Kloster kommen. Ich denke, dass ich mir das gerade eben noch merken kann. Warum erzählst du mir das nicht, wenn ich wach bin?«

»Weil du ein bescheuerter Quatschkopf bist! Deswegen!«

»An was sollte ich mich nochmal erinnern ...«

»Ok, ok. Also, die Sache ist so. Nur in deinen Träumen haben wir momentan die Möglichkeit miteinander zu kommunizieren. Wenn du wach bist, dringe ich nicht zu dir durch. Du hörst nie in dich hinein. In deinen Träumen hingegen bist du viel offener und empfänglicher, nicht ganz die taube Nuss wie sonst. Also, was wirst du tun?«

»Ich werde mich versuchen zu erinnern. Ich werde zusammen mit Ralf ins Hauptquartier gehen.«

»Sehr gut. Und noch etwas. Tu es gleich morgen! Warte nicht erst, klar? Ich sag es dir nochmal, es ist wichtig, verdammt wichtig! Ach ja, und bringt diesen Michi mit!«

»Ok!«

»Mann, du kannst einen richtig auf die Nerven gehen. Sehr gut, ich glaub, du beginnst mir zu gefallen!«

Fahrradtour ins Coming Out

Worin man einem Mitschüler einen Besuch abstattet.

Ich blinzelte. Mit dieser alltäglichen Körperfunktion trieb ich den Schlaf aus meinen Augen heraus und die Sonnenstrahlen, die durchs Fenster einströmten, herein. Etwas desorientiert schaute ich mich um. Soweit der erste Blick mich nicht täuschte, war alles Normal und an seinem Platz. Das heißt fast, denn der Platz neben mir war leer. Ralf war weg.

»Guten Morgen, du Langschläfer! Das Frühstück ist fertig«, tönte es von der Tür in dessen Rahmen mein Schatz stand.

Ich zog einen Flunsch und warf mit meinem Kopfkissen nach Ralf, der aber die Flugbahn blitzschnell extrapolierte und dem Gänsefederbehälter mit einer geschmeidigen Bewegung auswich.

»Los, zieh dich an!«, war alles, was ich von Ralf noch hörte.

Ich gehorchte ihm wohl oder übel auf's Wort und zog mich, nach einer kurzen aber gründlichen Dusche, an. Frisch gewaschen, deodoriert und in frisch duftende Wäsche gehüllt, betrat ich die Küche.

Ralf hatte erneut seine Kochkünste unter Beweis gestellt und ein erstklassiges Sonntagsfrühstück gezaubert.

»Und, hast du gut geschlafen?«

»Wie ein Stein!«

Ich konnte mich selten an meine nächtlichen Träume erinnern. Wenn überhaupt, blieb morgens bestenfalls ein dumpfes Gefühl von einem Traum übrig. Aber selbst das war ausgesprochen selten. An jenem Morgen erinnerte ich mich an nichts.

»Und, was machen wir heute?«, fragte ich Ralf und blinzelte ihn vielsagend an.

»Das jedenfalls nicht. Wir müssen hier mal raus und auslüften.«

Ein klein wenig enttäuscht maulte ich etwas rum, stimmte Ralf aber zu. Zeit für Sex war später immer noch. Außerdem war unser Kondomvorrat erschöpft.

»Gut, was hast du genau vor?«, fragte ich, während ich eine Portion Rührei mit Speck verdrückte.

»Einem unserer Mitschüler einen Besuch abstatten«, antwortete Ralf.

»Wem?«, fragte ich nach.

»Kennst du Arne Oppenheimer?«

Ralf verblüffte mich immer wieder, weswegen ich erstaunt fragte: »Woher kennst du Arne?«

»Ich kenne ihn gar nicht. Ich weiß nur, dass er ein Schüler unserer Schule ist, ein Jahrgang über uns ist und auf der Liste der Versuchsobjekte deines Vaters steht.«

Ich verschluckte mich und musste husten. Ein Stück Rührei wurde aus meinem Mund katapultiert und flog quer über den Küchentisch.

»Arne steht auf der Liste?«, fragte ich nach.

»Ja, kennst du ihn?«

»Jein. Ich muss zugegeben, dass ich die Liste nicht sonderlich aufmerksam gelesen habe. Ich war mehr daran interessiert zu erfahren, was mit mir los ist.»

Meine Verteidigung war etwas lau. Ich hätte die Liste wirklich besser lesen sollen. Was Arne Oppenheimer betraf, so kannte ich ihn indirekt. Sein Vater arbeitete wie meiner bei NextChem. Dort, bei NextChem, hatte ich Arne ein paar Mal bei Betriebsfesten getroffen und unterhalten, da wir meistens die einzigen Leute unseres Alters waren. Einige weitere Male sah ich Arne bei mir und bei ihm zu Hause, da unsere Mütter miteinander befreundet waren. Insgesamt beschränkten sich unsere Begegnungen auf höchstens ein Dutzend. In der Schule hatten wir faktisch keinen Kontakt, wenn man von höflichen Grüßen, das selten über ein erkennendes Kopfnicken hinausging, einmal absah.

Arne war Ok. Zugegeben war ich auch nicht unbedingt das Partyanimal. Im Nachhinein ist es mehr als erstaunlich, dass ich mehr als einen Grunzlaut gegenüber Arne herausgebracht hatte. Offensichtlich brach bei unserem elternbedingten Treffen die Distanz zum schulischen Umfeld ein klein wenig meine Kontaktparanoia. Mehr als Konversation haben wir allerdings nie gemacht. Womit sich mein »Jein« zur Frage, ob ich Arne kannte, erklären dürfte.

»Ein Jein reicht«, meinte Ralf. »Wenn er dich wiedererkennt und mit uns spricht, ist alles Ok.«

»Was willst du von Arne?«

»Ich möchte sehen, ob er deine Vitaminkapseln zum leuchten bringt.«



Obwohl mir die Idee einen mehr oder weniger wild fremden Mitschüler zu besuchen, nicht wirklich gefiel, schaute ich die Adresse seiner Eltern im kleinen Adressbuch neben unserem Telefon nach. Meine Mutter hatte zwar ihren Palm, konnte sich von dem kleinen Ledernotizblock neben unserem Fernsprecher aber einfach nicht trennen. Mehr noch, sie pflegte die Einträge im Namensregister mit ausgesuchter Akribie.

Arnes Domizil lag drei S-Bahn-Stationen vom Haus meiner Eltern entfernt. Da das Wetter nach dem Gewitter vor ein paar Tagen wieder warm und sonnig geworden war, schlug ich vor, den Weg mit Fahrrädern zurückzulegen. Ralf war nur bedingt begeistert und suchte nach einer Möglichkeit mir diese Idee auszureden. Seinen Einwand überhaupt kein Fahrrad dabei zu haben, konnte ich dadurch im Keim ersticken, dass ich zwei Fahrräder mein eigen nannte. Mein Freund grummelte und knurrte, bestieg dann aber doch den Sattel.

Bevor wir starteten, klingelten wir selbstverständlich bei Michi. Seine Mutter öffnete die Tür und schickte uns auf sein Zimmer, wo wir einen verpennten Skater-Punk antrafen, der alles andere als motiviert war. Mit dem Hinweis, dass es schließlich Sonntag sei und noch nicht mal 10:00 Uhr, schmiss uns Michi aus seinem Zimmer und verkroch sich maulend in seinem Bett.

Wir radelten ohne Michael Müller los.

Die Fahrt war ereignislos. Das Wetter war vermutlich perfekt für eine Fahrradtour, aber aus irgendeinem Grund konnte ich mich nicht recht auf die Fahrt konzentrieren. Während Ralf den Ausritt nach seiner anfänglichen Zurückhaltung sichtlich genoss, machte mich eine innere Unruhe völlig nervös. Ich hatte das Gefühl, etwas sehr wichtiges vergessen zu haben. Etwa in der Art, wenn man sich nicht sicher ist, ob man das Bügeleisen oder den Herd ausgeschaltet hat. Irgendetwas nagte an mir und lenkte mich ab. Dies war auch der Grund, warum wir uns fast verfahren hätten. Schließlich waren wir auf meine Ortskenntnis angewiesen. Doch was tat ich? Total in Gedanken versunken, fuhr ich prompte an einer Kreuzung vorbei.

»Ist etwas?«, fragte Ralf, dem meine Zerstreutheit nicht entgangen war.

»Ich weiß nicht. Ich kann mich nicht konzentrieren. Irgendetwas Wichtiges habe ich vergessen ...«

»Deinen Kopf?«

»Ich bin mir nicht sicher«, ich fasste mir an den selbigen. »Nein, der Kopf ist da. Verdammt! Ich komme nicht drauf!«

»Dann war es wohl nicht so wichtig.«

»Ich hasse diesen Satz!«, meine Mutter brachte ihn ständig.

»Ich weiß!«, grinste Ralf und legte einen Zahn zu. »Es wird dir schon wieder einfallen. Lass uns endlich diesen Arne besuchen.«

Ich wusste zwar nicht, warum es Ralf so wichtig war, Arne zu sehen, aber es sorgte dafür, dass ich für eine Weile von meinem krampfhaften Versuchen mich an etwas zu erinnern, abgelenkt wurde. Wir radelten schneller, ich konzentrierte mich stärker auf den Weg und Ralf verwickelte mich in eine belanglose Plauderei. Nach einer dreiviertel Stunde hatten wir das Haus von Arnes Eltern erreicht. Es lag, ähnlich wie das von Michi und meinen Eltern, in einer typischen Vorortsiedlung und sah auch genau so aus. Walmdachhaus mit Garten und Car-Port. Vor dem Haus, also zur Straße hin, lag ein kleiner Streifen Rasen, der gerade gemäht wurde. Als Ralf und ich von unseren Rädern abstiegen, stoppte auch der Rasenmäher. Erst jetzt sah ich, dass es ein junger Typ war, der den Rasen rasierte. Es war Arne. Da die Sonne noch relativ niedrig stand und ihm voll in die Augen geschienen hätte, hatte sich Arne ein Basecap tief ins Gesicht gezogen. Jetzt nahm er die Mütze ab, sah auf und entdeckte uns. Einen Moment lang kräuselten sich seine Augenbrauen, dann zog er sie erstaunt nach oben.

»Da fick mich doch einer ins Knie!«, war seine Begrüßung.

»Wie bitte?«, entgegnete ich auf diese unkonventionelle einem guten Tag zu sagen.

»Fuck!«, kam die Gegensprache. Arne setzte sich seine Basecap wieder auf, diesmal aber mit dem Schirm im Nacken: »VanBrüggen, shit, bist du unheimlich!«

»Hä?«

Bis hierhin verlief der Dialog nur seltsam. Jetzt wurde er absonderlich.

Arne zeigte mit zwei Zeigefingern auf Ralf und mich und dann auf den Bordstein. Wir verstanden und setzten uns hin. Arne tat Selbiges.

»Typ, ich habe heute nach von dir geträumt!«, fing Arne an und starrte mich dabei von der Seite an. »Shit, es war der totale Albtraum! Echter Horror. Ich war da auf einer Party bei Anja. Du kennst Anja? Ok, du wohl nicht wirklich, aber doch wohl vom sehen? Ok, ich war auf dieser Party, du und der Typ hier neben dir war auch da. Es ging wild ab. Ich sage nur ,Partykeller`! Verdammt eng, verdammt viel Körperkontakt, verdammt verschwitzt. Eine ziemlich heiße Sache. In den dunklen Ecken wurde auf Teufel komm raus gefummelt. Meiner einer war gut drauf und voll am abtanzen. Ich sah dich neben mir ebenfalls tanzen, als mich plötzlich etwas saukaltes packte und herumwirbelte. Aber da war nichts. Nur ein extrem kaltes Gefühl war da und hatte mich in einem Würgegriff. Ich bekam keine Luft mehr, mein Blick wurde trübe, ich hörte mein Herz hämmern und plötzlich wurde es schwarz. Ich wusste, ich war tot! In diesem Moment wachte ich schweißgebadet auf.«

Arne holte tief Luft und wischte sich ein paar Schweißperlen von der Stirn. Sein linkes oberes Augenlid zuckte nervös.

»Ich träume sonst nie solch einen Scheiß. Ich hätte die Sache auch vergessen, wenn du nicht aufgekreuzt wärst. Strange!«

Ich sah Ralf an, Ralf sah mich an, wir beide sahen Arne an, welcher wiederum uns ansah.

»Ähm ...«, fing ich an. Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen oder fragen sollte. Schließlich war es Ralfs Idee gewesen, Arne einen Besuch abzustatten. Leider hatte er vergessen, mir zu sagen, was er denn nun genau von Arne wollte. Vermutlich wusste er es selbst nicht.

»Darf ich dir eine Frage stellen?«, fragte Ralf, und stellte damit eine Frage, die man unmöglich mit »Nein« beantworten konnte, ohne eine Paradoxon zu produzieren.

»Und die Frage wäre?«, entgegnete Arne und ignorierte die philosophischen Implikationen von Ralfs Frage.

»Bist du schwul?«

Wäre ich in diesem Moment am Trinken gewesen, hätte ich mich verschluckt und das betreffende Gesöff explosionsartig in meiner Umgebung versprüht. Da ich gerade nichts trank, verschluckte ich mich stattdessen an der Atemluft. Ich musste heftig husten. Ralf musste durchgedreht sein. So etwas fragt man nicht! Schließlich hatte ich Ralf und Arne einander noch nicht vorgestellt.

Arne wurde rot. Krebsrot. Ob vor Wut oder etwas anderem, konnte ich nicht sagen. Jedenfalls war unser Gespräch in diesem Moment beendet. Arne stand kommentarlos auf, drehte sein Basecap wieder nach vorne, ging zum Rasenmäher, schaltete ihn ein und mähte. Er ließ Ralf und mich einfach auf dem Kantstein sitzen. Ich muss gestehen, ich hätte genau so reagiert.

»Was sollte das denn jetzt?«, fauchte ich Ralf angesäuert an. An seinen diplomatischen Fähigkeiten schienen wir noch etwas arbeiten zu müssen.

»Keine Panik! Wart`s ab!«, meinte Ralf trocken und begann zu zählen, »21...22...23...Jetzt!«

Im gleichen Moment stoppte der Rasenmäher und Arne stiefelte auf uns zu. Mit der Basecap in der Hand gestikulierend, schaute er sich unsicher und sehr vorsichtig um, ob außer uns noch jemand anderes anwesend war. Als klar war, dass wir mit ihm alleine waren, fauchte er uns sehr leise an: »Wer behauptet ich sei schwul?«

Man konnte die panische Angst in Arnes Gesicht sehen. Eindeutiger konnte er die Frage nicht beantworten.

»Wie kommst du darauf, dass ich schwul bin?«

Arne war völlig fahrig und panisch. Mir tat er fast leid. Ich wusste nur zu gut, wie er sich im Moment fühlen musste. Um so überraschender war Ralf. Wenn man erwartet hätte, dass er auf Arnes Fragen einging, so wurde man enttäuscht. Ralf überging Arne und fragte stattdessen mich: »Fühlst du es auch? Schau mal in seine Augen!«

Während ich noch versuchte, den Sinn von Ralfs Sätzen zu verstehen, begann jener in seinem Rucksack zu wühlen.

Augen? -- Ich kratzte mich am Kopf, um meine Gehirnzellen auf Touren zu bringen und schaute mir Arne etwas genauer an. Der war gerade dabei, Ralf wie einen Außerirdischen anzuglotzen, weil er mit Ralfs Äußerungen noch weniger anfangen konnte als ich. Ich konzentrierte mich auf Arne, öffnete meinen Geist und drückte die Umgebung in den Hintergrund.

Und dann sah und spürte ich es. Arne war psionisch potent. Seine Fähigkeiten schienen zwar nur schwach ausgeprägt zu sein, oder sich noch in einem latenten Stadium zu befinden, aber sie waren unverkennbar vorhanden. Man musste nur wissen wonach man suchte. Da mich Ralf auf Arnes Augen hingewiesen hatte, war es leicht das schwache Glimmen zu entdecken. Es war wirklich nur ein Glimmen, kein Strahlen wie bei Ralf. Aber es reichte aus, dass ich vor lauter Überraschung hörbar ausatmete: »Wow!«

»Nicht war?«, kommentierte Ralf mein Wow, während er ein braunes Schraubglas aus seinem Rucksack holte.

»Kennst du diese Kapseln?«, fragte Ralf und hatte das Glas aufgeschraubt, eine meiner Kapseln herausgefischt und Arne zwischen Daumen und Zeigefinger entgegen gehalten.

»Ja! Das sind meine Vitamine! Woher hast du sie?«, die Kapseln holten Arne von seinem Paniktrip herunten. Vorübergehend war das Thema »schwul« vergessen.

»Diese sind nicht deine sondern Tobis Kapseln«, entgegnete Ralf, während er sie auf ein Blatt Papier legte, dass er ebenfalls aus seinem Rucksack geholt hatte. »Wenn ich dich richtig verstehe, hast du also auch solche Kapseln. Nimmst du sie noch?«

»Ja und ja.«, Arnes Neugier war geweckt. »Was ist mit den Vitaminen?«

»Um das heraus zu bekommen, sind wir hier«, verkündete Ralf und klappte ein Taschenmesser auf. Er setzte es an die Kapsel an und begann zu schneiden. Die Kapsel platzte auf und die blau strahlende Flüssigkeit sabberte heraus.

»Wow!«

Dieses Wow kam diesmal nicht von mir, sondern von Arne. Mit großen Augen starrte er die Kapsel an.

»Arne, ich glaube wir sollten ein paar ernste Worte miteinander reden!«

Im Schnelldurchlauf zum Telepathen

Worin Ralf ein zügiges Tempo vorlegt.

»Ich soll was sein?«

Die Ungläubigkeit in Arnes Stimme war überdeutlich. Er hielt Ralfs letzte Bemerkung schlicht für lächerlich, wenn nicht für dampfende Hühnerkacke. Wer würde es ihm verdenken, bei dem, was Ralf Arne gerade eröffnet hatte.

»Nochmal zum mitschreiben. Du bist ein Telepath.«

»Du meinst diesen Scheiß ernst?«

Arne kringelte sich vor Lachen. Zuerst war es nur ein leises Kichern, welches aber schnell über ein sattes Glucksen zu jenem schallendem Gelächter anschwoll, welches wir schließlich bewundern konnten. Allerdings machte es dort nicht Halt. Arnes Gelächter wurde schriller und kippte schließlich in ein hysterisches, verzweifeltes Lachen um. Seine Verstand war in einen anderen Betriebsmodus umgesprungen. Produzierte eben noch sein Gackern Freudentränen, waren es jetzt echte Tränen. Arne klappte zusammen. Sein Lachen wurde zu einem Schluchzen und dann zu einem Wimmern. Dabei schrumpfte er körperlich zusammen, als er begann sich in sich zu verkriechen, seine Arme und Beine dicht an seinen Körper zu ziehen und die klassische Embryonalhaltung einnahm.

Vorher hatte uns Arne in sein Zimmer geführt. Dort angekommen fauchte er uns sofort an, wie wir auf die schwachsinnige und absolut absurde Idee gekommen wären, er wäre schwul. Und überhaupt. Er? Schwul? Er hätte in seinem ganzen Leben noch nie einen derartigen Schwachsinn gehört.

Ich musste ihn einfach auf den Boden der Tatsachen zurückholen: »Wem willst du etwas vormachen?«

»Ich ...«, fing er wieder an, doch ich bremste ihn aus, in dem ich einfach ein paar Bücher aus seinem Bücherregal herauszog und kommentarlos auf seinen Schreibtisch warf. Klassische Coming Out Lektüre türmte sich vor ihm auf.

Arne glotzte dumm, dann fand er seine Sprache wieder: »Woher weißt du ...?«

Er ließ die Frage unvollendet, als er begriff warum ich wusste, was ich wusste.

»Ja, ich auch!«, antwortete ich trotzdem auf die nicht gestellte Frage, womit diese Unklarheit beseitigt war.

»Und er?«, murmelte Arne und zeigte mit seinem Kinn Richtung Ralf.

»Ist mein Freund!«, antwortete ich.

»Dein Fr-eund?«, staunte Arne nicht schlecht. Er musterte Ralf von oben bis unten. Mann könnte auch sagen, er zog ihn mit seinen Augen aus. Inklusive Unterhose!

»Respekt!«, war Arnes abschließender Kommentar, der mich ein klein wenig stolz machte. Vielleicht war es auch etwas mehr Stolz, als nur ein klein wenig.

»Und was hat das jetzt mit diesen Kapseln auf sich?«

Ich war dann doch etwas verblüfft, wie schnell Arne das Thema wechseln konnte. Ich kannte zwar Arne nicht sonderlich gut, aber nach meiner Einschätzung waren Ralf und ich die Ersten, die Arne mit dem Thema »schwul« konfrontierten. Er mochte sein inneres Coming Out schon hinter sich gebracht haben, aber nach außen war es absolutes Neuland für ihn. Doch schien die Sache im Moment als »erledigt« deklariert worden zu sein.

Wenn ich schon einmal verblüfft war, warum dann nicht zwei Mal? Ralf verblüffte mich, in dem er auf Arnes sexuelle Orientierung ebenfalls nicht wieder einging, sondern sich voll auf Arnes letzte Frage nach den Kapseln konzentrierte. Ralf erweckte den Eindruck, es irgendwie eilig zu haben. Denn er legte sofort mit einer Frage los.

»Seid wann nimmst du diese Vitaminkapseln?«

Arne antwortete bereitwillig: »Och, dass weiß ich nicht mehr so genau. Irgendwann kam meine Mutter und meinte, sie hätte tolle Vitaminkapseln für mich. Eine Neuentwicklung aus ihrer Firma, speziell für Jugendliche in der Pubertät. Aber wenn ihr es genau wissen wollt, warum fragt ihr dann nicht Tobis Vater?«

»Was?«, kreischte ich auf.

»Na, dein Alter hat die Teilchen doch entwickelt. Hat mir meine Mutter so erzählt. Das müsstest du doch wissen, wenn du auch diese Kapseln schluckst. Hast du nie an einem der Tests teilgenommen?«

»Tests?«, ich verstand nur Bahnhof.

»Ja sicher. Jedes halbe Jahr rief dein Alter an und fragte, ob ich wohl Zeit für einen Test hätte. Nichts Weltbewegendes, aber man wolle die Wirkung der Kapseln überprüfen. Angeblich sollen sie die Denk- und Konzentrationsfähigkeit stärken. Ich glaub zwar, dass das Quatsch mit Soße ist, aber der Chemieladen hat jedes Mal fürstlich gelohnt. ,Aufwandsentschädigung`nannten die das. «

»Und was haben sie getestet?«

Arne zuckte mit den Schultern: »Sie haben Blut abgenommen und dann kam so Psychokrams. Mit 'ner Kappe voller Strippen dran musste ich mir wabernde Farbmuster ansehen. Ein anderes Mal musste ich einige farbige Knöpfe drücken, wenn eine farbige Lampe aufleuchtete. Nur solch Zeug.«

Ralf nickte befriedigt. Nach seinem Gesichtsausdruck (und der Farbe seiner Augen) zu urteilen, passten Arnes Antworten zu Ralfs Überlegungen.

»Bei diesem Farbknopfdrücktest, war dieser Test am Anfang langsam und wurde immer schneller?«

Arne hob erstaunt seinen Augenbrauen: »Ja! Du hast ja voll den Durchblick! Das Scheißteil war erst mega lahmarschig, am Ende wurde es zu einer totalen Hetzerei. Ich wäre fast nicht mehr mitgekommen.«

»Wie? Du konntest immer rechtzeitig die richtige Farbtaste drücken?«, jetzt war Ralf erstaunt.

»Yep! Vor euch steht Mr. 99%!«

»Präkognition!«, dozierte Ralf. »Ich kenne den Test. Oder besser, ich kenne das Konzept. Ein normaler Mensch ist nicht in der Lage bei dem Lichtertest mitzuhalten. Irgendwann wird die Reaktionszeit, die das Hirn braucht, um die Farbe der Lampe zu erkennen, und die Hände den richtigen Kopf drücken zu lassen, zum limitierenden Faktor. Wenn man aber schon vorher weiß, welche Farbe aufleuchten wird ...«

Ralf braucht nicht weitersprechen. Ich wusste, was er sagen wollte. Es war ein wenig so, wie mit seinem Kartenspiel. Ralf wusste ebenfalls vorher, welche Karte ich aufdecken würde. Ein klarer Fall von Präkognition.

»Wovon redet ihr bitte schön?«

»Davon, dass du ein Telepath bist!«, meinte Ralf.

»Ich soll was sein?«



Arne klappte also zusammen. Wer hätte das gedacht? Ich nicht. Arne war ein großer Junge. Was ich nicht nur rein physisch meinte, da er mit 185cm sicherlich nicht zu den kleineren Leuten gehört. Andererseits war er auch groß im Sinne von »großer Geist«. Immer wenn ich ihn traf, sei es auf einem Firmenfest oder weil sich unsere Eltern trafen, wirkte er auf mich immer »erwachsener« als ich mich fühlte. In gewissen Sinn beneidete ich Arne immer um seine Reife.

Und dann das!

Mir tat es in der Seele weh, diesen großen Jungen heulen und in einer Ecke seines Bettes zusammengekauert zu sehen. Hilfesuchend blickte ich zu Ralf, aber der zuckte ebenso hilflos mit seinen Schultern und sah mich unsicher an. Ich schüttelte meinen Kopf. Ralf hätte sich ruhig vorher überlegen können, wie Arne auf solch eine Psi-Geschichte reagiert. Was blieb mir also anderes übrig, als mich neben Arne aufs Bett zu hocken und tröstend seine Schulter zu streicheln.

»Hey ...«, sagte ich beruhigend. »Du bist nicht allein.«

Arne schniefte, zitterte sogar leicht.

»Wir können dir helfen ...«, sagte ich, ohne mir wirklich sicher zu sein, ob wir es tatsächlich konnten. Noch mit einer Hand auf Arnes Schulter sah ich zu Ralf hoch. Ralf nickte zustimmend.

»Und wie wollt ihr mir helfen?«

Arne war immer noch in sich zusammengekauert, aber wie eine Schildkröte, streckte er vorsichtig wieder seinen Kopf heraus und sah uns ängstlich an.

»Wir können dir zeigen, wie man mit Präkognition umgeht. Du bist nicht allein.«

»Aber wieso?«, stammelte Arne und sah von Ralf zu mir und wieder zu Ralf, bis sich plötzlich seine Augen weiteten. »Seid ihr etwa nicht nur schwul sondern auch ...?«

Er formulierte seine Frage nicht zu Ende. Jeder im Raum wusste, was gemeint war. Ralf und ich nickten.

»Krass!«, flüsterte Arne.

»Warte!«, Ralf wechselte in einen fast schon zwingenden Tonfall. »Was ich dir jetzt sage ist extrem wichtig! Hör bitte ganz genau zu.«

Es hagelte die üblichen Warnungen alles gehörte absolut geheim zu halten. Auf keinen Fall dürfte er irgendjemand von seinen Fähigkeiten etwas erzählen oder etwa mit ihnen experimentieren. Er, Arne, wäre noch nicht ausgebildet und damit jeder unkontrollierte Selbstversuch potentiell für ihn und andere lebensgefährlich. Ralf machte nicht nur Arne Angst, sondern mir auch. Immerhin schien Ralfs Redeweise einen gewissen beruhigenden Effekt auf Arne zu haben, denn jener wurde zusehends ruhiger und entspannter. Statt verängstigt in der Ecke zu hocken, hatte er sich zwischenzeitlich aufgerichtet und sah uns aufmerksam an.

Ralf redete schnell und viel, blieb aber mit allem, was er sagte, eher oberflächlich. Während er sprach, hielt ich mich im Hintergrund und beobachtete stattdessen Arnes Reaktionen. Bisher war mir nie aufgefallen, dass Arne ein interessanter und sogar attraktiver Typ war. Ich wusste, dass er in der Schule wie ich ebenfalls als Außenseiter galt, wenn auch nicht so extrem wie ich. Er hatte einen kleinen Freundeskreis, war im Hand- und Fußballverein, und war, ganz im Gegensatz zu mir, nicht als Freak verschrien.

»Ok, das war's, was ich dir sagen musste.«

Das plötzliche Ende von Ralfs Monolog überrumpelte mich dermaßen, dass ich es zuerst gar nicht bemerkte. Mir fiel nur auf, dass sich etwas im Raum verändert hatte. Es dauerte einen Moment, bis mir klar wurde, dass es die plötzliche Stille war, die mich gestört hatte.

»Oh!«, entfuhr es meinen Mund und ich rappelte mich auf. Ralf lächelte nachsichtig, als er sich nochmal an Arne wandte: »Du musst Tobi entschuldigen. Er kennt meinen Sermon schon und hat sich wohl ein wenig gelangweilt.«

»Ich hab' mich nicht gelangweilt!«, protestierte ich wahrheitswidrig.

Aber Arne lächelte, was sicherlich ein gutes Zeichen war: »Und ihr meint tatsächlich, dass ich solche übersinnlichen Fähigkeiten habe?«

Arne klang immer noch ein wenig skeptisch, aber im Gegensatz zu vorhin wirkte er nicht mehr psychisch labil oder angeschlagen. Mit anderen Worten: Er schien über den Berg zu sein. Was immer auch die Ursache seines Zusammenbruchs gewesen sein mag, er schien ihn überwunden zu haben. Mir erschien seine Wandlung viel zu glatt zu verlaufen. Von zumtodebetrübt zu himmelhochjauchzend in knapp einer halben Stunde? Das erschien mir doch arg seltsam. Ich wollte gerade meine Bedenken zum besten geben, als mich Ralf fast etwas barsch ins Wort fiel.

»Ja! Definitiv!«, entgegnete Ralf selbstsicher und felsenfest. »Allerdings scheinen deine Fähigkeiten erst dabei zu sein, langsam zu erwachen. Ich will dir weder Angst machen noch dich beunruhigen, aber die nächste Zeit kann für dich recht heftig werden. Für manche von uns ist es ein eher ruppiger Weg, bis man sich wieder in Griff hat.«

Wenn dem so war, wieso wollte er Arne dann in diesem Zustand einfach sich selbst überlassen? Denn das wollte Ralf. Anders konnte ich mir nicht erklären, dass er begann, Rucksack, Pullover und Jacke zusammen zu sammeln. Ralf wollte aufbrechen.

»Hm ...«, Arne dachte einen Augenblick nach. »Ich danke dir ... euch. Ich glaube, ich habe einiges, über das ich erstmal nachdenken muss. Kann ich euch anrufen, wenn irgendetwas ist?«

Und Arne? Reichten ihm tatsächlich Ralfs mehr als dünnen Erklärungen? Etwas verwirrt schaute ich zwischen den beiden hin und her. Was ging hier ab? Ralf ignorierte mich. Ich kam mir vor, als wenn er durch mich durchschaute.

»Du kannst nicht nur, du sollst! Wenn du meinst, du brauchst Hilfe, ruf an, komm vorbei oder schick eine Brieftaube. Was auch immer! Wie sind für dich da!«

Und noch bevor ich darüber nachdenken konnte, was eigentlich gerade passiert war, saßen Ralf und ich wieder auf unseren Fahrrädern und radelten Richtung Heimat. Ich war vollkommen verdattert. Dieser Vormittag hatte sich als ausgesprochen seltsam entpuppt. Auf Wunsch von Ralf waren wir zu Arne gefahren, hatten ihn kurzerhand geoutet, ähnlich feinfühlig damit konfrontiert, dass er ein Telepath war, zugesehen, wie er zusammengeklappt war, ihn danach mit lächerlichen Allgemeinplätzen vollgetextet und dann, so als ob nichts geschehen wäre, einfach mit dem Hinweis aufs Telefon ihm sich selbst überlassen. Kam nur mir das irgendwie seltsam vor?

Ich schielte vorsichtig zu Ralf hinüber. Gar nicht so einfach, wenn man dabei auf einem Waldweg fährt, der mit schmalen, aber sehr tiefen Furchen durchsetzt war. Soweit ich sehen konnte, war Ralf am grübeln. Ich hätte ihn gerne etwas zu unserem Besuch gefragt, musste mich aber auf den Weg konzentrieren. Mir blieb nichts anderes übrig, als mit meiner Frage bis zu unserem Ziel zu warten.

Remote Controll

Worin man sich völlig überflüssig zofft

»Sag' mal, hast du sie nicht mehr alle?«

Im Endeffekt waren wir schweigend bis zu mir nach Hause geradelt. Ebenso schweigend hatten wir unsere Fahrräder wieder in die Garage gestellt. Während der gesamten Fahrt wandelte sich meine Verwirrung in Wut. Was sollte diese ganze Aktion bezwecken? Wenn Ralf einen Plan verfolgte, dann hatte er aber irgendwie vergessen, mich in diesen Plan einzuweihen. Das stank mir gewaltig. Waren wir Freunde, Partner, Liebhaber oder nicht?

Wir waren in mein Zimmer gestiefelt. Ich voraus und Ralf hinter mir. Er war erst halb drin, als ich mich umdrehte und ihn anbrüllte. Ich schäumte vor Wut.

»Was sollte das vorhin? Was ist in dich gefahren, Arne an den Kopf zu knallen, er wäre schwul. Das ist doch wohl verdammt nochmal seine Angelegenheit. Und ihm dann auch noch zu erzählen er sei ein Telepath ... Der musste doch zusammenklappen. Doch als wenn das noch nicht reichen würde, haben wir ihn jetzt auch noch allein gelassen. ,Und wenn du noch Fragen hast, ruf an!` Ich hab' über deine Scherze schon mal mehr gelacht. Man, Arnes Nerven sind dünn wie nasses Klopapier!«

Apropos Klo. Ralf wehrte sich kein Stück, als ich die Scheiße über ihm auskippte. Ganz im Gegenteil, er schaute schuldbewusst auf den auf Fußboden. Verdammt, ich wollte mich mit ihm streiten, ihm den Kopf waschen und anbrüllen, bis er zurückbrüllte. Doch was tat er? Er nahm meine Wut einfach an. Er stand einfach da und ließ den Orkan vorüberziehen. Ich wollte ihm noch tausend Dinge an den Kopf werfen, doch war plötzlich die Luft aus mir raus. Beleidigt knurrend warf ich mich auf mein Bett und bedachte meinen Freund mit den bösesten Blicken, die mir einfielen.

»Du hast Recht.«

Nach etwas, was mir wie eine Ewigkeit vorkam, antwortete Ralf.

»Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Ich weiß noch nicht einmal, wie ich überhaupt auf die Idee gekommen bin, zu Arne zu fahren.«

Ich setzte mich auf. Ralf zeigte die gleiche Art Verwirrung, die mich befallen hatte. Ich war in der Tat verwirrt, weil mir Ralfs Aktionen planlos und unkoordiniert vorkamen. Das war auch der Hauptgrund, warum ich so wütend geworden war. Wenn er einen Plan gehabt hätte, hätte er mich gefälligst einweihen sollen. Doch jetzt sah ich Ralfs eigene Verwirrung. Oder schlimmer noch, er wirkte nicht nur verwirrt, sondern regelrecht verstört.

Mit einem merkwürdigen Blick, als wenn er in sich hineinlauschen würde, setzte er sich in meinen Schreibtischstuhl.

»Tobi, du musst mir glauben, ich hätte Arne nie derart plump geoutet. Also, nicht ich. Als ich es vorhin tat, war es für mich so, als wenn ich neben mir stehen würde. Die ganz Zeit hatte ich dieses Gefühl. Als wenn ich nur ein Zuschauer sei.«

Ich runzelte meine Stirn und bemerkte spitzzüngig: »Dann war es also dein finsteres Alter Ego?«

»Das ist nicht witzig!«

»Das war die Sache mit Arne auch nicht!«

»Ok! Du hast rech. Aber es war auf keinem Fall so etwas wie ein Alter Ego. Ich bin mir außerdem sicher, nicht telepathisch gesteuert worden zu sein. Ich weiß auch nicht ...«

Ralf verfiel wieder in einen Grübelmodus. Meine Wut war mittlerweile verdampft, mein Stolz aber immer noch angekratzt, weswegen ich Ralf noch nicht aufforderte, zum Kuscheln ins Bett zu kommen. Stattdessen machte ich mir Sorgen um Arne: »Meinst du, dein Schnellkurs vorhin hat Arne ausreichend stabilisiert. Ich möchte nicht, dass er wieder zusammenbricht, wenn er später nochmal über alles nachdenkt.«

»Das wird er nicht«, meinte Ralf lakonisch.

»Nein? Und warum nicht?«

»Alles, woran sich Arne noch erinnern kann, ist, dass er heute Vormittag den Rasen gemäht hat. Weder weiß er, dass er ein Telepath ist, noch kann er sich daran erinnern, dass wir ihn besucht haben.«

»Was?«, kreischte ich los. »Was hast du getan?«

»Das wüsste ich auch gerne ...«, Ralf kratzte sich zum zigtausendsten Mal am Kinn. Schließlich seufzte er, stand vom Bürostuhl auf und hockte sich neben mich aufs Bett.

»Ich weiß auch nicht, was heute mit mir los ist. Seid ich heute Morgen aufgestanden bin, habe ich den Eindruck, vollkommen neben mir zu stehen. Ich tu Dinge, die nie und nimmer auf meinem Mist gewachsen sein können. Zum Beispiel die Idee, Arne zu besuchen. Ich habe nicht den blassesten Schimmer, wie ich darauf gekommen bin. Mir fiel plötzlich der Name ein und ich wusste, dass er ein Mitschüler von uns ist. Genauso kam es mir unendlich wichtig vor, ihn sofort zu besuchen. Nicht etwa morgen oder übermorgen sondern sofort. Aber ich könnte dir nicht sagen, wieso. Als wir dann bei ihm waren, war es wie in einem Film. Als wenn mir jemand eine DVD in den Kopf gestopft hätte, lief die ganz Show ohne mein Zutun ab. Tobi, meinst du ich werde verrückt?«

Ralf sah mich mit einem supersüßtraurigen Hundeblick an, der Granit zu Butter verwandeln konnte. Es war schwer, bei einem derartigen Anblick einen klaren Gedanken zu fassen und nicht vollständig von Ralfs Erscheinung verschluckt zu werden. Da ich wesentlich weniger Widerstandsfähigkeit als ein Granitblock besaß, gelang mir die Sache mit dem klaren Gedanken natürlich nicht. Statt dessen schluckten mich Ralfs hypnotisch strahlende Augen. Sie wurden größer, noch strahlender, umfassender, als ich mir vorstellen konnte. Ich sah nur noch seine Augen und muss wie ein sabbernder Vollidiot dagesessen haben.

»Hast du nicht etwas vergessen?«, hörte ich eine Stimme in meinem Kopf fragen.

»Was?«, fragte ich laut. Der Blickkontakt riss ab. Ralfs Augen schrumpften auf Normalmaß zusammen. Ich war mental wieder in meinem Zimmer.

»Was?«, fragte Ralf.

»Was was?«, fragte ich.

»Du sagtest: ,Was?`«

»Ja, wieso?«

Ralf glotzte mich verwirrt an: »Woher soll ich das wissen? Ich wollte nur wissen, warum du ,Was?` gesagt hast.«

»Ich habe auf deine Frage geantwortet.«

»Auf welche Frage?«, Ralf wirkte noch verwirrter.

»Du hast mich doch eben gefragt: ,Hast du nicht etwas vergessen?`«

»Ich? Nein, ich habe überhaupt nichts gesagt. Du hast mich wie ein Auto mit Fernlicht angestarrt. Du hast vor dich hingeträumt und plötzlich einfach nur ,Was?` gesagt. Geht es dir gut?«

»Ich denke schon.«, ich lauschte in mich hinein, konnte aber nichts außergewöhnliches hören, »Ich hätte wetten können, dass ich diese Frage gehört habe ...«

Ralf musterte mich skeptisch: »Hast du denn etwas vergessen?«

Auf diese Frage zuckte ich zusammen: »Shit! Jetzt wo du mich fragst, ich denke schon. Ich weiß bloß nicht mehr, was es war! Ben, was ist los mit mir?«

»Ben?«

»Was?«

»Du hast mich Ben genannt. Meine Name ist Ralf!«

»Hab' ich nicht. Hab' ich?«

»Ja, hast du!«

Ralf und ich sahen uns an. Irgendetwas Merkwürdiges ging mit uns vor.

»Zum Kloster!«, sagten wir plötzlich beide gleichzeitig. Diese Synchronizität war erschreckend.

Ein vergrabener Erinnerungsfetzen löste sich: »Ich glaube, das war es, was ich vergessen hatte. Irgendjemand meinte, wir sollten unbedingt das Kloster aufsuchen. Und wenn ich mich nicht fürchterlich irre, sollen wir Michi mitbringen.«

Ralf grinste: »Er ist bereits auf dem Weg hierher.«

Ralfs telepathische Fähigkeiten waren zuweilen ausgesprochen gewöhnungsbedürftig.



Michi klingelte gut eine Minute später an der Haustür. Ich ließ ihn hinein.

»Was ist den mit euch beiden los? Ist jemand gestorben?«, Michi verzichtete auf eine förmliche Begrüßung. »Ihr seht aus, als wenn ihr gerade von einer Beerdigung kommt.«

»Wir müssen weg. Sofort!«

Ralf ging nicht weiter auf unsere trübe Stimmung ein.

»Wohin müsst ihr denn?«

»Nicht ihr!«, grinste Ralf diabolisch. »Wir! Du kommst mit!«

Ralf schloss die Augen. Man konnte sehen, wie seine Augäpfel sich unter den geschlossenen Lidern bewegten. Ein deutliches Zeichen, dass sich Ralf auf etwas konzentrierte. Plötzlich hörte man ein leises »Plöp« und wir standen nicht mehr auf der Auslegeware meines Zimmer, sondern standen auf einem glänzenden Granitboden. Ein hypermoderner Raum umgab uns. Licht strömte durch leuchtende Wandpaneele, die sich mit grauen Paneelen abwechselten. Eine Einrichtung war einfach nicht vorhanden. Der Raum hatte gleichzeitig etwas sehr Strenges, verströmte aber auch eine merkwürdige Form von Geborgenheit.

»Wo sind wir?«, fragte Michi, obwohl er die Antwort natürlich schon wusste.

»Im Hauptquartier der Wächter ...«, verkündete Ralf feierlich und seine Augen strahlten dabei, wie bei jemanden, der nach langer Zeit wieder nach Hause kam. Er blieb auch nicht bei uns stehen, sondern durchschritt stolz den Raum. Plötzlich drehte er sich um und sah uns traurig an. Ralf senkte seinen Blick, zuckte plötzlich, wie von Krämpfen gepackt, zusammen, um dann mit einem Schrei seinen Kopf in den Nacken zu werfen. Er riss seinen Mund weit auf, bog seinen Rücken zurück, die Arme und Beine weit von sich gestreckt. Ich wollte gerade vor Schreck aufschreien, als mir der Schrei im Halse stecken blieb.

Aus Ralfs Mund schossen Lichtstrahlen heraus. Aus diesen Lichtstrahlen formte sich eine Figur, ein Mann. Er schwebte über Ralf, schwebte dann aber, während er an Struktur und Form gewann, zu Boden. Als der letzte Lichtstrahl aus Ralfs Mund entwichen war, brach Ralf zusammen. Er sackte auf den Boden, war aber nicht bewusstlos, da er sich mit einer Hand abstützte und mit der anderen Hand mir Einhalt gebot, als er sah, dass ich auf ihn zustürmen wollte.

Und dann war ich dran.

»Umpf!«, war alles, was ich noch sagen konnte. Weiter kam ich nicht, denn im nächsten Moment hatte ich das Gefühl, als wenn man mir mit einem Stiefel in den Rücken getreten hätte. Ich bäumte mich auf, riss wie Ralf meinen Kopf weit zurück. In meinem Hals baute sich ein unerklärlicher Druck auf. Jetzt verstand ich, warum Ralf seinen Mund so weit aufriss. Ich tat genau das Gleiche und auch mir entwich eine Lichtgestalt.

Bei Ralf hatte die ganze Angelegenheit bestenfalls 20 Sekunden gedauert. Ich konnte mir eigentlich nicht vorstellen, dass es bei mir viel länger gedauert hätte, aber es kam mir eine Ewigkeit vor. Als alles Licht aus mir raus war, gaben meine Knie nach und auch ich sackte zu Boden. Ein echter Schwächeanfall, aber nicht besorgniserregend.

Das sah Michi völlig anders. Panikartig sah er von mir zu Ralf hin und her und erwartete das nächste Opfer eines oralen Lichtaustrittsphänomens zu werden. Ralf konnte ihn beruhigen.

»Keine Angst. Die Typen steckten nur in mir und Tobi!«

»Typen?«, meinte die Lichtgestalt aus Ralfs Körper. »Wir haben Namen!«

Müde und erschöpft erhob sich Ralf: »Darf ich vorstellen Benedict van Orthen und Marcus Sebastianus II.«, und zu den beiden Wächtern gewandt: »Ich hätte nicht gedacht, euch nochmals wieder zu sehen!«

Zwischen Flandern und Italien

Worin sich die Geschichte zeitlich um ein paar Jahrhunderte verlagert

»Oder das, was von uns übrig ist.«, fügte Benedict van Orthen hinzu.

Die beiden Figuren sahen inzwischen aus wie normale Menschen: sie leuchtete nicht, schwebten nicht über dem Boden und zeigten auch keine Tendenz zu einer unnatürlichen Transparenz.

»Wir sind euch wohl eine Erklärung schuldig«, meldete sich Marcus Sebastianus zu Wort. »Kommt!«

Einige der Wandpaneele verschwanden und ein hell erleuchteter Gang wurde sichtbar. Marc ging voraus, gefolgt von Ralf, Michi, der sich hektisch vor mich schob, und mir. Die Nachhut bildete Ben. Wir folgten Marc durch ein Gewirr von Korridoren und Gängen. Ralf schien sich hier gut zurechtzufinden, denn er ging neben Ben und versuchte mit ihm zu sprechen. Schließlich erreichten wir einen Raum mit einer großzügigen Sitzlandschaft. Jeder fand Platz und jeder konnte jedem gut sehen, d.h. fast, denn Ralf und ich teilten uns ein Sofa.

»Das Wichtigste zuerst.«, begann Marc. »Ben und ich leben nicht mehr. Nein, wir sind nicht tot. Vermutlich nicht, sollte man wohl sagen. Aber wir befinden uns nicht mehr in dieser Welt. Das, was ihr von uns seht, was in euren Körpern steckte, ist nur ein Echo von uns. Eine interaktive Erinnerung könnte man sagen. Bevor auch diese verschwindet, haben wir aber noch eine Menge miteinander zu bereden.«



Ralf war sprachlos. Ich sah, wie seine Augen feucht wurden.

»Du ... ihr seid nur noch Erinnerungen? Ihr seid aus dieser Welt verschwunden?«

Ralf konnte seine Trauer nicht verstecken. Ich hatte seine Stimme noch nie so gebrochen und stockend gehört. Ich wollte mich gerade wundern, als mir etwas einfiel. Er hatte zuerst »Du« gesagt und dabei Ben angesehen. Benedict van Orthen war es auch, der in Ralf gesteckt hatte. Natürlich, Benedict van Orthen war Ralfs Lehrer gewesen. Er hatte die Fähigkeiten von Ralf entdeckt und ihn ausgebildet.

»Ja! Wir sind aus dem Geschäft«, diesmal antwortete Marc und sah dabei nicht sonderlich glücklich aus. »Es kommt aber noch dicker. Ich hoffe, ihr habt etwas Zeit mitgebracht ...«

Ben und Marc machten es sich gemütlich. Wir schlossen uns an. So wie es aussah, würde es eine lange, eine sehr lange Geschichte werden. Und dann begann Benedict van Orthen zu erzählen.



Es war im Jahre des Herrn 1398. Ich war gerade 19 Jahre alt geworden, als der Abt unseres Klosters mich mit der Nachricht beglückte, dass ich an ein anderes Kloster ausgeliehen werden würde. Als dritter Sohn eines eher niederen Adeligen war mein einziger Reichtum gerade mal der Name. Van Orthen aus Flandern. Ende des 14. Jahrhunderts wurde der Zerfall der Kirche und ihr Machtverlust immer offensichtlicher. Luther, Calvin und die Reformation waren nur noch eine Frage der Zeit. Die Päpste hatten es mit ihrem Allmachtsanspruch zu weit getrieben, allen voran Papst Bonifaz VIII mit seine Bulle »Unam sactam« 1302. 1309 zieht der Klerus nach Avignon um. 1316 bis 1334 verdammt Johann XXII im Armutsstreit mit den Franziskanern die Lehre von der Armut Christi. Zwei Päpste kämpfen um die Macht. Urban VI in Rom und Klemens VII in Avignon. Erst Gregor XI wird 1377 nach Rom zurückkehren. Aber die Welt ist bereits in zwei Lager zerbrochen. Es kommt zum großen Schisma. Zwischen 1378 und 1417 ist Europa gespalten.

Und ich mitten drin. Doch zwischen den dicken Mauern meines Klosters merkte ich von all dem nichts. Außerdem war ich mit 19 Jahren noch reichlich naiv. Ich ging voll in meiner Arbeit auf, der Miniaturenmalerei. Was ich nicht wusste, war, dass ich damit zur Cash-Cow des Klosters wurde. Statt die Bücher mit meinen Malereien von den Textern ausfüllen zu lassen, damit sie unsere Bibliothek bereicherten, wurden die Rohlinge an andere Klöster verkauft. Ohne, dass ich etwas davon ahnte, erlangte ich eine Berühmtheit weit über meine heimischen Klostermauern hinaus.

Dieser Berühmtheit verdankte ich es dann, dass ich auf der Transferliste für Human Resources landete. Mein Abt verkaufte mich für eine Anzahl Ländereien in Spanien, zwei heiligen Reliquienschreinen mit angeblich echten Splittern des Kreuzes eines Märtyrers und einen ordentlichen Batzen Gold. Heutzutage nennt man sowas wohl Ablösesumme.

Und so machte ich mich im Spätsommer des Jahres 1398 auf, von Flandern nach Norditalien zu ziehen. Die Reise verbrachte ich in der Begleitung anderer Brüder, die bei verschiedenen Gelegenheiten auch wechselten. Schließlich war es ein langer Weg, der vor mir lag und ich war froh, ihn nicht alleine gehen zu müssen. Zeitweise, wenn ein Teilabschnitt unsicher oder gefährlich zu sein schien, wurden wir von bewaffneten Männern begleitet. Eine Teilstrecke legte ich sogar in einem geschlossenen Wagen mit einem Prälaten zurück, der mit wichtigen Dokumenten unterwegs war. So interessant das Reisen auch war, so war es doch völlig anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich wurde das erste Mal mit dem wirklichem, dem echten Leben der Menschen konfrontiert.

Ich hatte schon vorher Geschichten und Erzählungen vom Leben in den Städten und Dörfern gehört. Aber die Realität stellte jede Erzählung in den Schatten. Während der gesamten Fahrt kämpfte ich mit einer spirituellen Sinnkrise. Auf der einen Seite gab es den fast unermesslichen Reichtum der Kirche. Da wir von Abtei zu Abtei reisten, lernte ich eine ganze Reihe von anderen Klöstern kennen. Wenn ich mein altes Heimatkloster für wohlhabend hielt, wurde ich mehrfach eines besseren belehrt. Und alles im Namen und zur Ehren Gottes.

Ehrten wir Gott wirklich? Denn direkt neben diesen Reichtum sah ich unermessliche Armut: Dörfer, in denen der Hunger durch Missernten greifbar war, Städte, in denen die Menschen sich von Ratten ernährten. Und es gab Angst. Es gab sogar sehr viel Angst. Als einmal ein mitreisender Bruder eine Bemerkung über Johann XXII und seine Verteufelung der Franziskaner machte, wurde ihm sofort geheißen still zu sein, da man nie wisse, wer alles mithören würde. Der Schrecken hatte einen Namen: Inquisition. Je stärker der Zerfall der Kirche sich beschleunigte, desto mehr griffen der Papst und die Bischöfe auf Machtmittel zurück.

In dieser Stimmung, verunsichert durch das reale Leben, kam ich nach einer zweimonatigen Reise in meiner neuen Wirkungsstätte an. Und was dies für eine Wirkungsstätte war! Die Abtei stellte an Prunk und Pracht alles in den Schatten, was ich auf meiner Fahrt gesehen hatte. Wir kamen mit unserer Reisegruppe von Norden in ein Tal, das in sattem Grün in der Sonne leuchtete. Die hügelige Landschaft der Toskana schien vor Natur nur so zu strotzen. Kein Wunder, dass Geheimrat Goethe ein paar hundert Jahre später ebenfalls von diesem traumhaften Flecken Erde äußerst angetan war.

Wir kamen von einer Hügelkette hinab. Ein alter Pilgerpfad führte von der Höhe zum Fuß des Berges. Dort lag die Abtei. Ihr Ländereien umfassten die ganze Landschaft. Das Tal, die Weinberge, die Dörfer, einfach alles war Eigentum des Klosters und über allem gebot der Abt, der damit auch Lehnsherr dieses Landstriches war. Das Kloster selbst schien eine alte Festung zu sein. Es lag mit zwei Seiten dicht an den Berg gedrückt, von dem wir eben heruntergekommen waren. Eine hohe Mauer umgrenzte das innere Klosterareal. Sie begann an einer der Felswände, führte über mehrere Wehrtürme zum großen Haupttor und folgte dann einem Bach zurück zur Felswand des rückwärtigen Berges. Von dem Haupttor führte eine Straße ungefähr hundert Meter nach Westen zu einer Kreuzung, an der der Pilgerpfad auf die Hauptstraße traf.

Durch eine geschickte Ausnutzung der örtlichen Gegebenheiten blieb einem Wanderer, der von Nordosten den Pilgerpfad hinab kam, das Kloster so lange verborgen, bis er in Reichweite der Wehrtürme war. Als unsere Reisegruppe schließlich vor dem Haupttor stand, war ich von dessen schierer Größe überwältigt. Ein mächtiger Bogen, der beiderseits von gewaltigen Türmen begrenzt war, bildete das Tor. Offenbar erwartete niemand, dass in der nächsten Zeit Gefahr drohen würde, denn das Tor stand offen. Es herrschte sogar ein reges Kommen und Gehen. Bauern kamen mit vollbeladenen Karren und brachten Getreide, Oliven in Krügen, Gänse, Schweine, halt alles, was der Boden hervorbrachte oder auf ihm gedeihte.

Am Tor wurde unsere Reisegruppe von einem Wächter aufgehalten. Ich hatte ihn vorher nicht sehen können, da er im Schatten der steinen Wehranlage in einer Nische gestanden hatte. Wir übereichten ihm unsere Entsendungsschreiben, die er aufmerksam studierte. Erst jetzt erkannte ich, nachdem sich meine Augen an den Halbschatten im Tor gewöhnt hatten, dass der Wächter ein Mönch war. Und, anders als in vielen anderen Klöstern, kein einfacher Laienbruder, sondern gebildet und der lateinischen Sprache ihn Schrift und Bild mächtig war. Es handelte sich um den Bruder Marcello, dem Cellerar des Klosters, dessen eigentliche Tätigkeit im Moment die Erfassung der Lieferungen durch die Bauern war.

Ein kurzer Blick in unsere Papiere und Bruder Marcello zeigte uns den Weg zum Kapitelsaal, wo der Abt sein Büro besaß. Wir durchschritten das Haupttor und standen im Inneren der Abtei. Sie war gigantisch. Innerhalb der Wehrmauer schien sie fast eine kleine Stadt zu sein, nur dass es dafür zu wenig Häuser gab. Nun, es gab Häuser. Es gab Stallungen, ein Hospital und ein Badehaus, es gab das Dormitorium, den Kapitelsaal, eine Priesterschule, eine Kirche, die größer war, als manche Stadtkirche, die ich auf meiner Reise gesehen hatte und es gab eine Bibliothek, in der ich, wie es aussah, bald arbeiten würde.

Wir betraten den Kapitelsaal und wurden dort von einem Bruder, der sich als Bruder Thomasius und als Sekretär des Abtes vorstellte, empfangen. Nach dem obligatorischen Bruderkuss wurden wir gebeten, kurz zu warten. Der Abt wäre noch mit einer anderen Sache beschäftigt, aber wir könnten uns nach unserer langen und beschwerlichen Reise erst einmal stärken. Ein kleiner Imbiss sei für uns angerichtet worden.

Der Imbiss war wohl vorzüglich, weswegen es niemand übel nahm, dass die Angelegenheit, mit der der Abt beschäftigt war, alles andere als kurz genannt werden durfte. Ich hingegen war dermaßen aufgeregt, dass ich keinen Bissen herunter bekam. Schließlich wurden wir dann aber doch, je nach Auftrag und Grund der Reise, einzeln oder in kleinen Gruppen zum Abt gebeten. Ich wurde, da ich der Jüngste war, als Letztes gerufen.

»Ahhhh, Bruder Benedict!«, begrüßte mich der Abt. »Endlich seid ihr da. Wir alle freuen uns, dass ihr unbeschadet den Weg zu uns gefunden habt. Endlich werden wir eure hohe Kunst mit eigenen Augen bewundern dürfen.«

Der Kerl schmierte mir hektoliterweise Honig um den Mund. Seine Lobeshymnen auf meine Arbeit und mein altes Kloster wollten fast nicht enden. Wäre ich damals nicht mehr so naiv gewesen und hätte etwas mehr Menschkenntnis besessen, hätte ich vielleicht begriffen, was der Abt wirklich meinte: »Endlich gehört der Typ uns!« So hielt ich seine Rede für pures, aufrichtiges Lob.

So stürmisch, wie ich begrüßt wurde, so stürmisch wurde ich auch aus dem Amtszimmer unseres Abtes wieder herauskomplementiert. Ein anderer Bruder, mit dem Namen Vincent von Perugia nahm mich in Empfang. Bruder Vincent war für den inneren Haushalt der Abtei zuständig. Er teilte einem die Zellen zu, managte die Küche, sorgte für Kleidung, kümmerte sich halt um alles, was nicht mit der Produktion von Büchern oder dem geistlichen Teil des Klosters zu tun hatte. Vincent war direkt dem Cellerar unterstellt, welcher zusätzlich auch die profanen Teile des Klosters, wie die Stallungen und die Ländereien verwaltete.

»So, Bruder Benedict. Dies ist eure neue Zelle«, sprachs und schloss einen Raum auf, dessen Größe das Wort Zelle in einem ganz neuem Licht erschienen ließ. Ich war nicht nur überrascht, ich war hocherfreut, eine eigene Zelle erhalten zu haben und nicht, wie in meinem altem Kloster üblich, im Gemeinschaftsschlafsaal schlafen zu müssen. Obendrein war die Zelle eher ein geräumiges Zimmer, mit Tisch, zwei Stühlen, Schrank, einer Öllampe, Bett und einem Fenster nach Osten. Wie ich später erfuhr, besaßen die Zimmer sogar eine römische Heißluftheizung. Der Fußboden und die Längswand waren hohl. Im Winter wurde warme Luft durch sie hindurchgeleitet. Frieren würde ich hier nie. Diese Abtei war eine fünf Sterne Luxusabtei. Hinter ihren Mauern konnte man schnell vergessen, dass draußen in der Welt die Menschen hungerten und sich in strengen Wintern die Gliedmaßen abfroren.

Bruder Vincent verabschiedete sich von mir. Im Gehen teilte er mir mit, dass mich der Abt für heute bis zum Abendessen und dem Abendgebet von allen Pflichten befreit hätte. Nach den Strapazen der Reise sollte ich mich erst einmal erholen und mir alles ganz genau ansehen. Am nächsten Tag sollte ich dann in meine neuen Aufgaben eingeführt werden. Hinter ihm fiel die Tür in ihr Schloss. Das erste Mal seid Wochen war ich alleine in einem Raum.

Völlig unerwartet überkam mich ein Gefühl von Einsamkeit. Ich stand in meiner Zelle, sah mich in der fremden Umgebung um und wusste nicht, was ich dort sollte. Man darf nicht vergessen, ich war damals gerade 19 Jahre alt gewesen. Meine psionischen Fähigkeiten waren noch nicht erwacht. Statt dessen plagten mich anderer Dämonen: die Fleischeslust.

Das späte Mittelalter war nicht unbedingt die idealste Epoche, um schwul zu sein. Nachdem es in einer Reihe von Klöstern zu sehr unschönen sexuellen Exessen gekommen war, bei denen die eine oder andere Nonne unter anderem mit ungeplanten Leibesfrüchten beglückt wurde, entschied sich erst Avignon später Rom dazu, dem Treiben ein Ende zu bereiten. Was für eine Heuchelei! Schließlich liefen genügend leibliche Söhne und Töchter des Papstes umher. Einige Kardinäle sollen ihren Mätressen sogar Wohnungen im Vatikan verschafft haben. Während man also Keuschheit predigte, schob man zwischendurch die eine oder andere Nummer.

Mit anderem Worten: Manche waren mal wieder gleicher als andere. Es wurden verschiedene Moralcodices verfasst und die Unkeuschheit eines Geistlichen unter schwere Strafen gestellt. Sogenannte widernatürliche, gegen die Schöpfung gerichtete Handlungen, wurden natürlich wesentlich schärfer, also mit dem Tode bestraft, dem aber einr intensive und ausgiebige Folter voranzugehen hatte. Einfach nur umbringen hätte wohl keinen Spaß gemacht.

Der Abt meines Heimatklosters war nicht nur macht- und geldgeil, er war auch extrem fundamentalistisch, was Glaubensdinge betraf. Ich hatte selbst erlebt, wie er einen Bruder dazu zwang, sich selbst vor allen Mönchen zu geißeln, weil dieser sich einen von der Palme gewedelt hatte. Nicht, dass wir nicht alle wichsten, insbesondere bei uns jungen Mönchen war es eine übliche Praxis. Aber das arme Schwein von einem Mönch war so blöd gewesen, sich dabei erwischen zu lassen. Trotzdem jagte uns diese Strafmaßnahme einen heftigen Schrecken ein. Niemand hat wirklich Lust darauf, sich stundenlang selbst auszupeitschen.

Mir jagte diese Strafe aber einen doppelten Schrecken ein, da ich zu der Zeit zu ahnen begann, dass mich der Lockruf des Weibes niemals erreichen würde. Stattdessen verursachte ein junger Mönch aus Schweden massive Panikattacken. Der Typ war ein pures blondes Gift. Ihn anzusehen, bereitete mir körperliche Schmerzen. Ihn durch meinen Umzug nach Italien nicht wiedersehen zu müssen, war noch das Beste an der ganzen Versetzungsgeschichte.

Was hatten wir also? Wir hatten mich, einen jungen Mönch, einen halbwegs begabten Miniaturenmaler, der leider stockschwul durch ein tödlich schwulenfeindliches Zeitalter stiefelte.

Ich war alles andere als glücklich.

Toskanisches Klosterleben

Worin sich Bruder Benedict in südlichen Gefilden einlebt

Wenn ich die Sonnenuhr vor meinem Fenster richtig interpretierte, war es ungefähr halb 11. Ich hatte mich frisch gemacht und die beunruhigenden Gedanken vorerst beiseite geschoben. Ablenkung war angesagt. Und wie erreicht man dies am besten? Man stürzt sich in neue Aufgaben. Mit neuem Elan preschte ich drauf los. Ich war begierig, alles über meine neue Wirkungsstätte zu erfahren. Mein erster Weg führte mich also zielstrebig zum Skriptorium.

Kapitelsaal, Dormitorium, das Aedificium und die Bibliothek mit dem Skriptorium waren so angeordnet, dass sie in ihrer Mitte einen kleinen Garten mit Kreuzgang bildeten. Um den Copisten und Miniaturenmalern das beste Licht zu bieten, verlief die Längsseite des Skriptoriums von Ost nach West, so dass dessen Fenster direkt nach Süden schauten. Außerdem befand es sich im zweiten Stockwerk. In den unteren beiden Stockwerken befand sich die Bibliothek. Ich erreichte mein Ziel vom Kreuzgang über eine gewundene Treppe und eine Tür, die ich vorsichtig und leise öffnete.

Aus eigener Erfahrung wusste ich nur zu gut, wie unschön Störungen bei einer Arbeit sind, die höchster Konzentration bedurfte. Doch meine Vorsicht war unbegründet, da ich mitten in einen heftigen Disput platzte.

»Dieses Pergament ist der letzte Dreck!«, fauchte ein Bruder. »Was für ein Tier hat man dafür abgezogen? Eine Ratte?«

»Bruder Nicolas, du solltest vermeiden, deine eigenen Fehler anderen aufbürden zu wollen«, bemerkte ein anderer Mönch spitz.

»Ich kann mich nicht erinnern, dich um deine Meinung gebeten zu haben, Bruder.«

»Bitte! Bitte! Welch' unnütze Zwietracht«, brachte sich eine dritte Stimme ein. »Bruder Nicolas hat sicherlich Recht. Die neuen Pergamente sind wahrlich von minderer Qualität. Wir sollten Bruder Nicolas nicht vorwerfen, wenn seine Konzentration darunter leidet und er dadurch einen kleinen Fehler gemacht hat.«

Auf diese windelweiche Parteinahme erhob sich ein unruhiges Gemurmel. Offenbar wurde diese Position von den restlichen Mönchen im Skriptorium nicht unbedingt geteilt. Allerdings schien auch niemand zu wagen, etwas gegen den letzten Sprecher zu erwidern. Mir wurde schnell klar, warum. Jener Bruder mit der debattentötenden Aura entpuppte sich als Bruder Bibliothekar, Eduardo von Grenada, einem hochgewachsenen Spanier im Alter von Mitte dreißig.

»Und was kann ich für euch tun, Bruder?«, Bruder Eduardo hatte mich entdeckt und war sofort auf mich zugeeilt, wobei ihm alle Augenpaare der anwesenden Brüder nacheilten.

Ich schluckte den plötzlich auftauchenden Kloß in meinem Hals runter und stammelte los: »Benedict ... ähm ... Bruder Benedict ... van Orthen. Ich bin der neue Maler ...«

Die finstere Mine des Bibliothekars erhellte sich, als er seine buschigen Augenbrauen hob. Unter den Copisten, Malern und Schreibern startete ein Getuschel. Taxierende Blicke wurden auf mich gerichtet. Ich fühlte mich unwohl, unsicher und wäre am liebsten in einem Mauseloch verschwunden.

»Ahh, der berühmte Bruder Benedict van Orthen. Ich habe schon gehört, dass ihr eure sicherlich beschwerliche Fahrt glücklich beendet habt und endlich zu uns gestoßen seid.«

Ich? Berühmt? Das war mir neu und ordentlich peinlich. Ich hasste es im Mittelpunkt zu stehen, doch genau dort stand ich jetzt. Bruder Eduardo hatte mich an der Kutte gepackt und zerrte mich nicht nur in den Mittelpunkt des Interesses, sondern konkret auch in den Mittelpunkt des Schreibsaals.

»Liebe Mitbrüder, wenn ich euch kurz um eure Aufmerksamkeit bitten dürfte?«, erhob Bruder Eduardo seine Stimme. »Dies ist Bruder Benedict van Orthen. Er ist aus Flandern zu uns gekommen und wird ab sofort unser heiliges Werk mit seiner Kunst vervollkommnen.«

Da stand ich nun und wurde von schätzungsweise 20 Augenpaaren angeschaut. Nach heutigen Maßstäben würde man das Skriptorium als Großraumbüro bezeichnen. Statt Flachbildschirmen und Tastatur gab es Federkiele, Tinte, Blattgold, Glättsteine und was man sonst zum Schreiben und Verzieren eines Buches benötigte. Jeder Mönch war ein Spezialist auf seinem Gebiet. Es gab Übersetzer, Copisten, Miniaturenmaler und Kommentatoren. Alle unterstanden einem Mann, dem Bruder Bibliothekar, eben jenem Eduardo von Grenada. Und über ihm gab es nur noch eine Person: den Abt.

»Ihr könnt jetzt mit eurer Arbeit fortfahren«, grammatikalisch mochte der Satz der Konditionalform entsprechen und eine Option formulieren. So wie er allerdings ausgesprochen wurde, war es ein Befehl. Die Mönche drehten sich wieder ihren Schreibtischen zu, allerdings nicht ohne sich vorher noch gegenseitig ein paar böse Blicke zu zuwerfen.

Bruder Eduardo war ein überheblicher Mensch. Ich brauchte keine zwei Sekunden, um dies zu bemerken. Mit hoch erhobenem Haupt stolzierte er wie ein Gockel mit mir durch die Reihen der Mönche. Die Sitzordnung war zweckdienlich. Diejenigen Mönche, die für ihre Arbeit das meiste Licht benötigten, wie die Maler, Verzierer und Copisten, saßen an den Fenstern. Da die Übersetzer und Kommentatoren ihre Schriften nur auf Notizbögen niederschrieben, und somit eine saubere, klare Schrift nicht notwendig war, bekamen sie durchweg die hinteren Pulte zugewiesen. Allerdings war das Skriptorium im Vergleich zu dem in meinem alten Kloster sehr hell.

»Dies Bruder Benedict, ist Bruder Theodor von Baden«, stellte mir Eduardo einen der Mönche vor, der an einem der hinteren Pulte saß. »Bruder Theodor bereichert unser Kloster noch ein weiteres Jahr. Er studiert unseren Katalog und forscht in seltenen Texten, die man nur bei uns findet. Seine Arbeit besteht in der Erstellung eines neuen Kommentars des Buches Johannes.«

Theodor und ich tauschten Höfflichkeiten aus, dann führte mich Bruder Eduardo weiter. Mit stolz geschwellter Brust wurde mir der nächste Mönch vorgestellt: »Dies ist Bruder Nicolas von Trient. Einem der begabtesten Schreiber und Copisten unserer Zeit. Seht euch einmal seine Buchstaben an!«

Ich warf einen Blick auf eines seiner fertigen Blätter. Es vergingen zwei Sekunden und ich begann, mich zu schämen. Nach seinem Streit mit dem anderen Mönch vorhin hätte ich nicht erwartet, eine derart erstklassige Arbeit zu sehen. Seine Schrift war klar und von äußerster Präzision. Ich hatte in meinen bisherigen 19 Jahren schon eine unerhörte Vielfalt von Büchern bewundern dürfen. Etliche waren absolute Meisterwerke gewesen, aber ein Buch mit dieser Schrift wäre von göttlicher Vollkommenheit gewesen.

»Ja, unser Bruder Nicolas ist mit einer Gabe gesegnet ...«, verkündete der Bibliothekar salbungsvoll.

»Und mit Geilheit!«, fügte ich im Geiste hinzu. Bruder Nicolas taxierte mich von oben bis unten mit unverhohlener Lüsternheit. Als er sich dann auch noch kurz mit der Zunge über seine Lippen fuhr, als würde er eine besondere Leckerei verkosten, und mir einen sehr eindeutigen Blick zuwarf, war alles klar. Ich zeigte mich keusch und tat so, als wenn ich seine Anmache überhaupt nicht bemerkte.

»Ja, ganz nett«, fauchte Bruder Nicolas. »Aber wie soll man Wunder vollbringen, wenn das Pergament nicht willig ist!«

Das Pergament?

Mit diesen Worten pfefferte er seinen Federkiel hin, bekleckste das ach so unwillige Pergament mit Tinte, sprang auf und stürmte wutentbrannt aus dem Skriptorium, wobei er mich unhöflich anrempelte und knurrte: »Pass doch auf!«

»Vielleicht fehlt unserem Bruder etwas Demut!«, kommentierte Bruder Eduardo den bühnenreifen Abgang und eilte der Diva unter den Copisten hinterher.

»Die Demut sollte man ihm aber mit einem Prügel einarbeiten!«, hörte ich einen der Mönche knurren.

Vom Bibliothekar alleine gelassen mit all den fremden Mitbrüdern wurde ich wieder unsicher. Da ich seit dem Aufbruch zur Laudes (kurz vor Sonnenaufgang) nichts mehr gegessen hatte, und auch vor Aufregung die Stärkung beim Abt ausgeschlagen hatte, wurde mich obendrein etwas flau im Magen. Meine Knie gaben nach und mir wurde leicht schwarz vor Augen. Ich konnte mich gerade eben noch auf einen Stuhl retten.

»Holla, wer wird denn da schlapp machen? Bruder, du siehst ja käseweiß aus!«, hörte ich eine Stimme und schlug meine Augen auf.

Es war ein Albtraum. Ich schaute in eines der fröhlichsten und süßesten Gesichter, dass ich je zuvor gesehen hatte. Wer braucht schon schwedische Mönche? Der Typ, der sich über mich beugte, war Sex pur. Vermutlich war er zwei oder drei Jahre älter, so an die 21 Jahre. Er hatte das, was man heute einen Drei-Tage-Bart nennt, was seine Maskulinität deutlich unterstrich und mit seiner dunkleren Hautfarbe hervorragend harmonisierte. Hinzu kamen markante Wangenknochen, helle, strahlende Augen, ein voller, sinnlicher Mund und ... Dieser Mönch war der Inbegriff eines Albtraums für meine Seele. Wie sollte ich jemals unter diesen Umständen einen klaren Kopf bekommen und etwas Produktives fertigstellen?

Für einen Mönch hatte das Aussehen eigentlich als nebensächlich zu gelten. Schönheit war bestenfalls eine Quelle von Eitelkeit, schlimmstenfalls wurde sie als Blendwerk und Verführungskunst des Teufels angesehen. Ein Mönch, der gut oder schlimmer noch schön anzusehen war, stand immer im Verdacht lasterhaft zu sein. Dementsprechend diente die Tonsur als ein Mittel der Attraktivitätsreduktion. Doch Männer galten nicht als das Hauptproblem. Die schlimmste Form der Schönheit war die, die als Frau daher kam. Aber Frauen standen ja bekanntlich außerhalb unseres Erreichbarkeitsbereichs. Aus diesen Gründen waren die meisten Mönche, die ich bisher kennen gelernt hatte, langweilig bis abgrundtief hässlich. Mein blonder Schwede war in meiner flandrischen Heimat eine extreme Ausnahme gewesen. Und nun, hier, in meiner neuen toskanischen Heimat, war es dieser Bruder, der sich gerade über mich beugte, der die Ausnahme bildete.

Obwohl ... Der zickige Bruder Nicolas war ebenfalls nicht wirklich hässlich, ganz im Gegenteil. Andererseits wusste er seine körperliche Attraktivität sehr gut mit seiner charakterlichen Unattraktivität zu kompensieren. Davon einmal abgesehen schien mir, dass die Mönche hier insgesamt weniger hässlich waren, als bei uns zu Hause in Flandern.

»Hallo!«, fing der Mönch über mir erneut zu reden an und setzte sich neben mich auf einen Hocker: »Ich bin Bruder Marcus, Marcus Sebastianus II.«

»Benedict van Orthen, zu euren Diensten«, entgegnete ich freundlich.

Ein hintersinniges fast keckes Grinsen blitzte kurz auf Bruder Marcus Lippen auf, bevor er wieder erst wurde: »Ihr macht mir Sorgen. Geht es euch nicht gut?«

»Doch schon. Nur ...«, lavierte ich rum. »Es ist mir unangenehm, aber ich habe Hunger. Seit Beginn unserer heutigen Reiseetappe habe ich nichts zu mir genommen. Das war zur Laudes und nun ...«

»Sprecht nicht weiter, Bruder! Euch kann geholfen werden. Kommt, lasst uns sehen, was der Bruder Cellerar an Stärkung für euch bereit hält.»



Bruder Marcus musste eine Prüfung sein. Eine Prüfung meiner Willensstärke. Zu seinem umwerfenden Aussehen gesellte sich auch noch ein fantastischer Charakter. Für Bruder Marcus schien Trübsaal nicht zu existieren. Er war schlicht die Fröhlichkeit in Person. Und diese Fröhlichkeit steckte an. Überall wo er hinkam, hellten sich die Minen auf, als wenn man ein Licht in eine dunkle Ecke trug. Aber Bruder Marcus war nicht nur mit ansteckender Fröhlichkeit gesegnet, er war auch das reinste Energiebündel. Ein echter Sunnyboy. Der einzige Grund, warum dieser Typ in einem toskanischen Kloster hockte und nicht auf einem Surfbrett am Strand von Kalifornien, war der Umstand, dass Christoph Columbus erst knapp hundert Jahre später, 1492 Richtung Amiland losschipperte. Das Surfboard wurde dann wenig später erfunden.

»So!«, meinte Bruder Marcus und stellte mir einen reichlich gefüllten Teller mit Brot, Käse und Oliven hin. Das Essen, obwohl einfach, schmeckte köstlich. Alleine die Oliven! Ich hatte noch nie Oliven gegessen. Es war schließlich Mittelalter. Man ging nicht eben mal kurz zum Supermarkt um die Ecke und kauft sich ein Glas dieser kleinen Dinger.

»Und, wie schmecken dir die Oliven? Vermutlich wirst du noch nie welche gegessen haben.«

»Gut!«, nuschelte ich mit vollem Mund und Griff zum Becher um nachzuspülen. Zu meiner Verblüffung war es kein Wasser, sondern Rotwein, der meine Lippen benetzte. »Das ist ...«

»Wein! Ja! Das Getränk dieser Region. Ein Chianti, das Blut der Toskana. Du wirst dich dran gewöhnen müssen.«

Ich konnte mir ein weitaus schlimmeres Schicksal vorstellen. Soweit es die Nahrungsfrage betraf, gefiel mir meine neue Wirkungsstätte recht gut.

»Bruder, du bist also Miniaturenmaler?«, fragte Bruder Marcus.

»Ja. Aber das ist auch meine einzige gute Fähigkeit. Seid gewarnt. Ich gelte als ausgesprochen tollpatschig.«, was eine schamlose Untertreibung war. Ich war die Personifizierung der Tollpatschigkeit. Wenn es darum ging, zu stolpern, sich zu stoßen, daneben zu greifen, etwas umzuwerfen, ich war dabei! Meister Botanicus brachte immer sofort seine Tonkrüge in Sicherheit, sobald er mich auch nur in die Nähe seines Laboratoriums kommen sah.

»Tollpatschig?«, schmunzelte Bruder Marcus. »So schlimm wird es doch wohl nicht sein.«

»Schlimmer! Oder kennt ihr vielleicht einen anderen Bruder, der es fertig bringt, auf einem Stück Seife durch die Küche zu schliddern und dabei sämtliche Töpfe und Pfannen mit sich zu reißen?«

»Nein, wirklich nicht.«, lachte Bruder Marcus. »Es muss ... ähm, recht laut gewesen sein.«

»Recht laut, in der Tat.«, blinzelte ich verschmitzt.

Bruder Marcus schlug mir ebenso kumpelhaft wie schmerzhaft auf die Schulter: »Ihr scheint das Herz an der rechten Stelle zu haben. Willkommen in unserem Kloster.«



Wir unterhielten uns noch eine Weile. So zeigte sich Bruder Marcus sehr interessiert daran, was ich bisher gemacht und wie ich in meinem alten Kloster gelebt hatte. Anderseits gab er aber auch breitwillig Tipps, wie ich mich in meinem neuem Umfeld verhalten sollte. Wir gingen nicht sehr in die Tiefe. Es war einfach ein unbefangenes gegenseitiges Kennenlernen. Mir half es, mich in dieser Abtei zurechtzufinden, Marcus Sebastianus II lernte andererseits mich kennen. Und obwohl sich am Aussehen meines Mitbruders während unseres Gespräches nicht verändert hatte, verlor sich ein wenig von meiner Befangenheit. Allerdings wirklich nur ein wenig ... Was für ein Glück, dass Mönchskutten weit geschnitten sind.

Zur Vesper war ich umfassend mit den wichtigsten Informationen versorgt. So kannte ich jetzt die Namen und Tätigkeitsfelder der meisten Mönche. Was ich noch nicht wusste, lernte ich in den nächsten Tagen. Auch wenn ich anfangs der Neue war, versuchte ich möglichst wenig aufzufallen. Statt dessen beobachtete ich. Wer hat was zu sagen? Wer redet wie über wen? Wer genießt den Respekt der Brüder? Wer nicht? Vor wem muss man sich eventuell vorsehen?

Ein Kloster ist wie ein Brennglas. Auf kleinstem Raum lassen sich alle Abgründe menschlicher Schwächen und Laster bewundern. Es gab Allianzen und Koalitionen. Es gab Verrat und Intrigen. Es gab Dummheit, Hochmut, Arroganz, Eitelkeit, Neid, Wut, Gier sowie beliebige Kombinationen daraus. Auf der anderen Seite gab es aber auch echte Frömmigkeit, Spiritualität gepaart mit Aufrichtigkeit, Selbstlosigkeit, Güte und Liebe -- Bedingungslose Liebe zur Schöpfung. Zu guter Letzt gab es natürlich auch noch die dumpfe Masse, die weder ganz das eine noch das andere war.

Ein offensichtlichster Machtkampf herrschte zwischen dem Abt und dem Bibliothekar. Jeder hatte seine eigene Hausmacht, die sich kräftemäßig ungefähr die Waage hielten. Der Abt konnte dabei auf die Unterstützung des Cellerars bauen, welcher durch kluges Wirtschaften das Kloster zu einem florierenden Unternehmen gemacht hatte. Verkauften wir doch einen guten Teil unserer Oliven, unseres Weines und Käses an wohlhabende Städter.

Der Bibliothekar wiederum konnte auf seine Bücherproduktion bauen. Die weitaus meisten Bücher, die wir herstellten, gingen ebenfalls in den Verkauf. Es gab eine regelrechte Hitliste. Für reiche Patrizier war es offenbar schick, eine prunkvoll ausgeschmückte Bibel aus unserem Skriptorium zu besitzen. Natürlich wurden die Bücher, insbesondere die Bibeln, nicht von ihren neuen Besitzern gekauft. Stattdessen wurde fleißig gespendet.

Der Machtkampf zwischen Abt und Bibliothekar war so offensichtlich, dass er schon wieder langweilig war, weil nicht wirklich etwas passierte. Man belauerte sich, lieferte sich hin und wieder ein belangloses Scharmützel, aber wirklich gegeneinander antreten, taten die beiden nie. Denn in Wirklichkeit waren beide Seiten aufeinander angewiesen. Interessanter waren eher die Machtkämpfe und Intrigen, die nicht so offensichtlich waren. Es reichte von einem drohenden Blick, einem gezielten Weggucken, einem verächtlichen Schnauben oder einem unsicheren Umschauen, bis zum Verbreiten übler Gerüchte hinter vorgehaltener Hand. Einen anderen Bruder in ein offenes Messer laufen zu lassen, welches man selbst aufgestellt hat, war eines der üblichen Spielchen.

Es gab Strömungen, die auf sehr eigentümliche, verwundene und unterschwellige Weise das Klima im Kloster bestimmten. Zum Beispiel gab es einen sehr alten und sehr ehrwürdigen Mönch, Bruder Bartholomäus. Die meiste Zeit verbrachte er in der Klosterkirche in andächtigem Gebet. Sein fortgeschrittenes Alter hatte ihn fast blind und sehr klapperig werden lassen. Seiner Berufung als Copist konnte er schon lange nicht mehr nachgehen. Arthritis hatten seine Fingergelenke steif werden lassen. Wenn er ging, dann nur auf einen Stab gebeugt. Aber niemand wäre je auf die Idee gekommen, Bruder Bartholomäus arbeiten zu lassen. Alle Fraktionen respektierten ihn nicht nur, sie verehrten ihn.

Trotz seiner Gebrechlichkeit erfüllte er eine wichtige Aufgabe. Zum einen war er Beichtvater von mindestens der Hälfte der Brüder, zum anderen wusste er in Glaubensfragen immer weisen Rat zu geben. Obwohl Bruder Bartholomäus selbst über jedes Laster erhaben zu sein schien, waren ihm die Abgründe menschlicher Existenz nicht fremd. Es hieß, er hätte in seiner Jugend viele schlimme Dinge, möglicherweise sogar Kriege erlebt, und als Konsequenz für sich nur einen möglichen Weg gesehen: die vollkommene Selbstlosigkeit und Ergebenheit gegenüber Gott und Kirche. Man konnte in ihm quasi die Personifizierung der Güte Gottes selbst erahnen. Doch fand erstaunlicherweise genau diese Güte immer dann ein jähes Ende, wenn sich der Weg von Bruder Bartholomäus und der des Bibliothekars kreuzten. Das Interessanteste dabei war, dass Bruder Bartholomäus eiskalt und abweisend wurde, während der Bibliothekar immer einen kleinen und ängstlichen Eindruck zeigte. Ja, der Bibliothekar hatte vor diesem alten Mönch eine verdammte Angst.

Mein primäres Ziel bestand aber nicht in diesen Ränkespielen, ich hatte ein anderes. Mich interessierten nicht die großen Verschwörungen in unserem Kloster. Mich interessierten die kleinen Verschwörungen, nämlich die an meinem Arbeitsplatz, im Skriptorium, und wie ich ihnen am besten aus dem Weg ging, um nicht selbst in eine verwickelt zu werden.

Wie vermutlich in jedem anderen Kloster auch, gab es im Skriptorium eine Hackordnung. Auf der obersten Stufe der Leiter stand der Bibliothekar. Es war weit unter seinem Niveau, sich in die Ränke des Skriptoriums direkt einzumischen. Dafür hatte er seine Lieblinge, wie zum Beispiel Bruder Nicolas. Der Copist war wirklich ein exzellenter Schreiber. Wie schon erwähnt, war seine Schrift von makelloser Schönheit. Seine Bücher erzielten regelmäßig die höchsten Erlöse, soll heißen Spenden. Doch wo viel Licht ist, braucht man den Schatten nicht lange suchen. Bruder Nicolas war unerträglich arrogant, selbstverliebt, kritikunfähig und lästigerweise permanent hinter mir her. Eine echte Diva, die natürlich niemals Fehler machte, ließ meine Libido allerdings absolut kalt. Seine unzweideutigen Avancen waren einfach nur lästig und wurden nur noch von seiner unerträglichen Selbstgerechtigkeit übertroffen.

Die Szene, in der ich Nicolas das erste Mal sah, war für ihn typisch. Wenn er, wie jeder von uns, einmal einen schlechten Tag erwischt hatte und das Schreiben einfach nicht funktionieren wollte, war entweder die Tinte zu dick oder zu dünn, das Licht miserabel, das Skriptorium zu laut, der Federkiel minderwertig oder halt das Pergament nicht zu gebrauchen. In den meisten Fällen stampfte er dann irgendwann mit einem Kommentar, wie »Ich kann so nicht arbeiten!«, beleidigt aus dem Skriptorium.

Niemand respektierte Bruder Nicolas oder nahm ihn ernst, aber alle hielten vorsichtige Distanz zu ihm. Bruder Nicolas stand in Bruder Eduardos Gunst sehr hoch. Außer Nicolas hatte unser Bibliothekar noch zwei weitere Lieblinge: Bruder Vincente und Bruder Samuel. Der eine war ebenfalls Copist, der andere Übersetzer. Bruder Vincente trat freundlich und jovial auf. Ich hielt ihn für eine ehrliche Seele, die niemanden wissentlich verraten würde. Bruder Samuel hingegen jagte mir Angst ein. Nicht nur, dass er sehr groß und schlaksig war, er hatte auch ein finsteres Gesicht, mit tiefen dunklen Augen, die immer in einer Lauerstellung zu liegen schienen. Ich hatte stets das Gefühl, er würde jedes Wort, jede Geste registrieren, die im Skriptorium gesprochen oder gezeigt wurde.

In meinem alten Kloster genossen die Kopisten nur mittelmäßiges Ansehen. Man muss nicht unbedingt ein brillanter Geist sein, um etwas abmalen zu können. Bei uns waren Kommentatoren, Exegeten und Übersetzer die angesehensten Mönche. Hier war es anders. Hauptsache es wurden viele Bücher fertiggestellt und damit auch viel gespendet. Wenn es nach dem Bibliothekar gegangen wäre, hätten wir überhaupt keine Kommentatoren und Übersetzer gehabt. Doch in dieser Frage hatte der Abt ein Machtwort gesprochen. Er war der Meinung, dass ein Kloster ohne Kommentatoren, Exegeten und Übersetzern keine Existenzberechtigung besitzt. Es ginge eben nicht nur darum, das Wissen zu bewahren, in dem man es kopierte, sondern durch Interpretation und Studium anderer, sogar heidnischer Quellen, zu vermehren. Womit wir zur Sonderrolle der Miniaturenmaler kommen.

Außer mir gab es noch vier weitere Miniaturenmalern. Was uns eine Sonderrolle beschied, war der Umstand, dass wir weder Fisch noch Fleisch waren. Auf der einen Seite war der Bibliothekar hinter unseren Bildern her, wie der Teufel hinter einer frommen Seele. Seine Kunden liebten unsere Zeichnungen, insbesondere die etwas Ausgefalleneren, wofür sie gerne bereit waren, auch etwas mehr zu spenden. Kein Wunder also, dass uns der Bibliothekar überaus schätzte. Gleiches galt aber andererseits auch für den Abt, der seinerseits unsere künstlerische Arbeit liebte. Eine Zeichnung, ein Bild, war immer etwas Neues. Wir kopierten nur sehr selten die Bilder der Vorlagen. Was wir wollten, war eine bessere Interpretation des jeweiligen Textes zu schaffen und das wiederum empfand der Abt als Lobpreisung des Herrn und seiner Manifestation in der Kunst. Der Abt war ein wenig eigentümlich.

Man könnte auf die Idee kommen, dass wir Miniaturenmaler von dieser seltsamen Machtkonstellation profitiert hätten. Dem war aber nicht so. Ganz im Gegenteil. Als Liebling beider Machtpole galten wir innerhalb des Skriptoriums potentiell als ausgesprochen unsichere Kantonisten. Wir sollten uns gefälligst für eine Seite entscheiden. Man konnte doch unmöglich sowohl für den Abt als auch für den Bibliothekar sein. Ich lernte sehr schnell, dass man als Miniaturenmaler am besten nur für eine Seite war. Nämlich für keine oder besser, für die eigene. Der Trick lag darin, sich von keiner Seite einspannen zu lassen. Nur durch weitestmögliche Distanz zu beiden Machtpolen konnten wir uns das Vertrauen und den Respekt der anderen Brüder verdienen.

Aber all das waren Dinge, die ich nur sehr langsam lernte. Die meiste Zeit waren wir Brüder nicht mit subtilen Intrigen oder anderen Boshaftigkeiten beschäftigt, sondern mit unserer wahren Berufung -- der Arbeit und des Gebetes. Und meine Arbeit lag in der Verzierung und Ausschmückung wertvoller Bücher. Ich bekam einen Fensterplatz zugewiesen, hatte einen fantastischen Blick über die weite Ebene des Tals (das Skriptorium lag hoch genug, um über die Klostermauern schauen zu können) und bekam die besten und kostbarsten Materialien und Werkzeuge, die sich ein Maler wünschen konnte.

Meine erste Arbeit bestand darin, eine Bibel zu illustrieren. Der Text war schon von Bruder Nicolas kopiert worden, wie ich an der schönen und edlen Schrift sofort erkannte. An den vorbestimmten Stellen hatte er großzügig Platz gelassen. Also nahm ich das erste Blatt des Pergaments zur Hand, legte es auf meine Malunterlage und studierte den Text. So ging ich immer vor. Ich ließ mich vom Text einfangen, selbst wenn ich ihn, wie hier das Buch der Bücher, in und auswendig kannte. Wobei es selbst bei jenem Buch immer wieder leichte Unterschiede gab. So lass ich nun die ersten Zeilen und dachte nach. Welche Zeichnung, welches Bild ist der Schöpfung angemessen?

Ich griff zu einem leeren Blatt schlechten Pergaments, dass man unmöglich für ein Buch verwenden konnte, und zeichnete ein paar Entwürfe. Legte sie neben den Text und wusste, was zu tun war. Nicolas Schrift war Perfektion. Klare und gerade Linien. Mein Bruder hatte, wenn man es genau nahm, sogar eine eigene Typographie geschaffen. Meine Zeichnungen mussten diese Schrift annehmen, sie in harmonischer Weise ins bildhafte Weiterführen.

Und so begann meine erste Arbeit in dieser Abtei. Aus dem Spätsommer meiner Ankunft wurde Herbst und aus dem Herbst wurde Winter. Erst als der Frühling in voller Pracht stand, griff ich das letzte Mal zu Pinsel und Blattgold. Ich lebte mich ein. Mit jedem Tag, an dem ich an dem Buch arbeitete, wurde ich mehr und mehr ein Teil der Bruderschaft. Alles in Allen wäre es ein beschauliches Leben, zwischen Arbeit und Gebet gewesen, wenn da nicht meine jugendliche Libido gewesen wäre.

Das Problem lautete nach wie vor Bruder Marcus. Ich dankte der Vorsehung, die mir ein Schreibpult direkt am Fenster gegeben hatte. Andernfalls wäre ich wahrscheinlich wahnsinnig geworden. Allein der Gedanke, hinter ihm zu sitzen und ihn Tag ein Tag aus ansehen zu müssen, ließ mich weiche Knie bekommen. Immer, wenn ich mich bei unkeuschen Gedanken ertappte, konzentrierte ich mich stärker auf meine Arbeit. Möglicherweise wurden meine Zeichnungen auch deswegen so gut. Ich hatte mich sehr, sehr stark konzentriert.

Hatte ich anfänglich noch die vage Hoffnung, dass sich meine sexuelle Zuneigung zu Bruder Marcus mit der Zeit durch Gewöhnung legen würde, musste ich schnell feststellen, dass das Problem noch viel schlimmer wurde. Je mehr ich von der Abtei und seinen Bewohnern kennen lernte, desto mehr musste ich feststellen, dass Bruder Marcus nicht das einzige schlafraubende Mannsbild war. So gab es unter anderen ein paar Laienbrüder, deren Körper, vermutlich durch ihre körperliche Arbeit, ausgesprochen gut ausgebildet waren. Mein nächstes Werk drohte an Pracht, Ideenreichtum und Schönheit alles dagewesen zu sprengen.

Von meinen libidinösen Problemen einmal losgelöst, entwickelte ich zu meinen neuen Mitbrüdern ein gutes und kollegiales Verhältnis. Mein mir vorauseilender Ruf als hervorragender Miniaturenmaler wurde durch meine Werke alsbald bestätigt, wobei niemand den wahren Grund dafür erahnte. Immerhin erntete ich Respekt und Ansehen, möglicherweise auch deswegen, weil mir Eitelkeit zuwider war, wodurch ich mich deutlich von Bruder Nicolas unterschied. Die meisten Brüder mochten mich und ich mochte die meisten meiner Mitbrüder.

Ganz besonders aber mochte ich Bruder Marcus, trotz der damit verbundenen Qualen. Andererseits war es fast unmöglich, ihn nicht zu mögen. Von allen Brüdern war er der offenherzigste. Jedenfalls war es mir gegenüber. Zudem war Bruder Marcus auch eine Spur geheimnisvoll. Trotz seiner bestenfalls 21 Lenze verströmte er eine geistige Reife, wie ich sie sonst nur beim greisen Bruder Bartholomäus verspürte. Je offener er sich präsentierte, desto rätselhafter erschien er mir.

Ohne dass ich es plante oder gezielt darauf anlegte, verbrachten wir mehr und mehr Zeit miteinander. Dabei entwickelte sich Bruder Marcus zu so etwas wie einem Tutor für mich. Und obwohl ich schon seit zwei Jahren die Weihen eines Priesters erfahren hatte, und alles andere als ein Novize war, fühlte ich mich in Bruder Marcus Nähe doch wieder als Novize, als ein Schüler, der noch viele, sehr viele Dinge zu lernen hatte. Allerdings war es eine andere Art Wissen, welches mir gelehrt wurde, deutlich anders als jenes, welches man in Büchern findet. Bruder Marcus zeigte mir die wahren Wunder der Welt, die Schönheit und Vollkommenheit der Natur, von der es in unserer toskanischen Landschaft unendlich viel gab. Er zeigte mir die Wunder der Wissenschaft, wie die Geheimnisse der Optik oder die abstrakte Welt der Mathematik. Ich lernte bei ihm, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Sein Blickwinkel schien mir weiser und wahrhaftiger zu sein, als der meiner bisherigen Lehrer.

Und so entwickelte sich Bruder Marcus über einen Tutor und Lehrer hinaus und wurde zu einem Freund. Dank ihm fiel mir das Einleben in den Klosteralltag wesentlich leichter.

Leider scheint die Welt auf Symmetrie ausgelegt zu sein. Je mehr ich mich mit Bruder Marcus anfreundete, desto unerfreulicher entwickelte sich die Beziehung zu Bruder Nicolas. Ihm war natürlich nicht entgangen, dass ich sehr viel Zeit mit Bruder Marcus verbrachte, Zeit, die Bruder Nicolas ganz offensichtlich mit mir verbringen wollte. Bruder Nicolas hatte einen Narren an mir gefressen, vermutlich hatte er sich sogar in mich verliebt. Ein Gefühl, welches ich unmöglich teilen konnte. Auch wenn es ungerecht klingen mag, aber Bruder Nicolas war schwer erträglich. Bei all seiner künstlerischen Begabung war er launenhaft, aggressiv, unfair und eifersüchtig. Dass jemand anderes für eine Arbeit gelobt wurde, dass man andere Werke, außer den von ihm geschaffenen, würdigte, ja sogar mit seinen verglich, ertrug er nicht. Ich kenne niemanden, der ihm seine Fähigkeiten nicht gegönnt hätte, wäre er doch nur ansatzweise ein wenig bescheidener gewesen. Aber die Kombination perfekt zu sein und es auch jedem noch unter die Nase zu reiben, wäre fast für sich unerträglich gewesen, wenn er es nicht auch noch geschafft hätte, diese Penetranz durch eine weitere zu überbieten.

Er lobte mich! Er fragte mich nach meiner Meinung. Jeden andere kanzelte er auf das aggressivste als unqualifizierten Stümper ab und betrachtete sowieso niemanden als ausreichend begabt, um über seine Werke urteilen zu können. Bei mir machte er die Ausnahme. Zuckersüß säuselnd und immer einhergehend mit einer scheinbar bruderhaften Berührung, fragte er mich nach meiner Meinung zu einer neuen Schrifttype oder zu den Proportionen einer Seite. Jeder im Skriptorium merkte, wie sich Bruder Nicolas bei mir anbiederte und alle machten sich über ihn lustig. Mir war es einfach nur tödlich unangenehm, da es schwer war, höflich und objektiv zu bleiben. Einerseits waren seine Fragen durchaus berechtigt, nur war ich beweiten nicht der Einzige, der sie beantworten konnte.

Während ich in solchen Fällen also immer mit sehr viel Vorsicht meine Worte wählte, begannen meine lieben Mitbrüder hinter Nicolas Rücken zu tuscheln und zuweilen eindeutige Gesten zu machen. Jeder im Skriptorium wusste, dass mich Bruder Nicolas anbaggerte, und jeder im Skriptorium amüsierte sich köstlich dabei zuzusehen, wie ich mich wie ein Aal wandte und der körperlichen Nähe Bruder Nicolas höflich zu entziehen suchte.

Auf eine gewisse Weise tat mir Bruder Nicolas leid. Mich widerte zwar seine unbestreitbaren charakterlichen Defizite an, doch dafür, dass er offensichtlich ein erotisches Interesse an Männern empfand, genaugenommen an mir, dafür konnte ich ihn eben nicht verurteilen. Schließlich hätte ich mich dann genauso verurteilen müssen.

Eines Abends saß ich mit Bruder Marcus auf einer Klippe des Berges über unserem Kloster und schaute nachdenklich ins Tal. Am Nachmittag war es erneut zu einer jener unerfreulichen Szenen gekommen, in deren Verlauf Bruder Nicolas Hand auf meinem rechten Oberschenkel zu liegen kam. Genaugenommen sehr dicht an der Innenseite meines Oberschenkels. Ich hatte mich seinem Zugriff dann schnell entzogen, worauf er mir einen verstörten, fast ängstlichen Blick zugeworfen hatte. Befürchtete er, ich würde zum Abt gehen und ihn wegen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz anzeigen? Ich entschärfte die Situation und machte mit meiner Köpersprache deutlich, dass er zwar zu weit gegangen war, aber keine Konsequenzen zu befürchten hatte. Ein Rest Unsicherheit aber blieb.

Diese Szene ging mir durch den Kopf, während ich hinaus in des Tal schaute.

»Was bedrückt euch?«, fragte Bruder Marcus.

»Ihr seid ein guter Beobachter. Woher wisst ihr, dass mich etwas bedrückt?«, entgegnete ich.

»Hört ihr?«, wechselte Bruder Marcus das Thema. »Eine Nachtigall! Recht früh.«

»Ja, ich höre sie auch.»

»Aber mich habt ihr nicht gehört! Ich hatte euch drei Mal gefragt, bevor ihr geantwortet habt. Die Schlussfolgerung liegt doch wohl nahe, dass euch etwas durch den Kopf geht.«

»Ja, es ist Bruder ...«

»Nicolas!«, fiel mir Bruder Marcus ins Wort. »Er scheint euch ja sehr gern zu haben.«

Ich musterte Bruder Marcus sehr genau und sehr ernst. Aber der grinste nur hinterhältig und formte Kussmündchen.

»Wir reden hier über Mönche!«, begab ich zu bedenken.

»Mönche, die auch nur Menschen sind«, fügte Bruder Marcus hinzu.

»Mönche, die sich dem Zölibat verschrieben haben.«

»Ich hatte nicht den Eindruck, dass Bruder Nicolas das Zölibat brechen wollte. Oder hat er überraschend ein Interesse an den Frauen entwickelt?«

»Ihr wisst es?«, fuhr ich erstaunt auf.

»Natürlich. Jeder kennt die Neigungen Bruder Nicolas. Ihr seid nicht der Erste. Vor euch war es Bruder Maximilian, davor Bruder Frederic, und wie der kleine quirlige Spanier hieß, weiß ich nicht mehr.«

»Und?«, mehr konnte ich nicht sagen, so erstaunt war ich über Bruder Marcus Offenheit.

»Nichts und. Ihr müsst wissen, was ihr tut. Gott hat uns die Freiheit der Entscheidung gegeben. Ich werde weder über Bruder Nicolas noch über euch richten, wenn es das ist, was Ihr wissen wolltet.«

Wollte ich eigentlich nicht.

»Aber ich will doch gar nichts von Bruder Nicolas!«

Bruder Marcus schaute mich nachdenklich an, hielt kurz seinen Kopf schief und schmunzelte leicht: »Nein, vermutlich nicht. Aber Ihr müsst zugeben, dass Bruder Nicolas einen guten Geschmack für Männer besitzt, soweit man in diese Richtung orientiert ist.«

Ich bekam einen knallroten Kopf. Bruder Marcus schmunzelte hinterhältig.

Und so hätte mein Leben das eines frommen und produktiven Bruders dieses Abtei werden können. Hätte ... Aber die Vorsehung hatte andere Pläne mit uns.

Von Büchern, ihren Schreibern und motorischer Unzulänglichkeit

Worin Bruder Benedict vor zu viel körperlicher Nähe zurückschreckt und damit die Dinge eigentlich eher verkompliziert.

Es begann ganz harmlos. Bruder Nicolas war mal wieder der Meinung, die gesamte bekannte Welt sei gegen ihn. Erst war angeblich seine Tinte zu dünnflüssig, dann war der Federkiel schuld und schließlich fauchte er rum, im Skriptorium wäre es zu laut. Wenig gottesfürchtig fluchend pfefferte er seine Feder auf sein Schreibpult und stürmte kochend hinaus. Dass er auf dem Weg hinaus mehrere Pulte anstieß, schien ihn überhaupt nicht zu interessieren.

»Nun liebe Mitbrüder, wer von euch hat Bruder Nicolas Tinte verhext?«, scherzte Bruder Marcus, wobei seine Lippen ein hinterhältiges Grinsen umspielte.

»Ich denke, Bruder, wir sollten uns aller unangebrachten Scherze enthalten. Können wir denn sicher sein, dass wir selbst frei von Fehlern sind?«, wies der Bibliothekar Bruder Marcus zurecht.

»Entschuldigt, Bruder Eduardo, mein Rede war nicht angemessen.«, entschuldigte sich Marcus mit einer kleinen Verneigung.

Der Bibliothekar wollte gerade etwas sagen, als ihn ein lauter Knall und das Geräusch von splitterndem Holz stoppte. Ein Buch, ein schwerer uralter Foliant mit eisernen Beschlägen, war auf den Boden gefallen. Offensichtlich hatte Bruder Nicolas ein Schreibpult bei seinem Weg nach draußen angestoßen. Ein Buch war dann wohl durch den Stoß ins Rutschen gekommen. Da das bewusste Pult zurzeit verlassen war, stand ich auf, um das herabgefallene Buch wieder zurück an seinen Platz zu legen. Der Platz, das war das Schreibpult von Bruder Julius, einem Kommentator, Übersetzer und Schriftgelehrten. Jener war zurzeit für ein paar Tage zu Forschungszwecken verreist. Er hatte sich in die Bibliothek eines Nachbarklosters begeben, um alte und nicht mehr transportfähige Bücher zu studieren.

Ich hatte das Pult gerade erreicht und mich niedergekniet, als ein ganzer Schwall weiterer Bücher ins Rutschen kam und mich begrub.

»Ver...«

Ich hielt meine Zunge im Zaum. Bruder Eduardo hasste es, wenn jemand fluchte. Ich schluckte meine Wut schnell herunter und griff nach dem ersten Buch, um aber überraschenderweise auf einer Hand zu landen. Bruder Marcus war auf die gleiche Idee gekommen und hatte sich ebenfalls hingekniet, um die Bücher wieder an ihren Platz zu stellen. Dieser direkte Körperkontakt war ebenso unerwartet wie elektrisierend. Die Hand von Bruder Marcus fühlte sich warm, kräftig, fast energiegeladen an. Hätte ich damals gewusst, was Elektrizität ist, ich hätte gedacht, einen Schlag bekommen zu haben. Ein Schlag, der mir unmittelbar in den Schwanz fuhr.

Diese Berührung war Sex pur!

Natürlich erschreckte ich mich. Natürlich riss ich meine Hand sofort zurück. Natürlich schlug meine bereits erwähnte Tollpatschigkeit zu.

Ich stieß mich kräftig ab, gewann an Impuls und konnte -- natürlich -- nicht mehr rechtzeitig stoppen. Ich prallte gegen das nächste Schreibpult und wurde unter einem weiteren Bücherregen begraben.

Da lag ich nun, wie eine gestrandete Schildkröte, auf dem Rücken liegend, mit Büchern unter und auf mir. Ich versuchte mich aufzurappeln.

»Nein, Bruder, warte ...«, rief noch Bruder Marcus, aber es war zu spät. Mein Drang zu helfen war lobenswert, aber meine Tollpatschigkeit hatte, wie immer, alles nur noch schlimmer gemacht. Durch mein unüberlegtes Handeln hatten sich nun beide Bücherstapel gemischt.

»Oh, Bruder Bibliothekar, es tut mir so leid. Ich wollte doch nur Helfen! Was habe ich nur angerichtet«, versuchte ich mich niedergeschlagen bei Bruder Eduardo zu entschuldigen. Erwartete ich doch einen Sturm von Vorwürfen. Doch Bruder Eduardo sah zwar nicht glücklich, doch erstaunlich nachsichtig drein: »Nun Bruder, wir haben uns wohl alle erschreckt. Ich sehe, dass Ihr nur helfen wolltet, was lobenswert ist. Man kann euch eure jugendliche Ungestümheit wohl nicht wirklich vorwerfen. Nun, während wir jetzt zur Mittagsspeise gehen, werdet ihr versuchen, die Bücher wieder in ihre Ordnung zu bringen. Vielleicht wird euch, wenn ihr ihn höflich bittet, Bruder Marcus zur Hand gehen.«

Bruder Marcus war gerne breit mir zur Hand zu gehen.



Bruder Marcus und ich waren also allein im Skriptorium.

»Es tut mir leid.«, stammelte ich los, den Blick fest auf den Holzfußboden gerichtet. »Jetzt kostet euch meine Tapsigkeit euer wohlverdientes Mittagessen.«

Ich traute mich nicht, Bruder Marcus in die Augen zu sehen. Obwohl er vermutlich nur drei oder vier Jahre älter war, hatte ich ein gerütteltes Maß Respekt vor ihm. Dass er obendrein auch noch rattenscharf aussah und ich permanent gegen eine Erektion ankämpfen musste, machte die Sache nicht unbedingt leichter.

»Ich glaube, dass mir ein Tag ohne Mittagessen sicherlich nicht schaden wird«, meinte Bruder Marcus, wobei in seiner Stimme wieder dieser leichte spöttische Amüsiertheit mitklang. »Lasst uns mal schauen, was wir hier überhaupt für Bücher haben.«

Die Frage entpuppte sich als weitaus komplizierter zu beantworten, als wir erwartet hatten. Nicht nur Bruder Julius war verreist, auch der andere Mönch, dessen Bücher ich niedergerissen hatte, war die Tage ebenfalls nicht im Kloster anwesend. Somit fiel die einfachste Möglichkeit flach, einen der Mönche einfach zu fragen, welches denn seine Bücher waren. Mein Vorschlag die Bücher über den Ausleihindex zuzuordnen scheiterte an dem Umstand, dass unsere Bibliothek zwar über einen derartigen Index verfügte, in ihn aber nur Bücher eingetragen wurden, die das Kloster leihweise verließen. Uns blieb also nichts anderes übrig, als uns Buch für Buch vorzunehmen, um anhand der Titel und Autoren, den vermutlichen Ausleiher zu erraten.

Aber auch das entpuppte sich als unerwartet kniffelig. Das erste Buch, das ich zur Hand nahm, war in einer Sprache geschrieben, dessen Schrift ich nicht lesen konnte.

»Ich habe hier ein Buch ... Es ist vermutlich in Arabisch ...«

Latein, Griechisch und Hebräisch gehörten zu meiner Ausbildung als Priester. Mein Latein war gut, mein Griechisch leidlich und über meine Qualitäten in Hebräisch sollte man lieber den Mantel des Schweigens decken. Ohne aufzusehen, hielt ich Bruder Marcus das Buch mit der für mich unleserlichen Schrift hin.

Es passierte, was passieren musste. Meine Unsicherheit in Bruder Marcus Nähe, meine krampfhafte Vermeidung von Blickkontakt, verursachte genau das, was ich auf jeden Fall vermeiden wollte. Seine Hand berührte meine. Vor Schreck ließ ich das Buch fallen. Bruder Marcus lachte.

»Ich glaube, wir sollten mal paar ernste Worte miteinander sprechen. Wenn Ihr nicht langsam aufhört, vor mir Angst zu haben, Bruder, dann können wir auch endlich vernünftig miteinander arbeiten. Ich beiße nicht. Naja, ich beiße nur selten ...«

Da war wieder dieser spöttische Tonfall in seiner Stimme, der mich gleichzeitig faszinierte und ängstigte. Ich biss mir auf die Lippe. Ich hatte mich voll in eine Zwickmühle manövriert. Würde ich Bruder Marcus nicht ansehen, würde er wissen, was mit mir los war. Würde ich ihn ansehen, würde er es ebenfalls wissen. Ich seufzte innerlich, schaute dann aber langsam auf und sah einen Bruder, der mich anstrahlte. Fast glaubte ich, ein Funkeln in seinen Augen zu sehen. Sonst passierte nichts. Er lächelte und ließ meine verräterische Verlegenheit vollkommen unkommentiert. Stattdessen schnalzte er ein »Tztztz« und schüttelte seinen Kopf. Plötzlich weiteten sich seinen Augen, dabei sahen sie nicht in meine Richtung, sondern in Richtung des Buches, welches ich ihm hingehalten hatte.

»Das ist kein arabisches Buch. Diese Schriftzeichen nennen sich devanagari. Das Buch ist in Sanskrit geschrieben. Sehr interessant ...«

Ich war überrascht, dass Bruder Marcus Sanskrit erkennen konnte. Und, so wie er das Buch ehrfürchtig studierte und in ihm blätterte, schien er die Sprache sogar lesen zu können. Dabei war Bruder Marcus Sebastianus II Exeget und, soweit es mir bekannt war, kein Übersetzer.

»Die Sprachen der Welt zu lernen, ist mein Laster«, erklärte der Bruder meine Gedanken erratend. »Der Herr hat mir in seiner unendlichen Großzügigkeit die Gabe verliehen, die Zungen verschiedenster Länder zu erlernen. Neben den biblischen Sprachen Latein, Griechisch und Hebräisch, konnte ich mir auch die Sprache der Perser und Araber erarbeiten. Und eben auch die Sprache der Inder.«

»Aber das sind doch die Sprachen der Ungläubigen!«, entgegnete ich erstaunt.

»Ungläubig? Glaubt ein Moslem etwa nicht? Glaubt ein Jude nicht? Oder ein Hindu? Ein Buddhist? Ihr Gott oder ihre Götter mögen andere Namen haben, aber deswegen sind sie noch lange keine Ungläubigen. Manchmal spricht viel Weisheit aus ihren Lehren. Man könnte sie daher naturaliter als christlich bezeichnen. Wollt ihr mal eine ihrer Weisheiten hören?«

»Ja!«, ich ließ mich von der Glut in Bruder Marcus Stimme anstecken. Er war wahrlich fasziniert von der Vielfalt der Arten zu glauben.

»Ein Rätsel: Ich sehe Buddha am Straßenrand sitzen. Was tue ich?«

Ich wusste, das Buddha der Gott der Buddhisten ist. Was tut man mit einem Gott, wenn man ihm begegnet? Ihm huldigen? Zu ihm beten?

»Ich weiß es nicht.«, antwortete ich ehrlich.

»Ich erschlage ihn!«

»...«, ich war sprachlos. Auf diese unkonventionelle Art der Verehrung wäre ich auch nach intensivstem Nachdenken nicht gekommen.

»Er ist eine Lüge, eine Fälschung!«, erklärte Bruder Marcus. »Der Buddhist sagt: ,Buddha ist in uns!` Womit wir die Weisheit des Buddhisten erkennen, wie er erkennt, dass Gott eben in allen Dingen steckt.«

Ich fragte mich, ob Bruder Marcus die gleiche Geschichte auch erzählt hätte, wenn wir nicht allein unter uns gewesen wären. Seine Ansichten und Erzählungen konnte man ohne weiteres als ketzerisch und Häresie, bezeichnen. Ich hatte von Mönchen gehört, die wegen weniger revolutionären Gedankengutes in arge Bedrängnis gekommen waren. Möglicherweise lag es an der Art und Weise, wie er sprach, aber mir gaben seine Worte zu denken. War ein Hindu oder ein Buddhist wirklich ungläubig? Waren ihre Götter vielleicht nur eine andere Erscheinungsform des einen wahren Gottes? Einige Jahrhunderte später erklärte dann ein gewisser Nietzsche, dass Gott tot sei. Dumm gelaufen.

»Oh!«, mein Blick fiel auf einen dicken Folianten vor mir. »Ich glaube, ich habe dieses Werk beschädigt. Ob Bruder Maximilian es reparieren kann?«

Ich hob das betreffende Buch vorsichtig auf. Es war schwer und sehr dick. Sein Äußeres bestand aus zwei mit Leder bezogenen massiven Deckeln, die von ebenso massiven Metallschienen und -ecken zur Verstärkung umfasst waren. Am auffallendsten war aber der massige Verschluss. Ein stabiler und gewichtiger Metallbügel war mit einem Scharnier am hinteren Deckel befestigt und umklammerte die Öffnung. Am vorderen Deckel gab es eine metallene Öse über die der Bügel gelegt war. Ein Vorhängeschloss verriegelte das Ganze. Oder sollte es, denn die Öse hatte sich vom Buchdeckel gelöst und war mit dem Schloss abgefallen. Wäre der Verschluss nicht zerbrochen, niemanden wäre es möglich gewesen, das Buch zu öffnen und seinen Inhalt zu lesen. Es sei denn, man hätte das Buch mit Gewalt aufgebrochen.

Vorsichtig schlug ich es auf und war sofort fasziniert. Dieses Buch war anders.

Die Schrift war eine serifenlose Antiqua. Zwar war die gebrochene Antiqua, insbesondere die rundgotische Schrift die übliche Schrift für lateinische Texte, aber diese Antiqua sah ganz anders aus. Aber wie hätte ich am Ende des 14. Jahrhunderts etwas von den Groteskschriften des 19. Jahrhunderts wissen sollen. Insbesondere wurde die Helvetica, in der dieses Buch gesetzt war, erst 1951, also Mitte des 20. Jahrhunderts erfunden. Dass es sich um industriellen Offsetdruck handelte, bemerkte ich damals natürlich auch nicht. Stattdessen versuchte ich zu lesen, was dort vor meinen Augen stand. Es gelang mir nicht. Jedenfalls war es kein Latein, sondern erinnerte eher an Deutsch, machte aber nicht viel Sinn.

»Ich glaube, die Stifte, die die Verschlussösen halten, sind gebrochen«, gab ich meine Leseversuche ernüchtert auf und beschäftigte mich stattdessen mit dem defekten Verschluss.

Die Metallstifte zeigten eine scharfe Bruchkante und ließen sich leicht aus der Rückseite des Buchdeckels ziehen. Ich wollte Bruder Maximilian, unserem Restaurator für wertvolle Bücher, die Arbeit so einfach wie möglich machen, indem ich die losen Teile des Buches in eine Schale packte. Die Verschlussöse war in drei Teile zerbrochen. Zusätzlich gab es noch das Schloss, dass ich als erstes in die Schale legte. Es folgten die Öse und einer der Stifte, den ich aus der Rückseite des Buchdeckels zog. Als Nächstes versuchte ich den zweiten Stift herauszuziehen, stieß aber auf unerwarteten Widerstand. Ich weiß nicht, was mich in jenem Moment geritten hatte, aber ohne darüber nachzudenken, ob ich das Buch nicht vielleicht noch mehr beschädigte, zog ich mit einem kräftigen Ruck an dem widerborstigen Stift.

Und hatte plötzlich den Buchdeckel in der Hand.

Genaugenommen hatte ich einen Teil des Deckels in der Hand. Wie sich zeigte, bestand der vordere Buchdeckel aus einer lederbespannten Platte, auf deren Rückseite eine weitere Holzplatte eingelassen war. Die Vorderseite besaß einen Rand, der mit der aufgesetzten Platte nahtlos abschloss. Der Widerstand, den ich beim Rausziehen des Stiftes verspürte, rührte daher, dass der Stift mit einem dünnen Quersteg am Verschlussdeckel befestigt war. Mit anderen Worten: Das Buch besaß ein Geheimfach.

»Was ...«, war alles was ich sagen konnte.

In meiner einen Hand hielt ich nach wie vor den Stift mit dem daran baumelnden Deckel des Geheimfaches, während ich mit meiner anderen Hand das Buch fest im Griff hatte. Die Wucht, mit der ich das Geheimfach geöffnet hatte, hatte einen Luftsog erzeugt. Ein einzelnes Blatt flatterte an meiner Nase vorbei, segelte durch den Raum und kam vor Bruder Marcus zu liegen.

»Was ...«, war alles was Bruder Marcus sagte, bevor er das Blatt aufhob und las. Der Inhalt schien interessant zu sein, denn mein Mitbruder zog seine rechte Augenbraue nach oben.

»Ich glaube Bruder, ihr solltet euch anhören was hier steht«, begann er zu sprechen. »Hier steht: ,Hallo Benedict! Hallo Marcus! Wenn Marcus diese Zeile vorliest, hat Ben soeben das Geheimfach des Buches entdeckt. Bringt das Buch in Sicherheit. Versteckt es sofort! In wenigen Augenblicken wird Bruder Nicolas, die alte Klemmschwester, das Skriptorium betreten. Ich glaube nicht, dass ihr Lust habt, ihm zu erklären, was es mit diesem Buch auf sich hat! Versteckt es sofort!

Bruderküsse

Worin es etwas schmalzig wird.

»Wie jetzt?«, war meine wenig mönchhafte Antwort.

Marcus zuckte mit seinen Schultern, kratzte sich kurz am Kopf und, während ich den Zettel aus dem Buch in meiner Kutte versteckte, nahm Bruder Marcus das Buch und stopfte es zwischen andere Büchern und Hefte in seinem Schreibpult. Er hatte eben gerade den Deckel des Pultes geschlossen, als Bruder Nicolas das Skriptorium betrat.

»Nanu, wo sind denn alle?«

»Zum Mittagsessen. Es gab einen kleinen Unfall. Ich habe in meiner Tollpatschigkeit ein paar Bücher vom Lesepult gestoßen. Jetzt bin ich dabei, sie zu sortieren. Bruder Marcus hilft mir netterweise dabei.«

Bruder Nicolas runzelte seine Stirn, bedachte Bruder Marcus mit einem eifersüchtigen Blick, schmatzte einmal und meinte schließlich im Hinausgehen: »Dann will ich euch bei eurer Arbeit auch nicht weiter stören.«

Dass er vielleicht seine Hilfe anbieten könnte, kam ihm erwartungsgemäß nicht in den Sinn. Wenige Sekunden später war das Skriptorium wieder leer. Ich zog das Blatt aus meiner Kutte und las weiter.

»Soeben müsste euer besonderer Freund das Skriptorium wieder verlassen haben.«

»Das Blatt ist Hexenwerk!«, entfuhr es mir. Wie konnte ein Blatt Papier wissen, was in dem Moment passieren würde, in dem Bruder Marcus Sebastianus II oder ich von ihm vorlas?

»Dazu steht hier auch etwas.«, beantwortete Marcus meine Frage, nachdem er mir das Blatt aus der Hand genommen hatte: »Nein, dieses Blatt Papier ist kein Hexenwerk. Du, Benedict, hast es selbst geschrieben. Aus deiner Sicht müsste es allerdings eher heißen: ,Wirst es in rund 600 Jahren geschrieben haben.` Du, ich, je nachdem, wie du es sehen willst, kann deswegen vorhersagen, was geschehen wird, weil es für mich, während ich es schreibe, schon geschehen ist. Lass dir gesagt sein, du und Marcus, ihr steht vor der wohl größten Geschichte eures Lebens, selbst größer als das, was Marcus bisher erlebt hat. Und der gute Bruder hat viel erlebt! Marcus, dies geht direkt an dich: Weihe Benedict in alles ein! Die Zeit ist reif und er ist breit. Ihr habt wenig Zeit. Ich möchte nicht dramatisch erscheinen, aber ihr habt eigentlich fast gar keine Zeit mehr. In weniger als sieben Tagen müsst ihr für einen Kampf vorbereitet sein, wie ihr ihn euch bisher noch nicht vorstellen könnt. Ich kann euch nicht sagen, worin dieser Kampf bestehen wird, denn dies könnte den Lauf der Geschichte ändern. Oder auch nicht. Niemand kann das vorher oder nachher sagen. Alles, was ihr wissen müsst, steht in dem Buch, dass Marcus gerade in seinem Schreibpult versteckt hat.

Seht euch vor den Mönchen vor! Nicht jeder ist das, was er zu sein scheint.

Handelt nach eurem Gefühl. Lasst euch von eurer, d.h. eher von Marcus Weisheit leiten.

Gezeichnet, Benedict van Orthen im 21. Jahrhundert.

PS: Lieber Marcus, es wird vermutlich nichts nützen, aber sei beim ersten Mal mit mir bitte vorsichtig! Es mag nach 600 Jahren etwas nachtragend wirken, aber ich konnte tagelang nicht richtig sitzen! Du brauchst jetzt übrigens keinen roten Kopf bekommen. Sag' meinem früheren Ich einfach, was du empfindest! (Provoziere ich jetzt ein Zeitparadoxon?)

PPS: Hütet euch vor Pater Rolando! Unterschätzt niemals seine Kraft! «

Nachdem Bruder Marcus die letzten Sätze vorgelesen hatte, bekam er, genau so wie im Text beschrieben, einen roten Kopf. Genaugenommen bekam er einen krebsroten Kopf, dass ich mich fast um seine Gesundheit sorgte und den Bruder Medicus rufen wollte. Zwei Dinge hielten mich davon ab. Der Text, der behauptete von mir geschrieben worden zu sein, den ich aber nicht recht verstand, insbesondere nicht was im post scriptum ausgeführt wurde, und der Gesichtsausdruck von Bruder Marcus. Jener sah mir nämlich direkt in die Augen, wobei er gleichzeitig ängstlich, schüchtern, aber irgendwie auch hoffnungsvoll dreinschaute.

Ich dankte erneut dem Bruder, der unsere weitgeschnittenen Kutten erkoren hatte. Andernfalls hätte Bruder Marcus unzweifelhaft meine wenig keusche Erregung bemerkt. Aber was sollte ich tun? Mein Mitbruder sah in diesem Moment begehrenswerter denn je aus, begehrenswerter als alles, was ich bisher gesehen hatte. Ich litt Höllenqualen. Zerrissen zwischen meinem Gelübde zum zölibatären Leben und der Attraktivität dieses Mannes, wusste ich einfach nicht mehr, wo mir der Kopf stand. Ich war so verwirrt, dass ich nicht einmal daran dachte, dass die fleischliche Liebe zwischen zwei Männern, insbesondere geistlichen Brüdern, von unserer Mutter Kirche als Todsünde betrachtet wurde. Das Einzige, was ich in diesem Moment tat, war zweifeln und verzweifeln. Ich zweifelte an mir und meiner Standfestigkeit.

Warum empfand ich diese Gefühle zu einem Mitbruder? Warum konnte ich sie nicht, wie meine anderen Mitbrüder auf etwas Höheres, Unverfänglicheres projizieren? Denn obwohl ich noch ein sehr junger Mönch war, wusste ich, dass viele Mönche zuweilen vom Dämon der fleischlichen Lust gepeinigt wurden und versuchten, diese Lust in andere Richtungen zu kanalisieren. War Bruder Marcus vielleicht vom Teufel geschickt worden, um mich in Versuchung zu bringen?

Heute weiß ich, dass ich überaus naiv war. Nein, das ist untertrieben. Meine Naivität sprengte die Grenzen der Messbarkeit. So hatte beispielsweise der Abt meines alten Klosters eine Mätresse. Aus dieser Verbindung ging ein Kind hervor, zu dem sich der Abt selbstverständlich nicht bekannte. Ganz im Gegenteil. Um zu verhindern, dass seine Geliebte ihn mit ihrem Wissen jemals gefährlich werden konnte, ließ er sie als Hexe verurteilen und auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Er warf sogar die erste Fackel. Das Kind landete in einem Heim für sogenannte Bastarde, was am Ende des Mittelalters nichts Gutes bedeutete.

Wenn die Inquisition jemals gerecht gewesen wäre, wenn sie jemals wirklich das konkrete Böse verfolgt hätte, dann hätte dies einer ihrer Fälle werden müssen. Stattdessen verbrannte sie die Unschuldigen, die für die Mächtigen Unbequemen und sogar die, für die bezahlt wurde, damit sie brannten. Doch mein alter Abt blieb ungeschoren, von unangenehmen Beschuldigungen verschont und genoss weiterhin Amt und Würde. Bis Marcus und ich von der Sache erfuhren und ... Aber das ist eine andere Geschichte, die an anderer Stelle erzählt werden soll.

Im Moment hielt ich Bruder Marcus für einen Verführungsversuch des Teufels. Er sah so begehrenswert aus. Er musste einfach teuflisch sein. Er war für mich der Inbegriff von Schönheit und somit verdächtig. Ich schmolz dahin wie Wachs. Wie gerne wäre ich zu Bruder Marcus hinübergegangen und hätte ihn berührt. Seine kräftigen Arme gefühlt oder mit meinen Händen über Brust und Bauch gestrichen. An mehr wagte ich gar nicht zu denken. Erwartete ich doch, dass mich ansonsten der Schlag treffen würde, um mich ohne Umwege in den 9. Kreis der Hölle zu befördern.

Vor Angst meine Gefühle zu verraten, biss ich mir auf die Lippen. Bei aller Freundlichkeit und Zuneigung, die ich bei Bruder Marcus gegenüber mir zu beobachten meinte, zweifelte ich keine Sekunde daran, dass er beim leisesten Verdacht einer todeswürdigen Sünde, wie es die Sodomie war, seiner Pflicht nachgekommen wäre und sie dem Abt melden würde.

»Du stehst auf Jungs, oder?«

Hatte ich die Frage wirklich gehört oder spielte mir der Teufel einen bösen Streich? Bruder Marcus lächelte frech. Ein wirklich hintersinniges Schmunzeln umspielte seine Lippen.

»Du fragst dich sicherlich gerade, ob ich eine Versuchung des Teufels bin«, Bruder Marcus seufzte. »Ich bin es nicht. Aber das nützt dir nichts, denn wie kannst du wissen, dass ich nicht lüge? Der Teufel würde lügen, oder? Natürlich würde er sich verleugnen, er ist schließlich der Teufel, der Geist, der stets verneint.«

Roch ich tatsächlich Schwefel oder bildete ich mir das nur ein? Die Rede meines Mitbruders verwirrte meinen Verstand. Die Worte lösten bei mir Panik aus. Diese machte sich darin bemerkbar, dass ich nicht in der Lage war, mich zu bewegen. Das Einzige, was ich noch bewegen konnte, war mein Unterkiefer und der folgte einfach dem Ruf der Schwerkraft.

»Ich will dir eine Frage stellen. Du hast die Heilige Schrift studiert. Du hast die Kommentare gelesen. Nun frage dich, kann Liebe, wie sie auch immer geartet sein mag, Sünde sein?«

Er sprach nicht weiter, sondern ließ seine Frage im Raum stehen. Und sie wirkte! Ich spürte zwar etwas, aber das kam primär von meiner Schwanzwurzel und war inzwischen recht schmerzhaft, doch wenn ich tief in mich hineinhörte, dann spürte ich auch etwas in meiner Brust. Es war ebenfalls eine Art Schmerz, aber von anderer Art. Als mir klar wurde, was es war, konnte ich Bruder Marcus nicht mehr in die Augen sehen.

Mir wurde plötzlich etwas bewusst, was ich in den Monaten davor erfolgreich verdrängt hatte. Ich hatte mich in Bruder Marcus verliebt!

Ich, ein Mönch, hatte mich über alle Regeln hinweg, in einen anderen Mönch verliebt. Und schlimmer noch, dieser Mönch hatte mit seiner Meinung Recht. Ich konnte nichts Schlechtes oder Sündhaftes daran entdecken. Mein Herz war rein. Ich hatte keines der Zehn Gebote des alten Testamentes gebrochen. Die einzige Verfehlung, die ich mir vorwerfen konnte, war, nicht ehrlich zu mir selbst gewesen zu sein. So sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte nichts Verwerfliches an meinen Gefühlen zu Bruder Marcus entdecken. Er hatte Recht. Liebe kann unmöglich falsch sein!

Diese Erkenntnis war so überwältigend, dass ich anfing, den Boden zu wässern. Bei dem Gefühlssturm, der in mir tobte, bemerkte ich noch nicht einmal, wie ich meine Kutte durchnässte. Ich kam erst wieder zu mir, als Bruder Marcus mich in den Arm nahm und seine Lippen auf meine Lippen presste.

Es war ein Kuss und es war kein Kuss.

Der Bruderkuss auf die Lippen gehörte zu den Riten unseres Ordens, aber dieser Kuss, war kein Bruderkuss. Ein Bruderkuss war definitiv etwas anderes. Dies war pure Liebesenergie und einem gerüttelten Maß Geilheit. Kaum von meinem Gefühlsverwirrungen erholt, riss mich dieser Kuss erneut von den Socken. Möglicherweise lag es auch daran, dass man bei einem Bruderkuss nie die Zunge des Mitbruders im meinem Mund spürte.

Bei Bruder Marcus war das anders. Seine Zunge forderte Einlass, den ich, zwar etwas überrascht, aber doch irgendwie wohlwollend, gewährte. Das Erlebnis war unbeschreiblich. Der Kuss war heiß, sinnlich und sehr tief. So tief, dass unsere Körper uns dazu zwangen, die Zungeninteraktion zwecks notwendiger Sauerstoffversorgung zeitweise zu unterbrechen. Keuchend und verschwitzt holten wir Atem.

»Bruder, für einen dem Zölibat Verpflichteten küsst Ihr erstaunlich professionell«, scherzte Bruder Marcus und fügte dann sehr ernst hinzu: »Ich muss dir ein Geständnis machen. Seit ich dich das erste Mal sah, wie du völlig unsicher und schüchtern uns von unserem Bibliothekar vorgestellt wurdest, bin ich in dich verliebt! Diese berühmte Liebe auf dem ersten Blick. Ich kann es mir nicht erklären, aber du bist für mich wie die Antwort auf eine Frage, die ich nie zu stellen wagte. Ich hätte nicht gedacht, dass es mich derart erwischen könnte. Du wirst es nicht verstehen, noch nicht, aber seit Jahren ist es das erste Mal, dass ich so etwas wie Hoffnung empfinde. Du bist ein Geschenk des Himmels!«

Was mir Bruder Marcus erzählte, machte nicht den geringsten Sinn. Interessanter Weise schien es aber exakt das zu sein, was er gerade dachte. Denn anders konnte ich mir seinen überaus glücklichen Blick nicht erklären. Ob Sinn oder nicht, war mir in jenem Moment vollkommen egal. Bruder Marcus hatte etwas anderes gesagt, dass viel wichtiger war. Er liebte mich! Und dies nicht erst seit zwei Minuten, zwei Tagen, zwei Wochen oder zwei Monaten, sondern seit fast einem Dreiviertel Jahr.

»Du liebst mich?«, fragte ich in einem Flüsterton nach.

»Ja!«, kam die Antwort ebenso geflüstert und mit gesengtem Haupt. Ich musste einfach Marcus Kopf anheben. Ich wollte ihm in die Augen sehen, doch stieß ich auf Widerstand, den ich mit sanfter Gewalt überwand. Tränen liefen über Marcus Wangen und waren wohl der Grund, warum er mir nicht in die Augen schauen wollte.

»Du weinst?«

»Ja!«, schniefte Bruder Marcus und wischte sich mit dem Ärmel seiner Kutte die Tränen weg, »Aus Freude und aus Angst.«

»Aus Angst?«, fragte ich erstaunt nach.

»Das du meine Liebe vielleicht nicht erwiderst.«

Ich musste grinsen und antwortete mit einer Frage, die Bruder Marcus nicht gleich verstand: »Wieso hast du dich getraut mich zu küssen?«

Er sah mich verdattert an. Hätte es schon Bahnhöfe gegeben, hätte man sagen können, er hätte nur selbigen verstanden. Da es noch keine gab, sah er deswegen nur verdattert drein, zögerte einen Moment und meinte schließlich: »Du hast es doch geschrieben? Hier steht, ich solle sagen, was ich empfinde.«

»Und?«

»Nichts und! Oder?«

Ich schüttelte den Kopf über die Idee, die ich in 600 Jahren haben würde: »Wenn wir einmal davon ausgehen, dass ich tatsächlich diesen Brief geschrieben habe, oder haben werde -- ich finde die Zeitform ein bischen verwirrend -- Wenn dieser Brief also wirklich von mir stammt, dann kann man wohl davon ausgehen, dass ich zum Zeitpunkt des Schreibens gewusst habe, was du mir erzählen oder, wenn wir den Kuss in Betracht ziehen, tun wirst.«

»Natürlich ...«

»Ich kenn mich selbst natürlich noch nicht so gut, wie ich mich in 600 Jahren kennen werde, aber so wie ich mich bisher kenne, hätte ich dich nicht animiert mir deine Liebe zu beichten, wenn ich nicht das gleiche für dich empfinden würde.«

»Und das bedeutet ...«

Womit bewiesen wäre, dass manche Leute bei akuten Anfällen von Liebeswahn, eine besonders lange Leitung besitzen.

»Es bedeutet, ehrwürdiger Bruder Marcus Sebastianus II, dass ich mich in dich in dem Moment verliebt hatte, als ich dich das erste Mal sah. Dass ich seid einem Dreiviertel Jahr gegen eine Dauererektion in deiner Anwesenheit ankämpfen muss! Verflucht, ich liebe dich!«

Nobody expects the Spanish Inquisition

Worin man erkennt, dass man ein internes Problem hat und prompt einem externen Problem in die Arme läuft

»Wir haben ein Problem!«, fasste Bruder Marcus, oder einfach nur Marcus, wie ich ihn von nun an nannte, unsere gegenseitige Liebe zusammen und brachte die Gesamtsituation, mit der man einfach nur unzufrieden sein konnte, recht gut auf den Punkt. Zwei Mönche am Ende des Mittelalters, zu einer Zeit, als die Inquisition tobte, entdecken, dass sie sich ineinander verliebt haben. Eine Liebe, die man, wenn man die biologischen Fakten betrachtete, zwangsläufig als gleichgeschlechtlich und nach damals gültiger römisch-katholischer Lehrmeinung, als »sodomitisch« oder »wieder die Natur« bezeichnen musste. Nun hat sich in den letzten Jahrhunderten an der Betrachtungsweise der römisch-katholische Kirche Schwule betreffend nicht wirklich etwas geändert. Nach wie vor gelten die Liebe und der Spaß, den man als Mann mit einem (ggf. auch mehreren) Männern haben kann, als nicht glaubenskompatible. Während die Kirche heutigerseits mit der gemeinen Schwuppe einfach nichts zu tun haben will, brachte sie selbige Schwuppe am Ende des Mittelalters auf dem direktestem Weg auf den Scheiterhaufen. Ein Schicksal, das wir aus verständlichen Gründen, soweit wie möglich, umgehen wollten.

»Wir haben mehr als ein Problem!«, erweiterte ich die pessimistische Grundstimmung. »Wie erklären wir dies hier?«

Mit »dies hier« war das Buch und der Zettel gemeint, der ganz offensichtlich aus der Zukunft kam. Das Problem bestand nicht darin, zu glauben, dass Buch und Zettel tatsächlich aus der Zukunft stammten -- damit hatte ich mich zu meiner eigenen Überraschung recht schnell abgefunden -- das Problem bestand vielmehr darin, es den anderen Mönchen erklären zu müssen. Die Chancen eine glaubwürdige Erklärung liefern zu können, schätzte ich als ausgesprochen gering, wenn nicht sogar, für nicht gegeben, ein. Jeder normale Mönch hätte mit Sicherheit sofort »Sie sind mit dem Teufel im Bunde! Das sind Hexer!« gerufen. Vermutlich hätte man mein Talent als Miniaturenmaler auch sofort als Beweis für einen Pakt mit dem Leibhaftigen ausgelegt.

Mit diesem Problem hatten wir somit gute Chancen, alternativ zur Verbrennung auf dem Scheiterhaufen zur Belustigung der vergnügungssüchtigen Massen, gerädert und gevierteilt zu werden. Unsere Perspektiven waren überaus verlockend.

»Ähm, ich war nicht ganz ehrlich zu dir«, begann daraufhin Marcus, einen weiteren Problemkreis aufzumachen. »Für wie alt hältst du mich?«

»Höchstens für 23, vielleicht 24!«, typisch Tucke, immer etwas beim Alter schmeicheln, dabei sah Bruder Marcus nach rund 25 Jahren aus.

»Du schmeichelst mir!«, grinste Marcus, bevor er hüstelnd fortfuhr, »Ich bin aber etwas älter ...«

»Etwas? Etwa schon 25 Jahre?«

»Ich bin 585 Jahre alt. Ich wurde im Jahre 813 als dritter Sohn eines Landgrafen nicht unweit von diesem Klosters geboren worden.«

»Du bist wie alt?«

Das war ein Hammer. Für 585 Jahre hatte er sich verdammt gut gehalten. Aber das war nicht der Punkt. Wie konnte so etwas möglich sein? War er etwa doch mit dem Teufel im Bunde? Hatte er seine Seele verkauft? Wie sonst könnte ein menschliches Wesen über 500 Jahre alt werden? Ein Mönch, der die 80 Jahre überschritten hatte, galt als schon biblisch alt und wurde mit Ehrfurcht betrachtet. Aber dieser jugendlich aussehende Typ behauptete, diese Altersgrenze um das X-fache übertroffen zu haben. Obendrein machte er nicht unbedingt den Eindruck, als wenn sich in nächster Zeit daran etwas ändern sollte.

»Ich bin wirklich 585 Jahre alt. Du hast dich vorhin gewundert, dass ich Sanskrit beherrsche. Nun, ich habe gut 100 Jahre in Indien gelebt. Mein Problem ist, dass ich mich nie lange an einem Ort aufhalten kann. Alle Menschen altern, ich nicht, jedenfalls nicht, wenn ich es nicht will. Irgendjemanden wird dies zwangsläufig auffallen. Und bevor dies passiert, reise ich weiter.«

Diese Beichte war wie ein Stich in mein Herz. Begriff Marcus nicht, dass er damit unsere Liebe unmöglich machte? Ich würde altern, während er weiterlebte. Wenn er mich wirklich liebte, dann würde es ihn zerbrechen.

»Nein!«, entgegnete Marcus und hielt mir meinen Brief aus der Zukunft entgegen. »Jetzt bist du es, der nicht versteht. Wer hat diesen Brief geschrieben? Wann wurde er geschrieben?«

»Ich ...«, und dann begriff ich. Ich hatte, oder werde gehabt haben, diesen Brief in rund 600 Jahre schreiben oder geschrieben haben, oder so. Damit muss man wohl davon ausgehen, dass ich in 600 Jahren immer noch unter den Lebenden weilen würde.

»Als ich diesen Brief vorhin las«, fing Marcus an zu erklären, »begriff ich sofort, dass du so bist wie ich. Ich kann es fühlen. Ich kann es sogar sehen. Du bist etwas ganz Besonderes, du weißt es nur noch nicht. Aber das wird sich bald ändern. In dir schlummert eine gigantische Kraft. Eine Kraft, die die Welt aus den Angeln heben könnte. Ich sehe es vor mir. Dass wir uns hier, an diesem Ort, getroffen haben, dass wir uns ineinander verliebt haben, ist kein Zufall. Es musste geschehen. Ich weiß nicht wieso, aber ich bin mir sicher: Wir sind füreinander bestimmt.«



Das war dann doch ein wenig zu deutlich und zu viel auf einmal. Mein Verstand schaltete wegen Überlast auf autonomen Notbetrieb.

Ich blickte zu Marcus, unsicher und verwirrt.

»Ich muss das erst einmal verdauen. Ich muss einen Moment allein sein. Bitte, mir brummt der Schädel, und bevor ich irgendetwas entscheide, muss ich wieder einen klaren Kopf bekommen.«

Marcus zagte nichts, sonder nickte nur als Zustimmung.

Ich schaute Bruder Marcus noch einmal nachdenklich an und ging dann ziellos los. Ich lief einfach so drauf los. Ohne auf meine Umgebung zu achten oder nach links oder rechts zu schauen, ging ich die Treppe des Skriptoriums hinunter, wanderte völlig in Gedanken aus dem Aedificium ins Freie, den Kreuzgang entlang in Richtung des Haupttores.

Ich erreichte es nicht.

In meinem quasi autistischem Zustand hatte ich offenkundig keine Augen für die Dinge, die unmittelbar vor mir lagen, was zwangsläufig dazu führte, dass ich mit eben jenen Dingen zusammenstoßen musste. Das Objekt, auf den sich mein Impuls (Masse mal Geschwindigkeit) übertrug, war ein Mensch. Trotz der Wucht, mit der ich auf diesen Menschen prallte, blieb jener standhaft wie ein Fels in der Brandung stehen. Ich blieb es nicht, sondern wurde, wie ein Ball von einer Wand, zurückgeschleudert und landete auf meinem verlängerten Rücken.

Da saß ich nun im Staub und schaute nach oben. Die Person, die meinen Vorwärtsdrang zum Stehen gebracht hatte, war ein Mönch, aber nicht von unserem Ordern. Er war schwer zu erkennen. Es war Mittag, die Sonne stand im Süden und genau dort stand auch jener Mönch. Die Sonne befand sich aus meiner Position genau über seinem Haupt, so dass ich zwangsläufig von der Sonne geblendet wurde, als ich versuchte in sein Gesicht zu sehen. Es lag hinter einer übergestülpten Kapuze in tiefer Dunkelheit verborgen.

Mir sträubten sich meine Nackenhaare. War es nur der Moment und meiner vorübergehenden Irritiertheit oder ging von diesem Mönch etwas bedrohliches aus?

Ich sah mich um. Hinter dem Mönch standen andere Leute, Mönche, aber auch Soldaten, die ähnlich gekleidet waren wie jener, der vor mir stand. Es war ein ganzer Trupp von Leuten, die vermutlich vor wenigen Momenten in unserem Kloster eingetroffen waren.

»Äh ...«, stammelte ich und rappelte mich vom staubigen Boden auf. Mit einer blitzschnellen Bewegung, die ich nicht erwartet hatte, griff der Mönch, der vor mir stand zu und stellte mich auf die Beine. Sein Griff war kräftig und äußerst machtvoll. Während er mich berührte, fühlte ich eine eigentümliche Beklemmung. Brust und Hals schnürten sich zu. Von jenem Mönch ging definitiv etwas Bedrohliches aus.

»Nicht so stürmisch, mein junger Bruder!«

Die Stimme sollte freundlich, sogar gütig klingen. Sie tat es nicht. Die ersten Worte, die ich von Pater Rolando Escobar de Sevillia hörte, verursachten Gefrierbrand. Sie klang nicht zischend, nicht einmal scharf, sie war sogar angenehm melodisch, mit einem sonoren Timbre versehen. Und doch verströmte sie eine Eiseskälte, die selbst die Hölle hätte einfrieren lassen könnte.

Pater Rolando Escobar de Sevillia, Sonderinquisitor des Heiligen Stuhls, war wenige Momente vor meinem Zusammenstoß mit ihm durch das Tor der Abtei geschritten. Während ich mich mit tausenden Worten der Entschuldigung versuchte, im wahrsten Sinne des Wortes, aus dem Staub zu machen, stürmte der Abt herbei und scheuchte mich mit einer wedelnden Handbewegung fort.

Grundsätzlich stellt ein Abt die absolute Autorität in einer Abtei dar. Über ihm steht nur noch der Papst. Mit jener Gewissheit der absoluten Machtfülle im Rücken, trat unser Abt nun seinerseits, der Reisetruppe, denn dafür hielt er die Mönche und Soldaten, aufrecht, stolz und mit gemessenem Schritten entgegen.

Pater Rolando Escobar de Sevillia deutete eine kaum wahrnehmbare Verbeugung an. Überhaupt schien ihn das Auftreten des Abtes in keiner Weise zu interessieren. Er stand da wie jemand, der sagen wollte: »Komm du nur. Aus dir lass ich auch noch die Luft raus!« Der Abt hatte ihn fast erreicht, als er von Pater Rolando angesprochen wurde. Leider stand ich zu weit weg, um etwas verstehen zu können. Immerhin konnte ich sehen, wie unser Abt stutzte und nach einer Schriftrolle griff, die ihm von Pater Rolando hingehalten wurde. Der Abt erbrach das Siegel, entrollte die Rolle und las.

Unser Klosterchef hätte sich weniger auf seinen Status, dafür aber mehr auf das Deuten der Körpersprache konzentrieren sollen; ihm wäre die nun folgende Demütigung erspart geblieben. Es dauerte nur Sekunden, da begann er zu schrumpfen. Pater Rolando gab ein kurzes Handzeichen und seine Soldaten schwärmten aus. In Windeseile besetzten sie alle strategischen Punkte der Abtei. Ihre Aufgabe schien nicht darin zu bestehen, eine Streitmacht für oder gegen Angriffe zu stellen. Vielmehr schienen sie so etwas wie eine Wachtruppe zu sein. Die meisten waren Bogenschützen und so, wie sie sich verteilt hatten, deckten sie mit kaum zwanzig Mann das gesamte Klostergelände ab. Nichts und niemand konnte ihren Augen entgehen. Ich wusste nicht, was vorging, und wie es aussah, wusste es der Abt eben so wenig, aber eines war sicher: Wir waren Gefangene, denn als Letztes wurde das Haupttor geschlossen und mit zwei Bogenschützen besetzt.

Mittlerweile hatte sich die Ankunft dieses seltsamen Trupps im Kloster verbreitet. Aus allen Gebäuden strömten die Mönche ins Freie, um zu erfahren, was eigentlich genau los war.

Sie sollten nicht enttäuscht werden. Als sich eine signifikante Menge Mönche im Hof versammelt hatten, schlug Pater Rolando Escobar de Sevillia seine Kapuze zurück. Bei seinem Anblick hätte ich fast aufgeschrien, brachte mich aber noch rechtzeitig unter Kontrolle. Pater Rolandos auffälligstes Merkmal war sein Schädel. Zum einen war er vollkommen kahl, was an für sich nicht wirklich erschreckend war. Zum anderen war er aber auch vollkommen hager, fast ausgemergelt. Man hätte ihn ohne weiteres mit einem Totenschädel verwechseln können. Die Augen lagen so tief in ihren Höhlen, dass sie selbst ohne Kapuze im Schatten lagen. Um so unheimlicher wirkte dadurch das Weiß seiner Augen. Es sah aus, als hätte man zwei Kerzen in die Augenlöcher eines hohlen Schädels gestellt. Die restliche Physiognomie war auch nicht viel besser. Der Kopf ruhte auf einem sehnigen Hals. Stirn-, Wangen und Kieferknochen waren nur mit einer dünnen Hautschicht überzogen und traten deutlich hervor. Ich dachte ich stände vor einer lebenden Leiche.

»Wenn ich kurz um eure brüderliche Aufmerksamkeit bitten dürfte«, fing diese offenbar sehr lebendige Leiche an zu sprechen. Sie klang so melodisch, schmeichelhaft und wohlwollend wie beim ersten Mal. Und hatte die gleiche besorgniserregende Wirkung auf mich. Unter der schönen Oberfläche eines frommen Lämmchens lauerte ein Wolf. Pater Rolando bat nicht um Aufmerksamkeit, er befahl sie.

»Ich bin Pater Rolando Escobar de Sevillia. Manche von euch mögen von mir gehört haben, deswegen möchte ich euch beruhigen. Niemand muss sich vor mir oder meinem Amt fürchten. Nur diejenigen, deren Gewissen nicht rein und von wahrer christlich-katholischer Gesinnung erfüllt sind, sollten auf der Hut sein. Und jetzt geht! Begebt euch zurück an eure Arbeit. Man wird zu gegebener Zeit mit euch sprechen.«

Hackfleischvermeidungsstrategien

Worin man im Dunkeln tappt.

Ich tat, wie mir geheißen. Soll heißen, ich begab mich wieder ins Skriptorium. Die meisten anderen Mönche waren ebenfalls wieder an ihre Arbeitsplätze zurückgekehrt. Völlig untypisch herrschte ein bedrückendes Schweigen im Schreibsaal. Jeder war emsig dabei seine Arbeit zu verrichten, selbst Bruder Nicolas war am Arbeiten und hatte weder an Tinte, Feder oder Velum etwas auszusetzen. Ich hielt kurz inne, schaute mich vorsichtig um, und ging dann ebenfalls auf meinen Platz.

Die Bücher, die ich von den Tischen unserer abwesenden Mitbrüder gerissen hatte, lagen akkurat sortiert an ihrem Platz. Nichts deute mehr auf das von mir mitverursachte Chaos hin. Bruder Marcus musste die Bücher, nachdem ich gegangen war, schnell an ihren Platz gestellt haben. Nur ein Buch fehlte. Ich wollte nicht auffallen, weswegen ich nicht ganz genau hinsah, aber ich war mir sicher, dass das Buch mit der Nachricht aus der Zukunft nicht auf den Tischen der beiden fehlenden Brüder lag.

Schweigend setzte ich mich hin und richtete meine Konzentration auf die vor mir liegende Aufgabe. Ich holte tief Luft, schaute mich noch einmal im Skriptorium um und griff zum Pinsel. Ich wollte gerade ein Initiale mit Farbe ausfüllen, als ich plötzlich stutzte. Bruder Marcus war nicht da! Ich legte den Pinsel zur Seite und schaute mich nochmals sorgfältig um. Bruder Marcus blieb abwesend. Sein Platz war leer. Er musste aber da sein. Ich war zwar aus dem Skriptorium gelaufen und hatte ihn allein gelassen, aber die Zeit war zu kurz, als dass er das Skriptorium ebenfalls hätte verlassen können. Schließlich hatte er die von mir herabgerissen Bücher sortiert und zurückgelegt. Nach meiner Einschätzung musste er knapp vor meiner Rückkehr mit den Sortierarbeiten fertig geworden sein. Hätte er das Skriptorium danach verlassen, wäre er mir in die Arme gelaufen. Es gab nur einen Zugang. Gab es nur einen Zugang?

Nicht ganz, es gab noch einen Weg durch die Bibliothek, die in den beiden Stockwerken unter dem Skriptorium lag. Das untere Stockwerk der Bibliothek war ebenerdig und besaß einen Zugang, der auf den Kreuzgang führte. Allerdings wurde dieser Zugang selten benutzt und war die meiste Zeit verschlossen. Eigentlich wurde der Zugang nur für unsere Spender geöffnet. Wenn ein Geldsack von einem Patrizier mal wieder ein Buch bei uns geordert hatte, sollte ihm bei der Übergabe natürlich auch ein wenig Show geboten werden. Der Abt höchstpersönlich führte dann den Kunden, ich meine Spender, vom Kreuzgang direkt in die Bibliothek, wo beide bereits vom Bibliothekar erwartet wurden. In einer kleinen Zeremonie wird dann das Buch seinem glücklichen und spendenfreundlichen neuen Eigentümer übergeben.

War Marcus in der Bibliothek? Nach Abwägung aller anderen Möglichkeiten, schien mir dies sein plausibelster Aufenthaltsort zu sein. Ich erhob mich also von meinem Platz, ging zu Bruder Eduardo und faselte etwas von Büchern, die ich dringend bräuchte, weil ich mir bei einer Zeichnung nicht über die korrekte Symbolik sicher sei.

»Selbstverständlich Bruder, könnt ihr die Bibliothek konsultieren. Der Index wird euch unterstützen, und wenn Ihr Fragen habt, fragt mich!«

Der Form halber schlug ich ein, zwei Bücher im Index nach, notierte mir die Lagenotation (Stockwerk, Quadrant, Regal und Fach) und verließ das Skriptorium. Ich fand Bruder Marcus, wo ich ihn erwartete, in der Abteilung über und mit indischen Büchern im Erdgeschoss.

»Hier steckst du! Ich ...«

Bruder Marcus legte seinen Zeigerfinger vor seine Lippen. Ich verstummte. Er nickte mir zu und deutete mit seinem Zeigefinger in Richtung des Ganges hinter ihm. Ich verstand und er ging vor. Dieser Gang war mit Abstand der dunkelste Teil der Bibliothek. Obwohl die Bibliothek in beiden Geschossen über Fenster verfügte, waren nicht alle Bereich gut ausgeleuchtet. Dieser sogar überhaupt nicht. Selbst bei strahlendem Sonnenschein benötigte man in dieser Ecke eine Lampe, um die Titel der Bücher entziffern zu können.

Immerhin konnte man erkennen, dass wir an einer Wand, genaugenommen in einer Ecke angekommen waren. Wenn mich mein Orientierungssinn nicht täuschte, befand sich hinter der Wand das Dormitorium. Bruder Marcus legte wieder seinen Zeigefinger vor seine Lippen und musterte mich. Ich nickte. Marcus nickte ebenfalls und griff plötzlich meine rechte Hand. Er führte meine Hand zu einer Stelle an der Wand, die besonders dunkel war. Ich berührte das Mauerwerk. Marcus nahm meinen Zeigefinger und führte ihn über die Wand. Damit fertig, sah er mich fragend an. Ich verstand nicht und schüttelte meinen Kopf. Marcus nickte und griff erneut zu meinem Zeigerfinger. Ich strich erneut über die Wand.

Und dann erfühlte ich es. Ein Feld mit kleinen quadratischen Steinen. Etwa zwei mal zwei Zentimeter breit. Ich tastete weiter und zählte. Es waren 12 Reihen und 12 Spalten, also 144 Felder. Mutig geworden wollte ich auf einen der Steine drücken, als Marcus meine Hand packte und wegriss. Ich sah ihn erschrocken an. Marcus schüttelte seinen heftig seinen Kopf. Ich gab nach, worauf hin Marcus erneut meine Hand nahm und zu dem Tastenfeld führte. Denn ein Tastenfeld war es, was ich da erfühlt hatte. Vorsichtig spreizte Marcus meinen Zeigefinger und Daumen und manövrierte sie so, dass beide auf zwei bestimmten Feldern zum liegen kamen.

Marcus drückte meinen Daumen gegen das erste Feld. Es gab nach. Aber nicht gleichmäßig sondern mit spür- und hörbarem Klicken. Während er drückte, hielt er mir seine andere Hand vor mein Gesicht. Mit jedem Klick hob er einen Finger.

4 Klicks mit dem Daumen.

Ich wollte schon meinen Daumen zurückziehen, aber Marcus hielt ihn fest. Eine Sekunde später verstand ich warum. Während er mit meinem Zeigerfinger das nächste Feld drückte, verspürte ich in meinem Daumen einen Gegendruck. 3 Klicks und ein Klack. Im gleichen Moment glitt ein Teil der danebenliegenden Wand fast lautlos zurück und gab den Weg in ein finsteres Loch frei. Wir gingen hinein. Kaum drin, fuhr die Wand hinter uns wieder zu. Als die Wand sich schließlich ganz geschlossen hatte, wurde es völlig überraschend hell.

Ein sinniger Mechanismus sorgte offenbar dafür, dass der Raum, in dem wir jetzt standen, solange nicht auffiel, wie die Tür offen stand. Einmal geschlossen wäre es ausgesprochen schwierig, sich in einem absolut stockfinsteren Loch zu orientieren.

»So, wir können reden.«, meinte Marcus.

»Sicher?«

»Ja, die Mauern sind sehr dick. Von hier dringt nichts nach draußen.«

Ich schaute mich um und stellte als Erstes fest, dass es sich gar nicht um einen abgeschlossenen Raum handelte. Ich weiß nicht, warum ich dies überhaupt vermutet hatte, aber an einem Ende öffnete sich der Raum zu einer Wendeltreppe, die noch oben und unten zu gehen schien. Sonst gab es, bis auf einen Lichtschacht, nichts.

»Wo sind wir?«

Marcus grinste und begann zu erklären. Wir befanden uns an einem von einer ganzen Reihe von Zugängen zu einem geheimen Gangsystem, dass nicht nur die Abtei durchzog, sondern sich sogar bis über die Klostermauern hinaus erschreckte. Ich erfuhr auch etwas, dass mir einen Schrecken einjagte. Hätte ich die falschen Felder gedrückt, die Felder nicht tief genug oder zu tief gedrückt hätte, oder das erste Feld losgelassen hätte, würden wir nicht mehr leben. Das Geheimgangsystem war mit ausgesprochen effizienten und absolut tödlichen Fallen gesichert.

»Tödlich?«

»Absolut tödlich!«

Ich war mir nicht sicher, ob ich mich wirklich wohl fühlte.

»Warum?«

»Escobar ist in der Abtei!«

»Hast du ihn gesehen?«

»Nein, gespürt. Das erklär ich dir später. Escobar kennt mich. Das erste Mal haben sich unsere Wege vor 40 Jahren gekreuzt. 25 Jahre später begegneten wir uns dann noch einmal.«

»Und?«

»Escobar ist viel mehr als ein Inquisitor. Er ist ein Jäger. Allerdings jagt er eine besondere Beute. Lass dich nicht von seinem Äußerem täuschen. Escobar kleidet sich gerne als einfacher Pater, aber er untersteht direkt dem Papst. Manche behaupten, der Papst unterstände ihm.«

»Verflucht, Marcus! Was soll das? Du erzählst viel, aber du sagst nichts! Worum geht es?«

»Komm mit!«

Wir gingen. Marcus führte mich zur Wendeltreppe. Wir gingen abwärts. Durch die Drehungen der Treppe verlor ich jede Orientierung, zumal es sehr weit abwärts ging. Am Fuße der Treppe griff Bruder Marcus in eine Mauernische und entnahm ihr einen Kristall. Kaum in der Hand, fing er in einem hellen weißen Licht an zu strahlen. Mit diesem Licht in der Hand setzte Bruder Marcus seinen Weg fort. Wir liefen durch lange enge Gänge. Ich hatte den Eindruck, dass die Gänge absichtlich sehr eng gebaut waren. Eine Gruppe konnte unmöglich nebeneinander, sondern musste hintereinander gehen.

Wir befanden uns in einem leeren, weiten und engen Gang, als Marcus plötzlich stehen blieb.

»Hier ist eine Falle. Siehst du die Linie auf dem Boden?«

»Ja!«

»Unter den Bodenplatten ist ein Wiegemechanismus. Wenn mehr als eine Person hier entlang geht ... du willst es nicht wissen. Ich gehe vor. Sobald ich winke, kommst du nach. Keine Angst.«

Keine Angst? Das sagte er so. Ich nickte schweigend und Marcus ging los. Er ging lange. Erst nach gut 15 Metern blieb Marcus stehen, drehte sich um und winkte mir zu. Ich atmete einmal tief durch und ging mit schnellen Schritten den Gang entlang. Schließlich war ich durch und Marcus lächelte hinterhältig.

»War doch gar nicht so schlimm, oder?«

Ich sagte nix und wir gingen weiter. Nach ein paar weiteren Metern standen wir vor einer Wand. Es war eine Sackgasse.

»Die letzte Falle. Pass genau auf!«, meinte Marcus.

Ich passte auf. Marcus legte den leuchtenden Kristall in eine Schale und stellte sich vor die Wand. Durch den Kristall wurde die Stirnwand hell erleuchtet und man konnte ein Tastenfeld erkennen. Doch wenn ich erwartete, dass Marcus jetzt einige dieser Knöpfe drückte, wurde ich enttäuscht. Er tat es nicht. Stattdessen streckte er seine Arme zu Seite aus und steckte seine Finger in jeweils zwei kleine unscheinbare Löcher. Es machte Klick und eine Seitenwand glitt zu Seite. Ich wollte schon losgehen, als mich Marcus zurückhielt und angrinste.

»Moment, oder möchtest du zu Hackfleisch verarbeitet werden?«

Ich schluckte und wartete. Erst jetzt drückte Marcus eine Folge von Tasten auf der Stirnwand, deren Muster ich mir einprägte. Eine Sekunde später machte es Klick und die Stirnseite glitt zur Seite.

»Und, worauf wartest du?«, fragte Marcus.

»Witzbold!«, entgegnete ich und ging durch die Tür.

Ein ehrwürdiger Bruder

Worin man Interessantes von einen älteren Mönch erfährt.

»Und?«, fragte ich enttäuscht. Nach den bisherigen Sicherheitsvorkehrungen, die paranoid zu nennen, einer schamlose Untertreibung gleichgekommen wäre, hatte ich mir eigentlich etwas mehr erwartet. Der Raum war quasi leer. Ein zugegeben massiver Holztisch, ein paar Öllampen, ein, zwei Bücher und sonst nichts.

»Und was?«

»Ist das alles?«

»Na ja, mehr oder weniger. Dieser Raum und die Gänge gehören zu den ältesten Installationen der Abtei. Das meiste, was du oben an Bauwerken sehen kannst, sind deutlich jüngeren Datums und wurde auf den Resten einer alten römischen Garnisonsanlage gebaut. Es gibt kaum jemanden, der die Anlage kennt. Der Abt gehört nicht dazu.«

»Bruder Bartholomäus?«, fragte ich.

»Du hast einen guten Instinkt. In der Tat war es Bruder Bartholomäus, der mir diese Anlage und ihre Geheimnisse gezeigt hat.«

»Und?«, ich ließ nicht locker.

Marcus grinste mich an: »Und was?«

»Naja, in Flandern hatten wir auch einen ,Geheimgang` in unserer Abtei. Nur die Mönche wussten davon. In erster Linie war es ein Fluchttunnelsystem, das angelegt wurde, weil sich in der Gegend früher wohl eine Menge Gesindel herumgetrieben haben soll. Räuberbanden, plündernde und brandschatzende Söldnertruppen, Barbaren, halt alles Mögliche, wovor man sich schützen oder auch fliehen muß. Aber das hier«, wobei ich meine Hände hob und um mich schaute, »ist doch sehr ..., ähm ... speziell, oder? Ich meine die ganzen gesicherten Geheimtüren, die Fallen, allein die umständliche Prozedur, die Eingangstür dieses Raumes zu öffnen ist doch sehr übertrieben.«

»Es kommt darauf an, was man schützen will ...«, entgegnete Marcus und sah mich freundlich, aber nachdenklich an.

»Was meinst du?«

»Bruder Bartholomäus ist nicht unbedingt das, was er scheint. Ja, er mag alt und gebrechlich aussehen. Aber ...«

»Ich brauche keine Augen, um sehen zu können!«, polterte eine Stimme hinter mir los. Ich wirbelte herum. Und da stand er: Bruder Bartholomäus, nicht gebeugt, nicht klapperig, sonder aufrecht, kräftig und stolz, »Marcus, du hast dich also entschieden?«

»Nein, nicht ganz. Benedict wird sich entschieden haben«, antwortete Marcus. Bruder Bartholomäus zog erstaunt seine rechte Augenbraue in die Höhe: »Wird sich entschieden haben?«

Marcus erzählte ihm von den Begebenheiten in der Bibliothek.

»Eine Zeitkapsel? Sehr beeindruckend. Ich habe schon davon gehört, habe aber nie geglaubt, dass jemand wirklich die Kraft besitzt, ein ganzes Buch punktgenau durch die Zeit zu senden. Zudem 600 Jahre. Wirklich, sehr beeindruckend.«

Bruder Bartholomäus musterte mich von oben bis unten, was merkwürdig war, denn seine Augen sahen genauso trübe und blind aus, wie sonst auch.

Schließlich richtete er das Wort an mich: »Ahhhhh ... Ich sehe ... In der Tat, höchst beeindruckend. Marcus hat recht gehabt. Du weißt es nicht -- noch nicht -- aber du trägst ein gigantisches Potential in dir.«

Plötzlich sprang er auf mich zu und packte meinen Schädel. Er zog mich zu sich heran und schaute mir tief in die Augen. Ich sah in seine Augen. Diese trüben, blinden Augen entwickelten eine unheimliche Anziehungskraft. Ich konnte mich nicht abwenden und musste Bruder Bartholomäus ansehen.

»Fühlst du es?«, fragte er mit entrückter Stimme. »Ich kann es sehen! Fühlst du deine Kraft?«

Mit eiserner Kraft, die ich ihm überhaupt nicht mehr zugetraut hätte, hielt er meinen Kopf fest. Selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich meinen Blick nicht abwenden können. Im ersten Moment hielt ich Bruder Bartholomäus für verrückt und hatte etwas Angst vor ihm. An was für einen Typen hatte mich Marcus ausgeliefert? Auf der anderen Seite war Bruder Bartholomäus nie böse oder bedrohlich gewesen. Allerdings wirkte er bisher auch klapperig und nicht mehr ganz bei der Sache.

Mein Bewusstsein driftete ab. Die hypnotische Kraft seiner Augen zog mich hinweg. Ich sah nur noch seine Pupillen, die Iris, das Innere ...

... und dann spürte ich es. Es war eine Kraft, die in mir zu stecken schien. Im Moment schien es nur ein glimmender, leicht glühender Funke zu sein, aber ich ahnte, dass sich dieser Funke ohne große Mühe zu einem gigantischen Feuer entfachen ließe, wenn ich nur ...

Doch genauso schnell wie es gekommen war, war das Gefühl auch wieder verschwunden. Bruder Bartholomäus hatte seinen Blick abgewandt. Für mich war es, als wenn ich aus einem Tagtraum erwachte. Ich schreckte auf und sah mich um.

»Geht es euch nicht gut?«, fragte ich Bruder Bartholomäus. Die Stärke und Kraft war aus ihm verschwunden, er sah wieder aus, wie der alte und ehrwürdige Mönch, als den ich ihn kannte. Nein, eigentlich machte er sogar einen noch viel klapperigen Eindruck als sonst. Er musste sich sogar mit einer Hand auf einen Stuhl stützen. Seine andere packte mich am Arm.

»Nein, nicht wirklich. Dir deine Kraft zu zeigen, hat mich sehr angestrengt«, plötzlich lächelte er müde. »Dieser Körper will nicht mehr so, wie er sollte. Aber ich kann mich nicht beschweren. Er hat mir lange, sehr lange gute Dienste erwiesen.«

»Wie alt seid ihr?«

Bruder Bartholomäus bedachte mich mit einem fuchshaften, schlauen Blick: »Ah, Marcus hat dir sein Alter verraten. Tja, ich bin noch etwas älter. Jahrgang 775 vor unserem Herrn.«

»Aber dass sind über 2000 Jahre.«

»Ja, fürchterlich, nicht? Nun ja, meine Zeit ist so gut wie vorüber. Nichts währt ewig und ich bin zufrieden. Insbesondere nachdem ich dich gesehen habe. Ich weiß jetzt, dass ich einen halbwegs brauchbaren Nachfolger haben werde.«

Marcus hatte während der ganzen Zeit an dem einzelnen Tisch im Raum gesessen und in einem Buch gelesen. Unserer Unterhaltung hatte er nur beiläufig verfolgt. Mit einer entschlossenen Handbewegung schlug er schließlich das Buch zu und sah zu uns auf.

»Du redest über dein nahes Ende schon seit 20 Jahren. Ich glaube, wir haben im Moment ein viel drängenderes Problem.«

»Escobar?«, fragte ich, worauf Bruder Bartholomäus wieder seine rechte Augenbraue hob.

»Er kennt ihn?«, fragte der ehrwürdige Bruder.

»Er ist ihm direkt in die Arme gelaufen!«, antwortete Marcus.

»Erstaunlich, die Zecke wird auf ihre alten Tage auch immer unaufmerksamer. Er hätte doch erkennen müssen, dass dein junger Freund hier ein latenter Telepath ist. Schließlich verfolgt er sie doch über die ganze Welt. Oder sollte er nicht auf der Suche sein? Aber was will er denn sonst?«

»Ihm ist Marcus nicht aufgefallen, weil er nicht nach ihm gesucht hat. Er sucht jemand ganz Bestimmtes. Er sucht dich!«

Marcus sah Bruder Bartholomäus mit ernsten Augen an und fuhr dann fort.

»Ich habe vorhin eine Nachricht erhalten, dass man ihm deinen Aufenthaltsort verraten hat. Erinnerst du dich an Bruder Theodor?«

»Dieses verlogene Schwein von einem Benediktiner! Und dafür habe ich ihm das Leben gerettet, dass er mich an diesen Teufel verfüttern will? Ohne mich! Ich hatte eigentlich vor in einem Bett zu sterben und nicht auf einem Haufen munter brennender Baumstämme zur Belustigung der Massen«, Bruder Bartholomäus sank in sich zusammen. Er wirkte sehr müde und sehr alt. Mit leiser Stimme fuhr er fort: »Diesmal ist es kein Kokettieren mit meinem Alter. Meine Zeit ist wirklich fast vorbei. Ich habe nicht mehr die Kraft, noch einmal zu flüchten. Mich ein weiteres Mal vor allen Escobars, Julius Secundus, Mustaffa Ben Hasirs, Nassafs, Teikishi Watanabes oder wie sie alle hießen, zu verstecken. Verdammt, ich bin über 2000 Jahre alt! Ich kann nicht mehr!«

Ich war erstaunt, mit welchem Blick Marcus diesen alten Mönch bedachte. Er liebte ihn, nicht etwa körperlich, aber als Mensch. Diese beiden Menschen verband etwas miteinander, dass tiefer ging als eine simple Freundschaft. Marcus nahm Bruder Bartholomäus rechte Hand in seine Hände: »Du sollst nicht mehr fliehen müssen. Nicht mehr. Wir werden ihm ein anderes Ziel geben. Ich habe eine gute Nachricht für dich. Escobar kennt mich ebenfalls!«

»Sowas nennst du eine gute Nachricht? Ich möchte nicht wissen, wie sich bei dir schlechte Nachrichten anhören. Aber Marcus, warum hast du mir das nie erzählt?«

Marcus lächelte: »Ich wollte dich nicht beunruhigen. Ich ...«

Bartholomäus zog seine Hand zurück und schüttelte dabei heftig seinen Kopf. Ein kräftiger Ruck ging durch seinen Körper: »Nein! Noch bin ich nicht tot. Jedenfalls nicht ganz. Escobar will mich haben? Nun gut, soll er nur kommen!«

»Halt!«, fuhr ich dazwischen, da mir langsam der Kragen zu platzen drohte. »Könnte einer von euch zwei älteren ehrwürdigen Mönchen bitte einmal erklären, worum es eigentlich geht?«

Die angesprochen zwei Brüder schauten mich erst verblüfft, dann grinsend an. Marcus meinte: »Irgendwie hat der Kleine ja recht. Ja dann ...«, und begann zu erzählen.

Die Anfänge

Worin Bruder Marcus die Geschichte eines alten Freundes erzählt

Was mir Bruder Marcus dann von Bartholomäus erzählte, war ebenso phantastisch, wie unglaubwürdig. Ich hätte vermutlich beide Mönche für verrückt erklärt, wenn sich nicht Teile ihrer Erzählung mit meinen Erfahrungen deckten. Hauptsächlich ging es um die Geschichte der Telepathen und ihren oftmals verzweifelten Kampf um das Gute, was mindestens genauso oft auf einen noch verzweifelteren Kampf ums eigene Leben hinauslief. Bruder Bartholomäus war einer der ältesten Telepathen, die in der damals bekannten Welt lebten. Viele Jahrhunderte später erfuhren Marcus und ich, dass es auch in Australien und in Amerika Telepathen gab. Da beide Kontinente noch nicht entdeckt waren, ahnten wir natürlich nichts von ihnen.

Was Bruder Bartholomäus betraf, so wurde er in Persien geboren. Als er sich im Alter von 17 Jahren in einen anderen Jungen verliebte, dieser seine Liebe aber nicht unbedingt erwiderte, reagierte seine Umwelt etwas ungehalten. Sie entschieden sich, ihn zu steinigen. Nun gehören Steinigungen nicht unbedingt zu der Art von Strafe, die man gemeinhin überlebt. Ganz im Gegenteil handelt es sich um eine der barbarischsten und menschenverachtendsten Arten, jemand hinzurichten.

Von der Perspektive eines qualvollen Todes wenig begeistert, erwachte Bruder Bartholomäus psionische Kraft. Es bedurfte nur zweier Steine. Der erste Stein, der ihn traf, rief bereits ein leichtes Beben des Bodens hervor. Er wurde von seinem Vater geworfen. Kräftig und gezielt, denn er wollte jedem zeigen, wie sehr er seinen eigenen Sohn dafür verachtete, dass er sich in andere Männer verliebte. Nicht dass es ihn persönlich störte, hatte er in seiner Jugend nicht selbiges getan, aber es störte die Geschäfte. Bartholomäus Vater war ein Händler, bei dem niemand aber mehr etwas kaufen wollte, da er nun solch einen Sohn hatte.

Der zweite Stein kam von dem anderen Jungen, in den sich Bartholomäus verliebt hatte. Es war dieser zweite Stein, der eine mittlere Apokalypse mit Bartholomäus als Epizentrum auslöste.

Von ihm ausgehend, raste eine gewaltige Schockwelle, ähnlich einer thermonuklearen Detonation, konzentrisch über die Richtstätte hinweg. Alles was sie traf verbrannte in Bruchteilen einer Sekunde zu Staub, seine Peiniger und Henker eingeschlossen. Palmen, Sträucher und Büsche wurde dem Erdboden gleichgemacht, der Boden schmolz zu einer glasartigen Substanz. Es war, als wenn man die Kraft der Sonne auf Erden entfesselt hätte.

So unfassbar gewaltig und infernalisch Bartholomäus psionische Eruption auch war, so war sie doch in ihrer Wirkung eng begrenzt. Wie auf einem Glaskeramikkochfeld die kalten Bereiche nur wenige Millimeter von den rotglühenden Kochzonen entfernt liegen, war die Wirkung des psionischen Ausbruchs auf ein scharf umrandetes Gebiet beschränkt. Zwischen Tod und Leben lag nicht einmal ein Meter. Hätte es damals bereits Flugzeuge gegeben, so hätte man einen schwarz verglasten Kreis, vielleicht 500 Meter im Durchmesser, gesehen, in dessen Mitte ein Mensch lag.

Die Einwohner der persischen Stadt, die den 17-jährigen Bartholomäus verurteilt hatte, hatten Glück gehabt. Die Richtstätte lag etwas außerhalb der Stadttore, andernfalls wären die Verluste unter der Bevölkerung wesentlich größer gewesen. So hatte es nur, wenn man von nur dabei überhaupt sprechen kann, den Richter, seine Schreiber, die anwesenden Beamten des Kalifen und alle jene erwischt, die entweder begierig waren dem Schauspiel der Steinigung zuzuschauen oder selbst den einen oder anderen Stein werfen wollten. Niemand hat die Opfer gezählt, aber man schätzte, dass es gut über 200 Menschen waren, die von Bartholomäus Kraft verdampft wurden.

Natürlich blieb das Ereignis nicht unentdeckt. Eine ganze Reihe Leute waren weit genug entfernt gewesen, um das Schauspiel zu beobachten. Eine routinemäßige Steinigung erwartend, sahen sie eine Miniapokalypse. Starr vor Schreck konnten sie zuerst ihren Blick nicht abwenden, wollten auch nicht begreifen, was sie gesehen hatten. Schließlich rannten die Ersten in die Stadt und schrien wild umher, dass zuerst niemand verstand, was sie eigentlich sagen wollten. Als man es schließlich begriff, stürmten die Massen aus Stadt in Richtung der Richtstätte.

Inzwischen hatte sich der Rauch gelegt und man konnte die Umgebung erkennen, allerdings nicht wiedererkennen. Die Umgebung hatte sich stark verändert. Der Platz, an denen die Steinigung stattfand, war eine kleine Mulde, in dessen Mitte der Delinquent geführt wurde. Vom Rand der Mulde wurden dann die Steine geworfen. Jetzt aber nicht mehr. Es gab keine Steine mehr, alles war zu einer Masse verschmolzen. Die Richtstätte war zu einer glasigen Ebene mutiert. Hier und da gab es scharfe Kanten und Spitzen. Das glasige Material besaß offenbar innere Spannungen, denn unter den Füßen der herannahenden Menschen zersplitterte es. Unsicher und vorsichtig näherten sich die Leute der Mulde, wagten es aber nicht sie zu betreten.

Und dort lag er. Der kleine, 17-jährige Junge, der später einmal Bruder Bartholomäus werden sollte. Unversehrt und immer noch in der Kleidung eines Verurteilten lag er besinnungslos in der Mulde. Die Menschen packte die Angst. Was sollte man tun? Was war geschehen? Einige meinten, man hätte sich an Gott versündigt und wäre dafür bestraft worden und dass das mit dem Steinigen wohl doch so keine gute Sache wäre. Andere meinten, dass der Junge eine Ausgeburt des Teufels sei. Erst hätte er sich widernatürlichen Gelüsten hingegeben (wozu es in Wirklichkeit nie gekommen war) und nun hätte er sein wahres Gesicht gezeigt. Man müsse ihn sofort töten, bevor das Bewusstsein wiedererlangte.

Es entbrannte ein heftiger Streit. Manche meinten der Junge wäre ein, andere meinten er wäre der Teufel, viele hatten Brüder, Schwester, Söhne, Töchter, Väter oder Mütter verloren und waren deswegen auf Rache aus, doch die meisten hatten einfach nur Angst. Man diskutierte, Argumente wurden ausgetauscht, die Vertreter der extremsten Positionen waren sogar kurz davor, übereinander herzufallen. Niemand achtete auf Bartholomäus, niemand, bis auf einen Jungen.

Dieser Junge, er war vielleicht 18 Jahre alt, also eher schon ein junger Mann, zückte einen Krummdolch und ging mit finsterer Mine auf den reglos in der Mulde liegenden Bartholomäus zu. Erst als der junge Mann den reglosen Körper fast erreicht hatte, wurde er von der streitenden Menge entdeckt. Eine Frau schrie auf und zeigt mit dem Finger auf ihn.

»Ich tue, was ihr euch nicht traut! Ich werde diese Ausgeburt der Hölle töten!«, schrie der junge Mann und holte bereits zum Stich aus. Der Dolch sauste herab, er zielte direkt auf das Herz. In diesem Moment schlug Bartholomäus seine Augen auf, er sah das Messer und verschwand.



»Wie? Verschwand?«, fragte ich überrascht.

»Ich teleportierte!«, antworte Bruder Bartholomäus. »Ich wusste es damals noch nicht. Ich wusste auch nicht, was geschehen war. Ich glaubte, ein Geist hätte mich gerettet. Aber in Wirklichkeit hatte ich mich selbst in Sicherheit gebracht.«

»Und was hat das mit Escobar zu tun?«

Bruder Bartholomäus Geschichte war interessant und lehrsam gewesen, trotzdem sah ich keinen Zusammenhang mit unserer aktuellen Situation. Der greise Bruder lächelte nachsichtig und schaute auffordert zu Marcus.

»Erinnerst du dich an den jungen Mann in der Geschichte?«

»Der mit dem Krummdolch? Was hat er damit zu tun?«

»Eine Menge. Der junge Mann mit dem Krummdolch war Yussef, der Bruder von Siddiq, dem Jungen, der den zweiten Stein geworfen hatte. Der Junge, in den sich Bartholomäus verliebt hatte.«

»Rache?«, fragte ich.

»Sogar Blutrache. Als älterer Bruder war er verpflichtet, die Ehre seines Bruders wieder herzustellen«, meinte Marcus.

Bruder Bartholomäus seufzte, müde und mit geschlossenen Augen fing er leise zu sprechen an: »Nein, es war anders.«

Marcus schreckte auf und starrte Bruder Bartholomäus überrascht an: »Aber ...«

»Das mit der Blutrache stimmt so nicht ganz. Jedenfalls nicht für Siddiq. Vielleicht sollte ich nach 2000 Jahren Schweigen die ganze Geschichte erzählen?« Bartholomäus schloss müde seine Augen und sammelte Kraft, Kraft für die Wahrheit:»Ja, ihr sollt erfahren, wie es wirklich war! Ich wurde mit dem Namen Nimr geboren. Siddiq war mein Freund. In gewisser Weise ist er es immer noch, obwohl er mich verraten hat, verraten musste. Wir hatten uns ineinander verliebt. Also nicht nur ich mich in ihn, sondern er sich auch in mich.«

Bartholomäus alias Nimr machte eine Pause. Er hatte seine Augenlieder weiterhin geschlossen, trotzdem schien er etwas zu sehen. Eine Szene aus längst vergangenen, glücklichen Tagen. Ein versonnenes Lächeln umspielte seine Lippen: »Zuerst waren wir nur Kinder, die sich aus der Nachbarschaft kannten. Siddiqs Familie handelte mit Gewürzen, meine Familie waren Goldschmiede. Wir lernten uns beim Spielen in den Straßen unserer Stadt kennen. Es war einfach schön, einen guten Freund zu haben. Aber wir wurden älter. Irgendwann mit 15 entwickelten sich dann etwas andere Gefühle. Ich kann mich immer noch daran erinnern, wie samtig sich seine Haut anfühlte. Ja, wir haben miteinander geschlafen. Siddiq und ich haben uns wirklich geliebt.«

»Aber ich dachte ...«, fing Marcus an.

»Nein, Siddiq hat mich nie verraten. Yussef hat uns erwischt. Wir warn gerade in unserem Versteck miteinander zugange. Ich habe keine Ahnung, wie Yussef uns entdecken konnte. Jedenfalls platzte er genau in dem Moment dazwischen, als ich gerade in Siddiq eingedrungen war. Yussef ist ausgerastet. Er zog ein Messer und wollte seinen Bruder an Ort und Stelle die Kehle durchschneiden. Ihr müsst das verstehen. In den Augen seines Bruders hatte Siddiq das schlimmste Verbrechen begangen, dass man begehen konnte. Er hatte sich zur Frau gemacht. Ich habe das in 2000 Jahren nicht verstanden, was das bedeuten soll. Yussef tobte wie wahnsinnig. Er hielt das Messer schon in der Hand und wollte seinen eigenen Bruder regelrecht abschlachten. Wie gesagt: Wir waren 17, wir waren naiv, wir waren verliebt und blind. Ich dachte nicht nach, ich wollte nur, dass er Siddiq nichts antat. Also ging ich dazwischen und schrie, ich hätte Siddiq gezwungen. Mein Gott war ich blöd!«

Bruder Bartholomeus seufzte erneut. Er zog ein Gesicht, als wenn er auf eine Zitrone gebissen hätte. Die Erinnerungen waren wohl recht ambivalent. Nach einer kleinen Pause, in der er Kraft zu sammeln schien, erzählte er, was anschließend geschah. Yussef war ihm Wahn. Die Ehre seines Bruders, seiner ganzen Familie war beschmutzt. Yussef fühlte sich persönlich dermaßen herabgesetzt, dass es für ihn nur eine Lösung gab und dabei musste Blut fließen. Nimr hatte mit seiner selbstlosen, aber genau so dummen Behauptung, er hätte Siddiq gezwungen, Yussef für seine bigotte Moral und verquere Vorstellung von Ehre einen verlogenen Ausweg gefunden. Nimr sollte dran glauben.

Yussef stieß Nimr hinweg, packte seinen Bruder und riss ihn mit sich. Benommen und heulend nahm Nimr seine Sachen und irrte in der Stadt umher. Als er nach Hause kam, wurde er bereits von bewaffneten Männern erwartet.

»Vater!«, fing Nimr an.

Statt zu antworten, spuckte sein Vater nur vor ihm auf die Erde und wandte sich ab. Ehre, Ehre und nochmals Ehre. Schneller als man gucken konnte, hatte man sich bereits auf eine Verurteilung von Nimr geeinigt. Er hatte es ja selbst zugegeben. Dafür, dass er Siddiq zu Abartigkeiten gezwungen hat, sollte er gesteinigt werden. Um die Schande, die Nimr über seine Familie gebracht hatte, wieder abzuwaschen, erklärte Nimrs Vater, dass er keinen Sohn mehr hätte und warf auf der Richtstätte den ersten Stein.

Und Siddiq? Seine Familie verabreichte ihm eine intensive Gehirnwäsche. Man redete ihm ein, dass Nimr ihn verführt hätte. Nach dessen gerechter Hinrichtung würde man Siddiq sofort verheiraten, um aller Welt deutlich zu machen, dass er ein richtiger Mann sei. Natürlich müsse auch er beweisen, dass er mit Nimr freiwillig nichts zu tun hatte. Er sollte den zweiten Stein werfen.

»Das Letzte, was ich sah, als mich der zweite Stein traf, waren Siddiqs Augen und die Tränen, die in ihnen standen.«

Der Fluch der Wächter

Worin man etwas über die Ursprünge erfährt

»Und warum hast du dann ...«, Marcus stammelte.

»Diese Miniapokalypse ausgelöst? Es war ein Reflex. Meine Kräfte waren gerade dabei zu erwachen. Ich wusste ja selbst nicht, was da eigentlich in mir passierte. Außerdem verstand ich nicht, warum mich plötzlich alle hassten, wofür man mich zum Tode verurteilt hatte.«

Wir schwiegen. Was Bruder Bartholomäus alias Nimr erzählte, war bewegend. Die erste Liebe seines Lebens sollte ihm selbiges Kosten und stattdessen kostet sie das Leben seiner Liebe. Es war nicht gerecht. Es war eine schreiende Ungerechtigkeit. Trotzdem blieb mir eine Sache unklar.

»Was hat die Geschichte mit Escobar zu tun.«

Nimr/Bartholomäus nickte anerkennend: »Ja was ... Nun, Escobar ist ein direkter Nachfahre Yussefs. Ich teleportierte mich zwar aus der unmittelbaren Gefahrenzone, aber beiweiten nicht aus der Geschichte. Ich wurde gesehen und wiedererkannt. Yussef erfuhr davon und machte sich meine Verfolgung zu seiner Lebensaufgabe.«

»Aber zwischen Yussef und Escobar müssen doch mehr als hundert Generationen liegen. Wie kann seine Familie dich immer noch verfolgen? Und warum verfolgt er Bruder Marcus?«

»Escobars sterbliche Hülle mag sogar zweihundert Generationen von Yussef entfernt sein. Aber in ihm steckt immer noch ein Teil von Yussefs Geist.«

»In Escobar befindet sich ein Teil von Yussef?«

»Ja, über die Jahre ist aus seiner persönlichem Rache mir gegenüber, ein Kreuzzug gegen das geworden, wofür ich stehe.«

Ich ahnte, worauf das hinauslief: »Auf alle übersinnlich begabte Menschen. Wie nanntet ihr sie noch gleich, Telepathen?«

Marcus und Bruder Bartholomäus alias Nimr sahen niedergeschlagen zu Boden: »Ja.«

»Darf ich eine Frage stellen?«

Die beiden nickten.

»Sind alle ... Telepathen so wie wir? Sind wir alle mehr am eigenen, als am anderen Geschlecht interessiert?«

»Ja, die meisten. Zumindest diejenigen, von denen ich weiß. Und auch diese Menschen verfolgt Escobar. Er nennt Sie Sodomiten und verfolgt sie, wo er ihnen habhaft werden kann. Schließlich war es die Liebe zwischen seinem Bruder und mir, die die ganze Tragödie erst ausgelöst hat.«

Bruder Bartholomäus erzählte mir dann, wir er seine Kräfte entdeckt und beherrschen gelernt hatte. Niemand war da, der ihm dabei helfen konnte. Er war gerade einmal 17 Jahre alt und schon ein Verstoßener in seiner Heimat. Also machte er sich auf in die weite Welt. Er reiste nach Indien, kam nach China und sogar nach Japan. Er lernte, eignete sich soviel Wissen an, wie es gerade noch ging. Er trainierte seine Fähigkeiten, lernte sie zu kontrollieren und zu beherrschen. Er wurde reifer und auch ein wenig weiser.

Doch eine Sache war merkwürdig. Obwohl seid dem Ereignis Jahre vergangen waren und Nimr zwischenzeitlich 27 Jahre alt war, sah er immer noch aus, wie ein 17 jähriger Junge. Er schien nicht zu altern.

Mit 30 Jahren, er sah bestenfalls aus wie 20, kehrte er in seine Heimat zurück. Da zwischenzeitlich 13 Jahre vergangen waren, dachte Nimr nicht, dass ihn jemand wiedererkennen würde. Außerdem war er durch seine Reisen und mit Hilfe seiner Begabung für damalige Verhältnisse reich, wenn nicht sogar wohlhabend geworden. So kehrte er nicht als Nimr, sondern als fremdländischer Edelmann in seine Heimatstadt zurück. Alles erinnerte ein wenig an Geschichten aus 1000 und einer Nacht, nur das Schahrasad fehlte.

Zuerst erkannte ihn niemand. Man war allgemein sehr höflich und zuvorkommend. Nimr erkundete die Stadt. Während seiner Abwesenheit schien sich wenig verändert zu haben. Er ließ sich in einem Teehaus nieder und lauschte den Gesprächen. Nach einer Weile wurde er aufgefordert von sich zu erzählen, was Nimr auch tat. Er erzählte etwas von seinen Reisen. Nichts, was irgendwie Verdacht erregen würde. Hauptsache, man fand, dass er ein interessanter, aber harmloser Erzähler war. Nach einer guten Stunde war die Gesellschaft im Teehaus soweit aufgetaut, dass sich Nimr traute eine etwas gewagtere Frage zu stellen.

»Ich bin fremd hier, deswegen verzeiht bitte meine Neugier, aber was ist das für ein seltsamer Ort vor der Stadt. Es sieht aus, als wenn die Gegend aus Glas sei.«

Kaum hatte er die Frage gestellt, verfinsterten sich die Minen seiner Gesprächspartner. Im Teehaus wurde es still. Niemand sagte mehr etwas.

»Hab' ich etwas falsches ...«

»Nein!«, tönte eine kräftige Stimme aus dem Hintergrund. Sie gehörte einem alten Mann, der sich bisher zurückgehalten hatte, etwas zu sagen. Jetzt erhob er seine Stimme.

»Es ist ein Mahnmal!«, seine Stimme bebte. Mit seiner rechten Hand zeigte er in die ungefähre Richtung der alten Richtstätte. »Es erinnert uns an unsere Schande!«

In knappen Worten erzählte er, was damals vor 13 Jahren geschehen war. Sie hatte wenig mit dem zu tun, was Nimr erlebt hatte. Immerhin stimmten die Personen, wenn auch von der Liebesgeschichte keine Rede war. Wenn man die Erzähler glaubte, dann hätte damals ein Dämon Besitz von einem Jungen ergriffen. Bei dem Versuch, ihn von dem Dämon zu befreien, hätte dieser tausende Männer getötet, das Land verbrannt und wäre dann geflüchtet.

»Aber der ehrwürdige Yussef verfolgt ihn! Er hat sein Leben der Jagd nach dem Dämon gewidmet, um uns von der Schande, sich gegen ihn nicht gewehrt zu haben, reinzuwaschen.«

Danach gab es nur noch Schweigen. Nimr bedankte sich für die Bewirtung und angenehmen Gespräche und verabschiedete sich. Yussef jagte ihn also. Konnte er ihm vielleicht gefährlich werden? In den nächsten Tagen stellte Nimr diskrete Nachforschungen an. Dabei erfuhr er, dass Yussef in der Tat die Jagd nach ihm aufgenommen hatte.

Yussef war zu seinem Jäger geworden.



»Ich verstehe immer noch nicht. Wie kann Yussef jetzt ein Teil von Escobar sein?«

»Was macht ein guter Jäger?«, fragte Marcus und beantworte auch gleich seine Frage selbst: »Er versetzt sich in die Situation seiner Beute. Yussef versuchte, alles über Nimr zu erfahren. Es dauerte nicht lange und er erfuhr von der Telepathie. Von diesem Wissen war es nur noch ein kleiner Schritt, bis er die andere Sache entdeckte?«

»Das wir uns meistens in das eigene Geschlecht verlieben.«

»Ja, genau! Yussefs Hass auf Nimr beruht auf einer Selbstlüge. Sein Bruder, Siddig, war ihm eigentlich immer egal. Aber dass er die Familienehre besudelte, war unerträglich. Was für eine Doppelmoral. Für alles, was geschehen ist, gibt Yussef Nimr die Schuld. Und da sein Hass so tief sitzt und auf unehrlichen Motiven basiert, wuchs er und fraß ihn auf. Mit der Zeit reichte der Hass auf Nimr nicht mehr aus. Yussef begann alles, für was Nimr stand, zu hassen. Die Telepathie und die Liebe zwischen Männern. Er hasst uns! Uns alle! Und er bedient sich unserer Fähigkeiten. Ja, Yussef ist inzwischen ein Telepath.«

»Aber er ist doch nicht ...«

»Er war es nicht! «, korrigierte Marcus. »Es war in Alexandria. Yussef hatte dort einen Telepathen ausfindig gemacht, der Informationen über Nimr besaß. Nimr hatte wenige Monate vorher in der Bibliothek von Alexandria nach bestimmten alten Texten geforscht, die in Zusammenhang mit Telepathie standen. Dabei war er auf Echnat, so der Name des anderen Telepathen, aufmerksam geworden. Die beiden hatte eine heftige Beziehung zueinander. Das erste Mal seid Siddiqs Tod, war Nimr bereit, wieder eine Beziehung einzugehen.

Yussef erfuhr von Echnat und begab sich ebenfalls nach Alexandria. Er fand ihn, folterte ihn und bekam die Information, die er suchte. Danach schlachtete er den armen Jungen, er war etwa 22 Jahre alt, einfach ab. Dessen Kräfte waren bei weiten nicht so stark wie die von Nimr und auch von völlig anderer Art, aber sie reichten, dass sich Echnat retten konnte.

Sein Geist flüchtete in Yussefs Körper und wurde ein Teil von ihm. Seid dem, so sagt man, kann Yussef dessen Kräfte nutzen. Er kann den Geist des Jungen dazu zwingen, dass zu tun, was er will.«

»Das ist ja grausam. Der arme Junge ist im Körper seines Mörders gefangen?«

»Ja. Es ist sogar noch schlimmer. Yussef empfindet natürlich auch dass, was der Junge empfindet. Lust auf die Körper anderer Männer. Schlimmer noch, er empfindet sogar Echnats Liebe für Nimr. Für Yussef ist dies gleichzeitig die Quelle seiner Qualen und die Quelle seiner Energie. Sie schürt seinen Hass und erneuert ihn, Tag für Tag.«

»Wenn Ihr das wisst, wir könnt ihr so etwas zulassen?«

»Glaubst du, dass ist leicht? Es war das erste Mal, dass ich mich wieder auf jemanden einließ. Und was hat es gebracht? Ich habe Verderben über denjenigen gebracht, den ich liebte. Er muss bis heute mit ansehen, miterleben, wie Escobar Menschen wie uns jagt und zur Strecke bringt. Es ist die Hölle auf Erden und ich bin dafür verantwortlich!«

»Als ich damals von Echnats Tod erfuhr«, fuhr Bartholomeus fort, »entschied ich mich gegen Escobar vorzugehen. Leider viel zu spät. Yussef war nicht mehr alleine. Er hatte Verbündete gefunden. Menschen, die Telepathen und Sodomiten als Bedrohung empfanden. Man kann sich leicht denken, dass er nicht lange suchen musste. Die Menschen lassen sich sehr leicht gegen alles Aufbringen, dass sie nicht kennen oder verstehen. «

»Und was hast du getan?«

»Echnats Schicksal sollte sich niemals wiederholen. Zuerst war ich wochenlang wie gelähmt. Ich machte mir Vorwürfe, dann begriff ich, was ich tun musste. Ich musste andere Telepathen finden. Ich musste sie in einer Gemeinschaft vereinen. Ich musste dafür sorgen, dass niemals wieder ein Telepath Yussefs Häschern unvorbereitet gegenübertreten muss. Und so entstanden die Wächter, ein Geheimbund von Telepathen. Wir suchen nach schlafenden Talenten, so wie du eins bist, wir kümmern uns um sie, bilden sie aus und geben ihnen genug Wissen, dass sie in dieser feindlichen Welt überleben können.«

»Ausbilden?«, ich musste lachen, auch wenn es ein wenig sarkastisch war. »Für mich wohl ein wenig spät. Escobar alias Yussef steht bereits vor der Tür!«

»Ausbilden!«, entgegnete Bartholomäus und warf Marcus einen verschmitzten Blick zu. Statt zurückzugrinsen, sah Marcus eher traurig aus: »Ich halte deine Idee nach wie vor für Wahnsinn.«

»Es ist die einzige Lösung! Du weißt es! Du hast Benedict selbst vorgeschlagen. Er ist der Richtige. Außerdem passt ihr zwei wirklich gut zusammen. Denk nur an die Zeitkapsel, die das Buch enthielt. Ihr habt die Möglichkeit der ganzen Geschichte ein Ende zu setzten.«

Marcus seufzte, entgegnete aber nichts. Er sah nur traurig zu Bartholomäus hinüber.

Wieder hatte ich den Eindruck, dass ich bei dieser Unterhaltung keine Rolle spielte. Allerdings musste ich nicht erneut unhöflich werden und mich in Erinnerung bringen. Marcus bemerkte meine Unzufriedenheit.

»Du fragst dich, worum es eigentlich geht. Was dieser ewige Kampf zwischen Nimr und Yussef oder Bartholomäus und Escobar mit dir, mir oder dem Rest der Welt zu tun hat. Nun, eins müsste dir inzwischen klar sein. Escobar wird dich töten, wenn er kann. Du bist ein Telepath und du liebst Männer, jede dieser Eigenschaften für sich, sind für Escobar ausreichend, um jemanden auf den Scheiterhaufen zu bringen. Das für sich alleine, müsste dir reichen, dich uns anzuvertrauen. Sollte es nicht reichen, gibt es noch einen guten Grund.«

»Das Buch aus der Zukunft.«, ergänzte ich.

»Richtig. Du bist nicht einfach nur ein Telepath. Normale Telepathen sind ganz normale Menschen. Und als normale Menschen leben sie genau so lange wie diese. Du bist etwas anderes. So wie Bartholomäus, ich und einige wenige andere auch. Denk nur daran, aus welcher Zukunft das Buch kommt. Wenn Escobar das erkennt, wird er dich ewig jagen. Er wird Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um dich zur Strecke zu bringen. Du hast gefragt, was dies für ein Raum ist. Es ist eine Zuflucht. Ich sagte schon, dass es weitere Zugänge gibt. Es gibt aber auch noch weitere Räume. An diesem Ort bilden wir andere Telepathen aus. Sie werden heimlich hierher gebracht, leben und studieren hier. Hier lagert auch unser Archiv mit allen Aufzeichnungen. Und all dies, haben wir Bruder Bartholomäus zu verdanken.«

»Ich habe diese Anlage bauen lassen. Damals, vor etlichen hundert Jahren, war ich noch römischer Garnisonskomandant. Mir wurde klar, dass wir einen festen und geheimen Versammlungsort brauchten.«

»Sehe ich das richtig?«, fragte ich nach. »Obwohl ich Escobar nie etwas getan habe, wird er mich verfolgen. Wie soll das geschehen? Er hat vorhin nicht bemerkt, dass ich ein Telepath bin, obwohl ich direkt mit ihm zusammengestoßen bin.«

»Momentan ist er auf mich fixiert«, antwortete Bruder Bartholomäus. »Er ist abgelenkt, weil in ihm das Jagdfieber brennt. Endlich steht er seinem Ziel, mich zur Strecke zu bringen, unmittelbar bevor. Aber wenn er mich hat, wird er sich beruhigen. Er wird klarer denken und deine Präsenz bemerken. Und wenn nicht, gibt es da immer noch deinen besonderen Freund.«

»Bruder Nicolas!«, fiel es mir wir Schuppen aus den Haaren.

»Du hast ihm einen Korb gegeben. Nicolas wird dich ohne zu zögern ans Messer liefern, insbesondere, weil er damit seinen eigenen Hals retten kann. Schließlich mag er auch gerne Männer.«

»Und wie kommen wir aus der Sache heil wieder raus?«

Bruder Bartholomäus schaute mich ernst an: »In dem wir Escobar geben, was er am meisten begehrt. Mich!«

»Aber er wird dich töten!«

»Ich weiß!«

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