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Blaues Licht

Teil 2

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkungen

1. Blaues Licht-- Eine schwule Fantasy/Mystery-Story -- geht in die zweite Runde. Ehrlich gesagt, ich war über das Feedback angenehm überrascht. Es gibt also tatsächlich Leute, die meine krude Fantasie mögen. Hm, ihr habt einen merkwürdigen Geschmack. Danke an alle, die mir gemailt habe.

2. Wie immer gilt, dass diese Story im Hier und Jetzt, spielt, die Stadt, in der alles passiert, kann irgendeine Stadt sein und außerdem ist die Geschichte natürlich frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden, toten oder untoten Persönlichkeiten in dieser oder jeglicher anderen Realität wären rein zufällig und Folge unplanmäßiger Quantensprünge.

3. Wer darauf wartet, wird enttäuscht sein, aber in diesem zweiten Teil gibt's leider immer noch keinen Sex, na ja, fast keinen.

4. Ich freu mich, wie immer, über Feedback. Ob nun gut oder schlecht ist dabei wirklich egal. Mails sollten eigentlich immer beantwortet werden, in Zweifelsfällen ist mein Provider Schuld, dass ich eine Mail nicht erhalten habe.

5. Auch für dieses Werk gilt: Blaues Licht ist exclusiv für Nickstories geschrieben.

Zusammenfassung Teil 1

Tobi, ein Junge, 17 Jahre alt, schüchtern, einsam, verunsichert und mit einer fatalen Obsession gesegnet: Er schaut anderen Jungs nach. Und genau dadurch begann seine Reise in ein anderes Leben. Denn sein bisheriges Leben war eher traurig. Ein Einzelgänger. In der Schule entweder ignoriert oder abgelehnt. Doch dann änderte sich alles. Ein Freund, Michi, genaugenommen Tobis einziger Freund, droht bei einem Autounfall tödlich zu verunglücken. Aber genau das passierte nicht. Stattdessen erlebt Tobi etwas Merkwürdiges: Zeitdehnungen, Realitätsveränderungen. Michi überlebt, obwohl dies eigentlich unmöglich war.

Und dann erschien Ralf. Ralf, ein Traum von einem Jungen. Ein Typ, so gänzlich anders als Tobi. Selbstsicher, präsent, charismatisch. Und ausgerechnet dieser Typ beginnt eine Freundschaft zu Tobi aufzubauen und stürzt ihn damit in arge Konflikte. Denn Tobi hatte sich nämlich in Ralf verliebt. Aber leider steckte Tobi noch mitten in seinem Coming Out.

Es passieren weitere merkwürdige Dinge: Albträume mit unheimlichen dunklen Erlebnissen, aber verdrängt und schließlich vergessen. Tobi fasst einen Entschluss. Michis Beinahetod war der Auslöser. Tobi entschied sich Michi zu gestehen, dass er schwul ist und landet damit einen Volltreffer. Michi nimmt das Geständnis absolut positiv auf. Im Gegensatz zu Tobis Vater, der rastet in einem seiner üblichen Streitfälle mit Tobi aus und verlässt das Haus. Seine Mum hingegen nimmt die Sache relativ cool auf.

Ralf, der Traumschnuckel, benimmt sich merkwürdig. Er sendet mehrdeutige Signale, die Tobis Gefühlsleben verwirren. Aber zwischenzeitlich bekommt Tobi ganz andere Probleme. Nils, ein Arschloch vor dem Herrn, versucht Tobi abzuzocken, doch das geht schief.


Eine Unterweisung in politischer Korrektheit

Worin unser Held in den Augen seines Traumprinzen ertrinkt,
um anschließend auf den harten Boden der Wirklichkeit befördert zu werden.

»Ah, weilst du wieder unter uns?«

Der Anblick konnte schöner nicht sein. Ich wusste zwar nicht, wie es dazu kam, dass sich Ralf direkt über mich beugte und mit seinem schönen Gesicht mein ganzes Blickfeld ausfüllte, aber wenn's es nach mir ging, könnte es ewig so bleiben.

»Hi, ähm, was ist eigentlich passiert?«, ich hatte den Faden verloren. Mir brummte der Schädel, wie der Trafo meiner alten Spielzeugeisenbahn. Ich fasste mir an den Kopf, drückte etwas dagegen, kniff die Augen zusammen und atmete ein paar Mal tief ein und wieder aus.

»Erinnerst du dich nicht? Nils und Carsten?«, Ralf lächelte, sah aber ausgesprochen besorgt aus. Verflixt, das absolut faszinierende an diesem Jungen, neben seinem Traumkörper, seinem süßen Gesicht, den sinnlichen Lippen und der niedlichen Nase, sind seine Augen. Sie scheinen ständig zu funkeln, so als wenn tief in ihren Inneren jemand in Zeitlupe eine Wunderkerze abbrannte.

Es war komisch, aber das Funkeln schien seine Farbe verändern zu können. Im Moment war es mehr ein dunkles, langsames Rot, wie in einem Vulkan.

»Doch, ich erinnere mich. Oh, mein Schädel brummt so laut. Nils wollte mich abziehen, wohl auch schlagen. Aber das ging irgendwie daneben. Wo bin ich eigentlich?«

Erst jetzt merkte ich, dass ich nicht mehr in dem Klassenraum war, in dem das unangenehme Ereignis mit Nils stattgefunden hatte. Ich lag. Ich lag auf einer Liege im Raum für medizinische Notfälle, dem Arztzimmer der Schule (Der Schulzahnarzt ließ grüßen!).

»Im Arztzimmer. Du bist umgekippt. Nachdem ...«

Ja, nachdem ... ich wusste, was passiert war. Ich war schließlich dabei gewesen. Es war das dritte Mal, dass ich dieses merkwürdige Erlebnis gehabt hatte und mich aus dem normalen Zeitablauf ausgeklinkt hatte. Nils wollte mir seine Faust in den Magen rammen, ich plöppte aus dem normalen Zeitablauf, machte einen Schritt zur Seite und Nils rammte stattdessen die Wand.

»Nils?«

»Wurde soeben mit einem Krankenwagen abtransportiert. Der Arzt vermutet einen komplizierten Trümmerbruch der rechten Hand. Ob er sie jemals wieder normal bewegen kann ...«

Wenn ich nicht schon gelegen hätte, hätte ich mich spätestens jetzt hinlegen müssen. Indirekt für eine bleibende Verletzung von Nils verantwortlich zu sein, hatte ich auf keinen Fall beabsichtigt. Ich hatte eigentlich gar nichts beabsichtigt sondern mich nur vor einen Schlag in den Solar Plexus in Sicherheit gebracht. Ganz instinktiv.

»Das wollt' ich nicht. Glaub' mir.«

Ralf sah mich an. Das Funkeln wechselte von rot auf blau-weiß. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Die Grundstimmung war weiterhin besorgt, aber ich meinte, einen Anflug von Erleichterung zu entdecken. Und wieder hatte ich das Gefühl, Ralf würde in meinem Gesicht lesen, wie in einem Buch.

»Ich weiß.«

»Und was ist mit mir? Wieso bist du hier? Wie geht's weiter?«

»Das sind ja gleich drei Fragen auf einmal. So was geht ja nun wirklich nicht.«, Ralf lachte.

»Also, erst einmal, wenn du dich wieder fühlst, kannst du gehen. Einer der Sanitäter hat dich untersucht und gemeint, du wärst völlig in Ordnung. Nur eine kleine Ohnmacht. Eine Reaktion auf den Schreck. Deine zweite Frage ist auch ganz einfach zu beantworten. Da du nur zwei Freunde hast, nämlich Michi und mich, und Michi jetzt Unterricht hat, während ich gerade eine Freistunde habe, haben wir entschieden, dass ich über dich wache. Wie es weiter geht ... Nun, das ist eine wirklich spannende Frage ...« Intensives dunkelgrünes Funkeln.

»Du kennst Michi?«, da mir seine letzte Antwort nicht sonderlich gefiel und mir Angst machte, überging ich sie und hängte mich an das Nächstliegende.

»Seit eben. Er kam gerade in den Klassenraum, als du zu Boden gegangen bist. Ein wirklich netter Kerl, aber etwas neugierig. Er wollte wissen, ob ich eine Freundin habe. Kannst du dir vorstellen, warum er das wissen will?«

»Öhhhh, nöööhhhh.«, ich betrachtete meine Fingernägel. Hm, müssten auch mal wieder geschnitten werden. »Und was hast du geantwortet?«, oops, mein Mund war etwas schneller als mein Kopf.

»Äh, ja, also ... Ich sagte: ,Nein, ich bin solo und habe keine Freundin.' Worauf Michi irgendwas von ,Perfekt!' murmelte. Kannst du was damit anfangen?«

Das dunkle, grüne Funkeln durchbohrte mich, als wenn es die Visualisierung von Ralfs letzter Frage war.

»Vielleicht ...«, ich musste Ralfs Blick ausweichen. Bei diesen Augen hätte er sonst alles in meinem Gesicht lesen können.

Erstaunlicherweise ging er nicht weiter darauf ein. Stattdessen legte er mir seine Hand auf die Stirn. Im ersten Moment war ich etwas verblüfft und sprachlos. Im zweiten Moment überkam es mich wie ein Schwall positiver Lebensenergie. Im dritten Moment bekam ich eine Erektion. Öhm, peinlich!

»Kein Fieber! Ich glaub du kannst aufstehen. Versuchs mal.«

Stimmt, ich lag immer noch auf der Liege. Langsam richtete ich mich auf. Es ging. Das Brummen in meinem Kopf war plötzlich weg und ich fühlte mich wieder fit. War es Ralfs Hand gewesen oder hatte ich mich nur einfach wieder berappelt. Ich wusste es nicht.


»Wo steckt er?«, die dröhnende Stimme unseres Direx zerriss die Stille des Arztzimmers. So groß war der Raum nun wirklich nicht, dass man mich übersehen konnte. Es war eher ein kleines Zimmer, aber unser Direx ist so ein Typ, der seine Stimme als Vorauskommando benutzte.

»Ah, Tobias, da sind Sie ja. Wie ich sehe, geht es Ihnen wieder gut. Na, dann können Sie mir ja mal genau erklären, was eigentlich vorgefallen ist.«

Oberstudiendirektor Heiner W. Baumann war ein Mann mittleren Alters. Groß, dick, laut und fast kahl. Es war absehbar, dass er bald ganz kahl sein würde. H.W.B. fuhr sich ständig durch den Restbestand seiner Haarpracht.

Breitbeinig und fordernd hatte sich unser Bildungsanstaltsleiter vor mir aufgebaut und erwartete eine Antwort.

»Hm, ja also ... Ich weiß nicht genau ... Ich muss Nils wohl irgendwie verärgert haben und da ist er auf mich losgegangen ...«

Sollte ich ihm erzählen, dass Nils in Wirklichkeit Schutzgeld von mir erpressen wollte? Würde er mir das glauben? Schuldirektoren können ja so was von ahnungslos sein.

»Hm, Carsten hat aber etwas ganz anderes gesagt. Er behauptet, du hättest Nils provoziert und angegriffen. Er hätte sich dann nur verteidigt, dabei hast du ihn dann gegen die Wand geschleudert. Also, was sagst du dazu?«

Was soll man dazu sagen? Natürlich würde Carsten nicht die Wahrheit sagen. Da wäre er ja schön blöd.

»Carsten lügt!«

Baumann musterte mich.

»Tobias, Sie sind in dieser Schule bisher nicht sonderlich negativ aufgefallen. Durchschnittliche Leistungen. Aber Sie sind ein Außenseiter, schon all die Jahre, die wir uns kennen ...«

Ich wusste gar nicht, dass mich der Direx kannte. Ich hatte noch nie Unterricht bei ihm gehabt. Um so verblüffter war ich, dass er offenbar recht viel über mich wusste.

»... Sie können oder wollen sich nicht in unsere Schulgemeinschaft integrieren. Nun gut, wir werden Sie dazu nicht zwingen, aber wenn Sie jetzt beginnen sollten, Unruhe zu stiften und gewalttätig zu werden, werden wir, das heißt, werde ich, entsprechend handeln müssen! Sie wissen, dass wir erst letztes Jahr unsere Null-Toleranz-Campagne gegen Gewalt in der Schule gestartet haben.«

Wie bitte? Ich sollte der Troublemaker sein? Nur weil ich völlig unfreiwillig der Außenseiter war, soll ich die Ursache für die Gewalt an unserer Schule verantwortlich sein? Scheiße! Ich war doch das Opfer! Direktor Baumann stellte alle Tatsachen auf den Kopf. Ich musste das gerade rücken.

»Ok, Sie wollen die Wahrheit wissen? Dann sollen Sie die Wahrheit bekommen. Nils und Carsten tyrannisieren systematisch Schüler und erpressen Schutzgelder. Wer nicht zahlt, landet mit dem Kopf im Klo, im Pinkelbecken oder wird gleich zusammengeschlagen. Nils hat von mir 100,-DM im Monat verlangt. Und um deutlich zu machen, dass er es ernst meint, wollte er mir in den Magen schlagen. Ich wich seiner Faust aus. Das wars!«

War ich eine Kellerassel, eine Kakerlake oder eine haarige Spinne? Direktor Baumann sah mich angewidert und entgeistert an.

»Das sind sehr schwerwiegende Anschuldigungen, die Sie da erheben. Ich hoffe, Sie können das auch beweisen.«

»Beweisen? Glauben Sie Nils gibt den Leuten, die er erpresst, eine Quittung für das Schutzgeld?«

Der Bildungsvermittler schüttelte seinen Kopf.

»Nein, nein, nein! Das ist absurd. Schutzgelderpressung an meiner Schule? Wir sind hier ja nicht in Amerika. Tobias, lassen Sie sich etwas besseres einfallen, als solch eine Räuberpistole. Schutzgelderpressung. Lächerlich. Die Eltern von Nils und Carsten sind sehr angesehene, wohlhabende Leute. Die beiden hätten es überhaupt nicht nötig, Schutzgelder zu erpressen. Ich rate Ihnen, solche abenteuerlichen Anschuldigungen nicht zu wiederholen. Wenn es etwas gibt, was wir an dieser Schule genau so verabscheuen wie Gewalt, dann ist das Nestbeschmutzung!«

»Aber ...«

»Nein! Ich will davon nichts mehr hören! Sie möchten es doch als Schüler an dieser Anstalt zu etwas bringen, oder? Dann überdenken Sie noch mal ihre Haltung gegenüber Ihren Mitschülern und lernen, sich in unsere Gemeinschaft zu integrieren. Nun, dass mit Nils war wohl ein bedauerlicher Unfall. Ein Missverständnis. Belassen wir es dabei. Tobias, Sie sind für den Rest des Tages vom Unterricht entbunden. Ralf, Sie auch. Bringen Sie bitte Tobias nach Hause und reden ihm etwas zu. Vielleicht hört er ja auf Sie!«

Mit diesen Worten drehte sich Oberstudiendirektor Heiner W. Baumann um, rauschte davon und ließ Ralf und mich mit offenem Mund stehen.

»Ralf, kneif mich mal. Hab' ich das eben wirklich erlebt? Ist das eben wirklich passiert?«

Ralf tat wie ihm befohlen und kniff mich. Es tat weh.

»Tobi, du hast nicht geträumt! Es ist wirklich passiert. Komm, ich muss hier raus oder mir platzt gleich der Kragen!«

Ralfs Augen

Worin Tobi Überlegungen über das Farbspiel von Ralf Augenfarben und Wasserspiele anstellt.
Anschließend werden interessante Überlegungen zu Ralfs Zukunft angestellt, die sich aber in schwarzen Flecken verlieren.

»Stimmt das? Das mit dem Schutzgeld?«, Ralf brachte mich tatsächlich nach Hause.

»Ja. Nils und Carsten sind eine der Gruppen, die damit ihr Taschengeld aufbessern. Es gibt noch ein paar mehr. Man hat sich die Schülerschaft schön untereinander aufgeteilt. Solange ich fleißig an Nils zahle, würden mich die anderen in Ruhe lassen. Ich bin dann Nils fester Kunde und bekomme tatsächlich Schutz.«

»Nettes Spiel ...«, Ralf konnte richtig zynisch sein. Nett!

»Ja, nicht war? Und ich Arsch habe Sand ins Getriebe gestreut. Toll, Nils oder Carsten werden sich rächen wollen und die anderen Gruppen werden sich ebenfalls um mich kümmern.«

»Nein, werden sie nicht.«, Ralf sprach ganz cool und sachlich.

»Werden sie nicht?«

»Ja, werden sie nicht!«

»Ähm, Ralf, könntest du das etwas näher erklären...«

»Oh, dass musst du schon selbst rausbekommen ...«, Grinsen und blau-weißes Funkeln. Ich musste mir unbedingt eine Tabelle anlegen. Mit zwei Spalten: Links Ralfs Augenfarben und rechts die dazugehörige Stimmung.

»Sag mal ...«, Ralf wechselte das Thema, »Was machst du eigentlich so nach der Schule?«

»Wie meinst du das?«

Oh, nein, Ralf setzte wieder sein unerträgliches, entwaffnendes, megageiles Lächeln auf: »Na, ich hab' dir doch erzählt, dass ich erst vor ein paar Tagen hier hergezogen bin. Ich kenn noch nicht viele Leute. Eigentlich nur dich ...«

»Sag' es doch frei raus. Du suchst Familienanschluss?«

»Ja, und?«

»Klar. Warum nicht. Ich denk, du kommst erstmal mit zu mir. Dann Essen wir was, danach können wir ja mal überlegen, was wir machen können. Würde mich nicht wundern, wenn Michi auch noch zu uns stößt. Du kennst ihn ja, dieses Skateboard mit dem hektischen kleinen Menschen oben drauf.«

Der Witz war blöd, aber Ralf lachte laut los. Ein herzhaftes, offenes Lachen. Häufig hat man das Gefühl, dass Leute nur aus Höflichkeit mitlachen, selbst wenn der Witz noch so schwach war. Aber Ralf lachte und steckte mich einfach mit an. Dieser Typ würde mich noch an den Rand des Wahnsinns bringen.

»Ich hätte da auch mal 'ne Frage. Treibst du eigentlich viel Sport? So wie du aussiehst, müsstest du eigentlich täglich in ein Fitnessstudio pilgern.«

Ralf schaltete von Lachen auf ein hintergründiges Lächeln zurück: » Nö, eigentlich mach ich nicht viel. Ist wohl genetisch bedingt. Ich war im Schwimmverein. Nix Spektakuläres. Nur so um fit zu bleiben. Aber du bist doch auch ganz gut gebaut, was machst du denn so?«

»Du wirst es kaum glauben. Ich schwimme. Und wie du, ebenfalls im Verein. Also, wenn du einen neuen Verein suchst ...«

Dass ich Schwimme war nur ein Teil der Wahrheit. Der andere Teil war, dass ich so ziemlich alle andere klassischen Sportarten absolut hasste, was von Seiten der Sportarten auf Gegenseitigkeit beruhte. Sie hassten mich auch. Insbesondere die Ballsportarten. Handball? Zupacken, wenn der Ball an mir vorbei war. Völkerball? Der erste der rausflog. Fußball? Wer mich in der Mannschaft hatte, hatte schon verloren. Noch Fragen? Keine? Gut anderes Thema.

Schwimmen und Tobi. Es war ein Versuch, den ich, oder genau genommen meine Eltern mit mir, bereits zu Grundschulzeiten unternommen habe. Seitdem war ich dabei. Wasserfreunde Blau-Weiß war mein Verein. Sehr pragmatisch orientiert. Kein totaler Leistungsdrill, aber auch keine Schlaffiveranstaltung. Unser Trainer, der gerade mal fünf Jahre älter war als ich, verstand sein Geschäft und wusste, dass man auch Spaß haben muss. Wir waren echt motiviert und hatten es mit unser 4x50 Meter Staffel letztes Jahr bis zur Stadtmeisterschaft gebracht.

»Mann Tobi, dass ist ja super! Da muss ich ja nicht komplett mit wildfremden Leuten umgehen. Habt ihr denn noch Platz bei euch?«

»Kein Problem. Hängt natürlich von deinem Leistungsniveau ab. Aber wenn du sagst, dass du das regelmäßig gemacht hast, seh' ich da keine Hindernisse bei uns einzusteigen. Zumal Kai demnächst ausfällt. Der muss seine Zivistelle antreten.«


»Das ist also Ralf?«, zu meiner totalen Überraschung war meine Mama zu Hause und zu meinem größten Entsetzen konnte sie ihre Begeisterung für Ralf kaum unterdrücken. Nach unserem Gespräch und Michis Versprecher wusste sie, dass ich ziemlich heftig in Ralf verschossen war. Ich war gerade in die Küche gegangen, um Teller und Besteck zu holen, als meine Mutter mich ansprach. »Ja, das ist Ralf.«

»Uff! Michael hat Recht. Du hast wirklich einen guten Geschmack. Der könnte glatt eine Karriere als Supermodell machen. Und, was meinst du, ist er ...«

»Mama, sei bloß still und verplappere dich nicht. Übrigens meinst du das ernst mit dem Modeljob.«

Meine Mutter nickte, was soviel hieß, dass Ralf alle Chancen hatte, in den Prospekten und Zeitschriften der internationalen Modebranche zu landen. Ich muss erklärend hinzufügen, dass meine Mum in einer Werbeagentur als Unitdirector arbeitete. Übersetzt hieß das Abteilungsleiterin, klingt aber bei weiten nicht so gut. Werbung lebt vom schönen Schein und fängt bei sich selbst zuerst an. Das mit den Models ist so eine besondere Sache. Meine Mutter konnte immer nur den Kopf schütteln, wenn wieder mal ein kleines Mädchen (oder manchmal auch ein kleiner Junge) mit billigen Setcards versuchte, die Modelbahn einzuschlagen. Die Einzigen, die daran verdienten, waren zwielichtige Modellagenturen, die von den Kids und ihren allzu oft überambitionierten Eltern eine Riesen Stange Geld abzockten. Meine Mum hatte längst aufgegeben, den angehenden Jungmodels und ihren Erzeugern die Sinnlosigkeit ihres Unterfangens erklären zu wollen. Sie wollten es einfach nicht hören und gaben Gott und der Welt stellvertretend durch meine Mutter die Schuld und erklärten sie für inkompetent.

Leider sah die Realität einfach anders aus. Die meisten Mädchen waren zum Beispiel schlicht weg zu klein. Unter 178cm Körpergröße läuft fast nichts. Davon abgesehen hatten 95% objektiv eine diametral andere Vorstellung von Schönheit als die Kunden der Werbeagentur. Sie waren nicht notwendigerweise hässlich, obwohl das ab und an auch der Fall war. Aber meistens passten sie einfach nicht in die aktuellen Trends, sondern lagen typmäßig zwei bis drei Jahre hinterher.

Der Weg zum Modelberuf lief daher üblicherweise umgekehrt. Nicht die Models kamen zur Agentur, sondern die Agentur zu den Models.

Eine Methode stellt der Einsatz von Trendscouts dar. Sie wissen genau, was die Agenturen suchen und halten dementsprechend auf Straßen, Plätzen, Diskotheken usw. ihre Augen offen. Wenn was Passendes gefunden wird, werden Polaroids gemacht. Diese Fotos landen dann in der Werbeagentur, unter anderem auch auf dem Schreibtisch meiner Mutter. Meine Mum war berüchtigt für ihren Riecher und hatte schon mehrfach das richtige Gesicht zur richtigen Zeit präsentieren können. Richtig daneben lag sie noch nie.

»Keine Angst Sohn. Ich bin stumm wie ein Grab. Aber das mit den Models ... Du kennst doch diese skandinavische Modekette, für die wir arbeiten. Die mit den meistgeklauten Unterhosenplakaten ...«

Und ob ich die kannte. Ich hatte schließlich kräftig mitgeholfen, dass sie zu den meistgeklauten Plakaten wurden. Die Unterhosen hingegen waren ziemlich mittelmäßig.

»Na ja, die brauchen wieder ein unverbrauchtes frisches Gesicht, was eigentlich heißt einen neuen Körper, für die nächste Kampagne. Ich sage nicht, dass Ralf das wird, aber ich denke, er hätte gute Chancen. Was meinst du, ob ich ihn zu einem unverbindlichen Fotoshooting überreden kann?«

Ich zuckte mit den Schultern: »Warum nicht? Frag' ihn doch einfach.«


»Meint deine Mutter das ernst?«, Ralf saß auf einem Sessel in meinem Zimmer, ich hockte auf meinem Bett. Wir hatten gut gegessen und waren pappsatt. Während des Essens hatte meine Mutter Ralf ihre Idee unterbreitet.

»Todernst! Bei ihrem Job kennt sie keinen Spaß. Weißt du, warum Nike so schweineteuer ist, obwohl die in Malaysia für Pfennigbeträge produzieren? 80% gehen für Werbung und Aufbau des Markenimages drauf. Grade mal 20% gehen in Produktion, Transport und Logistik. Satte Gewinne fahren die natürlich auch noch ein. Also, wenn sie meint, dass du Chancen hättest, das nächste Unterhosenmodell zu werden, solltest du zugreifen. Es sei denn, du hast Probleme damit, dich halbnackt an jeder Bushaltestelle zu sehen.«

Got'cha! Das erste Mal, seit mir Ralf über den Weg gelaufen war, war er sprachlos, grinst nicht und wirkte nachdenklich. Er wiegte seinen Kopf hin und her, überlegte und meinte schließlich: »Ich weiß nicht recht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das möchte. Also, ich fühl mich echt geschmeichelt, aber ... Ich muss darüber nachdenken ... Ist das Ok?«

»Sicher, natürlich! Niemand zwingt dich zu irgendwas.«

Schade, ich hatte mich schon auf ein Plakat mit Ralf in Shorts gefreut. Seine schüchterne Zurückhaltung machte ihn nur noch attraktiver. Jeder andere hätte sich einen Arm ausgerissen, aber Ralf zögerte und schien, weder von Ruhm noch der lockenden Kohle, sonderlich beeindruckt zu sein.

In diesem Moment durchzuckte ein Blitz mein Zimmer. Meine Mutter stand in der Tür, grinste und hielt einen Fotoapparat in der Hand. Kaum hatte sie das erste Polaroid (Diese Profiversion, bei der noch eine Schutzfolie über den Fotos liegt) herausgezogen, schoss sie auch schon das nächste Bild.

»Mama, was machst du da?«

»Siehst du das nicht? Fotos! Ich denke, es könnte nicht schaden, wenn ich der Bildabteilung schon mal ein paar Probeaufnahmen mitbringe. Und lächeln!«

Meine Mutter schoss den ganzen Film leer. Ich beobachtete Ralf. Seine Augen funkelten dunkelrot. Er wirkte etwas verkrampft und ruckelte unsicher auf dem Sessel hin und her. Es schien, als wenn er sich in seiner Haut unwohl fühlen würde. Er lächelte zwar, aber das Lächeln wirkte gequält. Wen wunderst. Ich würde mich auch unwohl fühlen, wenn die Mutter eines Mitschülers einfach beigehen und mich von oben bis unten fotografieren würde.

»Was ist denn das?«, meine Mutter klang verwirrt. Sie hielt uns das erste Foto hin. Dort, wo eigentlich Ralf zu sehen sein musste, befand sich nur ein schwarzer verlaufener Fleck.

»War der Film noch frisch?«

Meine Mutter griff zu Packung und studierte das Haltbarkeitsdatum.

»Ja, noch über ein Jahr verwendbar. Außerdem lag er im Kühlschrank. Muss wohl ein Produktionsfehler sein. Mal sehen, wie die anderen Fotos geworden sind ...«

Bis auf ein Bild sahen alle Bilder gleich aus. Dort wo Ralf zu sehen sein musste, wurde er von einem schwarzen Fleck ersetzt. Es sah aus, als wenn die Farbschichten kaputt und die Chemikalien der Polaroids verlaufen waren. Ein einziges Bild war nicht schwarz. Aber auf diesem Bild war nicht Ralf, sondern nur ich zu sehen. Als letztes Bild hatte meine Mutter nämlich mich aufgenommen. »Und zum Schluss ein Bild von meinem Baby!«, wie sie meinte. Aber auch dieses Bild war nicht hundert Prozent in Ordnung. Es sah aus, als wenn ich eine Heiligenaura hatte. Fast wie bei diesen kitschigen Votivbildern, die man von diversen Heiligen kaufen kann, schienen goldene Strahlen von mir auszugehen. Der Film war eindeutig rottig. Was auch sonst?

»Das war wohl nichts! Der Film war wohl schlecht. Schade, ich hatte nur noch diesen eine Packung.«

Ich weiß nicht wieso, aber mir war plötzlich ziemlich unheimlich. Mir fröstelte und das nur, weil eine Packung Polaroids einen Produktionsfehler hatten. Es war helllichter Tag, die Sonne schien, aber mich durchwaberte eine Unruhe, wie ich sie nur nach einer Nacht mit Albträumen kannte. Ralf wirkte ebenfalls unrastig und beruhigte sich erst, als meine Mum mein Zimmer verlassen hatte.

Ich weiß nicht, welcher Teufel mich plötzlich ritt, aber mit einem Mal hatte ich meine kleine Digitalkamera in den Händen, zielte auf Ralf. Er hatte mich nicht bemerkt, sondern schaute verträumt aus dem Fenster. Ich drückte ab.

Piep! Das CCD-Sensorfeld wandelten die Photonen, die durch die Linse der Kamera gebündelt und auf der Matrix abgebildet wurden, in Ladungsmuster um. Der Prozessor tastete Zeile für Zeile der CCD-Matrix ab, digitalisierte sie und deponierte das Ergebnis auf der Speicherkarte der Kamera und ihrem kleinem Display.

Ich schaute auf das Display.

Ich schaute zu Ralf.

Ralf wandte seinen Kopf vom Fenster mir entgegen und nickte. Seine Augen funkelten Lavarot. Er sah traurig aus. Traurig und todernst. Ich wusste, dass ich blass wurde. So blass wie die Raufasertapete in meinem Zimmer. Ich wusste, dass der der Polaroidfilm keinen Fehler hatte. Ich wusste, dass sich mein Leben ändern würde. Radikal und unumkehrbar.

Der Bereich auf dem Bild, der Ralf zeigen musste, war absolut schwarz.

Blitz und Donner

Worin eine Naturgewalt bei unseren Freunden für eine nasse Hose sorgt
und man schließlich im Dunklen sitzt.

Ich wollte gerade etwas sagen, als Michi ins Zimmer platzte. Sofort kippte Ralfs Stimmung um. Er hatte sofort wieder das fantastischste Lächeln der Welt auf den Lippen. Ich legte die Kamera beiseite. Im gleichen Moment hatte ich das Bild und die Frage vergessen, die ich Ralf eben noch stellen wollte.

»Hi Junx, was liegt an?«

»Ich dachte wir gehen etwas raus. Sonnenbaden im Invalidenpark?«

»Tobi, hast du mal raus gesehen?«

»Ja, strahlender Sonnenschein bei 30 Grad.«

»Aus deinem Fenster mag das so aussehen. Aber auf der anderen Seite braut sich ein heftiges Gewitter zusammen. Der Himmel ist dort rabenschwarz. In spätestens einer halben Stunde bricht hier das totale Unwetter los.«

Für September war es einfach zu warm. Wir hatten die Tage immer noch so um die 27 Grad Celsius gehabt. An diesem Tag war das Thermometer auf über 30 Grad gestiegen. Wie es aussah, sollte mit einem fulminanten Feuerwerk diese Hitzeperiode zu Ende gehen und endlich dem Herbst Platz machen.

»Gut, dann bleiben wir hier. Wie wär's mit Computern?«

»Tobi, wo ist denn deine physikalische Grundbildung geblieben. Oder willst du unbedingt 'ne neue Kiste haben?«

»Nee, nicht wirklich. Die ist noch fast neu und ich habe keine Lust alles wieder neu installieren zu müssen.«

Computer sind für mich ein Werkzeug, nichts mit dem ich angeben musste. Bei wem auch. Außer Michi und jetzt vielleicht Ralf gab es ja niemanden. Mein Compi war ok. Für Spiele und Surfen allemal ausreichend, aber keine überteuerte Rennrakete. Ich war froh, dass er mir so gut wie keinen Stress bereitete und einfach das tat, was ich von ihm wollte. Nichts wäre nerviger als eine Neuinstallation.

»Vielleicht könnten wir ja deinen neuen Freund etwas ausfragen ... Ralf, wie haben uns ja heute schon kurz getroffen. Wie gefällst dir denn an unserer Schule?«

»Gut, dank Tobi. Es ist ja immer etwas merkwürdig, wenn man irgendwo hinkommt, wo man niemanden kennt. Da war's echt Glück, dass mir Tobi über den Weg lief.«

»Wo kommst du eigentlich her?«

»Süddeutschland.«

»Und dein Name? Klingt irgendwie griechisch.«

»Das stimmt sogar. Die Eltern meines Vaters, also meine Großeltern, stammen aus Griechenland. Mein Paps ist aber hier geboren.«

Das erklärte auch, warum Ralf eher der mediterrane Typ war. Bronzene Haut, dunkle Augen.

Es blitzte. Zwar auch elektrisch, aber diesmal nicht durch eine Entladung in einer mit Xenon gefüllten Blitzröhre eines Fotoapparates, sondern durch das sonnenheiße Plasma der aufflammenden Luftmoleküle. Cumulonimbus, die gemeine Gewitterwolke, nahm offenbar wirklich einen Weg über unseren Stadtteil.

Ich zählte. Eins, zwei, drei ... Ich kam bis neun. Dann ging ein lautes Grollen und Donnern los. Das versprach, ein echtes Megaunwetter zu werden. Wenn bei dieser Entfernung der Donner noch dermaßen laut war, musste es ein wirklich großes Gewitter sein, das zu uns herüberzog.

Im Zimmer wurde es dunkler. Ich schaltete ein paar gemütliche Lampen ein.

»Hat einer von euch Angst vor Gewitter?«

»Nöh!«, etwas Anderes hatte ich von Michi auch nicht erwartet. »Obwohl mal ein Blitz eine Tante von mir auf dem Scheißhaus erwischt haben soll. Die soll regelrecht durch das halbe Badezimmer geflogen sein, als der Blitz in die Wasserleitung einschlug. Sie hat's aber überlebt! Etwas GaGa war sie schon vorher.«

»Wo hast du immer diese Horrorstorys her?«

»Das sind Tatsachenberichte! Keine Horrorstorys! Und, Ralf, wie steht das mit dir und Gewitter?«

»Kein Problem. Ich bin heftige Gewitter gewöhnt. Ich komm ja aus Süddeutschland, genauer aus dem Allgäu. In den Bergen gibt es recht heftige Entladungen.«

Blitz! Mein Zimmer war für einen kurzen Moment taghell erleuchtet. Wir zählten die Sekunden. Eins, zwei, drei ... fünf. Krach! Donner! Polter. Das Getöse war ohrenbetäubend.

»Es zieht wirklich hier her.«, Ralf sah nachdenklich aus dem Fenster. Er schien regelrecht zu träumen. Mit andächtigem, tranceartigem Blick schaute er dem Beginn des Unwetters entgegen. Als wenn jemand einen Schalter umlegte, setzt plötzlich ein Rauschen und Prasseln ein. Hagel! Dicke fette Hagelkörner rieselten aus dem Himmel. Zuerst klein, wie Stecknadelköpfe, dann immer größer werdend: Erbsen, Kidneybohnen, Kirschen und schließlich waren sie Taubenei groß. Das Prasseln war in ein krachendes Rauschen übergegangen. Immer mehr Blitze durchzuckten den Himmel und malten Lichtspuren in die Wolken. Blau-weiße Blitze. Orange-rote Blitze. Grollender Donner.

Genauso plötzlich, wie der Hagel begann, hörte er auch wieder auf. Das Gewitter beschränkte sich vorübergehend auf Blitz und Donner. Nach meinem Wecker war es gerade mal halb vier Uhr nachmittags, aber draußen herrschte inzwischen finstere Nacht.

Blitz -- Donner.

Es gab keine Pause. Das Gewitter befand sich direkt über uns. Es gab wieder einen Blitz. Das Flackern setzte sich bis in mein Zimmer fort und nahm Besitz von allen eingeschalteten Glühlampen. Mit dem Erlöschen des Blitzes erloschen auch die Lichter in unserem Stadtteil und in meinem Zimmer.

»Es muss die Überlandleitung oder Trafostation erwischt haben.«

Wir saßen im Dunkeln.

»Alles Ok bei euch da oben?«, die besorgte Mutter rief.

»Alles Ok Mutti, sollen wir runter kommen?«

»Nee, lasst mal, ihr brecht euch nur die Haxen.«

»So ein Gewitter habe ich noch nie erlebt.«, mir wurde fast ein bisschen mulmig. Aber was ein echter Mann ist ...

»Ja, du hast recht. Selbst in den Bergen hatten wir so ein Unwetter sehr selten. Einmal in fünf Jahren, wenn's hoch kommt.«

Michi wirkte unruhig: »Leute, es ist zwar recht nett mit euch, aber ich glaube, ich lauf schnell rüber zu meiner Mutter.«

»Michi, lass das, dass ist viel zu gefährlich. Was soll das bringen?«

»Du kennst doch meine Mutter. Sie ist ganz alleine und ohne Strom. Paps ist noch bei der Arbeit. Mit technischen Dingen steht sie so ein bisschen auf dem Kriegsfuß und bekommt dann immer leicht Panik. Ich glaub es wäre wirklich ganz gut, wenn ich schnell rüber laufe. Ich ruf dich gleich an. Auf dem Handy! Hast du mal ne Taschenlampe?«

Klar hatte ich eine. Meine gute Mag-Lite, die auf unserer Europareise gute Dienste geleistet hatte. Wir schlichen zusammen die Treppe runter, ich leuchtete voraus. Unten erwartete uns meine Mutter.

»Ihr solltet doch oben bleiben.«

»Michi meint, er sollte schnell rüberlaufen. Du weist doch, seine Mutter sitzt da im Dunklen ...«

»Stimmt schon. Erna ist ja immer etwas reserviert, wenn es um Technik geht.«

Michi fand da ganz andere Worte. Seiner Meinung nach erfüllte seine Mutter regelmäßig den Tatbestand der Technikverweigerung. Die vollprogrammierbare Mikrowelle, die sich die Müllers mal gekauft hatten, war die reinste Geldverschwendung. Das Gerät konnte außer Mikrowelle auch Grillen, Auftauen und Backen, mit Ober- und Unterhitze, elektronischen Bratenthermometer, Anbrat- und Gewichtsautomatik. Sie konnte einfach alles. Außer in den Händen von Michis Mutter, da konnte sie nur eine Sache: Mikrowelle bei voller Leistung. Michi meinte, seine Mutter hätte einfach Angst vor Technik, deswegen wollte er auch so schnell wie möglich nach Hause. Ohne Licht musste sie kurz vor einem Panikanfall stehen.

Wir öffneten die Haustür. Michi sprang raus, hechtete durch den peitschenden Regen zur Haustür seiner Eltern und verschwand im Haus. Als Nachbarn und gute Freude hatten unsere Eltern glücklicherweise einen Weg zwischen den Häusern angelegt, so dass Michi nicht den Umweg über die Straße nehmen musste. Aber auch dieser Vorteil nützte wenig. Eine halbe Minute nachdem Michi im Haus verschwunden war, klingelte mein Handy.

»Leute, bleibt bloß im Haus. Ich bin bis auf die Unterhose nass geworden.«

»Wie geht's deiner Mutter?«

»Sie beruhigt sich gerade wieder. Es war gut, dass ich rübergegangen bin. Sie war wirklich sehr beunruhigt wegen des Stromausfalls.«

»Ok, wir reden morgen weiter.«

Im Schein einiger Kerzen, die meine Mutter angezündet hatte, sah ich von ihr zu Ralf und wieder zurück.

»Alles in Ordnung. Michi ist nur etwas nass geworden und seiner Mum geht es gut.«

»Fein.«

»Äh, Ralf, wann musst du den eigentlich nach Hause?«

»Oh, seit ungefähr einer halben Stunde sollte ich zu Hause sein.«

Im Hintergrund hörte man Feuerwehrwagen die nahe Hauptstraße lang fahren. Meine Mum überlegte.

»Ich könnte dich natürlich mit dem Auto nach Hause fahren, aber ich bin mir nicht sicher, ob dass momentan eine so gute Idee ist. Das Gewitter scheint auch nicht schwächer zu werden. Was hältst du davon, wenn du bei dir anrufst und heute bei Tobi bleibst.«

Ralfs Augen funkelten blau-weiß, sein ständiges Lächeln wurde zu einem glücklichen Strahlen und mir rutschte vor seiner so deutlich demonstrierten Freude das Herz in die Hose.

»Nur wenn es keine Umstände macht.«, höflich war er auch noch. Mein heimlicher Traummann wusste offensichtlich genau, welche Knöpfe er bei meiner Mutter drücken musste.

»Und wie das Umstände macht. Aber nicht für mich, für Tobi, der kann nachher nämlich dein Bett aufbauen. So Sohn, dann gib mal Ralf dein Handy, dass er bei sich zu Hause anrufen kann.«

Ich tat wir mir geheißen und Ralf führte sein Telefongespräch. Soweit man das aus den Worten von Ralf schließen konnte, waren seine Eltern von der Idee meiner Mutter recht angetan, wollten sie aber noch persönlich sprechen. Ralf gab das Telefon weiter. Zwei Elternteile unterhielten sich: »Aber nein Frau Antonides, dass macht überhaupt keine Umstände.«, »Nein, sie brauchen sich nicht zu bedanken.«, »Oh doch, Ralf scheint ein ganz lieber Junge zu sein.« Elterngebrabbel halt. Das Gespräch schien länger zu dauern, so dass Ralf und ich wieder nach oben in meine Zimmer schlichen. Mit einer Kerze in der Hand erklommen wir vorsichtig den ersten Stock, der Strom war immer noch nicht wiedergekommen.

Das sollte auch noch eine Weile dauern. Der Feuerwehrbericht der kommenden Nacht sprach später von 2537 Einsätzen, 1533 Keller mussten ausgepumpt, diverse umgestürzte Bäume beseitigt und Splitter von vom Hagel zerschmetterten Glasscheiben entfernt werden. Autos, die nicht in Garagen standen, hatten später eine interessante Hammerschlagstruktur, gelegentlich war auch mal eine Windschutzscheibe zu Bruch gegangen. Menschen kamen glücklicherweise kaum zu schaden. Hier und da gab es Schnittwunden von Glassplittern oder Prellungen von Hagelkörnern. Das war's aber auch. Dafür gab es aber recht ernste materielle Schäden. 13-mal war der Blitz eingeschlagen und hatte teilweise Brände ausgelöst. Für 5 Stunden hatte man den Ausnahmezustand erklärt. Den größten wirtschaftlichen Schaden hatte ein Umspannwerk genommen. Nachdem ein extrem starker Blitz in einen Verteilerstrang eingeschlagen, und das daran angeschlossene primäre Trafosystem zu Altmetall verarbeitet hatte, sollte eigentlich das sekundäre und Notsystem anspringen. Tat es aber nicht. Der Grund war so einfach wie banal. Es war vorübergehend nicht vorhanden. Vor der kommende Winterzeit wollten die zuständigen Stadtwerke das Umspannwerk generalüberholen, dazu gehörte auch der Austausch beider Trafosysteme. Man fing mit dem Sekundärsystem an. Niemand hatte damit gerechnet, dass man es im Spätsommer brauchen würde. Falsch gerechnet. Die Wartungsmannschaft brauchte bis in den frühen Morgen. Ralf, meine Mutter und ich hatten somit einen sehr gemütlichen Abend bei Kerzenlicht und belegten Broten.

Die Frische des Gewitterregens

Worin Kopfkissen zweckentfremdet werden
und es zu weniger typischen Bettgeflüster kommt.

Wir hatten mein Zimmer mit Kerzen gespickt. Von meinem Schreibtisch, von der Fensterbank und aus meinem Bücherregal flackerten Teelichter und hüllten meine Behausung in ein magisch-goldenes Licht. Es sah einfach romantisch aus, war aber verdammt unpraktisch. Wie soll man bei solch einem Licht eine Matratze auf dem Boden aufbauen und mit Spannbettlaken und Bett versehen? Ralf half mir, soweit man das eine Hilfe nennen kann, wenn man ständig am Rumalbern ist. Ich geb's zu, es machte Spaß mit Ralf rumzutollen. Aus dem Bettenmachen wurde schnell eine Bettenschlacht. Was fast zu einem Zimmerbrand geführt hätte. Kopfkissen sollten einfach nicht in einer Ansammlung Teelichter landen.

Die Kissenschlacht verwandelte sich in einen Ringkampf. Ralf hatte mich an meinen Beinen gepackt und zu Boden geworfen. Ich lag mit dem Rücken auf der Matratze seines Nachtlagers. Blitzschnell drehte ich mich um, gerade noch rechtzeitig, dass Ralf nicht meine Schultern runterdrücken konnte. Dann hätte er gewonnen. So aber sah er nur meinen Rücken. Er packte zu. Darauf hatte ich nur gewartet. Ich verlagerte mein Gewicht, stemmte mich hoch und drehte meinen Oberkörper. Ralf verlor sein Gleichgewicht und landete jetzt seinerseits auf dem Rücken, dabei hielt er meinen Oberkörper aber weiterhin umklammert. Ich lag sozusagen auf seiner Brust. Aber nicht lange. Ralf war kräftig und schien auch einige Griffe zu kennen. Das Blatt wendete sich wieder. Eben noch oben liegend, lag ich jetzt unten. Da sich Ralf ganz auf meine und seine Arme konzentrierte, rechnete er nicht mit einem Gegenangriff durch meine Beine. Ich wand eines meiner Beine um eines seiner Beine und nutzte mein anderes Bein abgewinkelt als Hebel.

Keiner von uns beiden war längere Zeit in der Lage die Oberhand zu behalten. Es ging ständig hin und her. Mal hatte ich Ralf fest im Griff mal Ralf mich. Aber Ringen ist auf Dauer sehr anstrengend, insbesondere dann, wenn man sich gegenseitig nichts geben will. Wir wurden schwächer, unsere Bewegungen langsamer, der Geist abgelenkter. Ich wurde unkonzentriert und verlor die Kontrolle. Ralf bemerkte meinen Fehler, packte zu und hatte mich plötzlich auf der Matratze festgenagelt. Ich lag flach mit dem Rücken auf der Matte und Ralf thronte über mir. Seine Hände hielten meine Arme fest, mit seinen Beinen saß er auf meinen Beinen.

»Gewonnen!«, mich strahlte ein triumphierendes, unschuldiges, fröhliches und vor Schweiß glänzendes Gesicht an.

Und dann machte es bei mir Klick. Dieser Körperkontakt mit Ralf ... Ich musste Schlucken. Es war mehr als nur ein einfacher harmloser Ringkampf gewesen. Ich hatte Ralfs Körper gespürt, intensiv gespürt. Ich war erregt. Das Gefühl des sich spannenden Stoffs in meiner Unterhose war überdeutlich. Und jetzt saß dieser Engel in Menschengestalt auf mir, sein Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt und strahlte mich an. Seine fantastischen Augen funkelten mit den schönsten gold-silbernen Funken, die ich je gesehen hatte. Jedes Feuerwerk wäre sofort vor Neid verblasst. Ralf lächelte mich so unendlich lieb an, es war ... unerträglich!

Ich schämte mich. Ich brach innerlich zusammen. Eigentlich wollte ich genau dies: Ralf. Er hätte nur noch seinen Kopf etwas senken, seine Lippen auf meine drücken müssen und ich wäre vor totalem Glück sofort gestorben. Und für diesen Gedanken schämte ich mich. Ralf war der zweite Mensch, der je mehr als zwei Worte mit mir gewechselt hatte. Und auch wenn er es noch nicht gesagt hatte, er war ein Freund. Der zweite Freund, den ich je hatte, um es genau zu nehmen.

Wenn man wenige, oder auch nur einen Freund hat, weiß man, was Freundschaft wirklich wert ist. Ich hatte das Gefühl, als wenn meine Gefühle für Ralf und meine Freundschaft zu ihm, sich irgendwie im Weg standen. Ihm nichts von meiner heimlichen Liebe zu ihm zu sagen, würde bedeuten die Freundschaft zu betrügen. Umgekehrt war's auch nicht einfacher. Sagen, dass ich schwul bin, beichten, dass ich mich in ihn verliebt hatte, könnte genauso gut ein vorzeitiges Ende der Freundschaft bedeuten. Obwohl, wäre das überhaupt eine Freundschaft gewesen?

»Tobi, was ist mit dir?«, ich konnte meine Gefühle noch nie gut verstecken. Da Ralfs Gesicht knapp 20cm über meinem schwebte, konnte ihm mein Stimmungsabsturz nicht entgangen sein.

»Nichts, nur ein dummer Gedanke. Ich glaube, wir sollten jetzt schlafen.«

Meine Stimme musste recht unterkühlt geklungen haben. Ralf sah mich fragend an. Enttäuschung war auf sein Gesicht gemeißelt. Enttäuschung worüber?

»Hab' ich etwas Falsches getan?«

»Du? Nein, weiß Gott nicht. Es ist nur ... Ach, Nichts weiter ...«

Ralf hielt mich immer noch auf der Matratze fest. Seine Augen schalteten auf ein rötliches Funkeln um. Er schien wieder in meinem Gesicht lesen zu wollen. Es war merkwürdig, aber Ralf schien innerlich mit sich zu kämpfen. Ganz kurz hatte ich sogar den Eindruck, als wenn seine Augen feucht werden und er sogar über irgendetwas traurig sein würde. Völlig unerwartet rollte Ralf mit einem Ruck von mir runter.

»Nein, so nicht ...«

Ich verstand nicht, was er meinte. Er wirkte plötzlich verändert und wich meinem Blick aus, wandte sich sogar von mir ab. Ich meinte sogar, ihn schniefen und schlucken zu hören.

Wir verkrochen uns in unsere Betten. Ich lag mit dem Rücken auf meiner Matratze, starrte die Decke an und verstand nichts, rein gar nichts. Ich wusste nur, dass etwas verdammt schief lief. Erst bekam ich den Moralischen und dann kippte Ralf in Richtung Trauerkloß. Was war hier los? Was lief hier verkehrt.

Das letzte Teelicht hauchte sein Leben aus. Wir lagen im Dunkeln. Draußen hatte sich das Gewitter ausgetobt und einem konstanten Regen platz gemacht. Eigentlich der passende Moment, um mit der Wahrheit raus zu kommen. Es entsprach jedem schlechten Klischee. Die Dunkelheit schützte mich davor, Ralf in die Augen sehen zu müssen. Wenn nicht jetzt, dann nie. Doch warum kam es mir so unendlich schwerer vor Ralf zu sagen, dass ich schwul sei, als Michi?

»Ralf? Schläfst du schon?«

»Nein ...«

»Darf ich dich etwas Fragen ...«

»Natürlich!«

»Betrachtest du mich als einen Mitschüler oder als einen Freund?«

»Ich denke als Freund, wieso?«

»Na ja, dir dürfte aufgefallen sein, dass ich nicht so viele Freunde habe.«

»Ja, und wie siehst du mich?«

»Ich würde dich gerne zum Freund haben, doch weiß ich nicht, ob du das gleich noch sein möchtest ...«

»Hm, das klingt nicht gut ...«

»Was würde bei dir eine Freundschaft ausschließen?«

»Unehrlichkeit!«, die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen, »Auf meiner alten Schule gab es Leute, die haben sich alle fünf Minuten gegenseitig ihre tolle Freundschaft erklärt. Und was war? Lügen, Heuchelei, Neid, Zwietracht, Eifersucht und Hass. Alle Abgründe menschlicher Niedertracht, die du dir nur vorstellen kannst. Freundschaft muss man sich nicht gegenseitig erklären. Wenn sie das ist, fühlst du sie. Dann bedarf es keiner Worte. Du weißt einfach, wer dein Freund ist. Bei dir weiß ich es.«

»Aber du weißt nicht alles über mich.«, Mann, war das schwierig. Ralf legte die Messlatte so verdammt hoch.

»Ich will ehrlich zu dir sein. Ich weiß mehr über dich, als du denkst.«, Ralfs Worte machten mir Angst. Es war die Art, wie er sie aussprach. Ich spürte den Ernst hinter jeder Silbe. Es war kein dummer Spruch. Ralf meinte, was er sagte. Mir lief ein eiskalter Schauer über den Rücken.

»Was weißt du?«, ich glaubte ich habe nur noch geflüstert.

»Das kann ich nicht sagen. Noch nicht! Du hältst den Schlüssel selbst in der Hand. Du wolltest mir etwas Wichtiges sagen. Dann bitte, Tobi, tu es! Tu es, um deiner selbst willen!«

Dies war das merkwürdigste Coming-Out, dass ich mir vorstellen konnte. Ich verstand nicht, was Ralf mir sagen wollte. Er war so ernst und ich so unsicher.

»Ralf ich verstehe nicht, was du mir sagen willst oder was es bedeutet.«

»Dann denk einfach nicht d'rüber nach. Sei einfach du selbst.«

Shit! Ich zitterte. Ralfs kryptisches Gebrabbel brachte mich völlig aus dem Konzept.

»Ralf ...?«

Mein Mund war trocken wie die Sahara.

»Ich ...«

Warum war das bei Ralf so schwer? Bei Michi war es viel einfacher gewesen. Blöde Frage. In Michi war ich auch nicht verliebt.

»Shit ich kann einfach nicht ...«

Ich schloss meine Augen. Die Tränen hatten echte Schwierigkeiten aus meinen geschlossenen Liedern herauszuquellen. Ralf sagte nichts. Es war, als wenn die Zeit stillstand.

»Tobi, es gibt nichts was du mir nicht sagen könntest.«

Ich atmete tief ein. Ich zitterte am ganzen Körper. Ralf schien mir eine goldene Brücke zu bauen.

»Ralf ich bin schwul ... Und ich hab' mich in dich verliebt ...« Stille, Ralf gab keine Antwort. Mir lief es heiß und kalt über den Rücken: »Hörst du mich? Ich hab' mich in dich verliebt.«

Es war raus. Ich konnte keinen Rückzieher machen. Aber Ralf sagte einfach nichts. Kein Wort!

Aus! Vorbei! Ende! Ralf würde aufstehen, sich seine Sachen schnappen und durch den Regen nach Hause stiefeln. Und ich würde wieder nur noch einen Freund haben. Was soll's, das war mein Leben. Tobi, der Looser.

Ich lauschte, die Augen fest geschlossen. Ich wartete. Wann würde ich seine Schritte hören. Die Tür, wie sie zugeschlagen wird? Aber ich hörte Nichts ...

Ich spürte etwas.

Etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Ein Gefühl, das ich zuerst nicht einordnen konnte. Ich hatte so etwas in meinem ganzen Leben noch nie vorher gespürt. Ich spürte die Lippen eines anderen Jungen auf meinen Lippen. Ich spürte Ralfs Lippen auf meinen.

Ja, Ralf küsste mich. So zart und gleichzeitig so leidenschaftlich, dass ich es zuerst einfach nicht begreifen konnte. Ein Kuss ist nicht notwendigerweise ein Kuss. Meine Mutter hatte mich früher immer geküsst. Mütter machen so was. Wenn ich bisher dachte, so was wäre ein Kuss, dann wurde ich in dieser Einschätzung gerade aus dem Mittelalter in die Neuzeit katapultiert.

Was Ralf mit seinen Lippen tat, war überirdisch. Ich versank in dieser Erfahrung. Ich fiel, ich stürzte und ich stürzte gern. Aber Ralf hielt mich, er hielt mich mit seinen Lippen. Denn nur sie berührten mich. Keine Hände, kein Körperkontakt, nur warme, liebende Lippen.

Ich weinte vor Glück. Was soll man auch anderes tun, wenn sich gerade einem das komplette Weltbild umkrempelt.

»Ralf ...?«

Ich wollte etwas sagen, aber Ralf legte mir seinen Zeigefinger auf die Lippen.

»Tobi, sag jetzt bitte nichts und lass bitte deine Augen geschlossen ...«

Ich hatte gar nicht vor, meine Augen zu öffnen. Da war einfach diese Angst, dass, wenn ich sich öffnen würde, dieser Traum sich wie morgendlicher Dunst in der Sonne auflösen würde. Das Dumme ist bloß, wenn dir jemand erzählt, du sollst die Augen geschlossen lassen, ist es verdammt schwierig, nicht zu blinzeln.

Ralf bemerkte meine Schwierigkeiten und küsste mir auf die geschlossenen Augenlider. Es war ein ebenso schönes wie merkwürdiges Gefühl. Ich hatte fast den Eindruck, als wenn ich Licht sehen oder besser spüren würde.

»Tobi, ich liebe dich ... Ich wusste es vom ersten Moment ... Als ich dich sah ... Wow! Tobi, du bist ein Traum. Jetzt weiß ich, worauf ich die letzten Jahre gewartet habe ...«

Und da waren sie wieder. Seine Lippen auf meinen Lippen. Ich öffnete meine ein wenig. Er öffnete seine. Unsere Zungen fanden einen Weg aneinander vorbei und begannen, den Mundraum des anderen zu erkunden.

Was soll ich sagen? Ich schwebte! Ich habe mir immer versucht vorzustellen, was ich wohl mit einem anderen Jungen machen würde und wie sich das anfühlt. Alles Makulatur! Die Realität war einfach unvorstellbar besser. Wir beschränkten uns aufs Küssen. Aber was heißt beschränkten? Alleine diese Küsserei löste einen Gefühlsorkan bei mir aus, den ich nie erwartet hatte.

Jemand der den Film 2001 kennt, kann ungefähr erahnen, was ich empfand. Mir war, als wenn ich mich in einem Lichttunnel befand. Irgendwo jenseits von Zeit und Raum.

Das Funkeln der Tautropfen am Morgen

Worin man sich nach dem Erwachen der Realität versichert.
Tobis Mutter versucht sich dann noch in einer Belehrung, die aber in einem Fettnäpfchen endet.

Vorsichtig öffnete ich meine Augen. Ein fieser Lichtstrahl der morgendlichen Sonne schien mir ins Gesicht und beendete meinen Schlaf.

Mein erster Blick fiel auf meinen Radiowecker. 1:00 blinkte vor sich hin. Stimmt, der Stromausfall gestern. Gestern? Ralf? War der Kuss Realität gewesen? Hatte Ralf mir seine Liebe erklärt und ich umgekehrt ihm meine?

Ich öffnete meine Augen vollständig und sah mich um. Ralf lag nicht in meinem Bett, er lag neben meinem Bett auf seiner Matratze auf dem Boden und schlief. Ein schlafender Traum, denn Ralf sah einfach fantastisch aus, wenn er schlief. So friedlich und glücklich. Außerdem unerträglich attraktiv. Meine morgendliche Erektion legte noch etwas zu.

Mir kam ein unangenehmer Gedanke. Wenn nun wirklich alles nur ein Traum gewesen war? In diesem Augenblick öffnete Ralf seine Augen und sah mich an. Er lächelte mich an. Was aber noch nichts aussagte. Ralf lächelte mich eigentlich ständig an.

»Tobi, is' was? Du siehst so ... hm, nachdenklich aus?«

»Äh, es ist nichts ... Hast du gut geschlafen ...«

»Super, wie ein Murmeltier ...«, er räkelte sich genüsslich in seinem Bett, »Und selbst?«

»Öhm ..., ja, auch super ...«, ich wurde immer unsicherer.

War es jetzt Realität gewesen oder nicht? In letzter Zeit war ich mir ja nicht immer sicher, was Realität und was Einbildung war.

»Du wirkst aber nicht so ...«, Ralf musterte mich mit einem besorgten Blick. Er schien zu überlegen. Nach einem kurzen Moment erhellte sich sein Blick und er begann zu strahlen. »Du fragst dich, ob es gestern Nacht Realität war?«

Ralf setzte sich auf, nahm mein Gesicht in seine Hände und küsste mich.

»Alle Zweifel beseitigt?«

Ich verhielt mich wie das totale Weichei. Zitternd am ganzen Körper, japste ich nur ein »Ja« heraus. Es war also doch real gewesen, Ralf liebte mich und ich ihn. So, warum war ich dann nicht total glücklich?

Ralf schien meine Gedanken lesen zu könne: »Du bist unsicher, nicht war? Du hast Angst, dass das Glück nicht von Dauer sein könnte und plötzlich verpufft. Stimmt's?«

Ich nickte: »Ich habe Angst, dass wenn ich eines Tages die Augen aufmache, alles nur ein Traum war.«

Ralf antwortete nicht. Er fixierte nur meinen Blick mit einem tiefen Funkeln dunkelgrüner Blitze. Mir wurde plötzlich bewusst, dass Ralf nicht nur fantastisch aussah, ein traumhaft gütiges Wesen hatte und mich immer anstrahlte, sondern auch von einer dunklen Wolke umgeben schien. Für eine bessere Beschreibung fehlten mir damals die Worte. Es war, als wenn in Ralfs Fröhlichkeit immer auch etwas anderes mitschwang. Eine dunkle Schwingung. Mal traurig, mal bedrohlich, mal besorgt. Und noch etwas bemerkte ich. Entweder wurde ich für diese Schwingung sensibler oder sie wurde stärker. Auf jeden Fall nahm ihre Wahrnehmbarkeit zu.

Ralfs Blick änderte sich. Pure Fröhlichkeit. Er packte mich, drückte mich aufs Bett, legte sich auf mich und fuhr mir zärtlich durch meine Haare. Er streichelte meine Wangen und sah mir in die Augen. Pure Verliebtheit blinzelte mir entgegen.

»Ich kann dir nicht versprechen, dass unser Weg ohne Stolpersteine verlaufen wird. Aber eins kann ich dir versprechen: Ich liebe dich Tobi. Was auch immer das bedeuten mag. Ich werde immer zu dir stehen.«

Wir machten dort weiter, wo wir in der letzten Nacht aufgehört hatten, das heißt, wir erforschten des anderen Mundraum.

»Morgen Jungs. Zeit aufzustehen! Was für ein Glück, das ich einen mechanischen Wecker habe. Alle elektrischen Uhren sind beim Stromausfall heute Nacht ausgefallen. Aber ihr habt noch Zeit, um zu frühstücken, bis ihr in die Schule müsst. Also ... Oh, äh ... ich glaube ich komme gerade ungelegen ... Lasst euch nicht stören ...«

Meine Mum war ins Zimmer geplatzt, ganz der Wirbelwind, der sie manchmal sein konnte. Besorgt, wie Mütter halt so sind, wollte sie dafür sorgen, dass wir trotz stromausfallbedingten Weckerausfalls nicht zu spät zur Schule kamen. Völlig in Gedanken bemerkte sie Ralfs und meine sehr persönliche Interaktion recht spät. Es war schon erstaunlich zu sehen, dass selbst gestandene Mütter rot anlaufen können.

»Mum, es ist Ok. Bleib hier. Dann können wir es gleich offiziell machen. Also Ralf scheint so was wie mein erster Freund zu sein.«

»Ralf, dann bist du in diesem Haus nochmal so willkommen, wie du es eh' schon bist. Ich hoffe Michi hat mit dir schon Kondome besorgt, mein Sohn!«

Die Gedankensprünge meiner Mutter möchte ich haben. Warum haben Mütter diese fatale Begabung einem immer in megapeinliche Situationen zu bringen? Sie bringen so was immer wieder fertig und man möchte am liebsten im nächsten Mauseloch verschwinden, wenn die eigene Mutter vor versammelter Verwandtschaft am Kaffeetisch zum Beispiel erzählt, wie der Sohn mit der Tochter des Nachbarn in der Sandkiste Doktor gespielt hat.

»Mama!«

»Sohn, reg' dich ab! Noch seid ihr nur am küssen. Aber das wird sich bestimmt bald ändern, dann müsst ihr vorbereitet sein. Ohne Kondome wird nicht gep... Na ja, was zwei schwule Jungs auch immer miteinander tun mögen ...

Endlich! Jetzt musste ich grinsen. Hatte sich meine wehrte Mutter selbst ein Bein gestellt. Endlich war ihr auch mal was peinlich. Sieg!

»Frau vanBrüggen, sie können ganz beruhigt sein. Unser Schwimmtrainer hat uns regelmäßig zur ärztlichen Untersuchung geschleppt. Da war auch immer ein HIV-Test dabei.«

»Tja Mum, da siehst du's. Unser Trainer macht das auch regelmäßig.«

»Nun ja gut. Ich mein' ja nur. Also, besorgt euch Kondome!«

Bevor sie noch in weitere Schlaglöcher fallen konnte, verließ uns meine Mum. Kaum hatte sie mein Zimmer verlassen, griff Ralf in die Innentasche seiner Jacke, die er über meinen Schreibtischstuhl gehängt hatte. Als er seine Hand wieder hinauszog, hielt er eine Packung HT-Spezial in der Hand.

»Man weiß ja nie.«

»OOPS, du willst mit mir wirklich ... Ähm, du weißt schon ...«, mir war ein wenig unheimlich. Ralfs Kondompäckchen war ein eindeutiger Fingerzeig, was er noch so vorhatte.

Ralf sah überrascht aus, »Du etwa nicht?«

»Äh, na ja ...«, also geträumt hatte ich schon von schwulen Sex, oder eher, was ich mir darunter vorstellte. Aber so ganz direkt mit der Nase draufgestoßen zu werden, machte mich nervös, »Es ist nur so, ich hab' so was noch nie gemacht.«

»Ich auch nicht ...«, Ralf zeigte mir sein schönstes Haifischgrinsen. Was wohl das silbern-grüne Funkeln in seinen Augen bedeutete?

»... aber, dass muss uns ja von nichts abhalten.«

Ralf sah man den Schalk im Nacken sitzen. Mit frech-kecker Fresse grinste er mich herausfordernd an. Ich schnappte mir mein Kissen und pfefferte es in seine Richtung. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Kam doch tatsächlich ein Kissen zurückgeflogen. Aber da hatte Ralf nicht mit meiner Oberbettattacke gerechnet -- und ich nicht mit seinem Konter. So ganz ist mir nicht mehr klar, was dann passierte. Ich kann mich nur noch an ein wirres Knäuel aus Armen, Kopfkissen, Füßen, Bettlaken, Händen und Decken erinnern. Das, und dass wir uns schließlich in den Armen hielten.

»Ralf, wo hast du all die Jahre gesteckt?«, hätte ich doch jemanden wie ihn schon früher gehabt, ich glaube, mir wäre einiges erspart geblieben.

»Tobi, ich war schon immer da.«, und nach diesen unverständlichen Worten überbrückten wir die Zeit bis zum Frühstück mit dem Austausch von handfesten Zärtlichkeiten.

Thermodynamische Verwirrung

Worin ein normalerweise todlangweiliger Physikunterricht interessante Überraschungen bereithält.

Duschen, Frühstücken, Zähneputzen und schließlich Schule. Der übliche morgendliche Trott halt. Nie hab' ich ihn so geliebt wie an diesem Tag. Dem ersten Tag einer neuen Zeitrechnung. Der Zeitrechnung, die damit begann, dass Ralf in mein Leben eingetreten war. Wolke 7 war die neue Adresse meiner Gefühle. Ralf schien es nicht anders zu gehen.

Nicht, dass jetzt irgendjemand auf die Idee kommt, wir würden händchenhaltend und dauerküssend durch die Landschaft torkeln. Ganz im Gegenteil. Unsere Beziehung war einfach nur Cool, von Understatement geprägt. Unsere verbale Kommunikation verschob sich in den nonverbalen Bereich. Ein Blick, ein Zwinkern, eine Grimasse oder ein Grinsen und der andere verstand. Ganz ohne Worte.

Als wir Michi abholten und uns zusammen in Richtung Schule begaben, ließen wir uns nichts anmerken -- Das dachten wir jedenfalls. Aber Michi kannte mich einfach viel zu lange.

Den ganzen Weg war er zwischen uns hergerollt und seine Augen wechselten hektisch zwischen Ralf und mir hin und her. Kurz vor unserem Ziel blieb Michi stehen.

»Ok Jungs, ich mag eine lange Leitung haben. Aber irgendetwas geht hier vor. Könnte mich mal jemand aufklären.«

»Wie? Bist du das etwa noch nicht. Also, alles was man dir über Bienen erzählt hat, ist gelogen ...«

»To-bi!«, Michi knurrte.

»Ja, Mi-chi?«

»Verarschen kann ich mich alleine. «

»Dann fang doch endlich an.«

»Knurr, was-ist-los?«

Blick zu Ralf. Zustimmendes Nicken zurück.

»Tja, mein lieber Ralf. Ich habe einen neuen Freund!«

»Na super, dann hast du ja schon zwei. Und das ist alles? Na gut, willkommen an Bort, Ralf.«

»Ich glaube, du hast mich nicht richtig verstanden. Ich habe einen Freund

»Ja, sagtest du schon, du hast einen Fr... Oh ... Du meinst ... Freund? Das heißt, ihr zwei ...«, Michi blickte hektisch zwischen und hin und her, »Ihr zwei seid ...«

»Yap!«

»Yes indeed!«

»Herzlichen Glückwunsch! Ähm, wenn das raus kommt, wird die Suizidrate unter den weiblichen Schülerinnen sprunghaft ansteigen. Nichts gegen dich Tobi, aber weißt du, was Ralf für einen Eindruck auf unsere Hühner gemacht hat? Bei seinem totalen Killerlächeln.«

Für diese Bemerkung bedachte Ralf Michi mit einem besonders netten Lächeln, einem Lächeln, dass auch Granit zum Dahinschmelzen bringen konnte.

Ich grinste: »In Ansätzen ... Aber ich geb' ihn nicht wieder her. Besonders nicht an unsere Mädels ...«, warum knuffte mich Ralf für diesen Satz?

»Aua! Ist doch wahr!«

»Michi?«

»Ja, Ralfi?«

»Kannst du die Sache mit mir und Tobi für dich behalten.«

»Klar, ich hatte nicht vor es an's schwarze Brett zu schreiben.«

»Danke, Michi! Du bist der Beste!«, dass war er wirklich.

»Ich weiß!«, und eingebildet war er überhaupt nicht.


Für die ersten zwei Stunden war Trennungsschmerz angesagt. Ralf war in einem anderen Kurs. Schade, aber nicht zu ändern. Meine Laune war trotzdem super. Ich schwebte geradezu durch den Unterricht. Es geschehen noch Zeichen und Wunder, denn eigentlich war das Fach namens Physik bei mir ein Synonym für Null Peilung. Aber, oh Wunder, diesmal verstand ich alles. Jedes einzelne Wort, jede blöde Gleichung. Ich fand sogar einen Rechenfehler an der Tafel und beeindruckte meinen Physiklehrer.

Unser Herr Gutmann war alles andere als gut. Er war der Prototyp von einem Arsch vor dem Herrn. Der Mann konnte Lob nur in ätzender Kritik verpacken.

»Tobias, haben Sie etwa eine späte Ader zur Physik an sich entdeckt? Wenn Sie so weiter machen, verstehen Sie vielleicht noch, worum es eigentlich geht. Man sollte ja nie die Hoffnung aufgeben.«

Der Physikarsch war nicht die einzige Person, auf die ich in der Doppelstunde Eindruck machte. Mir fiel auf, dass ich von Leuten beobachtet wurde, die mich früher nicht mal wahrgenommen hatten. Sah man mir etwa an, dass ich frisch verliebt war?

Im ersten Halbjahr sollten wir mit Mechanik gequält werden. Der Schwerpunkt lag dabei auf Schwingungen. Unser Vorturner Gutmann hatte ein festes Pendel aufgebaut, was soviel hieß, dass das Gewicht des Pendels nicht an einem Faden hing, sondern an einer kurzen Stange, an deren oberen Ende sich eine kugelgelagerte Achse befand. Unten hing natürlich ein Gewicht.

Wirklich kein spektakulärer Versuchsaufbau. Aber für drögen Unterricht war Kollege Gutmann berüchtigt. Experimente stellten für ihn ein notwendiges Übel dar, die es galt auf ein absolutes Mindestmaß zu reduzieren. Nach Gutmanns Ansicht waren die einzigen wirklich legitimen Werkzeuge eines guten Physikers die Tafelkreide, der Füllfederhalter und der eigene Intellekt. Bei Letzterem ging er natürlich davon aus, dass er davon im Überfluss besaß. Meiner bescheidenen Meinung nach unterlag er gerade darin einem fatalen Irrtum.

Es wird wohl kaum überraschen, dass unser Pauker erst die Tafel mit Gleichungen vollknallte, um dann ganz am Ende, seine theoretischen Berechnungen an der realen Physik zu überprüfen. Man hätte natürlich auch erst wie jeder normale Physiklehrer eine Messreihe aufnehmen und daraus so etwas wie eine Schwingungsgleichung ableiten können. Aber unser Lehrer war nicht normal, er war ein Quereinsteiger. Vor Jahrhunderten hatte man wohl mal allen Physikstudenten gesagt: »Studiert Kernphysik!« Als man dann keine Kernkraftwerke mehr baute, brauchte man auch keine Kernphysiker mehr. Ein paar durften auf Lehrer umschulen. Diese Typen waren eine Plage. Sie ließen jeden Schüler spüren, dass ihr überragender Intellekt mit der schnöden schulischen Wissensvermittlung hoffnungslos unterfordert war. Mit anderen Worten: Diese Typen waren Arschlöcher. Wir liebten sie innig, wie Hämorriden.

Langsam war unser Physikus mit seinen Gleichungen zu Potte gekommen. Der Versuch stand an. Es hatte was von der Ziehung der Lottozahlen. Das Lehrerchen stupste das Pendel an und es pendelte. So weit so gut. Der Physikbeamte hatte sich von dem ordnungsgemäßen Zustand des Pendels überzeugt. Die Ziehung der Gewinnzahlen, das heißt der Messreihenwerte, konnte folgen. Schwingungsdauer gegen Stablänge.

Der Stab wurde ausgemessen. 15cm, also eine knappe Schwanzlänge. Der Wert wurde eingetragen, eine Stoppuhr bereitgemacht, das Gewicht angehoben, losgelassen und die Uhr gestartet.

Die Naturgesetze hatten plötzlich einen eigenen Willen. Statt munter hin und her zu schwingen, bewegte sich das Pendel einfach nur aus dem angehobenen 90 Grad Winkel in seine Ruhelage, sprich 0 Grad, zurück. Kein Pendeln. Einfach nur »Plumps« und es hing schlaff nach unten. Nicht die leiseste Schwingung war zu beobachten.

»Da muss wohl was mit dem Lager nicht stimmen ... Moment bitte ...«

Unser Lehrer hantiertet am Lager, wackelte hier, rüttelte da. Alles schien in Ordnung.

Zweiter Versuch: Das Pendel wurde angehoben, losgelassen und ... Es blieb wo es war. Dort wo es losgelassen wurde. Das Pendel trotzte einfach jeder Schwerkraft und blieb im 90-Grad-Winkel ausgeschlagen. Unser Lehrerchen murmelte was von »Verflixte Reibung« und stupste das Pendel an. Es bewegte sich ...

Aber auch nicht so, wie man es erwarten würde. Statt zu pendeln, bewegte es sich einfach nach unten, dann auf der anderen Seite nach oben und blieb dort stehen. Eine halbe Schwingung, zu mehr hatte das Pendel keine Lust.

»Das kann doch alles nicht ...«

Kaum hatte der Meister der Physik diese Worte ausgesprochen, begann das Pendel zu pendeln. Erleichterung machte sich breit.

»Ich bitte diese Schwierigkeiten zu entschuldigen, aber offensichtlich sind unsere Experimentiermaterialien nicht im allerbesten Zustand. Ich werde mal mit dem Fachdekan unserer Schule darüber sprechen müssen. Aber ...Was zum Teufel ...«

Statt langsam mit dem Pendeln aufzuhören, pendelte unser Pendel munter weiter. Und pendelte, und pendelte, und pendelte ... Ein Perpetuum Mobile. Wir wurden Zeuge der Widerlegung des ersten Hauptsatzes der Thermodynamik und das in unserer Schule!

Unser Lehrer starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das pendelnde Pendel, das einfach nicht daran dachte, den Naturgesetzen zu folgen und langsam durch die Reibung langsamer zu werden und mit Pendeln aufzuhören. Vielmehr begann das kleine Pendel noch an Schwung zuzunehmen. Es verhöhnte die Physik und ihren Hohepriester Lehrer Gutmann und legte ein paar Überschläge aufs Parkett.

Das Lehrerchen verlor die Fassung oder seine Murmeln, was bei ihm aufs Gleiche raus kam. Er schrie das Pendel an: »Hör auf!«

Und das Pendel gehorchte. Es blieb einfach mitten in der Bewegung stehen. Als hätte jemand an einem DVD-Player die Pausentaste gedrückt, fror die Bewegung spontan ein.

Einen Moment sah es so aus, als wenn der Lehrkörper ausrasten, schreien und überschnappen würde. Er sah das Pendel an, wie ein Pfarrer den Leibhaftigen ansehen würde. Doch plötzlich erhellte sich sein Gesicht und er fing an zu lachen.

»Leute, das habt ihr toll gemacht! Alle Achtung, wer dieses ferngesteuerte Pendelmodell gebaut hat, war wirklich gut«, er klatschte applaudierend in die Hände. »Meine Hochachtung, ich wäre fast darauf reingefallen.«

Ein Raunen der Erleichterung ging durch den Kurs: Jeder schien froh zu sein, dass es eine plausible Erklärung für das merkwürdige Verhalten des Pendels gab. Jemand musste wohl das Modell gegen eine Kopie mit Fernsteuerung ausgetauscht haben, um unseren Lehrer zu foppen. Ein Schülerscherz, wie außerordentlich beruhigend. Wahrscheinlich von unseren Intelligenzbolzen ausgeheckt. Nur sie hatten eine solche Art Humor.

Die Pausenklingel erlöste den Kurs. Aber war wirklich jeder froh, dass es nur ein Scherz war? Nein, ich war es nicht, denn ich wusste, dass das Pendelmodell kein Fake war. Das Pendel hatte einfach nur das gemacht, was ich mir im Geiste vorgestellt hatte. Ich begann mich zu fürchten. Ich bekam Angst vor mir.

Wenn die Schatten fallen

Worin Tobi das Weite sucht aber das Falsche findet
und ein alter Freund unerfreuliche Grüße überbringen lässt.

Es begann alles aus purer Langeweile und Verärgerung über Gutmann. Ich träumte vor mich hin. Gutmann hatte seine letzten Formeln auf die Tafel gequietscht und wandte sich jetzt dem Experiment zu. Er hantierte am Pendel und ich stellte mir vor, was wohl passieren würde, wenn ich das Pendel festhielte. Tja, und es passierte genau das, was passiert, wenn man etwas fest hält. Das Pendel pendelte nicht.

Ich realisierte gar nicht, was da passierte, ich war einfach nur amüsiert und foppte Gutmann weiter. Pendel anhalten, weiterpendeln lassen und, als furioser Abschluss, ein paar unplanmäßige Überschläge, um meinem Lehrer den Glauben an die Allmacht der Entropie zu rauben.

Gutmann trat vor und faselte etwas von einem ferngesteuerten Modell. Erst in diesem Moment begriff ich, was ich getan hatte. Ich konnte Dinge aus der Ferne manipulieren. In Science-Fiction-Romanen nennt man das Telekinese. Aber so was gab es doch gar nicht.

Ich sah auf meine Hände. Ich bekam Angst und fürchtete mich. Dieses merkwürdige Gefühl war wieder da. Und die verdrängte Erinnerung an Michis Unfall, an meinen Vater, an Carsten und Nils, an die Polaroids. Fragmente eines dunklen Traums blitzten in meinem Kopf auf. Ralf und ich im Invalidenpark. Aber das war doch nur ein Traum gewesen, oder?

Ralf! Ein schrecklicher Gedanke keimte in mir auf. Alle Ereignisse hatten einen Ausgangspunkt. Alles begann erst, nachdem ich Ralf das erste Mal sah. Im Plattenladen. Minuten später kam es zu Michis Unfall. Von da an war meine Welt nicht mehr dieselbe. Ich hangelte mich von einem merkwürdigen Vorfall zum nächsten. Gut, für jeden konnte man eine plausible Erklärung finden. Die Polaroids? Das Material war fehlerhaft oder falsch gelagert worden. Das Pendel? Ein Schülerscherz.

Und Ralf?

Wieso tauchte er plötzlich auf und suchte sich ausgerechnet mich als Freund aus. Nicht nur als Schulfreund, sondern als Freund, als Liebhaber. An mir war nichts Besonderes. Die meisten Mitschüler ignorierten mich, wenn sie mich nicht gerade abzockten oder verprügelten. Also, wieso erwählte dieser Traumjunge ausgerechnet mich? Das war absurd. Solche Typen stauben immer die geilsten Mädchen ab und wenn das nicht, dann waren sie auf keinem Fall schwul. Aber er wollte mich! Aber wieso konnte ich mich nicht einfach an meinem Glück erfreuen? Ralf zu lieben und lieben zu dürfen war ein Traum. Aber ich konnte unmögliche diese anderen Dinge ignorieren. Ralf war vielleicht nicht die Ursache meiner unheimlichen Erfahrungen, aber hatte auf jeden Fall etwas damit zu tun.

»Hi Tobi. Ich wollte dich fragen, ob ... Tobi, is' was? Du siehst so ernst aus.«

Ich hatte den Physikraum verlassen und mich zur nächsten Bildungsstation begeben. Der Platz neben mir war schon mit Ralf besetzt.

»Es ist nichts. Ach, Physik ist einfach blöd. Gutmann ist so ein Arsch von Lehrer.«, stimmte alles, war bloß nicht der Punkt, um den es wirklich ging. Ralf musterte mich mit seinen rot funkelnden Augen. Sein Lächeln wirkte nachdenklich.

»Wir sollten nach dem Unterricht mal miteinander reden ...«, Ralf machte einen besorgten Eindruck. Ich kannte diesen Gesichtsausdruck, ich hatte ihn schon vorher bei Ralf einmal gesehen. Nach Michis Unfall, als mir Ralf seine Karte gab. Aber das war doch nur ein Traum gewesen. Das war doch nie wirklich passiert. Oder?

»Wenn du meinst ...«, die Euphorie, die ich am Morgen noch hatte, war verschwunden. Ich fühlte mich niedergeschlagen, ängstlich, unruhig und verstört. Ralfs Nähe war mir plötzlich unheimlich. Es schmerzte zu fühlen, dass ich Ralf liebte und gleichzeitig vor ihm Angst hatte.

Mir war, als wenn Ralf durchaus wahrnahm, dass sich etwas zwischen uns verändert hatte. Aber er ging nicht weiter darauf ein. Während der restlichen Stunden war er einfach der nette Sunnyboy. Aber in seinen Augen konnte man einen Schmerz sehen. Er spürte, dass ich Distanz suchte und dies schien ihn sehr zu verletzen. Mich aber auch. Aber warum, verdammt nochmal, half er mir nicht?


»Ok, sagst du mir jetzt was los ist?«, wir waren auf dem Heimweg. Wie angedroht, wollte Ralf von mir wissen, was mit mir los war. Als wenn das so einfach war. Gestern hatte ich ihm noch meine Liebe gestanden und heute traute ich ihm nicht mehr über den Weg.

»Nichts ... Es ist nichts ... Nichts, dass du ändern könntest. Bei mir passieren im Moment so viele Dinge. Die Sache mit meinem Paps, dann du ... Ich weiß auch nicht ...«

Ein Lüge. Ich wusste ganz genau, was los war, nur nicht warum. Warum fühlte ich mich nicht in der Lage, es Ralf zu sagen? Warum hatte ich plötzlich Angst vor ihm?

Plötzlich packte mich Ralf an den Schultern. Panik. Ich zuckte zusammen. Ich bekam Angst. Ich weiß nicht wieso, aber ich bekam fürchterliche Angst.

»Tobi, was ist mir dir? Ich versteh dich nicht? Du blockst mich hab. Was hat sich seit gestern verändert? Sag's mir!«, Ralf wirkte völlig verzweifelt, aber das änderte meine Angst nicht. Ganz im Gegenteil. Sein Augen funkelten dunkelrot durchsetzt mit weißen Blitzen. Es wirkte so bedrohlich. Er wirkte bedrohlich. Er schien wieder in meinem Gesicht lesen zu wollen. Mir schnürte es vor Angst den Hals zusammen. Ich wollte bloß weg, doch Ralf hielt mich fest. Fester als er wohl beabsichtigt hatte.

Und dann geschah es wieder.

»Las mich los!«, ich sprach die Worte und stieß Ralf gedanklich von mir. Ich konnte es nicht kontrollieren. Meine Gedanken nahmen Struktur an. Eine unsichtbare Kraft packte Ralf und schleuderte ihn weg. Oder war es nur Einbildung? Es interessierte mich nicht. Ich hörte nur noch ein »Ummpf«, dann rannte ich fort.

Was für ein Monster war aus mir geworden? Ich merkte, dass ich beim Laufen zitterte. Ich lief und lief und lief. Ich wusste nicht, wohin ich lief, denn ich lief ohne Ziel, ohne Richtung. Dort angekommen, wo immer das auch war, hielt ich an. Ich hockte mich unter einen hohen Baum, zog die Beine dicht an mich und umschlang sie mit meinen Armen. Ich hatte seit Jahren nicht mehr geweint, richtig geweint, aber in diesem Moment konnte ich es nicht mehr kontrollieren. Es lief einfach aus mir raus. Ich war der einsamste Mensch auf der Welt.


»Ach, wen haben wir denn da? Wenn das nicht unser alter Freund Tobias ist?«

Die Stimme klang irgendwie bekannt. Ich sah auf und versuchte mich zu orientieren. Ich war in den Invalidenpark gerannt, unweit der Stelle aus meinem Traum. Die Stimme gehörte aber nicht Ralf, sondern Carsten.

»Oh, hat unser kleiner Junge geweint?«, Carstens Sarkasmus war so billig wie eine Folge GZSZ. Dagegen hatte Nils schauspielerischen Leistungen fast noch Qualität. Seinem Idol beraubt, meinte Carsten, er müsse dessen Rolle in der Zweitbesetzung übernehmen. Ein peinliches Unterfangen, das meine Situation aber nicht besser machte, denn Carsten war nicht allein, sondern zu fünft. Zwei Jungs kannte ich aus meiner Schule. Mirco und Hark, beide Muskelpakete und beide bekannt dafür, dass sie ebenfalls Schutzgelder erpressten. Von Hark hieß es, dass er neben dem Schutzgeld auch einen schwunghaften Handel mit allerlei Partydrogen unterhielt. In der Wirtschaft nennt man so was wohl Diversifikation.

»Eigentlich wollten wir ja zu dir kommen, um dir einen Gruß von Nils auszurichten, aber ich finde es ausgesprochen zuvorkommend, dass du direkt zu uns kommst. Achim, Thorsten passt auf, dass wir eine Weile ungestört sind. Mirco, Hark geleitet unseren Freund doch ein Stückchen weit ins Unterholz.«

Ich wurde gepackt und mitgezerrt. Im Park gab es offensichtlich eine lichte, aber auch schattig-dunkle Stelle, die von dichten Büschen und hohen Bäumen umgeben war. Von außen nicht einsehbar. Man musste wissen, wo sie sich befand. Eine Seite der Lichtung bestand aus einer Felswand. Ich erinnerte mich daran, dass die andere Seite der Felswand einen künstlichen Wasserfall bildete. Nicht umsonst galt der Invalidenpark als ein Meisterwerk der Gartenbaukunst. Dieses Wissen half mir aber auch nicht weiter. Hark und Mirco pressten mich fest an den kalten Stein, während Carsten sich vor mir aufbaute.

Seine Mimik war so hoffnungslos lächerlich und aufgesetzt, dass ich fast laut loslachen musste. Das Dumme war, die Situation war alles andere als lächerlich.

»Tobi, Tobi, Tobi, was sollen wir nur mit dir anstellen?«

»Ihr könntet mich einfach gehen lassen.«

Falsche Antwort! Carstens Faust bahnte sich ihren Weg in meinen Magen.

»Passt auf, dass er sich nicht bewegt. Wenn er auch nur zuckt, schlagt ihn zusammen. Ich möchte nicht wie Nils enden. Tja Nils, der Arme. Du hast ihm seine Hand zerschmettert, ob er sie je wieder richtig benutzen kann, ist fraglich.«

»Ich habe seine Hand zerschmettert? Das wüsste ich aber!«, auch wenn mir diese zwei Sätze einen weiteren Schlag in den Magen einbrachten, ich konnten diesen Schwachsinn nicht weiter ertragen.

»Scheiße Carsten, hör mit dem Spiel auf. Sag' mir, was du von mir willst!«

Wenn Carsten doch mit diesem blöden Grinsen aufhören würde. Die Darstellung eines jugendlichen Kleinkriminellen war mit ihm einfach falsch besetzt.

»Weißt du, eigentlich sollte ich dir dankbar sein. Dank dir, ist Nils aus dem Geschäft. Alle Klienten fallen somit an mich ...« soviel zum Thema Ganovenehre, »... andererseits fühle ich mich Nils gegenüber verpflichtet. Weißt du, ich war gestern bei ihm im Krankenhaus, wir haben ein bisschen geplaudert und da kam auch die Sprache auf dich. Nils ist dir nicht böse.«

Da war ich aber mächtig glücklich und beruhigt.

»Nein, er versteht dein Handeln sehr gut und bittet mich, dir Grüße auszurichten. Sollte ich dich sehen. Er möchte, dass du dich genau so wohl fühlst, wie er.«, Carstens Grinsen entblößte seine ungepflegten Zähne in dessen Zwischenräumen noch ein halber Hamburger hing.

»Mirco wärst du so freundlich?«

Hark packte mich fester während Mirco mich los ließ, den Reißverschluss seiner Bomberjacke öffnete und einen Baseballschläger heraus zog. In der Zwischenzeit packte Carsten meine rechte Hand, die ich ihm nur widerwillig überließ.

»Tobi, stell dich nicht so jämmerlich an. Du weißt, dass es unvermeidlich ist, also nimm es wie ein Mann.«

Aus welchen schlechten Filmen klauen die bloß ihre blöden Sprüche? Dummerweise war der letzte Spruch zwar dumm, traf aber meine Situation ziemlich exakt.

Meine rechte Hand wurde also auf einem Stapel Waschbetonplatten platziert, den die Landschaftsbauer wohl auf der Lichtung vergessen hatten. Hark hielt meinen Körper fest, Carsten hielt mein Handgelenk fest und Mirco holte aus.

»Aber pass auf, dass du mich nicht triffst.«

Ich sah den Schläger herabsausen und wartete auf das »Plop«. Auf den Moment, in dem sich die Zeit um mich verlangsamte und ich mich dieser unangenehmen Situation entziehen konnte.

Aber das »Plop« kam nicht. Keine Zeitlupe. Kein übernatürliches Wunder, bei dem sich die Zeit veränderte und ich mich der Bedrohung entziehen konnte. Also war doch nur alles Einbildung gewesen. Wahrscheinlich nur eine Projektion der Frustration über die Reaktion meines Vaters. Oder eine Methode, mit dem Unfall von Michi fertig zu werden. Es war ja auch alles plausibel erklärbar. Das Pendel war wirklich ferngesteuert und Michi hatte einfach nur Glück gehabt. Super, ich war also völlig normal und kein verkappter Superheld mit telekinetischen Fähigkeiten. Schade eigentlich. So sehr ich mir auch gewünscht hatte, dass alles wirklich nur Einbildung sei, so sehr provozierte der niedersausende Baseballschläger den Wunsch, dass es doch nicht nur Einbildung war.

Im gleichen Moment, wie mir meine verletzliche Hülle bewusst wurde, kippte meine Stimmung um. Auf wen soll man sich in solch einer Situation verlassen, wenn nicht auf sich selbst? Was hatte Carsten zu Mirco gesagt? »Aber pass auf, dass du mich nicht triffst.« Carsten hielt mein Handgelenk fest, während Hark meinen Körper fest hielt. Allerdings nicht so fest, wie er es sollte. Diese Aushilfsschläger machten ihren Job wohl noch nicht sonderlich lange oder erwarteten keine Gegenwehr.

Idee und Umsetzung erfolgten gleichzeitig. Zeit zum Überlegen hätte es eh nicht gegeben. Wenn Carsten damit rechnete, dass ich versuchen würde, meine Hand wegzuziehen, dann tat ich genau das Gegenteil. Ich schob meine Hand mit einem Ruck noch ein Stückchen vor. Carstens Gesichtsausdruck war erst verblüfft, dann entsetzt und schließlich schmerzverzerrt. Meine ruckartige Bewegung in eine unerwartete Richtung hatte dafür gesorgt, dass der Schläger meine Hand nur mittelbar traf. Der Schlag wurde von Carsten Hand zu größten Teil abgefangen.

Carsten brüllte. Ich hatte das Knirschen von Knochen gehört aber nicht gespürt. Offensichtlich waren es nicht meine Knochen, die da geknirscht hatten.

»Du Schwein!«, Mirco sah mich wütend an und holte bereits zu einem Nachschlag aus. Hark war irritiert und verlor kurz die Kontrolle über seinen Griff. Bevor er wieder zupacken konnte, hatte ich mich ihm schon teilweise entwunden. Aber nicht genug. Der zweite Schlag des Schlägers traf meinen Unterarm, der sofort von einem stechenden Schmerz durchflutetet wurde.

Nur weg hier. Mit einer mich selbst überraschenden Kraftexplosion riss ich mich los und stürzte auf das umgebende Buschwerk zu. Noch bevor ich es erreichen konnte, wusste ich, dass ich verloren hatte. Zwei dunkle Figuren brachen aus dem Gehölz hervor. Fünf gegen eins. Das Spiel war aus. Ich hatte verloren.

"Befreundete" Bettnachbarn

Worin ein physischer Kampf sein Ende findet und man im Krankenhaus landet.
Außerdem stellt Tobi fest, dass die Wahl der bevorzugten Bettlektüre viel über dessen Leser aussagt.

Anders, als ich erwartet hatte, stürmten die beiden Gestalten an mir vorbei und warfen sich Hark, Mirco und Carsten entgegen. Ich drehte mich um. Der Schmerz im meinem Arm und das Halbdunkel der Lichtung hatten meinen Blick getrübt, doch jetzt konnte ich die beiden Typen erkennen. Es waren Ralf und Michi!

Michi hatte gerade Mirco den Baseballschläger entrissen und war dabei auszuholen. Ralf befand sich im Klinsch mit Hark, schien aber der überlegene zu sein und den Sieg davon zu tragen. Carsten hielt sich mit der anderen Hand sein Handgelenk und blickte entgeistert von Hark zu Mirco und schließlich zu mir.

»Dich kriegen wir noch, vanBrüggen!«, das machtlose Zischen eines Verlierers. »Los wir ziehen ab ...«

Von einem geordneten Rückzug konnte man nicht sprechen. Mirco erntete noch ein paar harmlose aber schmerzhafte Schläge mit seinem eigenen Schläger und Hark spürte diverse Tritte in seinem Arsch, bevor sie und Carsten das Dickicht erreicht hatten, wo Ralf und Michi die Verfolgung aufgaben.

»Hi!«, Ralf kam zu mir und strahlte mich glücklich an, »Na, noch alles heil?«

»Nein, mein Arm ...«, tat weh und zwar heftig. »Was machst du hier?«

Ralf sah mich traurig an und ließ seine Schultern hängen: »Ich bin dir gefolgt ... Ach, ich weiß auch nicht ... Heute Morgen war noch alles in Ordnung. Aber vorhin ... Sag' mir, was ich falsch gemacht habe. Hab' ich dich mit irgendwas verärgert? Warum bist du weggelaufen?«

Der Junge war wirklich geknickt und ich war daran nicht gerade unschuldig. Was konnte Ralf dafür, dass ich in letzter Zeit mit der Wirklichkeit auf Kriegsfuß stand? Nicht viel. Und warum ließ ich meine Paranoia an ihm aus? Schweigen im Walde ...

»Ich weiß nicht, warum ich weggelaufen bin. Es ist nur ... Momentan geht bei mir alles etwas drunter und drüber. Ich steh' seit Tagen irgendwie neben mir ... Es tut mir leid! Wirklich!«

»Ey, ganz ruhig. Wir klären das. Aber nicht jetzt. Ich glaub' wir fahren mit dir erstmal in's Krankenhaus. Dein Arm sieht schlimm aus.«

»Er fühlt sich auch so an. Mir ist schlecht.«

Unter heftigen Schmerzen kraxelte ich, unterstützt von Ralf und Michi, aus der Lichtung durch das Buschwerk heraus. Michi steuerte gezielt auf einen bestimmten Ausgang des Invalidenparks zu, an dem sich ein Taxistand befand. Invalidenpark -- Wie treffend!

Mit dem Taxi in's städtische Krankenhaus. Warten in der Notaufnahme. Anruf der Eltern, das heißt meiner Mutter. Mutter trifft aufgelöst ein. Löcher in Bauch gefragt und mit halber Wahrheit geantwortet. Die ganz Prozedur lief wie in Trance ab. Der Schmerz in meinem Arm tat seine Wirkung und vernebelte meinen Verstand. Irgendwann fand ich mich unter einem Röntgengerät wieder und eine Schwester war dabei mir eine Bleischürze umzuhängen, während ein Arzt dabei war, so vorsichtig es irgendwie ging, meinen Arm auf dem Röntgentisch zu platzieren. Es tat höllisch weh.

Warten auf die Bilder. Warten auf den Arzt. Warten, dass die Schmerzen weniger werden.

»Hm, es sieht so aus, als wenn die Elle gebrochen oder zu mindestens angebrochen ist. Wir werden gleich eine OP machen und das richten.«

Blutabnahme. Fragen zur Gesundheit. Blutdruck. Tabletten. Der Rest rauschte einfach so an mir vorbei. Spätestens nach der ersten Tablette, die man mir als Vorbereitung auf die OP gegeben hatte, war mir alles egal. Muss ein ziemliches Teufelszeug gewesen sein. Der Anästhesist war hellauf begeistert, dass ich seit dem Frühstück, dass mehr als 12 Stunden zurücklag, nichts mehr gegessen und getrunken hatte. Ich landete auf einer Liege, wurde durch endlose Korridore geschoben und endete schließlich in der Vorbereitungsschleuse zum OP-Saal. Umbetten, Verkabeln, Infusion und Blutdruckmanschette. Ein Stimme meinte ich sollte zählen und an was Nettes denken. Ralf? Ich zählt und dachte an etwas Nettes. Eins ... zwei ... drei ... Irgendwas ist hier merkwürdig ... vier ... fü...


»Ah, sind wir also wieder wach?«

Auch diese Stimme kam mir bekannt vor. Allerdings war mir der Ort unbekannt. Das lag möglicherweise daran, dass ich meine Augen noch geschlossen hielt. Wo war ich? Ach ja, dass Krankenhaus. Ich hatte mir den Arm gebrochen. Was nicht ganz stimmte. Ganz korrekt musste die Formulierung lauten: »Man hatte mir den Arm angebrochen.«

Ich erinnerte mich daran, kurz in einem Aufwachraum aufgeweckt worden zu sein. Ein Arzt teste meine Ansprechbarkeit und ich sah meinen eingegipsten Arm. Er war zufrieden und ich nicht. Danach war ich wieder eingedöst.

Ich musste wohl in einem Krankenhausbett in einem Krankenhauszimmer in einem Krankenhaus liegen. Aber warum kam mir die Stimme so bekannt vor? Ich würde es nie erfahren, wenn ich nicht meine Augen öffnen würde. Langsam öffneten sich die müden Lieder. So eine Vollnarkose haut einen wirklich um.

Es schien Abend zu sein. Das Erste, was ich erkennen konnte, war die Leuchtzeile über einem Bett, das mir gegenüber stand. Zuerst noch unscharf nahm der Raum, das Bett und sein Insasse Konturen an. Die Kontur des Insassen des Bettes mir gegenüber grinste hämisch.

»Hallo Tobi, mein alter Freund! Ist mein Gruß bei dir angekommen? Das freut mich aber.«

Ich beschloss den Tod der Person, die die Bettenbelegung in diesem Krankenhaus vornahm. Man hatte mich zusammen mit Nils in ein Zimmer gelegt. Super!

»Hallo Nils, na, wie geht's denn deinem Händchen?«

»vanBrüggen du bist ein toter Mann! Wegen dir hab' ich einen 14fachen Trümmerbruch. Die haben sieben Stunden an meiner Hand rumgefummelt, um die Knochen wieder in die richtige Reihenfolge zu bringen. Die Hand ist jetzt voller Drähte und muss noch mindestens zwei Mal aufgemacht werden. Dafür und für den Schmerz, wirst du bezahlen! Das ist ein Versprechen!«

»Nils, versprich nichts, was du nicht halten kannst! Nur zu deiner Information, mein Händchen ist noch ganz. Carsten ja nicht der Klügste. Na ja, Hand und Arm zu unterscheiden ist ja auch nicht ganz einfach.«

Gut, ich war nicht sonderlich stolz darauf Nils zu provozieren, aber es gab mir eine gewisse Genugtuung. Außerdem machte es einen heiden Spaß.

»Carsten dieser Idiot. Viel Muskeln, wenig Hirn. Aber trotzdem, er war doch nicht allein. Wie bist du alte Zecke meinen Jungs entwischt.«

»Weißt du Nils, eigentlich geht dich das ja nix an. Aber weil wir ja so gute alte Freunde sind, werd' ich es dir trotzdem erzählen. Ich habe auch Freunde! Als Ralf und Michi aufkreuzten, waren deine speziellen Freunde schneller verschwunden, als man gucken konnte.«

»Weicheier, wenn man nicht alles selber macht ... Aber glaub' ja nicht, dass die Sache damit ausgestanden ist.«

»Nils, es ist vorbei! Rühr mich nie wieder an! Ist das klar. Ich bin nicht mehr der Warmduscher von vor zwei Jahren, der alles mit sich machen ließ und sich vor Angst in die Hosen pisst. Such dir jemand anderen, den du tyrannisieren kannst. Aber mich nicht. Ich verspreche dir, wenn du mich oder einen meiner Freunde auch nur schief ansiehst, wird es dir leid tun.«

Nils musterte mich. Ich setzte mein coolstes Pokerface auf. Ich bluffte, aber dass konnte Nils nicht wissen. Typen wie Nils sind recht kalkulierbar. Sie betreiben eine Kosten/Nutzen-Abschätzung. Dadurch würde es völlig reichen, wenn er sich nicht sicher war, ob ich bluffte oder nicht. Seine Unsicherheit musste nur so groß sein, dass es die Kränkung seins Egos (und sein matsches Patschhändchen) kompensierte.

»Ich glaube du bluffst. Gut, wir werden sehen, was wirklich in dir steckt.«

Damit kehrte Stille ein. Ich sah mich im Krankenzimmer um. Nils und ich waren die einzigen Patienten. Auf meinem Nachtschrank entdeckte ich eine Genesungskarte von meiner Mutter mit den entsprechenden besten Genesungswünschen. Sie wollte heute noch vorbei kommen. Neben der Karte stand mein kleiner Funkwecker. 20:14 Uhr also noch gar nicht so spät. Sonst war da Nichts. Kaum 15 Minuten wach und schon ödete mich das Krankenhaus an.

Ich sah zu Nils rüber. Er las ein Buch, was ich ihm nie zugetraut hätte. Nils und Bücher passten ungefähr so gut zusammen, wie Männer und Frauen, nämlich gar nicht. Leider konnte ich den Titel nicht erkennen.

»Was liest du?«

»Hm?«

»Was du da liest? Der Titel?«

»Geht dich nichts an! Willst du mir etwa ein Gespräch aufdrängen?«

Nils klappte das Buch mit einer Hand zusammen, ließ aber einen Finger in der Seite stecken, die er gerade gelesen hatte.

»Ja! Mir ist langweilig.«

»Willkommen im Club. Aber, sorry ... Das ist dein Problem.«

Er öffnete das Buch wieder. Für einen kurzen Moment konnte ich etwas vom Titel entziffern, leider zu wenig.

»Ey, komm. Hier im Krankenhaus könnten wir wenigsten Waffenstillstand schließen. Draußen können wir uns ja meinetwegen die restlichen Knochen zertrümmern.«

Entnervt klappte Nils sein Buch erneut zusammen.

»Tobi, du bis unverbesserlich! Aber auf deine Art auch irgendwie cool. Ok, Waffenstillstand. Aber nur hier! Und auch nur, wenn wir alleine sind.«

»Ok, akzeptiert. Ich hab' da eine Frage, die ich dir schon immer mal Stellen wollte. Warum?«

»Warum was?«

»Warum ziehst du Leute ab? Deine Eltern haben massenweise Kohle.«

»Stimmt, meine Eltern haben Kohle satt. Und wenn klein Nils was will, dann bekommt klein Nils was er will. Ich hab' die ganz gut im Griff. Mit Kohle rüberkommen ist halt einfacher, als sich mit Sohnemann auseinander setzen zu müssen. Na ja, kann mich nicht beklagen. Das Geld stimmt wirklich und wer will sich ernsthaft mit meinen Eltern unterhalten?«

»Na also, warum dann?«

Nils grinste.

»Du bist der Erste, der das fragt. Carsten und die anderen machen's, weil sie das Geld wirklich brauchen. Obwohl Carstens Eltern Geld wie Stroh haben. Aber sie halten ihren Kleinen kurz. Aber Markenklamotten können ja recht teuer sein. Die Stiefel von CAT, die Hose von Carhardt, T-Shirt von Fishbone. Ja, ja, so was geht ins Geld. Du wirst es kaum glauben, aber ich überlass ihnen sogar das meiste von dem Geld, was wir einnehmen.«

Nils musterte mich interessiert. Er wollte wissen, was ich dachte.

»Du machst es, wegen des Kicks?«

Das war die falsche Antwort. Nils verzog enttäuscht seinen Mund, hielt sein Buch davor und schielte spöttisch über dessen Rand hinweg. Endlich konnte ich den Titel und Autor lesen. Was ich las, konnte unmöglich stimmen!

»Einmal darfst du noch!«

»Du liebst die Macht! Das ist es. Es geilt dich auf, wenn die Kids vor dir Angst haben.«

Wenn seine rechte Hand nicht verbunden gewesen wäre, hätte Nils applaudiert.

»Der Kandidat erhält hundert Punkte! Ich würd' es nicht so melodramatisch beschreiben, aber ja, es ist einfach geil, wenn die Weicheier vor einem kriechen. Dabei sind Carsten, Hark, Mirco und Co auch nicht viel besser. Die ziehen auch nur eine Schleimspur hinter sich her und küssen mir den Arsch, weil ich nichts von der Kohle abhaben will.«

Das klang schlüssig, war aber gelogen. Ich wusste es von dem Moment an, als ich den Titel seines Buches erkannte.

Nils geiferte fast vor Überheblichkeit. Es wurde Zeit ihm einen kleinen Dämpfer zu verpassen.

»Nils, du tust mir Leid. Du musst verdammt einsam sein.«

Nils überhebliches Grinsen versteinerte sich zu einer starren Maske. Seine Augen wurden zu dünnen Schlitzen.

»Treib es nicht zu weit, mein Freund. Ich wüsste nicht, wofür ich dein Mitleid bräuchte. Immerhin habe ich dich unterschätzt. Du hast dich stärker verändert, als ich gedacht habe. Tobi, der Looser ist tatsächlich verschwunden. Erzähl mal, was ist deine Gesichte? Was hat dich so verändert, dass du dir den gefährlichen Luxus eines Rückgrats leistest? Nicht, dass es dir etwas nützen wird, wenn ich wieder draußen bin. Aber interessieren würd' es mich schon ...«

»Ich habe das hinter mir, was dir noch bevor steht.«

Das sollte ihn aus der Reserve locken. Nils zog seine Augenbrauen runter, seine Stirn kräuselte sich.

»Hä, was meinst du damit?«

»Ich rede von meinem Coming-Out, du Arschloch. Etwas, dass du wohl noch nicht gepackt hast und mit deinem scheiß Charakter und der Art, wie du mit Menschen umgehst, wohl auch nie packen wirst!«

»Du bist schwul?«, Nils war verblüfft.

»Du etwa nicht?«, das saß. Nils wurde kreidebleich.

»Ich bin nicht schwul!«

»Nein, natürlich nicht! Deswegen ließt du ja auch ein schwules Buch.«

Nils ließ das Buch in seiner Hand fallen, als wenn es ihn gerade gebissen hätte.

»Ach was, dass ist doch nur eine Geschichte. Was soll man in diesem Krankenhaus sonst machen, als lesen? Man hat mir das Buch empfohlen. Du glaubst doch wohl nicht ernsthaft, dass ich schwul bin? Das ist doch lächerlich.«

»Nils, du bist ein lausiger Lügner. Außerdem liegen da noch mehr Bücher auf deinem Nachttisch. Junge, du bist so was von arrogant und überheblich. Lässt die Teile einfach offen liegen, weil du genau weißt, dass sie Carsten und den anderen nichts sagen. Pech nur, dass ich mindestens drei deiner Bücher auch gelesen habe.«

Nils zuckte mit den Schultern. Immerhin wusste er, wann er verloren hatte.

»Und, was wirst du jetzt tun? Soll ich dir jetzt Geld zahlen, damit du die Klappe hälst?«

»Glaubst du das wirklich?«

»Nee, irgendwie nicht.«

»Ich werd' dir sagen, was ich tuen werde: Gar nichts

»Wo ist der Haken?«

»Hör' auf Leute abzuziehen.«

»Sonst was? Wirst du sonst doch rumtrompeten, dass ich schwul bin?«

»Du musst nicht von dir auf andere schließen. Aber nein, ich werde nicht rumtrompeten, dass du schwul bist. Ich weiß nicht, was ich tun werde. Aber ich werde genauso wenig zulassen, dass du andere dafür leiden lässt, dass du mit dir selbst nicht klarkommst.«

Ich war von mir selbst beeindruckt. Was verzapfte ich da eigentlich für einen Unsinn? Aber Nils ging mir einfach auf den Senkel. Eigentlich war er ein ziemlich jämmerlicher Typ.

Nils griff wieder zu seinem Buch. Ich versuchte zu schlafen, aber das Schmerzmittel, dass man mir nach der OP verabreicht hatte, ließ in seiner Wirkung nach. Ich wälzte mich unruhig in meinem Bett umher.

»Hast du eigentlich einen Freund?«, Nils hatte sein Buch wieder weggelegt.

»Was wird das hier? Soll ich dir mein Leben erzählen? Das Leben des Tobi vanBrüggen?«

»Entschuldigung, ich hab' ja nur gefragt.«

»Nils, du bist krank! Siehst du diesen schönen Gips? Diesen wunderschönen Gips? Und die Schmerzen, die unter dem Gips stecken? Oder die OP, die ich vorhin hatte? All diese wunderbaren Dinge habe ich wegen dir. Du hast deine tollen Freunde beauftragt, mir meine Hand zu Klump zu schlagen. Glaubst du ernsthaft, dass ich auch nur ansatzweise ein Interesse daran habe, mich mit dir zu unterhalten? Sag' mal hast du eigentlich die geringste Vorstellung davon, was ihr da tut? Vergiss jetzt mal, dass das Körperverletzung ist, das sollte sogar dir klar sein. Das mein ich nicht. Kannst du dir vorstellen, was es heißt täglich in eine Schule gehen zu müssen, wo einem ständig solche Arschlöcher wie du auflauern?«

Eine allergische Reaktion? Ein paar Worte von Nils reichten und ich war am ausflippen. Früher hat mir der Typ eine wahnsinns Angst eingejagt, doch so, wie er da immer noch selbstgefällig in seinem Bett lag, brachte er mich nur vor Wut zum kochen.

»Willst du mich jetzt bekehren oder was?«

»Eher: Oder was? Dich bekehren? Bin ich Jesus? Wächst mir Gras in den Taschen? Aber drehen wir die Sache doch mal um. Wohin hat dich denn dein toller Charakter gebracht? Deine rechte Hand ist Knochenpüree, du hast keine wirklichen Freunde und bekommst dein Coming-Out nicht gebacken. Also an deiner Stelle, würd' ich mir schon mal überlegen, ob bisher für dich alles so wirklich perfekt gelaufen ist. Aber das ist ja glücklicherweise dein Problem ... Ok, einen Tipp geb' ich dir noch mit auf den Weg. Lies die Bücher, die du da hast. In einer der Geschichten wirst du dich bestimmt wiedererkennen.«

Ich hatte genug von Nils. Ich wälzte mich zum hundertsten Mal in meinem Bett herum, um endlich eine erträgliche Liegeposition zu finden.

»Tobi, weißt du eigentlich, dass du ein wirklich schnuckeliges Kerlchen geworden bist?«

»Lieber Gott, was habe ich getan, dass du mich mit diesem Krankenhauszimmer gestraft hast?«

Waffenstillstand

Unser Held erhält einen Krankenbesuch und ein vergessen geglaubtes Papierstück bringt sich unangenehm in Erinnerung.

Ich wollte Nils gerade eine passende Entgegnung entgegenwerfen, als die Zimmertür aufsprang und Ralf, meine Mum und Michi hereinspaziert kamen.

»Hi Schatz, bist du wieder wach? Wie geht's dir denn?«, das war nicht Ralf sondern meine Mutter.

»Wie sagt man in solchen Fällen noch gleich: ,Den Umständen entsprechend.' Wie auch immer, mir brummt der Schädel von der Narkose und mein Arm tut mir weh.«

»Du musst mir mal bei Gelegenheit erklären, wie du nur so unglücklich stolpern konntest, dass du dir dabei den Arm gebrochen hast. Aber heute bin ich erstmal froh, dass es dir gut geht.«, sprach's und küsste mir auf die Stirn. Die nächste viertel Stunde plauderte ich ausschließlich mit einer Mutter. Wir besprachen alle möglichen Dinge, die man in einer solchen Situation bespricht. Mum dankte Michi und Ralf, dass sie mich in's Krankenhaus gebracht hatte, erzählte noch etwas, dass sie Blut und Wasser geschwitzt hatte, als sie hörte, dass mir was passiert war und war schließlich irgendwann fertig mit erzählen.

»So und jetzt lass ich dich mit deinen Freunden alleine. Ich komme morgen wieder und bring dir ein paar Sachen mit. Fernseher?«

»Ja, Mum! Danke!«

Noch ein Kuss auf die Stirn und weg war sie.

Ralf, Michi, ich und mein spezieller Freund Nils waren allein. Noch während meine Mutter anwesend war, hatte Michi die ganze Zeit Nils belauert.

»Meinen die das vom Krankenhaus ernst? Dich mit dem Typen in ein Zimmer zu stecken?«

»Ich befürchte ja. So wie ich den Laden einschätze, fanden die dass bestimmt eine tolle Idee. Zwei Jungs sicher passen besser zusammen, als ein Junge mit irgend 'nem halbtoten 90jährigen.«

»Hat er schon was gesagt?«

Seit meine Freunde und meine Mum da waren, hatte Nils keinen Pieps von sich gegeben und sein Buch weitergelesen. Michi musterte Nils skeptisch. Ralf musterte Nils Bücher und kräuselte seine Stirn.

»Oh, wir haben Waffenstillstand geschlossen. Nicht war Nils?«

»Ich lese!«

»Komm, vorhin warst du nicht so zugeknöpft ...«

»Pfft ...«

Michi sah etwas irritiert zwischen Nils und mir hin und her und wandte sich schließlich an Nils.

»Wenn du Tobi auch nur eine Haar krümmst, kannst du zu deiner linken Hand ebenfalls Sayonara sagen.«

»Uhhh, da bekomm' ich ja mächtig Angst. Tobi, Schätzchen, sind diese beiden Type etwa alles, was du an Hausmacht gegen mich aufbringen kannst?«

Ich wollte gerade etwas entgegnen, als mir Ralf mit einer Handbewegung signalisierte, es nicht zu tun. Stattdessen baute sich Ralf über Nils auf. Man muss sich das folgendermaßen vorstellen: Nils rechte Hand lag in Gips und war fixiert. Es konnte sich also kaum bewegen. Ralf kam von der linken Seite und parkte eine seine Hände auf der einen Seite von Nils Kopf und seine andere auf der anderen Seite. Dadurch richtete er Nils Haupt und insbesondere seinen Blick auf sich aus. Ich wusste ganz genau, dass Ralf sein härtestes Killerlächeln aufgesetzt hatte.

Im allerfeinsten und süßesten Säuseltonfall, den ich je gehört habe, begann er zu sprechen, oder besser zu flüstern: »Wenn du auch nur daran denkst, meinem Schatz schief anzusehen oder dafür sorgst, dass er von einem deiner Freunde schief angesehen wird, reiß ich dir die Eier ab. Das ist ein Versprechen.«

Im Gegensatz zu Nils, dessen Versuch mit der Bad Guy-Nummer wie Schmierentheater wirkte, kam Ralfs Drohung erschreckend glaubwürdig rüber.

»Es ist Ok, Ralf. Wir sind cool!«, Nils Stimme zitterte vor Angst. Ralfs Vorstellung war überzeugend, aber das Nils gleich in Panik verfiel, war dann doch überraschend. »Tobi, bitte sag' Ralf das wir Cool sind. Wir haben unsere Differenzen geklärt.«

Ralf hielt Nils immer noch fest im Blick. Der Betroffene schien unter diesem Blick immer stärker in Angst und fast Hysterie zu verfallen.

»Tobi, bitte sag' Ralf er soll aufhören mich so anzusehen. Ok, Ok, Ok, ich entschuldige mich ... Tobi, es tut mir leid. Ich fass dich nie wieder an und auch keiner meiner Leute wird das jemals tun. Ich verspreche es. Nur, bitte, er soll aufhören mich so anzustarren. Bitte ...«

Ich fühlte etwas. Nils Stimme hatte sich auf ein Flehen reduziert. Ein Flehen, das völlig glaubwürdig und überzeugend war. Von meiner Bettposition sah es so aus, als wenn Nils dem Blick von Ralf zu entfliehen versuchte, aber Ralf schien jeder ausweichenden Bewegung zu folgen. Nils schloss seine Augen, um den Blick von Ralf nicht weiter ertragen zu müssen. Aber, als wenn er unter einem fremden Einfluss stehen würde, riss er plötzlich seine Augen wieder auf und starrte Ralf an.

»Tobi, reicht dir diese Entschuldigung?«, Ralf fragte mich, ohne Nils auch nur einen Moment aus seinem Blick zu lassen.

»Ja, es ist Ok. Ich will nur meine Ruhe haben.«

»Gut!«, in dem Moment als Ralf sich entspannte, lockerte sich auch Nils verkrampfte Haltung. Seine Augen schrumpften wieder auf Normalgröße, die Panik wich aus seinem Gesicht, »Nils, wenn ich auch nur einmal höre, dass du dich nicht an dein Versprechen hältst, werde ich dich besuchen kommen.«

Mit diesen Worten war Ralf mit Nils fertig. Ralf trat an mein Bett und betrachtete mich. Ralf und sein Lächeln. Wenn ich nicht schon gelegen hätte, hätte ich mich spätestens jetzt hinlegen müssen.

»Ich verdanke euch wohl, dass mir nicht noch mehr passiert ist.«

Eine leichte Untertreibung. Ich verdankte Michi und Ralf mein Leben. Wären die beiden mir nicht gefolgt und hätten sich nicht eingemischt, hätten Carsten und seine Leute die Sache zu Ende gebracht. Da ich mich gewehrt hatte und Carsten getroffen wurde, hätten sie die Sache wohl endgültig zu Ende gebracht.

Ich sah' Michi und Ralf dankbar an. Ich hatte zwar nur zwei Freunde, aber dafür die besten, die man haben konnte. Und das Beste war, Ralf war sogar mehr als ein Freund, er war mein Freund. Das spürte ich deutlicher als jemals zuvor.

Michi spürte das offenbar auch und grinste uns frech an: »Na, ich muss los. Ralf wir sehen uns morgen. Ich nehme mal an, du bleibst noch ein bisschen länger, oder?«

»Ja ...«, völlig in Gedanke funkelte mich Ralf mit blau-silbernen Funken in den Augen an, »Ich bleibe noch eine Weile ... Bis Morgen, Michi!«

Michi schob ab. Ralf, Nils und ich waren die Einzigen im Zimmer. Der Raum war dunkel und nur von den Leuchtzeilen über Nils und meinem Bett schwach erhellt. Ralf zog sich einen Stuhl heran und setzt sich direkt neben mich.

»Du wolltest mir noch erzählen, warum du eigentlich weggelaufen bist.«

Oh, dieser Mann war hart. Ralf sah mich wieder mit seinem forschenden Blick an. Das rote Funkeln war zurück. Er lächelte, aber es war ein ernstes, nachdrückliches Lächeln. Ich konnte seinem Blick nicht lange standhalten. Im Rückblick kam mir meine Reaktion lächerlich vor und ich schämte mich davor. Übersinnliches. Telekinese. Wie war ich nur auf eine solche Schwachsinnsidee gekommen? Und wie konnte ich ernsthaft Ralf damit in Verbindung bringen?

Nachdem ich minutenlang erfolglos versucht hatte, Löcher in die Krankenhausbettdecke zu starren, bemerkte ich, dass Ralf meine rechte Hand hielt. Er hielt sie so zärtlich, dass ich es zuerst gar nicht bemerkt hatte. Es muss wohl die Kraft der Liebe gewesen sein, denn mit seiner Berührung war auch der Schmerz unter meinem Gips gewichen.

Etwas erschrocken sah ich Ralf an. Er wartete immer noch geduldig auf meine Antwort und hätte wohl auch noch Tage auf dem Stuhl ausgeharrt, bis ich sie ihm gegeben hätte.

»Ralf, ich weiß es nicht. Hm, ich stand in letzter Zeit ziemlich unter emotionalen Stress. Zuerst war da Unfall mit Michi. Der hat mir einen verdammten Schrecken eingejagt, aber auch zu einer Entscheidung geführt. Mir wurde klar, dass Michi genauso gut jetzt Tod sein könnte. Er war bis dahin mein einziger Freund! Es war einfach Zeit, ich musste irgendjemand sagen, dass ich schwul bin. Und wenn nicht ihm, wen dann sonst?«

Ralfs Kopfbewegung signalisierte Zustimmung.

»Das klappte auch ganz gut. Aber dann kam mein Paps dazwischen. Seine Reaktion war mehr Grobschnitt. Er ist von Zuhause ausgezogen. Und zum Schluss bist du dann auch noch aufgetaucht. Das war alles etwas viel auf einmal. Ich hab' regelrecht Halluzinationen erlebt.«

»Wie bitte?«

Ich erzählte Ralf ein wenig, aber auch nicht alles. Ich erzählte ihm, wie ich Michis Unfall wahrgenommen hatte, die Sache mit meinem Vater, die Konfrontation mit Nils und schließlich die Sache mit dem Pendel.

»Ich hab' zeitweise wirklich geglaubt, dass wäre alles Realität und das du da irgendwie mit drinstecken tust. Aber wenn dem wirklich so wäre, dann hätte ich jetzt nicht das hier.«

Ich hob meinen eingegipsten Arm hoch. Nils machte Stielaugen und versuchte unserer Unterhaltung zu folgen, aber wir hatten sehr leise gesprochen. Da er nichts verstanden hatte, begann er demonstrativ in seinem Buch zu lesen. Ralf blinzelte mich an, antwortete aber nicht direkt auf meine Schilderung.

»Ob nun übernatürlich oder nicht: Tobi, ich liebe dich!«

Mit diesen Worten erhob er sich von seinem Stuhl und nahm ganz vorsichtig meinen Kopf in seine Hände. Sein Kopf näherte sich meinem, die Blicke unserer Augen rasteten ineinander ein und schließlich berührten sich unsere Lippen, die natürlich nicht lange geschlossen blieben.

»Wow, Tobi! Ist der Typ etwa dein Freund?«

Nils Stimme klang richtig neidisch. Ralf und ich trennten uns voneinander. Diesmal setzte ich ein fies-überhebliches Grinsen auf.

»Yap! Ralf ist mein Freund. Mein Lover, wenn du es genau wissen willst.«

Ralf war verblüfft: »Nils weiß das du schwul bist?«

»Oh ja, dass ist uns vorhin so rausgerutscht ... Nicht war Nils«»

Nils knurrte.

»Unser gewalttätiger Freund da drüben im Bett hat nämlich nicht damit gerechnet, dass jemand anderes außer ihm seine Bettlektüre kennen würde.«

Ralfs verblüffter Gesichtsausdruck wechselte. Seine Grübelfalten auf der Stirn glätteten sich, als ihm klar wurde, was ich meinte.

»Ja, die Bücher hab ich vorhin auch schon gesehen und mir meinen Teil gedacht.«

»Nich' war? Er hat natürlich zuerst geleugnet, aber als ich die Bücher erwähnte ...«

»Ein schwules Arschloch! So was gibt es wirklich. Sie sind zwar sehr selten, aber sie kommen leider immer mal wieder vor.«

Für diesen Spruch handelte sich Ralf eine geknurrte Missbilligung von Nils ein.

»Nils, reg dich ab. Wir werden dein tolles Geheimnis schon nicht ausposaunen.«

Nils knurrte erneut: »Oh Mann! Ihr zwei seit ja so was von unerträglich edel. Die totalen Gutmenschen. Aufrichtig. Tolerant. Verständnisvoll. Oh Mann, eure moralischen Schleimspuren sind ekelerregend.«

»Was hat der denn?«, Ralf sah mich fragend an.

»Keine Ahnung, wahrscheinlich PMS! Soll's ja auch bei Männern geben.«


Nach unserer letzten Bemerkung herrschte bei Nils fortan Sendepause. Er vertiefe sich in seinem Buch und ignorierte den Rest der Welt. Ralf hingegen vertiefte sich in ein Gespräch mit mir. Er erzählte mir, was er sich für Sorgen gemacht hatte, als ich weggelaufen war und dass es Michi war, der ihn überredet hatte, mir zu folgen.

»Tobi, ey, wofür ist ein Freund -- dein Freund -- denn da, wenn nicht dann, wenn du Probleme hast? So merkwürdig die auch immer sein mögen.«

Er hatte Recht und im Nachhinein kam mir mein Verhalten selbst lächerlich vor. Lächerlich und dämlich! Ohne meinen Ausraster hätte ich jetzt keinen gebrochenen Arm.

Hatte ich eigentlich schon erzählt, dass Ralf nicht nur ständig grinste oder lächelte, sondern auch keinen Respekt vor irgendwas hatte. Insbesondere für das normale Verhalten in Krankenhäusern. Nachdem wir eine Weile miteinander geredet hatten, fing Ralf plötzlich an sich von seinem Stuhl zu erheben und seinen Kopf in Richtung meines Kopfes zu bewegen. Kaum das ich realisierte, was er da tat, waren wir auch schon dabei unsere Lippen genussvoll aufeinander zu pressen. Ralfs Hände waren irgendwie auch involviert und wanderten unter die Bettdecke, um meine Brust zu streicheln. Tiefer zu gehen, traute er sich dann doch nicht. Außerdem waren wir noch nicht so weit gewesen. Ich konnte mich leider nur mit einer Hand revanchieren.

»Ähm, ich glaube es ist wohl besser, wenn Sie jetzt gehen. Wir haben zwar keine expliziten Besuchszeiten, aber jetzt herrscht offiziell Nachtruhe!«

Wir hatten die Schwester nicht kommen hören und schreckten erst schuldbewusst und mit dem unangenehmen Gefühl bei etwas Verbotenem ertappt worden zu sein, als sie direkt hinter Ralf stand.

»Ähm, ja. Ich glaub' ich muss wirklich los.«, Ralf sah richtig niedlich aus, wenn er verlegen nach passenden Worten suchte. »Ich besuch' dich morgen wieder. Ach ja, wenn was ist. Hier hast du meine Nummer.« Ralf zückte seine Brieftasche, zog eine kleine Karte heraus und legte sie auf meinen Nachttischschrank. Ein tiefer Kuss von ihm und ein missbilligendes Knurren von der Schwester und Ralf war fort.

»So, ist hier jetzt alles in Ordnung?«, die Nachtschwester sah sich prüfend um. Ihr Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran offen, dass sie nicht sonderlich begeistert wäre, wenn nicht alles in Ordnung war. Aber wer legt sich schon freiwillig mit einer Krankenschwester an? Nils und ich sagten. »Alles Ok.«, die Schwester grunzte und war weg. Wir waren allein.

Nils schien nicht mehr an einer weiteren Unterhaltung interessiert. Er legte sein Buch weg und löschte seine Lampe. Das war eine gute Idee. Ich fühlte selbst, wie mich plötzlich eine starke Müdigkeit überkam, und wollte ebenfalls mein Licht löschen, als mir Ralfs Karte einfiel. Sie war eigentlich uninteressant, aber ein merkwürdiger Impuls ließ mich nicht ruhen, bevor ich sie nicht mindestens einmal gelesen hätte. Mühsam angelte ich mir mit meiner linken Hand die Karte vom Nachtischschrank. Warum sind diese Krankenhausrollteile auch so entsetzlich hoch gebaut?

Endlich hielt ich die Karte in der Hand. Eine Pappkarte. In der Größe einer normalen Visitenkarte. Die Karte war fast leer. Auf der einen Seite war mit Filzstift ein Wort geschrieben worden: »Ralf«. Auf der anderen Seite stand eine Telefonnummer -- Es war die Telefonnummer!

Vor Schreck entwich mir ein Seufzer. Zahlen liegen mir. Insbesondere Telefonnummern. Einmal gesehen und ich hab' sie im Kopf. Ich kannte diese Nummer. Es war die gleiche Nummer, wie in diesem merkwürdigen Traum. War es ein Traum? Ich kratzte mir am Kopf. Irgendetwas stimmte hier nicht. Ich wusste, dass es die Nummer aus meinem Traum war. Diesem merkwürdigen Treffen mit Ralf nach Michis Unfall. Wie gesagt, ich bin gut mit Nummern. Doch diese Nummer bildete eine Ausnahme. Drehte ich die Karte um und sah nur Ralfs Namen, war ich nicht in der Lage, auch nur eine Ziffer seiner Telefonnummer zu benennen. Drehte ich die Karte wieder um, war sofort alles klar: Das war Ralfs Nummer und keine andere.

Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte mich gerade damit abgefunden, dass ich einfach nur die letzten Tage emotional neben mir gestanden und es definitiv keine übernatürlichen Erscheinungen, welcher Art auch immer, gegeben hatte und dann spielte eine simple Pappkarte Verstecken mit mir und brachte mich erneut aus dem Konzept. Und wieder schüttelte ich meinen Kopf. So merkwürdig die Karte auch war, so überflüssig war sie. Ich hatte überhaupt kein Telefon und würde frühstens in ein paar Tagen eins erhalten, da alle Leihtelefone des Krankenhauses verliehen waren und Handys waren sowieso verboten.

Ich wollte den Papierschnipsel gerade zurück auf den Nachtschrank legen, als dieser, genau wie vor ein paar Tagen das andere Exemplar seiner Gattung, an meinem Nervenkostüm kratzte. Aus dem Augenwinkel sah es so aus, als wenn die Telefonnummer verschwunden und stattdessen ein andere Text erschienen war: »Wozu ein Telefon?«

Und wieder ein Kopfschütteln, diesmal mit integriertem Augenschließen. »Wenn ich die Augen wieder öffne ...«, so dachte ich zu mir selbst, »... steht dort Ralfs Telefonnummer und nichts anderes!«

Die Karte gehorchte mir aufs Wort: Ralfs Telefonnummer. Ich legte diesen mentalen Unruhestifter auf den Nachttischschrank, schaltete entnervt mein Licht aus und versuchte einzuschlafen.

Die andere Seite

Worin unser Held einen merkwürdigen Traum träumt.
Am nächsten Morgen sorgt ein verwirrter Weißkittel für Verwirrung wegen verwirrender Bluttests.

»Du bist spät ...«

Ein anderer Raum, aber eine vertraute Stimme.

»Wo bin ich?«

Mein gegenüber lächelte, seine Augen funkelten grün.

»Eine interessante Frage und gar nicht so leicht zu beantworten ...«

»Was bin ich? Was bist du?«

Das Lächeln wurde breiter. Das Funkeln wirkte amüsiert.

»Objektiv betrachtet: ein Mensch. Das gilt für dich genauso wie für mich.«

Ich versuchte mich zu konzentrieren. Irgendetwas war merkwürdig. Nur was? Bei dem Versuch mich umzusehen wurde mir schnell klar, was merkwürdig war. Mir fehlte der Körper. Ich konnte mich zwar umsehen, aber ich konnte mich nicht sehen. Ich fühlte mich nicht einmal. Dafür war meine Wahrnehmung überraschend anders. Es fehlte die Ortsbestimmtheit. Wenn man mit Augen schaut, schaut man in eine bestimmte Blickrichtung. Da ich keine Augen hatte, schien ich in alle Richtungen gleichzeitig zu sehen. Trotzdem konnte ich mich irgendwie orientieren. Es war, als wenn ich meine Rundumsicht auf einen bestimmten Punkt fokussieren konnte. Ich sah immer noch alles, aber das was mich interessierte, trat in den Vordergrund. Alles sehr merkwürdig.

»Ich sollte dich kennen. Das glaub ich jedenfalls ... Aber ich kann mich nicht erinnern.«

Die Person, die meinem nicht vorhandenen Körper gegenübersaß, kam mir bekannt vor. Doch woher, wusste ich nicht genau.

»Ich bin Ralf.«

»Hm, ich habe das Gefühl, dass mir das etwas sagen sollte. Ich glaube ich müsste dich kennen. Aber ich kann mich nicht erinnern ... Ich weiß nicht einmal, wer ich bin ...«

»Du bist Tobi!«, dieser Ralf lächelte wieder. Offensichtlich kannte er mich.

»Tobi? Bist du sicher? Klingt bekannt, aber ... Moment mal, du sagtest: ,Du bist spät!« Hast du mich erwartet?»

»Ich habe dich gerufen ...«

»Du hast mich gerufen? Hm, ich kann mich nicht erinnern ... Warum?«

»Um dir Wissen zu geben ...«

Die Person, die sich Ralf nannte, erhob sich. Dabei veränderte sich sein Erscheinungsbild; er wurde transparent und schließlich glasklar. Ein Lichtstrahl, der aus einer nicht bestimmbaren Quelle zu kommen schien, traf diesen Glasralf. Er funkelte in allen Regenbogenfarben, um plötzlich in Myriaden winzig kleiner Prismen zu zerplatzen. Die Prismen umhüllten meinen nicht vorhandenen Körper und berührten mich. Jede Berührung war wie eine kleine elektrische Entladung. Allerdings floss kein Strom, sondern Wissen. Enzyklopädien von Wissen flossen in mich hinein. Aber nicht nur Wissen, auch Bilder von Gemälden, Skulpturen, heiligen Ikonen. Mich durchströmten Sprachen, Ideen, Philosophien, Religionen. Immer und immer schneller prasselten die Prismen auf mich ein. Konzepte der Mathematik, Biologie, Physik, Soziologie, Psychologie, Medizin schlugen auf mich ein wie Meteoriten auf die urzeitliche Erde.

Mir wurde schwindelig. Jegliche Orientierung hatte ich bereits vor Minuten verloren. Oder waren es nur Sekunden oder doch eher Stunden. Zeit? Mir fehlte jeglicher Maßstab. Nur das es immer mehr Prismen wurden, die Wissen in mich hinein feuerten. Es wurde unerträglich. Ich sah Kriege und Schlachten. Ich sah die Sieger und Besiegten. Die gesamte Geschichte der Welt zog mich mit sich wie ein Strudel und ich begann darin zu ertrinken. Immer schneller zog der Wissensstrom mich mit. Immer schneller folgten neue Prismen. Ich begann am Wissen zu ertrinken. Ich kämpfte dagegen an. Ich versuchte auf dem Wissensstrom zu schwimmen, aber die Strömung war zu stark. Ein Malstrom an Informationen, die nur noch abstrakte Formen bildeten und sich auf einen hellen Punkt zubewegten, zog mich an. Der Punkt wurde immer heller, geradezu gleißend hell. Er blendete. Ich versuchte meine Arme davor zu halten, aber ich hatte keine. Das grelle Licht füllte mein gesamtes Blickfeld aus. Der Prismenstrom war zu einem ohrenbetäubenden Rauschen geworden. Aufhören!


Ich erwachte. Aber in was für einem Zustand. Schweißgebadet, mit hämmerndem Herz in der Brust und geblendet.

Vorsichtig bewegte ich meinen gesunden Arm und legte dessen Hand vor meine Augen. Durch das große Fenster des Krankenhauszimmers schienen die morgendlichen Sonnenstrahlen direkt in meine Augen.

Ich keuchte. Wow, was für ein Albtraum! Langsam, wirklich sehr langsam, versuchte ich meine Augen zu öffnen. Bäh, völlig verklebte Augenlieder sind einfach widerlich.

»Sag' mal, röchelst du morgens immer so?«, Nils war also auch noch da. Das war bedauerlich, aber nicht zu ändern.

»Grompf ...«, meine Artikulationsfähigkeit war noch nicht aufgewacht.

»Oh Mann, du siehst ja richtig schlecht aus.«

»Ich fühl' mich auch so. Ich hab' schlecht geschlafen.«

»Schlecht geschlafen ist nett formuliert. Du hast deinen Kopf wild hin und her geschleudert und wirres Zeugs gebrabbelt. Ich hätte fast ne' Schwester gerufen.«

»Ja wo sind denn die eigentlich? Ich denk im Krankenhaus beginnt immer alles vor dem Aufstehen?«

»Oh, da hast du Recht. Aber in einem anderen Zimmer gab's nen Abgang. Die Oma war 95. Treppensturz. Oberschenkelhalsbruch. Altersbedingt nicht OP fähig. Das Übliche.«

Nils war nicht abgeklärt. Nils war einfach kalt und herzlos. Ich schwieg. Netterweise wurde mir auch kein Gespräch aufgedrängt, so, dass ich endlich meine Gedanken ordnen konnte. An den nächtlichen Albtraum konnte ich mich, mal wieder, nicht mehr erinnern. Dem Feuchtigkeitsgehalt meiner Klamotten zu urteilen, muss er recht heftig gewesen sein. Mir kam das Bild eines Hamsters in einem Laufrad in den Sinn. Die Metapher passte auf meine Situation: Alles um mich herum war seit Tagen in Bewegung geraten, ich lief, ich rannte, nur kam ich keinen Millimeter von der Stelle.

»Moin!«

Die Sonne ging ein zweites Mal auf. Herein kam ein junger Kerl, wahrscheinlich so um die 19 oder 20 Jahre. Ein Strahlemann wie aus dem Katalog. Ein echtes Prachtexemplar der Gattung Mann.

»Gib' dich keiner falschen Hoffnung hin. Jan ist hetero! Nicht war, Babe?«

Nils grinste mich fies an. Mein Blick muss recht verräterisch gewesen sein. Jan jedenfalls schüttelte den Kopf.

»Ah, ihr zwei kennt euch. Seid ihr zusammen?«

»Nein!«

»Nein!«

Dies war eine der wenigen Punkte, in denen Nils und ich einer Meinung waren. So wie wir das Nein aussprachen, senkte es die Raumtemperatur um gute 20 Grad.

»Oops, da bin ich wohl in ein Fettnäpfchen getreten.«

»Im Schlusssprung!«, ich hatte es nur gedacht; Nils sprach es aus.

»Ok, wen von euch zwei Elfen, soll ich denn als erstes waschen?«

»Fang mit Tobi an, der kann's gebrauchen.«

»Ist das Ok?«

Ja und nein. So nass-feucht ich auch war. Von dieser Sahneschnitte gewaschen zu werden, würde eine echte Qual werden.

»Ja, ist Ok.«

Jan machte sich an die Arbeit und es war eine Qual! So dicht an mir dran und dann noch von ihm an wirklich allen Körperteilen berührt zu werden, war kaum erträglich. Vor Jahren lag ich schon mal im Krankenhaus. Die Schwester, die mich damals gewaschen hatte, war nicht sonderlich zimperlich. Aber Jan war fast zärtlich. Außerdem sah er aus der Nähe, noch geiler aus. Aber leider war er wirklich hetero. Was für eine Verschwendung.

Die Zeit verging. Nachdem Krankenpfleger Jan mich versorgt hatte, war Nils an der Reihe. Mit ihm schien er nicht ganz so sanft umzugehen, wie mit mir. Offensichtlich hatte Nils Charakter bereits Eindruck auf Jan gemacht. Während der ganzen Zeit unterhielten wir uns mit Jan. Er war Krankenpfleger aus Überzeugung. Wollte aber später Arzt werden und holte daher im Abendgymnasium sein Abitur nach.

Weiter im Zeitraffer: Jan wurde fertig und verließ uns wehmütig. Wir waren das einzige Zimmer mit Leuten in seinem Alter. Der Rest waren fast ausschließlich Leute über 75. Nachdem Jan gegangen war, kam irgendwann das Frühstück. Eine lustlose Schwester mittleren Alters versorgte uns mit den entsprechenden Lebensmitteln.

»Braucht jemand Hilfe beim Essen?«, Schwester Brunhilde, wie ich sie taufte, in Wirklichkeit hieß sie Anne, sprach in einem speziellen Sprachkode. Die Übersetzung ihrer Worte lauteten: »Wehe ich muss einen von euch füttern. Stellt euch nicht so an und gebraucht euren anderen Arm.«

Ende des Frühstücks. Die Zeit kroch zäh dahin. Ich war kurz davor wieder einzudösen, als ein Weißkittel in unseren Raum und auf mich zu stürmte.

»Hallo Tobias. Ich bin Doktor Klaus Reinhard. Also, erst einmal, deine OP ist wirklich gut verlaufen. Wir sind da sehr zufrieden und können dich wahrscheinlich in ein paar Tagen entlassen ...«

Das war nicht der Grund, warum Doc Reinhard mich sprechen wollte: »Aber?«

»Ich weiß nicht wie ich's sagen soll. Tobias, nimmst du irgendwelche Drogen? Bitte sei ehrlich. Ich bin dein Arzt und unterliege daher der Schweigepflicht.«

Ich sag Klaus Reinhard verblüfft an.

»Nein. Ehrlich nicht ... Na ja, ab und zu ne Tüte, aber nix mit E oder so'n Zeugs ...«

»Du erlaubst?«

Der Doktor wartete mein Einverständnis nicht ab, sondern war schon dabei, mit einer Taschenlampe meine Augenreflexe zu testen.

»Hm, völlig normal. Merkwürdig ...«

»Ähm, könnten Sie mir mal sagen, worum es eigentlich geht?«

»Wir haben eine Blutuntersuchung bei dir durchgeführt. Das ist normal und war für die OP auch notwendig. Aber dabei sind wir auf merkwürdige Daten gestoßen.«

»Das heißt?«

»In deinem Blut befinden sich Substanzen, die wir nicht einordnen können. Sie sind bestimmten bewusstseinserweiternd Drogen ähnlich, aber trotzdem zu anders, als dass man sagen müsste, dass du Drogen nimmst. Es sein denn, du schluckst etwas ganz Neues. Also bitte sei ehrlich, nimmst du was? Hast du was auf einer Party oder so geschluckt? Ich bin nicht die Polizei.«

»Nein, wirklich nicht. Ehrlich. Ich bin selbst irritiert. Das Einzige was ich schlucke sind die Vitamintabletten von meinem Paps.«

»Von deinem Paps?«

»Der Arbeitet für 'ne Pharmafirma. Die machen solche Vitamindrops.«

»Ach, so. Na, die werden das wohl kaum gewesen sein. Kann ich dir noch etwas Blut abnehmen?«

»Solange noch was da ist. Ich hab' nix zu verbergen. Wirklich, ich bin clean. Ich nehme nichts.«

Der Doc zapfte sich eine Ampulle voll und war glücklich. Womit Nils und ich wieder alleine waren.

»Tobi ist ein Junkie, schau mal einer an.«

»Träum weiter Nils. Ich weiß nicht, wie das Zeug in meine Blutbahn kam. Aber ich bin sauber. Also spar dir deine blöden Bemerkungen.«

Im Krankenhaus

Worin man über die Qualität des nachmittäglichen TV-Programms verzweifelt.

Der Vormittag schleppte sich so hin. Krankenhäuser sind von Natur aus ein Hort der Langeweile. Mangels TV-Glotzkiste, die, wenn sie vorhanden gewesen wäre, doch nur hirnamputierte Talkshows wiedergegeben hätte, gab es nicht mal die Chance, dass ich mein Hirn auf Durchzug stellen konnte. Also blieb mir die Wahl zwischen zeit gleichermaßen verlockenden Alternativen. Öde vor mich hindösen oder eine Unterhaltung mit Nils.

Nils. Auch so ein Thema. Der Typ war einfach widersprüchlich. Er verschlang ein Buch nach dem anderen. Ein wahrer Weltmeister im Lesen. Er gab fast einen glücklichen Eindruck ab, sobald er ein Buch in den Händen hielt. Ansonsten war er ein Arschloch. Arrogant, überheblich, unsensibel, prollig. Die Liste ließ sich beliebig fortsetzen. Pfleger, Schwestern und Ärzte hatten ihn bereits in ihr Herz geschlossen. Dabei gaben sie sich wirklich alle Mühe. Aber Nils schien immer genau dann besonders aggressiv zu werden, wenn jemand besonders freundlich zu ihm war. Der Umkehrschluss war ebenfalls gültig: Je ablehnender und distanzierter ich mit Nils sprach, desto freundlicher wurde er.

Nach dem Mittagessen kam meine Mum hereingeschneit, einen kleinen Mikrofernseher in der Hand: »Damit du dich nicht so langweilst.«

Wie viel Vera am Mittag kann ein Mensch ertragen, ohne Amok zu laufen? Ich würde es bald wissen.

»Danke Mum. Ich hoffe ja, dass ich hier bald wieder raus kann. Übrigens, da gibt es etwas Merkwürdiges mit meinem Blut ...«

Meine Mutter wurde hellhörig. Ich hatte mir das schon vorher überlegt. Bevor der Arzt mit ihr spricht und bei ihr möglicherweise falsche Reaktionen auslöste, wollte ich mit ihr reden. Sie sollte gar nicht erst auf die Idee kommen, ich würde ihr etwas verheimlichen.

»Ja?«, die Mimik meiner Mutter glich einem Staatsanwalt.

»Die Ärzte haben drogenähnliche Substanzen in meinem Blut gefunden. Glaub' mir. Ich nehme nichts. Du kannst meinetwegen mein Zimmer durchsuchen. Ok, ab und an gönnen Michi und ich uns etwas THC aus seiner Bong. Aber das war's auch. Ich hab' keine Ahnung, wo das herkommt und was es ist. Ähm, die Ärzte übrigens auch nicht.«

»Du bist wirklich sauber?«», Mum sah mich streng an.

»Ja!«, und ich widerstand ihrem Blick.

»Gut ich glaube dir. Dass ihr zwei kifft, war mir schon länger klar. Ich denke, wenn du andere Drogen genommen hättest, hätte ich das bemerkt.«

In diesem Moment kam der junge Doc ins Zimmer. Perfektes Timing.

»Oh, du hast Besuch?«

»Meine Mum! Mum, das ist Doktor Reinhard. Er hat das mit dem Blut rausgefunden.«

»Ja, und dieses Blut gibt uns Rätsel auf. Die Werte sind immer noch merkwürdig. Du hast Substanzen im Blut, die wir nicht richtig bestimmen können.«

»Können Sie mir das näher erklären? Was ist mit meinem Sohn?«

»Also, eine Substanz scheint ein Alkaloid zu sein. Aber keins, dass wir kennen. Es ist dem Endorphin recht ähnlich, aber auch so anders, dass es nicht vom Körper selbst gebildet sein kann. Auf der anderen Seite ähnelt es keinem uns bekannten Alkaloid, wie Morphium oder Derivaten, wie Heroin. Es scheint fast designed worden zu sein. Ähnliches gilt auch für andere Substanzen, die wir fanden. Alle auf jeden Fall künstlich.«

»Hm ...«, Mum wirkte überraschend nachdenklich.

»Keine Angst Frau vanBrüggen. Ich glaube nicht, dass Tobias drogensüchtig ist. Alle physiologischen Tests sind negativ. Uns ist bloß unklar, vorher die Werte kommen. Nimmt Tobias irgendwelche Medikamente?«

»Nein, nicht das ich wüsste ... Tobi?«, die Augen meiner Mutter schrumpften zu kleinen Schlitzen zusammen. In ihrem Kopf war es am Arbeiten.

»Nix. Nur die Vitamintabletten von Paps. Du weißt doch, die er mir aus seiner Firma mitgebracht hat. Ob die vielleicht verunreinigt sind?«

»Möglich ... Das lässt sich ja testen ...«, Mum war wirklich nachdenklich geworden, »Sind die in deinem Badezimmer?«

Mein Zimmer im ersten Stock unseres Hauses verfügte über ein zwar kleines Badezimmer, doch war es ganz allein meines.

»Ja, im Spiegelschrank. Braune Glasflasche.«

»Ich bin heute Abend wieder da. Und du, mein Schatz, wirst schnell wieder gesund. Versprochen?«

»Versprochen!«


Mum war weg. Ich zog mir das alltägliche TV-Programm rein. Vera am Mittag kann man maximal 10 Minuten ertragen. Danach setzen irreparable Schäden ein. Fernsehen am Nachmittag, eindeutig eine Erfindung der Krankenkassen, damit man schneller gesund wird. Wer, um Himmels willen, tut sich so was freiwillig an. Die Wahlmöglichkeit zwischen schlecht animierten und noch beschissener synchronisierten japanischen Trickfilmen, Doppeldummtalkern und den letzten Börsenkursen von N-tv sind eine Aufforderung zum Suizid.

I want my MTV! Oder meinetwegen auch VIVA, aber genau diese beiden Sender waren im Kabelnetz des Krankenhauses nicht vorhanden. Willkommen in der Hölle.

Was blieb mir anderes übrig, als über meinen Schatten zu springen und Nils um eines seiner Bücher bitten?

»Nils?«

»Ich lese.«

»Das sehe ich.«

»Also, warum störst du mich?«

»Leihst du mir ein Buch?«

»Wie lautet das Zauberwort?«

»Aber plötzlich ...«, ich konnte einfach nicht widerstehen. Nils Arroganzpanzer bekam eine Mikrofraktur. Er grinste.

»Ist das TV-Programm wirklich so schlimm?«

»Schlimmer. Du kannst die Glotze gerne haben.«

»Nee, lass mal.«, Nils griff eines seiner Bücher und warf es mir zu. »Hier, fang! Ist wirklich gut.«

Ein amerikanisches Buch. Ich kannte den Titel nicht, aber der Klappentext klang spannend. Wenn auch Englisch nicht unbedingt meine Lieblingssprache war, ich begann mich durch den Text zu fressen und war nach wenigen Seiten von der Handlung gefesselt.

Völlig versunken in dem Buch, bemerkte ich gar nicht, dass Ralf ins Zimmer gekommen war. Erst, als eine Hand (seine Hand) das Buch packte und mir aus der Hand nahm.

»Was, zum Teufel ...«, ein verärgerter Gesichtsausdruck. »Oh, Ralf ...«, ein verblüffter Gesichtsausdruck. »Hi ...«, ein strahlender Gesichtsausdruck.

Ralf durfte mir jederzeit ein Buch aus der Hand reißen. Und wenn es noch so spannend war. Ralf strahlte zurück. In seinen Augen war wieder dieses gold-silberne Funkeln zu sehen, dass ich inzwischen als ein Zeichen von Zufriedenheit und Glück interpretierte.

»Na, wie geht es dir?«, noch während der Frage näherten sich seine Lippen den meinen.

»Ich muss hier raus. Der Laden ist tödlich langweilig.«

»War dein Bettnachbar friedlich?«

»Nils? Ja, doch. Er hat mir das Buch ausgeliehen. Wusstest du, dass die Antje von dem Rainer zufriedengelassen werden will? Der tut das aber nicht und rennt ihr immer noch nach. Dabei ist sie doch schon längst mit dem Bernd zusammen, der da wo der Freund von dem Rainer war, bis zu der Sache mit der Ines, aber die sitzt ja jetzt in U-Haft.«

Ralf sah mich entgeistert an: »Was haben die dir hier in den Tee getan?«

»Ralf, bitte hol mich hier raus. Das waren eben 5 Minuten Berti um sieben, oder wie diese unsäglichen Talkshows heißen. Ich muss hier raus oder ich werd irre!«

»Mein Beileid, aber ich befürchte, dass das nicht meine Entscheidung ist.«

»Verräter!«

»Memme!«, Ralf und sein freches Grinsen. »Ich verspreche dir, täglich vorbei zu sehen. Außerdem glaub ich nicht, dass die dich noch lange hierbehalten werden. Du bist ja nicht wirklich krank. Hast du eigentlich noch Schmerzen?«

»Ein bisschen, aber nichts, was sich nicht aushalten lässt.«

Die nächsten zwei Stunden tauschten Ralf und ich Neuigkeiten aus. Das heißt, er erzählte mir, was so in der Schule los war. Bei mir gab es ja keine wirklichen Neuigkeiten. Die Sache mit meinen komischen Blutwerten hatte ich vorerst verdrängt.

Ralf hatte Kontakt zu meinem Schwimmtrainer aufgenommen und ihm über meinen Zustand informiert. Der war natürlich nicht sonderlich begeistert, freute sich aber darüber, dass Ralf der Mannschaft beitreten wollte. Beim ersten Probeschwimmen machte er dann auch eine recht gute Figur, so dass sich des Trainers Laune deutlich besserte. Natürlich sollte Ralf die besten Genesungswünsche von der Mannschaft ausrichten.

Ralf und ich schmusten noch ein wenig rum und ließen uns auch nicht von der etwas verdatterten Schwester der Nachmittagsschicht unterbrechen. Viel peinlicher war, dass sich unter meiner Bettdecke einiges tat. Nicht dass Ralf da irgendwie gefummelt hätte (Oh, wenn er es doch täte!), aber die pure Anwesenheit von Ralf blieb bei mir nicht ohne versteifende Wirkung. Wenn man dann noch bedenkt, dass ich seit Tagen nicht mehr Hand an mich gelegt hatte, wird wohl jeden meine Notsituation deutlich werden.


Gegen Abend schaute meine Mama nochmals rein. Ralf war gerade verschwunden. Meine Versteifung hatte sich glücklicherweise ebenfalls gelegt, als sie das Zimmer betrat.

»Hallo Tobias. Ich hab' dir n' bisschen was zum Lesen mitgebracht. Michi und Ralf haben mir bei der Auswahl geholfen.«

Davon hatte mir Ralf gar nichts erzählt. Eine nette Überraschung, die mich wirklich freute. Auch die Bücherauswahl war gelungen. Ein paar SciFi-Teile, ein paar (schwule) Krimis und zwei längere Romane, die ich aber nicht kannte.

Mum setzte sich zu mir ans Bett: »Sag' mal, bist du dir sicher, dass du die Vitamintabletten in deinem Badezimmerschrank liegen hast?«

»Sicher, absolut. Wieso, sind die nicht da?«

»Nein, sind sie nicht.«

»Hm merkwürdig, aber vielleicht war die Flasche auch schon leer und ich hab sie weggeworfen.«

»Möglich ...«, Mum sah mich nachdenklich an. Ihre Gedanken schienen weit weg, durch andere Gegenden zu schweifen.

Soweit mein erster Krankenhaustag. Dieses Ritual sollte sich die nächsten 9 Tage in ähnlich Form wiederholen. Besuche von Michi, Ralf und meiner Mutter. Gelegentliche Gespräche mit Nils, die aber nicht sonderlich produktiv waren. Und schließlich noch die zermürbende Krankenhausroutine. Nils wurde drei Tage vor mir entlassen. Ihm standen noch mindestens zwei OPs bevor, aber vorher sollte sich die Hand in ihrem jetzigen Zustand stabilisieren und ausheilen. Die letzten drei Tage war ich allein. Fast alle Bücher waren gelesen. Mir fiel die Decke auf den Kopf. Ich musste einfach raus.

Schließlich wurde mein Flehen erhört. Doktor Klaus Reinhard höchstpersönlich entschied meine Entlassung. Er war mit dem Heilungsprozess sehr zufrieden. Die Weiterbehandlung würde ein niedergelassener Arzt übernehmen. Am Vorabend meiner Entlassung bat mich Doc Reinhard allerdings noch um einen kleinen Gefallen. Er wollte eine letzte Blutprobe von mir haben. Ich gönnte sie ihm. Nicht zuletzt, weil ich selbst neugierig war. Zur Entlassung lag das Ergebnis vor: Ich war fast clean. Die merkwürdigen Substanzen in meinem Blut waren entweder verschwunden oder nur noch in verschwindend geringer Konzentration vorhanden.

Eigentlich war alles wunderbar. Meine Mum holte mich aus dem Krankenknast ab. Wir packten meine Sache zusammen. Ich verabschiedete mich von den Schwestern. Dankte Doc Reinhard und tat meinen ersten Schritt in die wiedergewonnene Freiheit. Mein Arm lag zwar in Gips, aber das störte mich nicht sonderlich. Bloß raus aus dem Krankenhaus.

Der Besuch der grünen Männchen

Worin man unerwarteten Besuch erhält, der auch prompt unerfreuliche Nachrichten überbringt.
Die Fragen, die der Besuch stellt, sind auch nicht ohne.

Wir brauchten eine gute 3/4 Stunde, um vom Krankenhaus nach Hause zu fahren. Zu unserer gemeinsamen Überraschung wurden wir zuhause bereits erwartet. Ein dunkelblauer Wagen parkte vor unserem Haus und zwei Männer versuchten gerade vergeblich, bei uns zu klingeln.

»Kann ich Ihnen helfen?«, meine Mutter setzte ihre professionelle Freundlichkeit auf.

»Ähm, ja, möglicherweise ... Sind Sie Frau vanBrüggen?«

Die beiden Typen hatten sich umgedreht. Der ältere der beiden, ich schätzte ihn so irgendwo zwischen 35 und 40 Jahren ein, hatte das Wort ergriffen. Der andere war deutlich jünger, bestenfalls 25, und wirkte recht unsicher. Offensichtlich war der ältere Typ der Boss oder Ausbilder des anderen.

»Ja, das bin ich. Was kann ich für Sie beide tun?«

»Könnten wir das möglicherweise drinnen besprechen?«

»Wenn Sie mir sagen, wer Sie eigentlich sind.«

Die beiden Männer sahen sehr ernst drein, fast wirkten sie traurig.

»Entschuldigung ... Ich bin Kriminalhauptkommissar Schulz, das ist mein Kollege Kriminalmeister zur Ausbildung Jansen.«

So schnell er seinen Spruch runterspulte, hatte er auch kurz seinen Dienstausweis meiner Mutter unter die Nase gehalten und nach kaum zwei Sekunden auch wieder in seiner Jacke verschwinden lassen.

»Können wir jetzt reingehen?«

Meine Mum sah mich verunsichert und fragend an, ob ich wüsste, worum es ging. Ich wiederum zuckte mit meinen Schultern, da ich ebenfalls nicht die geringste Ahnung hatte, was die Kripo von uns wollen könnte. Ich hoffte nur, dass es nichts mit meinem vermeintlichen Drogenkonsum zusammenhing.

»Ja, natürlich. Kommen Sie rein.«, die Stimme meiner Mutter wurde sachlich. Nach außen wirkte sie dadurch sicherer, aber ich wusste, dass genau das Gegenteil der Fall war. Etwas von der drückenden und staubigen Stimmung der beiden Staatsbediensteten hatte sich auf sie übertragen.

»Kommen Sie doch bitte mit ins Wohnzimmer.«

Meine Mum führte die beiden Polizisten durch den Flur in unser Wohnzimmer und deutete ihnen auf einem Sofa Platz zu nehmen. Sie selbst setzte sich in einen Sessel, während ich etwas irritiert mitten auf dem Markt stand. Als sich die beiden Grünen gesetzt hatten, nutzte ich die Gelegenheit die beiden etwas näher zu betrachten.

Der ältere, KHK Schulz, war das Klischee eines Polizisten. Oberlippenbart, Halbglatze, kräftig gebaut, sogar muskulös, aber mit einem Hang zur Fettleibigkeit. Mehr als das notwendigste, schien er nicht für seinen Körper zu tun, obwohl das mal durchaus anders gewesen sein musste. Er war so ein Typ, der den Eindruck erweckte, dass ihn seine Arbeit ankotzte: Etwas träge, mundfaul, leicht genervt. Sein ganzer Körper, seine Mimik, seine Gesten, schienen diesen Eindruck unterstreichen zu wollen. Er hatte ein ernstes, furchenreiches Gesicht, dem man ansehen sollte, dass KHK Schulz den Job schon eine Weile machte.

Aber ich hatte den Eindruck, dass dies nur eine Masche war. Eine geschickte Rolle, die KHK Schulz spielte. Meine Menschenkenntnis war nie sehr gut, dafür hatte ich aber eine Schwäche für Augen. Möglicherweise war das auch der Grund, warum ich von Ralf so fasziniert war. Bei KHK Schulz lag die Sache etwas anders. Sie verrieten ihn. So träge er seinen Körper durch die Gegend schleppte, so wacher waren seine Augen. Flinke kleine Schweinsäuglein, die alles hellwach registrierten. Nein, Kriminalhauptkommissar Schulz war alles andere als der resignierter alte Polizist, als der er erscheinen wollte.

Ganz anders sein Polizeiazubi. Auf dem Sofa wirkte er noch jünger. Ein schüchternes Kerlchen, mit wachen, ehrlichen Augen und blonden kurzen Haaren. Sein Gesicht hatte, obwohl er bestimmt 24 Jahre alt war, immer noch etwas Jungenhaftes. Außerdem war er wirklich gut gebaut. Wär ich ein, zwei Jahre älter gewesen, wär ich glatt über den Typen hergefallen. Dies war PM z.A. Jansen. Und auch darin schien Berechnung zu liegen. Ich ging zwar nicht davon aus, dass sein Boss, KHK Schulz, von meiner Neigung zum eigenen Geschlecht wusste, geschweige denn darauf spekulierte. Die Sache war viel einfacher. Die Anwesenheit von Jansen sollte den ganzen Besuch wie eine Routinesache erscheinen lassen: der ältere Bulle, der den Azubi in die harte Polizeiarbeit einführte.

»Ist das Ihr Sohn?«, KHK Schulz deutete auf mich.

Meine Mutter nickte.

»Vielleicht wäre es besser, wenn er draußen warten würde. Die Angelegenheit, in der wir hier sind, ist sehr ernst.«

»Mein Sohn ist 17 und damit alt genug -- auch für ernste Nachrichten. Außerdem haben wir in diesem Haus keine Geheimnisse.«

»Nun gut.«, KHK Schulz seufzte. »Fährt Ihr Mann einen Wagen mit dem amtlichen Kennzeichen B-AE 28?«

»Das ist sein Firmenwagen, ja. Ein 7ner BMW. Warum?«

»Sehr geehrte Frau vanBrüggen, ich habe Ihnen die traurige Nachricht zu überbringen, dass Ihr Mann, Jasper David vanBrüggen, vor ca. 4 Stunden einen sehr schweren Unfall hatte, an dessen Folgen er noch am Unfallort verstorben ist. Mein aufrichtiges Beileid.«

Der Text quoll aus KHK Schulz heraus, wie die Durchsagen auf einem Bahnsteig: Man braucht eine Weile, um zu verstehen, was man eigentlich gerade gehört hatte. Ich sah Mum an, Mum sah mich an. Wir hatten verstanden, was passiert war. Paps war Tod.

Das war die eine Seite. Die andere war, dass KHK Schulz zwar genauso klang wie eine Bahnsteigsdurchsage, dass seine Augen aber mit einer ganz anderen Sprache sprachen. Sie beobachteten meine Mutter und registrierten genau ihre Reaktion.

Unabhängig von KHK Schulz Überlegungen blieb die Tatsache im Raum stehen, dass er uns soeben mitgeteilt hatte, dass mein Paps Tod war. Ich musste mich setzen. Mir war plötzlich ziemlich beschissen zu Mute. Das letzte Mal, dass ich ihn gesehen hatte bzw. mit ihm sprach, war, als wir mal wieder miteinander kämpften. Ich hatte ihn an den Kopf geworfen, dass ich schwul war und er war aus dem Haus gerannt. Danach hatte ich ihn nie wieder gesehen. Es tat mir leid. Ich fühlte irgendwie Schuld. Ich weiß auch nicht, aber obwohl wir uns die letzten Jahre überhaupt nicht mehr verstanden hatten und er mich eigentlich nur noch kritisierte, anschrie und Stress machte, tat es mir leid. Ich empfand echte Trauer. Shit! Zu spät! Zu spät für so vieles. Die Chance mit ihm ins Reine zu kommen, war vergeben.

Auf der anderen Seite überraschte mich meine Kaltblütigkeit. Ein Teil in meinem Kopf zuckte nur mit den Schultern und sagte: »Na und? Shit happens!« Dieser, möglicherweise herzlose, Teil sorgte dafür, dass sich meine Sinne schärften und ich aufmerksam der Unterhaltung folgte.

Meine Mum stöhnte. Auch ihr ging die Nachricht an die Nerven. Welch ein Wunder? Die beiden waren 26 Jahre verheiratet gewesen und hatten sich, bis auf die letzten zwei Jahre, eigentlich immer super verstanden. Mum kamen die Tränen. Das war mein Stichwort mich loszureißen und ein Taschentuch zu holen.

»Geht es Ihnen gut? Soll ich Ihnen irgendetwas bringen?«, die ersten Worte von PM z.A. Jansen enthüllten eine schöne, wenn auch unsichere Stimme. Ohne es zu wissen, erfüllte er die ihm zugedachte Rolle: der mitfühlende Jungbulle, dem das ja alles so sehr ans Herz ging.

»Nein, es ist gut. Aber, was ist denn passiert?«

»Das wissen wir noch nicht genau. Ihr Mann hatte einen Alleinunfall. Wir vermuten, aber bitte entschuldigen Sie, das ist wirklich nur eine Vermutung, dass er mit überhöhter Geschwindigkeit fuhr und dadurch die Kontrolle über den Wagen verlor. Leider sind die Alleen im Umland sehr gefährlich.«

Ich wusste, was er damit meinte. Paps hatte sich um einen Baum gewickelt. Ich stutzte, die Sache kam mir merkwürdig vor, weswegen ich allen Mut zusammen nahm und nachfragte.

»Entschuldigung, aber wenn ich Sie richtig verstehe, ist mein Vater gegen einen Baum gefahren. Ich bin zwar kein Unfallexperte, aber Paps hat immer von seinem 7ner vorgeschwärmt, wie sicher der ist. Müssten denn da nicht hunderte von Airbags den Unfall abgefangen haben? Er wird ja kaum 250 km/h auf der Landstraße gefahren sein, oder doch?«

Die beiden Polizisten sahen sich fragend an. KHK Schulz musterte mich mit einer Mischung aus Verblüffung und Interesse. Offensichtlich hatte er nicht mir dieser Frage gerechnet.

»Wir wissen nicht, wie schnell er gefahren ist. Aber leider haben die Airbags nicht ausgelöst.«

Meine Mum hackte nach: »Nicht? Warum nicht?«

»Das wird die Untersuchung ergeben. Ähm ... Ich glaube Sie möchten jetzt bestimmt gerne allein sein. Wenn wir noch etwas für Sie tun können ...«

Er ließ den Satz offen, aber es klang nicht so, als wenn er noch gerne etwas für uns tun wollte. Er wollte eigentlich nur wieder weg. So versuchte er jedenfalls zu wirken. Doch war dem wirklich so?

»Gut, hier ist meine Karte. Nochmals, mein aufrichtiges Beileid!«

»Wieso sind Sie eigentlich so sicher, dass es mein Mann war? Ich dachte immer, so ein Toter muss von einem Angehörigen identifiziert werden?«

Wieder sahen sich die beiden Polizisten an. PM z.A. Jansen ruckelte unruhig auf seinem Platz hin und her, während sich bei KHK Schulz um die Augenwinkel kleine Fältchen eines unterdrückten Grinsens bildeten.

»Das wird nicht notwendig sein. Er wurde eindeutig identifiziert ... Das, was von ihm übrig ist. Wie gesagt, der Unfall war sehr schwer. Der Wagen ist völlig ausgebrannt.«

Ach deswegen ist er noch am Unfallort verstorben. KHK Schulz rückte mit seinen Informationen nur scheibchenweise heraus. Was würde da noch kommen?

»Der Arbeitgeber Ihres Mannes hat seinen genetischen Fingerabdruck überprüft. Die vorläufigen Ergebnisse liefern eine 90% Wahrscheinlichkeit dafür, das es sich wirklich um ihren Mann handelt.«

Jetzt war ich wirklich erstaunt. Wo arbeitet mein Vater eigentlich, dass die über genetische Fingerabdrücke ihrer Mitarbeiter verfügten?

Die beiden Polizisten erhoben sich vom Sofa. Meine Mutter führte sie in Richtung Haustür.

»Eine Frage noch: Ihr Mann wohnt hier nicht mehr?«

Die Frage kam ganz beiläufig.

»Nein, mein Mann ist vor ein paar Wochen ausgezogen. Familiäre Probleme.«

»Ach so. Nun ja ...Nun wir werden sicherlich noch voneinander hören. Aus Wiedersehen.«

Sprach's, zog die Augenbrauen hoch und macht sich, seinen Azubi im Schlepptau, von dannen.


Ich war mit meiner Mutter alleine. Kaum waren die beiden Polizisten verschwunden und die Haustür geschlossen, brach die Fassade um den Gemütszustand meiner Mum, zusammen. Ihre Hände zitterten. Ihr Gang war wackelig. Im Wohnzimmer angekommen ließ sie sich in einen Sessel plumpsen. Sie krallte sich regelrecht an dessen Armlehne fest.

Auch mir wurde langsam die ganze Situation bewusst. Mein Vater war Tod. Ich würde ihn niemals wiedersehen. Der Klos in meinem Hals wurde immer größer und breitete sich sternförmig über meine Brust aus. Langsam übernahm das Gefühl von Trauer und Verlust besitz von meinem Körper.

Ich setzte mich zu Mami. Wir sahen uns an. Jeder sah die Tränen in den Augen des anderen und jeder wusste, was der andere gerade fühlte.

Wie mein Paps auch in letzter Zeit gewesen sein mag, ich konnte mich immer noch an Zeiten erinnern, in denen er der beste Vater gewesen war, den man sich überhaupt vorstellen konnte. In jüngster Vergangenheit allerdings war er ein tyrannisches Arschloch gewesen.

»Mami, was machen wir denn jetzt?«

Meine Mutter tauchte aus ihren eigenen dunklen Gedanken auf.

»Was?«, sie sah mich an und braucht erstmal etwas Zeit, um sich zu orientieren. »Tobi, wir sind jetzt allein. Ich weiß auch nicht ... Das Wichtigste ist mir, ob du damit klarkommst ...«

»Ich denke: ja ... Ich bin entsetzt. Sicher ... Es ist merkwürdig, aber eigentlich müsste ich irgendwie zerrissener und trauriger sein. So richtig fertig. Wenn du weißt, was ich meine? Aber, ich weiß auch nicht. Das mag jetzt hart klingen, aber der Vater, um den ich richtig getrauert hätte, ist schon vor Jahren gestorben.«

Mum nickte mir zu.

»Mir geht es nicht anders. Jasper hatte sich verändert. Und nicht zu seinem Besten. Ich weiß, ich sollte jetzt die am Boden zerstörte Witwe sein, aber ... Da ist nichts außer Leere. Tobias, du hast völlig recht, der Vater und Ehemann, den wir einst liebten, ist schon vor Jahren gestorben. Und trotzdem, es tut weh!«

»KHK Schulz ist ein Lügner.«

Um Mums Mund entstand ein zynisches Lächeln.

»Ach, ist dir das auch aufgefallen?«

»Ja, er spielte den abgehalfterten Bullen, den sein Job ankotzt und dem das alles zu viel ist. Aber das ist nicht wahr. Seine Augen haben ihn verraten. Er hat jede unserer Reaktionen genau beobachtet.«

Mum nickte. Ich fuhr fort.

»Klein Tobi spielt jetzt mal großen Detektiv. Aber kommt dir die Sache nicht merkwürdig vor? Wieso löste Paps Airbag nicht aus? Wieso brannte der Wagen völlig aus. Und wie konnte so schnell ein Gentest gemacht werden. Wenn ich in Bio richtig aufgepasst habe, dann dauert so was doch mehrere Tage. Oder nicht?«

Mum sah mich nachdenklich an.

»Wir sollten abwarten, was die Polizei noch raus bekommt.«

»Vorsicht, Mumi, aber die letzte Frage von diesem Schulz kam zwar ganz beiläufig, aber ...«

»Kind, du siehst zu viele Krimis!«

»Nöh, gar nicht war. Trotzdem, die Frage klang wie eine Suche nach einem Motiv.«

»Motiv wo für?«

Eigentlich ist meine Mum eine intelligente Frau, doch hier wollte sie wohl einfach nicht verstehen, worauf KHK Schulz hinauswollte.

»Mum, ich glaube die Polizei glaubt, dass Paps Unfall vielleicht keiner war, sondern möglicherweise Fremdeinwirkung, auch Mord genannt. Und dafür suchen sie ein Motiv. Eins könnten sie in unserer Familie gefunden haben.«

Ein umständlicher Kondolenzbesuch

Worin ein Vorstandsvorsitzender unseren Helden um einen klitzekleinen Gefallen bittet.
Auch die Frage nach spezifischen Vitamindrops taucht wieder auf.

Im ersten Moment war meine Mum von meinen Gedankengängen entsetzt. Etwas später musste sie aber zugeben, dass alle Zeichen auf meine Interpretation hinwiesen. Meine Mutter war nie die Frau, die trinkt, doch nach KHK Schulz, seinem Faktotum PM z.A. Jansen, der Nachricht vom Tod ihres Ehemannes und unseren gemeinsamen Schlussfolgerungen, ging sie zur Bar und schenkte sich einen 25 Jahre alten Singel-Malt-Whiskey ein. Zurückgekehrt auf ihren Sessel führte sie das Glas mit zitternden Händen zum Mund und schluckte das bernsteinfarbene Getränk in schnellen Zügen runter.

Es klingelte an der Tür. Kein guter Moment für Besucher.

Meine Mum deutete mir, dass sie nicht öffnen wollte. Daher ging ich zur Tür.

Es war Ralf, der mich freudig anstrahlte, mir in meine Augen sah und stutze. Seine Stirn warf sich in Falten. Seine Augen funkelten dunkelrot.

»Mein Gott, Tobi. Was ist den mit dir los? Ist jemand gestorben?«

Dummer Spruch! Aber woher sollte er es wissen. Ich schwieg und nickte nur.

»Oh!«, Ralf wurde blass. »Entschuldigung, dass wusste ich nicht. Wer denn?«

»Mein Vater ist mit seinem Wagen verunglückt.«

Ralf sah mich völlig entgeistert an. Es hatte ihm die Sprache verschlagen. Er riss seinen Mund auf, brachte aber kein Wort über die Lippen. Wie gelähmt stand er in der Tür und wusste nicht, wie er reagieren sollte.

»Komm rein.«

»Wirklich, ich will jetzt nicht stören. Ich kann verstehen, wenn ihr jetzt allein sein wollt. Mann Tobi, mein Beileid.«

»Du störst mich nicht. Ganz im Gegenteil, komm rein. Ich könnte jetzt wirklich etwas Gesellschaft gebrauchen. Besonders deine.«

Ralf trat über die Schwelle und ich schloss die Tür hinter ihm. Als Erstes suchte Ralf meine Mutter auf und gab die üblichen Beileidsbekundungen von sich. Bei ihm klagen sie wesentlich glaubwürdiger als bei KHK Schulz.

Meine Mutter bedankte sich.

»Danke Ralf, dass ist wirklich nett von dir.«

Ich ging mit Ralf auf mein Zimmer. Wir setzten uns und sprachen. Wir sprachen über Gott und die Welt, über das Leben, den Tod, Ralfs Philosophie des Lebens, ich von meinem Vater, wie er früher war und Ralf vom Tod seiner Großmutter, die er sehr geliebt hatte. Später kam auch noch Michi hinzu. Sowohl Ralf als auch Michi hatten eigentlich vorgehabt, meine Entlassung aus dem Krankenhaus mit mir zu feiern. Nun wurde aus dieser Feier ein sehr ruhiger und besinnlicher Abend mit ernsten Gesprächen, in denen Michi und Ralf mich emotional stützten und aufbauten. Ich war dankbar, dass ich solche Freunde hatte.

»Wisst ihr, in letzter Zeit geh' ich einfach am Stock.«

Es war nach zehn. Im Zimmer war es fast dunkel, nur eine kleine Lampe leuchtete. Wir lagen mit unserem Rücken auf dem Teppichboden und starrten die Decke an.

»Es begann alles mit deinem Unfall. Michi, seit dem geht es bei mir drunter und drüber. Mein Coming Out, die Oberstufe mit ihren Kursen, Ralf, Nils und das Krankenhaus, und jetzt die Sache mit meinem Vater ... Ich hab' das Gefühl, ich verliere den Boden unter meinen Füßen. Ich habe Albträume und bilde mir merkwürdige Dinge ein. Bitte sagt mir rechtzeitig, wenn ich verrückt werde.«

Michi antwortete.

»Du wirst nicht verrückt. Ich habe eher den Eindruck, als wenn du in den letzten zwei Wochen unheimlich gereift bist. Klingt jetzt doof, oder? Aber mir fällt nix anderes ein, wie ich das sonst beschreiben könnte. Früher warst du wirklich der totale Warmduscher.«

»Danke, Michi, du bist immer so überaus freundlich zu mir.«

»Warte, ich war noch nicht fertig! Du warst immer so schüchtern und unsicher -- total unsicher. Aber am schlimmsten war deine Ängstlichkeit. Aber das ist weg. Du bist regelrecht gewachsen. Du wirkst selbstbewusst. Deine Schüchternheit ist verschwunden. Deine Angst ist in Stärke umgeschlagen. Man hatte sogar den Eindruck, dass sich deine Körperhaltung geändert hat. Du gehst aufrechter. Du strahlst neuerdings eine Präsenz aus, Wow! Die Mädels schauen sich nach dir um! Leute, die dich nie eines Blicks gewürdigt haben, fragen mich nach dir. Ja, Tobi, du hast dich verändert. Und zwar ins absolut Positive. Schade, dass ich Hetero bin.«

»Stop! Das ist mein Junge!«, Ralf knurrte Michi amüsiert an. »Ich weiß ja nicht, wie Tobi früher war. Aber was Michi sagt, stimmt. Ein bisschen hab' ich deine Veränderung miterlebt. Mann, am ersten Tag warst du ja noch so was von panisch. Aber schau dich jetzt mal an. Stell die mal vor einen Spiegel. Was siehst du da? Denk mal, wie du mit Nils umgegangen bist. Ich meine jetzt nicht in der Schule, sondern im Krankenhaus. Hattest du noch Angst vor ihm? Hast du gekuscht, wenn er dich anknurrte? Nein! Ganz im Gegenteil. Nils hat Angst vor dir! Wirklich Cool!«

Ja, ja, wie ich mit Nils umgegangen bin ... Aber es stimmte. Ich hatte keine Angst vor ihm. Nicht mehr. Selbst Carsten und seine Schläger bereiteten mir keine Angst. Ja, sie hatten mich verletzt, mit einem Baseballschläger geschlagen, aber Angst? Nein!

Ich fühlte mich besser denn je. Kräftig, energiegeladen. Und auch seelisch hatte sich etwas verändert. Früher hätte ich mich mit Nils nie so unterhalten, wie ich es jetzt getan habe. Oder mit Carsten, als er mich im Park erwischte. Früher hätte ich einfach nix gesagt, kein Wort rausgebracht. Genaugenommen hätte ich jämmerlich geheult und wäre vor ihnen im Sand rumgekrochen. Ich hätte geflennt wie ein Schlosshund und ihnen sogar freiwillig statt 100,- DM 150,- gezahlt.

»Und was bedeutet das?«

»Es wird dir nicht gefallen: Du wirst erwachsen!«

»Shit!«


Ralf blieb über Nacht bei mir. Und -- nein -- es passierte nichts. Im Moment empfand ich Körperakrobatik als unpassend und Ralf stimmte mir da durchaus zu.

Die nächsten Tage waren merkwürdig. Sie waren auf eine eigenartige Weise bedächtig. Ich war immer noch vom Unterricht befreit. Der Bruch sollte eine gewisse Stabilität erreichen, bevor ich wieder zur Schule ging. So war ich überwiegenderweise zu Hause und wurde nachmittags von Ralf und Michi besucht, die mich mit dem verpassten Stoff und Neuigkeiten aus unserer Lehranstalt versorgten.

Eine der Neuigkeiten betraf Carsten. Auch er fehlte krankheitsbedingt. Man sagte, er würde unter einer Handverletzung leiden, die er sich beim Sport zugezogen hätte. Andere Leute zusammenzuschlagen war also ein Sport. Sehr interessant.

Ansonsten gab es nichts Spektakuläres zu berichten. Den Unterrichtsstoff, den man mir aus der Schule mitbrachte, bewältigte ich mit links. Ich hatte manchmal fast den Eindruck, ich würde schon alles wissen. Selbst Fächer wie Physik, ein Fach, dass ich am liebsten abgewählt hätte, empfand ich neuerdings als durchaus einleuchtend, sobald ich die Rechen- und Denkfehler von Lehrerchen Gutmann korrigiert hatte. Eine völlig neue Erfahrung und nicht die schlechteste. Gutmann sah das natürlich anders.

Mit der Zeit kroch dann aber doch die Erkenntnis über den Tod meines Vaters in meinen Verstand. Es war der vierte Tag, nachdem uns die Polizisten die Nachricht überbracht hatte. Ich hockte auf meinem Bett und träumte vor mich hin. Völlig unerwartet tauchte die Szene vor meinem geistigen Auge auf, in der ich meinem Paps an den Kopf geworfen hatte, dass ich schwul sei. Es war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen hatte. Erst jetzt wurde mir die wirkliche Bedeutung klar. Egal, ob wir uns jemals wieder vertragen hätten, diese Chance war vorbei. Ich würde ihn niemals wiedersehen. Ende.

Ich saß auf mein Bett und heulte los. Einfach so.

»Tobi?«

Die Stimme meiner Mutter weckte mich aus meinem Wachtraum.

»Tobi, was ist mit dir?«

»Paps ist Tod.«

Mum sah mich an, nickte und nahm mich in den Arm.

»Es ist gut. Lass es raus.«

Mum hielt mich und ich konnte es endlich rauslassen. Klein Tobi war also doch nicht der toughe Junge, an dem alle Schicksalsschläge abperlten, wie an einem Ostfriesennerz.


»Hallo Tobias ...«

Ein schwarzer Daimler hielt auf meiner Höhe und rollte langsam, sich meinem Tempo anpassend, weiter. Die dunkelgetönte Scheibe des rechten Fontfensters war heruntergeglitten.

Es war ein Freitag Vormittag. Auf Dauer im Haus rumzusitzen macht mich kirre. Ich entschied daher einen kurzen Ausflug zum naheliegenden Supermarkt, genau genommen zu dessen Zeitschriftenladen. Ich war fündig geworden und hatte mich mit diversen Computer- und Spielezeitschriften eingedeckt und mich sogar getraut eine schwule Zeitung zu kaufen. Ungefähr auf der Hälfte des Rückwegs näherte sich die dunkle Limousine.

»Ja?«

»Oh, du erkennst mich wohl nicht mehr. Ich bin Joachim Kleist, der ehemalige Chef deines Vaters. Ich bin zufällig hier vorbei gefahren, als ich dich sah.«

Für einen Moment blitzte in mir der Gedanke auf, wie wohl der gemeine Kinderschänder ein Gespräch beginnen würde. Man soll sich ja nicht von fremden Leuten anquatschen lassen. Doch dann erkannte ich Herrn Kleist wieder. Jedes Jahr veranstaltete die Firma, in der mein Vater bis zu seinem Tod gearbeitet hatte, ein Sommerfest, so auch dieses Jahr, kurz vor meiner Europarundreise mit Michi. Als treu sorgender Firmenboss war Kollege Kleist natürlich immer anwesend, hielt eine Rede und sprach tatsächlich mit allen Gästen -- auch mit mir. Ich erinnerte mich, dass er mich gefragt hatte, ob ich auch in die Fußstapfen meines Vaters treten würde und Molekularbiologie, Genetik oder organische Chemie studieren würde. Ich sagte damals, dass ich das noch nicht wüsste. Es war eine Lüge gewesen. Naturwissenschaften hatten mich noch nie sonderlich interessiert.

»Oh, guten Tag Herr Kleist. Ich erinnere mich.«

»Tobias, es tut mir sehr leid um deinen Vater. Er war ein sehr guter Mann. In vielerlei Hinsicht. Du glaubst gar nicht, was sein Tod für eine Tragödie für uns ist.«, mitten im Satz merkte Herr Kleist, dass er gerade mit einer frisch gebackenen Halbwaise sprach. »Natürlich steht das in keinem Verhältnis zu deinem Verlust und dem deiner Mutter. Ähm, ... also, wenn ich irgendetwas für dich, für euch tun kann. Ein Wort genügt.«

Der Wagen rollte immer noch neben mir her. Ich stoppte, der Wagen stoppte.

»Danke Herr Kleist. Das ist sehr nett von ihnen.«, man konnte ich brav und wohlerzogen sein. Meine Mum wäre stolz auf ihren Sohn.

»Tobi? Ich darf dich doch Tobi nennen? Könntest du mir einen kleinen Gefallen tun?«

Herr Kleist wirkte unsicher und unruhig. Wie ein Aal wandte er sich auf seiner Rückbank.

»Ihnen eine Gefallen?«, ich war erstaunt. Welchen Gefallen könnte ich dem Exchef meines Vaters wohl erweisen?

»Ein ganz kleiner Gefallen. Ach, es ist mir unangenehm, dich darum zu bitten. Hm, da vorne ist ein kleines Café, können wir das da unter vier Augen besprechen? Mein Fahrer wird dich anschließen auch sofort nach Hause fahren. Nun, was meinst du?«

Meine Neugier siegte. Zwei Minuten später saßen wir in dem Café. Weitere zwei Minuten später hatten wir zwei Cappuccini und Lachsbeagel vor der Nase stehen. Kleist meinte, mir damit was Gutes zu tun.

»Welchen Gefallen könnte ich Ihnen denn tun, Herr Kleist. Ich bin doch nur ein Schüler.«

»Ach Tobi, dass ist mir wirklich peinlich, aber es geht um unsere Firma und, wie könnte es anders sein, um viel Geld. Dein Vater hat an einem sehr wichtigen Projekt gearbeitet. An einem Projekt, das auch sehr zeitkritisch ist. Nun, wir brauchen dringend seine Unterlagen. Das ist ganz, ganz wichtig. Aber wir, das heißt ich möchte deine Mutter nicht mit solchen profanen Dingen belästigen. Sie wird im Moment ganz andere Sorgen haben und da wäre es einfach taktlos von uns, wenn wir da mit unserem Anliegen kommen würden. Du verstehst, was ich meine?«

Ich verstand so ungefähr. Die Argumentation klang glaubwürdig, doch Joachim Kleist klang nicht glaubwürdig. Er versuchte einen lockeren, coolen Eindruck zu erwecken, aber seine Hand zitterte. Nur ganz leicht, aber so, dass ich es bemerkte. Joachim Kleist schien unter erheblichen Stress zu stehen.

»Sie möchten, dass ich nach den Unterlagen suche? Wie sehen die denn aus?«

»Oh, du würdest dass tatsächlich für uns tun? Das ist toll. Du bist wirklich ein toller Junge. Wie dein Vater immer gesagt hat. Also, die Unterlagen sind ganz einfach zu finden. Es müsste da zwei CDRs geben. Eine mit einem roten Label und eine mit einem blauen. Auf beiden Labels müssten die Projektkürzel GEN/CHEM-I-XP stehen. Wenn du die CDRs gefunden hast, ruf mich einfach an, wir holen die dann ab. Und wir brauchen deine Mutter nicht zu belästigen. Würdest du das für mich tun?«

»Hm, ja also. Ist das denn überhaupt erlaubt?«

Kleist nickte.

»Das finde ich gut, dass du dir über solche Sachen Gedanken machst. Natürlich quittieren wir dir den Empfang der Dokumente. Das wird alles ganz korrekt abgewickelt. Und?«

»Ich kann ja mal nachsehen.«

Kleist fiel ein Mühlstein vom Herz. So sah es jedenfalls aus.

»Fein! Ach so, du sollst dabei auch nicht leer ausgehen. Bist du eigentlich ein Computerfan? Natürlich bist du einer. Alle Jungs in deinem Alter sind das ...«, man merkte, dass Joachim Kleist keine Kinder hatte. »Die Dinger sind ja so was von teuer. Hier, als kleine Starthilfe. Und wenn du die Dokumente findest, gibt es nochmal das gleiche.«

Völlig überrumpelt hielt ich 5000,- DM in der Hand. Der Mann hatte offensichtlich weder Ahnung von Computerpreisen noch ein normales Verhältnis zu Geld.

»Ach, noch eine Kleinigkeit. Sag mal, hat dir dein Vater mal Vitamintablette aus unserem Werk mitgebracht?«

Nanu, was war das? Schon wieder diese Vitamintabletten? Ich stellte mich erst einmal dumm und ahnungslos, was auch ziemlich genau meinem Wissensstand entsprach.

»Oh, kann sein. Aber das weiß ich nicht so genau. Muss aber schon eine Weile er sein. Wieso?«

»Ach, nichts Schlimmes. Aber bei einer Charge ist es zu einer geringen Verunreinigung mit anderen Substanzen gekommen, die zu merkwürdigen Effekten führen können.«

»Merkwürdigen Effekten?«

»Ach, nichts Schlimmes. Möglicherweise eine ganz leichte Übelkeit oder Kopfschmerzen, in extrem seltenen Fällen ganz leichte Halluzinationen. So was in der Art. Also, wenn du noch solche Vitaminpräparate hast, gib sie am besten dem Fahrer gleich mit. Dann können wir die umweltgerecht vernichten.«

Was hatten denn plötzlich alle mit diesen blöden Vitamindrops am Hut? Erst meine Mutter, jetzt der Exchef meines verstorbenen Vaters. Paps hatte vor schätzungsweise drei Jahren, so genau wusste ich das nicht mehr, angefangen, mir Vitamine aus seiner Firma mitzubringen. Damals hatten wir noch ein wirklich gutes Verhältnis zueinander. Paps meinte, die wären zum einen völlig umsonst, und zum anderen gut für einen jungen Menschen, der noch mitten im Wachstum steckt. Na ja, wie meine Biolehrerin immer meinte: »Vitamine im Maßen können nicht schaden.«

Die Dinger waren wirklich direkt aus der Produktion. Das vermutete ich jedenfalls, da sie nicht wir andere Medikamente in Pappschachtel verpackt waren, sondern von Paps in einem dieser braunen Laborflaschen mitgebracht wurden. Ob Paps da etwas Illegales getan hatte? Einfach Sachen aus der Firma mitzunehmen konnte man ja als Unterschlagung auslegen. Obwohl, was kosten ein paar Vitamindrops? Pfennige?

Die Besorgnis von Herrn Kleist klang sehr glaubwürdig, doch so richtig überzeugt, dass eine Verunreinigung das wahre Motiv für den Rückruf sein sollte, war ich nicht. Herr Kleist wirkte einfach zu aufgeräumt, zu glatt und viel zu plausibel, als dass es wahr sein könnte.

»Ich glaube ich hab' keine dieser Drops mehr. Aber ich will gerne nachsehen.«

Letzte Woche war die braune Glasflasche noch zu 3/4 voll, aber dass musste Herr Kleist ja nicht unbedingt wissen.

»Gut, dann bringen wir dich jetzt schnell nach Hause.«

Eine Minute später saßen wir in der S-Klasse von Herrn Kleist. Sein Fahrer brachte uns in weniger als 5 Minuten nach Hause. Ich verabschiedete mich nochmals von Herrn Kleist und versprach erneut, mich sofort zu melden, sobald ich die gewünschten Dokumente gefunden hätte.

Schlüsselreize

Worin unser Held sich mit dem Rechenknecht seines seligen Vaters auseinandersetzt und sich dieser als wehrhaftes Biest entpuppt.

Es war schon ein merkwürdiges Gefühl im Büro meines Vaters zu stehen. Das Haus meiner Eltern ist nicht übermäßig groß, aber doch geräumig genug, dass mein Vater einen recht großen Raum zu einem Arbeitszimmer umbauen konnte, ohne dass wir uns platzmäßig einschränken mussten.

Ich war selten in diesem Raum. Seitdem ich mich mit Paps weniger gut verstand, eigentlich so gut wie nie. Das war wohl der Grund, warum mir das Zimmer so fremd vorkam.

Ich konnte das Wesen meines Vaters spüren. Es war sein Raum. Nicht nur die Einrichtung oder die Art, wie alle Gegenstände angeordnet waren, entsprach ganz typisch meinem Paps. Nein, es war mehr. Man konnte ihn riechen, fühlen, fast spüren. Es war regelrecht ein wenig unheimlich.

Ich stand mitten im Raum und sah mich um. Wo würde Paps Unterlagen, wie diese CDRs hinlegen? Auf dem Schreibtisch? In einer Schublade? Ich setzte mich hinter seinen Schreibtisch und überflog die Oberfläche.

Mein Paps war ein Pedant. Ganz im Gegensatz zu mir war sein Schreibtisch perfekt aufgeräumt. Selbst Kugelschreiber und Füllfederhalter (so nannte er das Teil) lagen millimetergenau parallel zur Schreibunterlage. Immerhin erleichterte es mir den Überblick. Von links nach rechts standen oder lagen auf dem Schreibtisch ein LCD-Monitor, eine Funkmaus und -Tastatur, ein Bild von mir und meiner Mum, eine grüne Schreibunterlage, zwei Druckbleistifte in den Härtegraden B und HB (Faber-Castell), Radiergummi (Stadler), Füllfederhalter und Kugelschreiber (beides Montblanc), quer hinter der Schreibunterlage lag noch ein Edelstahlbrieföffner und eine Schreibtischlampe mit Halogenlicht. Das war's. Nicht sehr ergiebig.

Rechts unter dem Schreibtisch stand ein Rollcontainer mit 6 Schubladen. Ob dort wohl die CDRs liegen könnten? Tat ich nicht eigentlich etwas Unrechtes? So in den Sachen von meinem Paps zu stöbern, kam mir nicht ganz geheuer vor. Was soll's? Kleist brauchte die Unterlagen, Paps hat für Kleist gearbeitet, somit gehörten die Unterlagen eigentlich Kleist.

Mit dieser fadenscheinigen Selbstberuhigung meines Gewissens zog ich die oberste Schublade auf und fand: Nichts. Nur weiteres Büromaterial, wie Büroklammern, Hefter, Enthefter, Taschenrechner, Prittstift, Tesa, noch einen Taschenrechner, eine Papierschere und ähnliches Werkzeug.

Die zweite Schublade sah schon vielversprechender aus. Als Erstes fiel mir ein Stapel CDs in die Hände: MS Win2k und Office, ein 3D-Chemie-CAD-Programm (das stand auf der Hülle) und ein paar Programme, von denen ich nicht wusste, wofür die gut sein könnten. Aber keine CDRs mit der Aufschrift GEN/CHEM-I-XP.

Die restlichen Schubladen waren auch nicht ergiebiger. Für die ganze Aktion brauchte ich fast zwei Stunden. Man glaubt gar nicht, wie gehandicapt man ist, wenn man seinen rechten Arm in Gips hat.

Ich lehnte mich im erstaunlich bequemen Bürostuhl meines Vaters zurück und ließ meine Augen über die Regale der gegenüberliegenden Bücherwand gleiten. Aber auch das brachte mich nicht weiter. Im Bücherregal standen erstaunlicherweise ausschließlich Bücher. Tja, Herr Kleist, Pech gehabt. Die Unterlagen sind nicht hier.

Ich wollte schon aufgeben und mich vom Stuhl erheben, als mein Blick an einem Bild hängen blieb. Paps Tresor. Natürlich! Paps wusste weder, dass ich wusste, dass sich ein Wandtresor hinter jenem Bilde befand, noch wusste er, dass ich die Kombination kannte. Ich geb' zu, ich bin früher recht neugierig gewesen und es war auch der totale Zufall, dass ich gesehen hatte, wie Paps die Kombination eingab. Die Ziffern waren leicht zu merken. Es war das Geburtsdatum der Mutter meines Vaters, meiner Oma. Die lebte zwar nicht mehr, aber ihr Geburtsdatum hatte sich dadurch nicht geändert.

1-7-0-3-1-9-0-9

Die Leuchtdiode, die den Verschlusszustand anzeigte, wechselte auf Grün. Ich drehte den Verschlussknopf und der Tresor war offen. Zwei Fächer. Das obere Fach beherbergte ein paar Dokumente. Das untere Fach enthielt, Bingo zwei CDRs, rot und blau und mit GEN/CHEM-I-XP beschriftet.

Kleist anrufen?

Ich zögerte. Mir war Kleist unsympathisch. Er wirkte auch nicht wirklich aufrichtig. Warum ihm also die Daten geben? Was sind das überhaupt für Daten, dass er sie so dringend benötigte?

Die erste CDR war schneller eingelegt, als mir bewusst wurde, was ich gerade tat. Ich war einfach tierisch neugierig. Das Ganze hatte etwas Konspiratives, Geheimnisvolles. Ich musste einfach wissen, was auf den CDRs drauf war. Obwohl ich dieses ganze chemische Zeugs wahrscheinlich eh nicht verstehen würde.

Die Autoplay-Funktion des CD-Laufwerks startet ein Programm, dessen Namen ich nicht kannte. Es schien sich dabei aber um ein Chemieprogramm zu handeln. Weiter kam ich aber nicht. Außer einem Fenster, in dessen oberer Hälfte der Projektname stand und sich in der unteren Hälfte ein Eingabefeld für ein Kennwort befand, gab es nichts, was man mit dem Programm anstellen konnte.

Passwörter sind doch der letzte Dreck.

In diesem Moment klingelte es an der Tür. Es war Michi.

»Dich hat der Herrgott geschickt!«

»Seit wann bist du denn gläubig?«

»Vergiss es. Ich brauch deine Hilfe. Du kennst dich doch etwas, hm, sagen wir mal, in der Umgehung von gewissen Programmbeschränkungen von Software aus.«

Michi grinste verschlagen.

»Was hast du vor?«

Tja, was hatte ich vor? Dazu muss man wissen, dass ich zwar einen Computer, ein Mittelklassemodell, mein eigen nennen durfte, ich mich selbst aber als reinen User bezeichnen würde. Ich nutzte das Teil fürs Surfen, Mailen, den SMS-Versand, ein paar Spiele und manchmal auch Textverarbeitung für die Schule. Das war's. Ich nutzte Anwendungen. Michi war da anders, er erstellte nicht nur Anwendungen, was heißt, dass er programmieren konnte, er war auch ein Profi im Knacken von Kopierschutzen.

»Komm mit ...«

Ich zog Michi mit in das Arbeitszimmer und zeigte ihm die beiden CDRs und die Kennwortabfrage. Michi warf mir einen skeptischen Blick zu.

»Du willst, dass ich die Software deines Vaters hacke?«

Ich nickte: »Ja! Fang an. Ich erklär es dir dabei.«

Statt anzufangen, schnappte sich Michi die beiden CDRs.

»Nicht hier, wir brauchen deinen Rechner. Da hab' ich die passende Software.«

Dazu muss man wissen, dass mein Rechner mit dem von Michi vernetzt ist. Vor zwei Jahren hatten wir einfach ein Netzwerkkabel quer von Haus zu Haus verlegt.

»Ich glaub den werden wir brauchen.«, mit diesen Worten stöpselte Michi auch noch einen kleinen Stecker vom PC meiner Vaters ab, der in einem der USB-Buchsen steckte.

»Was ist das?«

»Ein Lizenzstecker. Wenn ich fertig bin, werden wir den zwar nicht mehr brauchen, aber zu Anfang ...Weißt du, wo die Programm CDs sind?«

Die waren mir vorher im Rollwagen begegnet. Ich zeigte sie Michi und er schnappte sich das passende.

Etwas später saßen wir vor meinem PC, Michi hatte Win2k gebootet und begann wild auf die Tastatur einzuschlagen.

»Ok, jetzt raus mit der Sprache. Warum willst du wissen, was auf den CDRs drauf ist.«

»Das weiß ich selbst nicht so genau. Nennen wir es eine Ahnung. Ich hab' das Gefühl, dass der Inhalt für mich wichtig ist. Außerdem wurde ich sehr merkwürdig nach diesen Daten gefragt.«

Ich erzählte Michi von Herrn Kleist und wie er mich nach den Daten befragt hatte.

»Sehr merkwürdig, in der Tat ... Hm, zähes Bürschchen dieses Programm. Ich habe ein paar Passwortbibliotheken drüber laufen lassen. Bisher brachte uns das aber nicht weiter. Gut, versuchen wir etwas anderes.«

Michi legte wieder los. Ich beobachtete ihn. Das Programm schien eine echte Herausforderung zu sein, da Michi extrem konzentriert und wenig glücklich aussah. Ab und zu gab er einen Fluch von sich, wenn ein bestimmter Versuch wieder mal nicht geklappt hatte.

Plötzlich ein glücklicher Aufschrei: »Ha! Ich hab's!«

Gefolgt von derber Enttäuschung: »Shit, dass war nur das erste Kennwort. Sag mal, hast du eine Ahnung, woran dein Paps gearbeitet hat? Dieses Programm ist mehrfach abgesichert. Ich habe jetzt das erste Kennwort raus, übrigens ist es dein Geburtstag, aber jetzt gibt es hier so ein S/Key-System.«

»Ein was?«

»Oh, ähm, ja. Also, das Programm spuckt hier eine 6 stellige Zahl aus. Ich habe von so was schon mal gelesen. Diese Zahl muss man in ein kleines Gerät eingeben und erhält eine neue Zahl, das ist dann das Kennwort. Ein verdammt sichereres Verfahren, weil niemals zweimal das gleiche Kennwort verwendet wird. Selbst wenn man den PC abhört, und einmal so ein Kennwort mitschneidet, nützt einem das nicht. Ohne das kleine Gerät, das die zweite Zahl ausrechnet, ist man aufgeschmissen.«

»Wow, klingt sehr aufwendig.«

»Ist es auch. Also, ich glaube kaum, dass man so viel Sicherheit einbaut, wenn man nur Aspirin entwicklen will.«

»Ich weiß nicht, was der Laden von meinem Paps macht. Ich dachte irgendwelche Medizinforschung. Er hat mir mal Vitaminpillen mitgebracht. Wie würde denn so ein Gerät aussehen, mit denen man die Zahlen errechnet?«

»Weiß nicht. Vielleicht wie 'ne Checkkarte oder ein Taschenrechner.«

»Taschenrechner? Warte mal ...«

Hatte Paps nicht zwei Taschenrechner in seinem Rollwagen? Ich rannte die Treppe runter ins Büro meines Vaters und zog die oberste Schublade auf. Der erste Taschenrechner war in der Tat ein ganz normaler Taschenrechner. Das, was ich für den zweiten Taschenrechner gehalten habe, war keiner. Das Teil hatte zwar ein Display, Tasten mit den Ziffern von 0 bis 9, aber keine Tasten für die Grundrechenarten. Stattdessen gab es nur 5 weitere Tasten: On, Off, K1, K2, K3. Ich schnappte mir das Teil, rannte nach oben und hielt es Michi unter die Nase.

»Könnte es so was sein?«

»Hm, könnte passen. Weißt du wie man das Ding bedient?«

»Nein? Du?«

»Nein. Probieren wir mal.«

Michi drückte auf ON und das Display ging an. Anschließend tippte er die Ziffern vom PC-Bildschirm ab.

»Und nun?«

»Ich denke mit den drei Tasten K1 bis K3 kann man das Passwort berechnen. Nur welches ist die richtige?«

»Versuchen wir's einfach der Reihe nach.«

»Ok. Ich drücke K1!«

Das Display blinkte kurz und zeigte dann eine 8 stellige Zahl, die Michi abtippte. Michi klickte den Ok-Button an.

Fehler: Sie haben noch einen Versuch bis zur Selbstlöschung. Geben Sie jetzt den korrekten Code ein. Ein Abbruch führt automatisch die Selbstlöschung aus.

»Shit, ich habe kein Backup gezogen.«

»Ja und wenn schon. Wie soll mein CD-ROM-Laufwerk die Daten auf der CDR löschen können?«

»Nicht die Daten. Den im Lizenzstecker du Torfkopf! Wenn wir jetzt nicht die richtige Taste drücken, war's das. Weißt du, diese ganze Verschlüsselungsscheiße steckt in diesem kleinen Stecker. Und wenn sich der löscht, sind deine CDRs Zivilisationsmüll. Also, es ist deine Entscheidung K2 oder K3?«

Ich schloss die Augen und dachte nach. Welche Taste würde mein Vater genommen haben? Ich hatte keine Ahnung. Was soll's, dann musste ich einfach Glück haben.

»K3!«

Michi tippte erneut die Ziffern ab und drückte anschließend K3. Eine neue 8 stellige Zahlenkolonne erschien. Er tippte sich ab, wir verglichen die Ziffern beide drei Mal.

»Du klickst auf Ok!«

Michi schob mir die Maus rüber. Ich griff sie, schob sie über den Ok Button und ...

»Nein, doch lieber K2!«

Etwas weigerte sich in mir, K3 zu drücken. Ich wusste plötzlich, dass K3 falsch war. Also das gleiche Spiel von vorne.

»Bist du dir jetzt sicher?«

»Nein!«, ich klickte auf Ok.


Der Bildschirm wurde dunkel. Unsicher sah ich Michi an, doch der zuckte nur mit den Schultern. Die Leuchtdiode des CDROM-Laufwerks flackerte. Irgendetwas tat sich. Entweder lief gerade die Löschroutine, die alle Daten vernichten würde, oder ...?

Auf dem Bildschirm erschien ein Hinweis: »Die Hardwarekonfiguration stimmt nicht mit den Programmeinstellungen überein.«

»Was nun?«, fragend sah ich Michi an.

»Der PC von deinen Paps scheint irgendwelche Spezialhardware zu besitzen oder die Software ist damit verdongelt. Du musst das Programm auf seinem PC laufen lassen. Ich muss nämlich jetzt nach Hause. Hier hast du noch das erste Kennwort.«

Michi schrieb das Kennwort auf einen Zettel, als wenn ich mir mein Geburtstag nicht merken könnte, packte dann seine Sachen und machte sich auf den Weg in Richtung Haustür.

»Michi?«

»Was?«

»Danke!«

»Wofür?«

Ich wedelte mit dem Zettel und dem Schlüsseltaschenrechner: »Dafür!«

»Vergiss es. Du weißt, dass mir so was Spaß macht, außerdem sind wir Freunde. Also, wo ist das Problem?«

Ich schwieg.

»Trotzdem würd' mich interessieren, was du in den Unterlagen deines Vaters eigentlich suchst.«

»Das weiß ich selbst nicht. Ich habe nur so ein Gefühl. Irgendwas sagt mir, dass ich in seinen Unterlagen Antworten finden werde.«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Dabei kenn ich noch nicht einmal die Fragen. Verrückt oder?«

»Sowieso, aber so bist du nun mal. Also mach's gut!«

»Mach's besser!«

Michi ging. Ich war alleine, ging in das Arbeitszimmer meines Vaters, setzte mich vor seinen Computer, stöpselte den Lizenzstecker wieder an, legte die rote CDR ein, die auch mit einer ,1» beschriftet war, und gab die Kennworte ein.

Der Bildschirm wurde dunkel. Wenn er wieder hell werden würde, würde ich ein paar Antworten erhalten. Antworten dir für mich persönlich wichtig waren. Ich ahnte es nicht nur. Ich wusste es.

Der Bildschirm wurde wieder hell.

Über ganz besondere Kaninchen

Worin sich das Bild abrundet, man schließlich eine Toilette besucht, zurückkehrt und sich am Ende auf der falschen Seite eines gedrehten Laufs befindet.

Es schien sich bei dem Programm um eine integrierte Projektmanagementsoftware für pharmazeutische, chemische oder gentechnische Entwicklungen zu handeln. Der Startbildschirm zeigte Ordner für ein Projekttagebuch, für die Dokumentation, für Simulationen und für Versuche, aber am spannendsten war der Projekttitel.

GEN/CHEM-I-XP
GENetical/CHEMical Induced eXtra Perception

Entwicklung eines genetisch/chemischen Produktsystems zur Erzeugung von extrasensorischen Fähigkeiten.

Extrasensorische Fähigkeiten? Ich begann zu zittern. Diese CDRs schienen tatsächlich Antworten zu enthalten. Antworten, die mir Angst machten. Antworten, die in mir Furcht und Panik verursachten. Nur widerwillig und unter großer Willensanstrengungen bewegte ich den Mauszeiger auf einen der Ordner: Projekttagebuch

Es war von meinem Vater verfasst worden. Die erste Seite enthielt reine Verwaltungsdaten, wie den Beginn des Projektes (vor 7 Jahren) und den Projektleiter (meinem Vater). Seit sieben Jahren arbeitete Paps an diesem Projekt? Dabei war er es immer gewesen, der mich immer ausgelacht hat, wenn ich die X-Akten im Fernsehen gesehen hatte und meinte, ich soll so was bloß nicht glauben. UFOs, PSI, Verschwörungen und Dämonen wären alles nur Science-Fiction. Nun, PSI war es wohl nicht, wenn er seit 7 Jahren daran forschte.

Ich blätterte weiter. Die ersten 2 Jahre schien man mit der Grundlagenforschung beschäftigt gewesen zu sein. Wenn ich alles richtig verstand, war die Firma, bei der mein Vater arbeitete, im Besitz vonPSI potenten Genmaterial. Andere Forschungsgruppen (es waren also noch andere an dem Thema dran) hatten mit Hilfe von Tierexperimenten nachgewiesen (so behaupteten sie), dass PSI-Fähigkeit nicht ausschließlich angeboren sein musste, sondern dass man sie auch erzeugen kann. Das Projekt meines Vaters schien nun darin zu bestehen, dieses Konzept vom Tierversuch auf den Menschen zu übertragen.

Mir lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Was war Paps gewesen? Eine aktuelle Ausgabe von Dr. Frankenstein? Würde ich diese Unterlagen erst heute lesen, also zu dem Zeitpunkt, an dem ich diese Zeilen niederschreibe, würde ich mir Gedanken zur Ethik meines Vaters stellen, aber damals, mit 17 Jahren, war ich nur geschockt und gleichzeitig fasziniert.

Ich überflog die restlichen Seiten des Projektlogbuchs, indem ich nur die jeweiligen Kapitelüberschriften las und, wenn es interessant zu sein schien, die Kapitel quer las. Danach war das Projektteam vor rund vier Jahren zu der Entscheidung gekommen, dass endlich ein Versuch am Menschen möglich sei. Es folgte eine Liste von Versuchspersonen, die meisten Mitarbeiter der Firma, aber auch ein paar Leute, die man von Außen hinzugezogen hatte. Die Liste umfasste 47 Namen und einen Eintrag ohne Namen. Ich klickte auf den Eintrag und wählte die Menüoption »Details anzeigen«

Der Eintrag war von meinem Vater vor drei Jahren angelegt worden. Offensichtlich eine Versuchsperson, die anonym bleiben sollte. Meine rechte Hand begann wieder zu zittern, kalter Schweiß trat auf meine Stirn. Ein Gedanke, so unvorstellbar, dass ich ihn mit aller Macht beiseiteschieben wollte, materialisierte in meinem Gehirn. Bitte, lass es nicht wahr sein!

Ich musste die Maus mit beiden Händen packen, um sie bedienen zu können. Nicht einfach, wenn der rechte Arm in Gips liegt. Menüoption »Projekt öffnen« Das Programm antwortete mit einer Dialogbox »Bitte legen Sie Datenträger 2 ein, um die Projektdateien zu öffnen.«. Ich tat, was das Programm sagte: Wie in Trance entnahm ich die rote CDR und legte die blaue ein. Die Dialogbox verschwand. Der Computer begann, die Daten von der CDR zu laden.

GEN/CHEM-I-XP-Projektdatei

Objekt : vanBrüggen, Tobias Christian Peter

Aktuelles Alter: 17 Jahre
Projektalter: 158 Wochen
Geschlecht: männlich
Projektstatus: aktiv

Es war also wahr! Ich war das Versuchskaninchen meines eigenen Vaters gewesen. Mit wurde schlecht. Eine virtuelle Faust schien mir in den Bauch gerammt worden zu sein. Ich spürte Magensäure in meiner Speiseröhre aufsteigen. Mir wurde dermaßen speiübel, dass ich zum Badezimmer rennen musste und mich dort erst einmal auskotzte. Ich entleerte meinen gesamten Mageninhalt und sah mein Frühstück, den Cappuccino und den Lachsbaegel wieder. Wunderbar! Ich kuschelte mich an die Kloschüssel und zitterte wie Espenlaub. Mir lief die Nase. Ein erneuter Übelkeitsanfall brachte mich erneut über die Kloschüssel. Doch schließlich lies der Drang mich zu übergeben nach. Ich sackte neben dem Klo zusammen. Zitternd, wimmernd und schniefend. Dann kamen die Tränen.


Ich weiß nicht, wie lange ich neben dem Klo saß, wie lange ich brauchte, um wieder halbwegs normale Gedanken fassen zu können, aber irgendwann machte es in mirKlick.

Die Tränen versiegten. Das Zittern ebbte ab. Ich schniefte, schaufelte kaltes Wasser ins Gesicht, frischte mich auf und machte mich schließ zurück auf den Weg in's Arbeitszimmer.

Mit stoischer Geduld hatte der Rechner auf meine Rückkehr gewartet. Nach wie vor war der Anfang des VersuchsobjektesvanBrüggen, Tobias Christian Petergeöffnet. Chronologisch geordnet, mit sachlichen und eiskalten Formulierungen, präsentierten sich die Eintragungen:

7.3.1998
Beginn des LangzeitversuchsPrüfung der Eignung des Objekts nach standardisierten Verfahren vanBrüggen/Sömmering-Delta 7.
15.3.1998
PrüfergebnisObjekt zeigt einen Potentialindex von 17. Dies ist der dritthöchste Index der gesamten Versuchsgruppe. Anlage der Gendatenbank. Berechnung des Medikationsplans initiieren.
22.5.1998
MedikationsplanUm die Unvoreingenommenheit des Objekts zu garantieren, wird die Verabreichung der Testsubstanz als Vitaminpräparat getarnt. Als interessanter Seiteneffekt ist der pubertär/juvenile Charakter des Objekts, und die damit verbundene Unzuverlässigkeit bei der Substanzaufnahme anzumerken. Monitoring angeraten
23.5.1998
Start der SubstanzaufnahmeObjekt hat planmäßig mit der Aufnahme der Testsubstanz begonnen.

Ich war also kein Sohn, sondern ein Testobjekt, ein Versuchskaninchen meines Vaters. Gut zu wissen.

War es das?

Wardasder Grund für mein gestörtes Verhältnis zu Realität? War alles, was ich in letzter Zeit erlebt hatte, Produkt eines perversen Versuchs einen PSI-Mutanten zu erzeugen? Oder eher einen emotionalen PSI-Krüppel? Der Unterschied schien fließend zu sein. Ich war beides.

Denn so fühlte ich mich. Wie eine psychotische Missgeburt. Es war nichts Physisches. Mein gebrochener Arm? Pah! Einfach lächerlich. Wie oft hatte sich Michi bei seinen Skateeskapaden Knochen gebrochen? Man kann kein Omelett zubereiten, ohne Eier aufzuschlagen. Oder um in Michis Welt zu bleiben: Man lernt kein aggressives Grinden, wenn man nicht bereit ist, seinen Körper zu opfern. Und Michi hatte viel geopfert.

Warum ausgerechnet ich?

Hatte ich nicht schon genug damit zu, damit klarzukommen, dass mir die Mädels am Arsch vorbei gingen und ich eher auf die knackigen Ärsche von knackigen Jungs stand? Mit Ralf glücklich zusammen sein. Gegenseitig unsere Körper erforschen. Kuscheln, Lieben, Knutschen, aber auch zusammen Reisen, ins Kino gehen, Schwimmen, Spaß haben. Das waren die Dinge, die ich wollte. Und das allein würde ausreichen, um damit noch genügend Stress zu haben. Leute, wie Nils und Carsten, gibt es wie Sand am mehr. Oder Leute, die nicht akzeptieren könne, dass es mehr gibt als das ewige Stöpseln zwischen Männlein und Weiblein.

Aber mein Vater hatte mich dieser Möglichkeit beraubt. Er hatte mir ein Teil meiner Freiheit gestohlen und mit in sein Grab genommen. Dabei war ich mir noch nicht mal sicher, ob ich überhaupt über übersinnliche Kräfte verfügte. Mal schien es zu funktionieren, mal nicht. Mein Gips war ein handfestes Argument, das dagegen sprach, dass ich solche Kräfte besaß. Und die merkwürdigen Vorfälle? Einbildung?

Möglicherweise gab es eine plausible Erklärung. Was hatte der Arzt im Krankenhaus gesagt? Die Substanzen in meinem Blut ähnelten Betäubungsmitteln. Tobi auf E? Möglicherweise hatte Paps Versuch sein Ziel verfehlt und nur Halluzinationen ausgelöst.

Wenn es Antworten gab, dann in der Akte des Versuchsobjekts vanBrüggen, Tobias Christian Peter.


Widerwillig las ich weiter. Die klinische Distanz, man könnte es auch Arroganz nennen, mit der der Versuchsbericht geschrieben war, erregten erneut Übelkeit. Wenn ich vorher etwas wie Liebe für meinen Vater empfand, dann zerbrach sie mit jeder Zeile, die ich weiterlas.

Aber immerhin wurden mir auch bestimmte Merkwürdigkeiten der letzten Jahre klar. Warum ich z.B. ab und zu morgens Einstichstellen an meinem Körper fand, erklärte das der Bericht mit der Abnahme von Blutproben. Am entsprechenden Abend vorher hatte ich wohl jeweils ein Betäubungsmittel erhalten, damit ich nachts beim Aderlasse nicht aufwachte.

Gelegentlich wurde ich wohl auch, unter starker Sedierung, in die Firma meines Vaters verbracht, in der man mit mir dann umfangreiche Versuche anstellte. CT, EEG, NMR, Nervenreizleitungsmessung und Ähnliches. Das ganze Programm. Es war immerhin eine Erklärung für gelegentliche Brummschädel am Morgen. Eine Nachwirkung der Narkose.

Ergebnisse des Versuchs gab es auch. Er verlief bisher Negativ! Obwohl das Potential für die Entwicklung extrasensorischer Fähigkeiten zu wachsen schien, konnten sie niemals wirklich nachgewiesen werden. Alles war da. Eine signifikante Erhöhung von speziellen Botenstoffen im Gehirn, die Existenz bestimmter Hormone, die Aktivierung von vorher ungenutzten Hirnregionen. Alles sprach für einen Erfolg. Aber bis zum Schluss des Berichts war noch keiner eingetreten. Der Bericht endete am Tag vor Michis Unfall und empfahl den Abbruch des Experiments.

Wie ich so auf die Zeilen des Versuchsberichtes starrte, begann ich etwas an meinen Vater zu verstehen. Seine Gereiztheit, seine schlechte Laune und sein immer aggressiveres Verhalten mir gegenüber, schien seine Ursache in diesem Experiment zu finden. Wenn man zwischen den Zeilen las, konnte man ungefähr erahnen, unter welchem extremen Erfolgsdruck er gestanden haben muss. Es stand nicht explizit da, aber sein Chef schien Resultate zu verlangen und zwar um jeden Preis. Ein anderes Versuchsobjekt, Reimer, Nadja, verstarb infolge akuten Kreislaufversagens. Wie gesagt: Erfolge um jeden Preis.

»Oh, Tobi, Tobi, Tobi ...«, ich schreckte vom PC auf und sah in die Mündung einer Pistole. Hinter der Pistole, die unzweifelhaft auf mich gerichtet war, stand Herr Kleist, »Du hättest das nicht lesen sollen.

Hände weg vom PC

Die Geburt des Phönix

Worin ein Sturm von starken Gefühlen entfesselt wird, sich die eine oder andere Frage klärt, um prompt neue Probleme aufzuwerfen.

»Herr Kleist, ich ...«, ich war völlig perplex. Woher wusste der Typ, dass ich das Programm knacken würde?

»Du fragst dich wieso ich hier bin? Nun, diese Erklärung bin ich dir wohl schuldig. Wir haben den Rechner deines Vaters überwacht. Die Einwahlmöglichkeit in unsere Firma ist keine Einbahnstraße. Damit wissen wir, was du bisher gelesen hast und, dass du das unbekannte Versuchsobjekt deines Vaters warst. Ich habe das schon lange vermutet. Nun ja. Das spielt jetzt auch keine Rolle mehr. Tobi, du warst ein netter Junge und ich hasse es, was ich jetzt tun muss ...«

Ich fing an zu zittern. Deutete der Mensch gerade mein vorzeitiges Ableben an? Das war nicht wie im Kino. Das war nicht wie in einem Roman. Das Gefühl von Angst war echt und absolut beschissen. Ich zitterte nicht, ich schlotterte. Das nächste Wort brachte ich nur gestammelt und stotternd raus: »Warum?«

»Tobi, es tut mir leid. Du hast die Daten selbst gelesen. Du weißt, was wir tun. Du bist nicht dumm und dir wird klar sein, dass ich dich mit diesem Wissen unmöglich frei rumlaufen lassen kann. Ich weiß, du würdest nichts verraten. Aber darauf kann ich mich nicht verlassen. Und meine Auftraggeber erst recht nicht. Würde ich dich mit deinem Wissen laufen lassen und es kommt raus, hätte ich das gleiche Problem wie du jetzt. Es tut mir wirklich leid, dass tun zu müssen, aber ich verspreche dir, es wird auch nicht weh tun. Du wirst einfach einschlafen. Solltest du dich allerdings wehren, werde ich von dieser Waffe Gebrauch machen.«

Kleist deutete mit seinem Kopf auf die Waffe in seiner Hand. Seine Stimme ließ absolut keinen Zweifel daran aufkommen, dass er meinte, was er sagte und dass er absolut dazu in der Lage war. Wie heißt es so schön: »Man konnte es an seinen Augen sehen.« Seine Augen zeigten einen entschlossenen Menschen. Seine freie Hand griff in die Innentasche seines Sakkos und zog ein Metallröhrchen heraus und warf sie vor mir auf den Tisch.

»Hier. Eine reicht.«

Zitternd nahm ich das Tablettenröhrchen in die linke Hand und hielt es vor mein Gesicht. Möglicherweise lag es an der recht ausweglosen Situation, aber ein Teil meines Selbstbewusstseins kehrte zurück. Ich schmiss das Röhrchen Herrn Kleist vor die Füße.

»Nein! Lassen Sie mich raten. Wenn ich Ihre Todespille schlucke, wird es so aussehen, wie ein natürlicher Tod. Stimmt's?«

Kleists Kopf ließ Zustimmung erkennen.

»Warum sollte ich es ihnen so leicht machen. Sie können mich doch gar nicht abknallen. Das würde doch nur Fragen aufwerfen. Fragen, die Sie doch unbedingt vermeiden wollen.«

Aus welchen blöden Krimi hatte ich bloß diesen Sülzkram aufgeschnappt?

»Damit hab ich kein Problem. Die Waffe gehörte deinem Vater. Du hast sie einfach gefunden und ... Gut, so ein vorgetäuschter Selbstmord ist nicht sonderlich einfallsreich, aber er erfüllt seinen Zweck. Niemand wird Fragen stellen. Tobias, du must mir das wirklich glauben, ich will das hier nicht. Wenn es eine andere Lösung gäbe, wäre ich froh. Aber du bist im Weg. Also tu dir und mir einen Gefallen und schluck einfach eine Pille! Du schläfst ein und wachst nicht wieder auf.«

Eindeutig -- ich war im falschen Film! Ich träumte das nur alles. Die ganz Sache war viel zu klischeehaft inszeniert, dass sie real sein konnte. Genau, das war's: Ich war vor dem PC meines Vaters eingeschlafen und träumte.

»Niemals!«

Oder träumte ich nicht?

Ich weiß nicht, was in mich gefahren war, aber ich schrie Kleist das Wort entgegen. Gleichzeitig sprang ich von meinem Sitz auf und wollte mich auf Kleist stürzen. In diesem Moment fiel der Schuss.

»Nein!«

Ein Gedanke der Form annahm. Das Plopp kam nicht überraschend. Nur die Art und Weise, wie es diesmal passierte, war anders. Es war kontrollierter als sonst. Ich sah, wie die Kugel den Lauf der Waffe verließ. Mit ungefähr einem Centimeter pro Sekunde kam sie langsam auf mich zugeflogen. Es war fast wie in Matrix. Nein, es war genau so. Die Kugel hinterließ in der Luft Schlieren, die sich langsam auflösten. Wie die Kondensstreifen eines Flugzeugs.

Stopp. Mir gelang es, meinen Geist auf die Kugel zu fokussieren. Sie stoppte gut einen halben Meter vor meinem Kopf. Ein inverses Plopp brachte mich wieder in die Normalzeit zurück, aber die Kugel schwebte weiterhin vor meinem Kopf. Sie rührt sich keinen Millimeter.

Chemiefirmenchef und Freizeitmörder Joachim Kleist sah was passierte und erstarrte ungefähr so, wie es auch die Kugel tat.

Wenn schon Matrix, dann bitte schön aber auch ganz. Ein Lächeln umspielte meine Lippen. Ganz in der Rolle des Neo aufgegangen, nahm ich die Kugel mit zwei Fingern aus ihrem Schwebezustand auf und ließ sie auf den Boden fallen.

Kleist Kinnlade klappte runter. Ich sah seine weit aufgerissenen Augen. Ich blickte hinein und erkannte Panik. Panik und Angst. Entsetzliche Angst vor mir.

»Der Versuchsbericht meines Vaters ist nicht vollständig. Das Experiment war erfolgreich.«


Kleists Gesicht war eine von Panik verzerrte Grimmasse. Er entleerte das gesamte Magazin der Pistole. Nicht eine Kugel erreichte meinen Körper. Sie flogen heran und blieben wenige Centimeter vor mir in der Luft stehen. Ich senkte meinen Blick und formte einen Gedanken. Die Kugeln fielen zu Boden.

Kleist wollte fliehen. Er versuchte, mir die Pistole an den Kopf zu werfen. Ein Trick, um Zeit zu gewinnen und zu verschwinden. Der Trick scheiterte. Ich packte Kleist auf mentalem Wege und wirbelte ihn in die Luft. Wie eben noch die Kugeln aus der Pistole schwebte jetzt Kleist vor mir. Er fuchtelte mit den Armen und wirkte dabei absolut jämmerlich. Im schien gerade klar zu werden, was seine Leute erschaffen hatten. Für ihn war ich das Frankensteinmonster. Die Erschaffung eines Ungetüms, dass man nicht kontrollieren konnte und sich gegen seine Schöpfer wendete. Wenn er doch nur ansatzweise eine Ahnung gehabt hätte, wie es in mir wirklich aussah.

»Warum? Warum haben Sie das getan? Warum hat mein Vater mir das angetan?«

Mein flehender Ton überraschte den schwebenden Firmenboss.

»Sagen Sie es mir! Warum?«

Kleist antwortete nicht. Seine weit aufgerissenen Augen demonstrierten sein maßloses Entsetzen. Sein Verstand hatte sich abgemeldet. Shutdown! Aber das bemerkte ich in diesem Moment nicht. Und wenn ich es bemerkt hätte, so hätte ich es ignoriert. Ich wollte meine Antworten! Ich wollte sie sofort! Und ich wollte sie von der Person hören, die dafür verantwortlich war! Ich schüttelte Kleist. Ich wirbelte ihn in der Luft hin und her. Das brachte natürlich rein gar nichts, dafür steigerte es nur meine Wut. Ich war kurz davor, Kleist zu zerquetschen. Ich spürte, dass ich die Macht dazu hatte. Ein Gedanke und der fliegende Körper wäre Brei gewesen.

»Tobi ...«

Die Stimme klang vertraut. Sie klang lieb. Sie klang mitfühlend. Sie klang traurig.

»Tobi ... Lass gut sein ...«

Und sie nahm alle Wut aus mir. Ich ließ mein Opfer langsam auf den Boden sinken. Herr Kleist sah sich panisch, wirr, schreckhaft und gehetzt um. Rein instinktiv erkannte er seine Chance und rannte aus dem Zimmer. Wir waren allein.


Ralf stand mir gegenüber. Ich stand hinter dem Schreibtisch meines Vaters. Ralf stand davor. Er war gerade dabei, das Röhrchen mit den Giftpillen auszuheben. Er sah sie an und schüttelte mit dem Kopf.

»Du hättest sie alle schlucken können. Dir wär nicht ansatzweise müde geworden. Du hättest wahrscheinlich nicht mal gegähnt.«

Ich starrte Ralf an. Da war sie wieder, die Traurigkeit in seinen Augen. Aber da war auch diese tiefe Liebe, die er für mich empfand. Ich spürte sie und ich wusste, dass ich das gleiche für ihn empfand. Seine Augen funkelten. Gold-Silberne Funken sprangen hervor. Ralf nickte.

Ralf -- er war in mein Leben getreten, als sich dieses gerade auf den Kopf stellte. Eigentlich im richtigen Augenblick. Zufall?

»Ja, es war Zufall!«, ich sah Ralf verblüfft an. Er antwortete auf Fragen, die ich nicht laut gestellt hatte.

»Tobi, ich kann deine Gedanken lesen. Und ich ...«

Ralf ließ seine Schultern hängen, er atmete schwer aus.

»Tobi, komm her ... Bitte, vertrau mir ...«

Etwas ängstlich ging ich um den Schreibtisch herum und näherte mich Ralf. Die Welt um mich herum hatte ich vergessen.

»Gib mir deine Hand.«, Ralf reichte mir seine.

Ich zögerte. Ich fixierte seine Augen. Ich versuchte in ihnen zu lesen, so wie er es immer in meinen Augen getan hatte.

Es gelang mir nicht. Ich konnte keinen Gedanken aufschnappen, nur ein Gefühl, das mich überwältigte. Ralf liebte mich. Aber konnte ich ihm vertrauen? Ich musste es. Ich hatte keine Wahl. Ich gab ihm meine Hand und ... Zerbrach.

Wie ein elektrischer Strom flossen seine Gefühle für mich in mich hinein. Es war überwältigend. Ralf nahm meinen gebrochenen Arm, betrachtete den Gips. Sekunden später begann der Gips zu zerbröseln und von meinem Arm abzufallen. Ralf legte seine beiden Hände auf meinen immer noch gebrochenen Arm. Ich sah ihn an. Er schien sich extrem zu konzentrieren.

Und dann sah ich es. Ein blaues Feuer, ein Licht, dass von seine Händen ausging und meinen Arm durchströmte. Es war ein Gefühl wohliger Wärme, aber auch ein leichtes Ziehen, das meinen Arm durchflutete. Die ganze Prozedur dauerte ungefähr eine halbe Minute als Ralf, sichtlich erschöpft, meinen Arm los ließ.

»Der Bruch ist geheilt. Du kannst deinen Arm wieder normal benutzen.«

In der Tat. Der Bruch in meinem Arm war weg. Dafür nahm der Bruch in meiner Seele dramatische Dimensionen an.

Es war zu viel. Ich brach zusammen. Nicht körperlich, aber emotional. Vor wenigen Minuten wollte man mich umbringen. Dann war ich war kurz davor gewesen aus purem Wahnsinn einen Menschen zu zerquetschen; jetzt stand die Welt um mich still und mein Arm war geheilt. Ich sackte auf die Knie. Mit tränenden Augen sah ich Ralf an.

»Ralf, wer bist du? Was bist du? Was bin ich?«

Ralf hockte sich vor mir auf den Teppich und strich mit seiner Hand durch dessen Floor. Im gleichen Moment drehte sich die Welt um uns herum. Es war, als wenn sich das Büro in einen fremden, mir unbekannten Raum morphte. Wir hockten immer noch, aber auf einem glänzenden Granitboden. Ein hypermoderner Raum umgab uns. Licht strömte durch leuchtende Wandpaneele, die sich mit grauen, unbeleuchteten Paneelen gleichmäßig abwechselten. Eine Einrichtung war nicht vorhanden. Der Raum hatte gleichzeitig etwas sehr Strenges, verströmte aber auch eine merkwürdige Form von Geborgenheit. Wir hockten auf dem Boden. Ralf saß mir knapp einen halben Meter gegenüber und betrachtete mich gespannt. Natürlich lächelte er.

»Wo sind wir?«

»Wir sind an einem Ort, an dem wir reden können.«

»Und wenn Kleist oder einer seiner Leute zurückkommt? Ist das nicht gefährlich?«

»Nicht wirklich, wir haben uns sozusagen eine Auszeit genommen. Während wir hier miteinander sprechen, vergeht nicht einmal eine 1/100000 Sekunde. Aber das solltest du ja inzwischen wissen ...«

Ich musste nicken und lachte sarkastisch.

»Stimmt, ich sollte mich eigentlich daran gewöhnt haben. Doch was ist eigentlich dieses daran? Was bin ich? Was bist du? Sind wir irgendwelche Mutationen? Haben meine Eltern zu lange am Atomkraftwerk gewohnt? Oder lag es am Trinkwasser? Wurde meine Mum von Aliens entführt? Oder hat mein Vater wirklich eine Formel für übersinnliche Fähigkeiten entwickelt?«

Ralf lachte. Der Typ lachte einfach laut los. Er kringelte sich vor Lachen.

»Tobi, du siehst zu viele schlechte Filme oder liest die falschen Bücher. Nein, keine Mutation ala X-Men, keine Alienentführung ala X-Files und auch keine X-Strahlen aus dem Kernkraftwerk. Ob dein Vater wirklich Erfolg hatte? Nun, dazu kommen wir später. Aber auf die Frage, was du bist ... Na ja, ich denke mal du bist Tobias vanBrüggen, der süßeste Junge den ich kenne und der Mensch, den ich unsterblich liebe.«

»Wow! Du meinst das wirklich ernst?«

Ralfs Lachen war verschwunden und er sah mich verdammt ernst an. Ralf machte einen richtiggehend verlegenen Eindruck: »Ich meine es todernst. Ich liebe dich. Vom ersten Moment im Plattenladen.«

»Ralf ich, ich ... ich weiß nicht was ich denken soll. Ich ...«

Ich wusste eigentlich gar nichts mehr. Irgendjemand hatte mir geraden den Teppich unter meinen Füßen weggezogen. Den Teppich, den ich gemeinhin mein bisheriges Leben nannte. Ralf schien der einzige verbliebene Fixpunkt zu sein. Ich brauchte nicht zu überlegen, ich wusste, dass auch ich ihn liebte.

»Ralf ich lie...«

»Warte! Sag es nicht.«, Ralf hielt sich einen Finger an seine Lippen. Ich schwieg, »Du kennst noch nicht die volle Wahrheit. Aber zuerst muss ich deine Erinnerungen frei geben.«

Ralf berührte meine Stirn. Ich sah einen winzigen kleinen blauen Funken überspringen. Dann brach eine Flut von Bildern über mich herein. Ich lag auf meinem Bett, ich telefonierte, der Invalidenpark, das totale Nichts, das unheimliche Gespräch, der Traum im Krankenhaus mit den Milliarden Wissensfragmenten. Es waren also doch keine Träume gewesen.

»Du hast mich also wirklich nach Michis Unfall angesprochen und mir eine Karte mit deiner Telefonnummer gegeben?«

»Ja und Nein. Ja, ich hab' mit dir gesprochen. Aber das mit der Karte war nur eine Art Trick. Aber das wirst du noch verstehen. Zuerst musst du noch erfahren, was wirklich passiert ist.«

»Ich hab' dich im Plattenladen angegafft ...«

»Stimmt, aber das ist nur die Hälfte der Geschichte, die du kennst. Bereits im Plattenladen habe ich deine Präsenz gespürt. Ich fühlte mich beobachtet, blickte auf und sah dich ...«, Ralf strahlte mich an. »,Wow, was für ein Junge. Was für ein Traum von einem Schnuckel. Und so süß schüchtern, wie er verlegen in den Platten wühlt. Er ist es. Das ist er, der Mann, von dem ich immer geträumt habe.' Das waren meine Gedanken. Es hatte einfach ,Klick' bei mir gemacht. Ein Blick von dir und du hattest mir mein Herz geraubt. Aber dir war das ja so was von peinlich, beim Gaffen erwischt worden zu sein. Also zog ich mich auf die Straße zurück und wartete. Ich wollte dich ansprechen, sobald du den Laden verlassen hättest. Tobi, du hättest mich im Plattenladen mit deinen Augen splitternackt ausziehen dürfen und ich hätte mich nicht gewehrt!«

Bis hierhin lächelte Ralf beim Erzählen seiner Version. Doch das änderte sich. Ralf wurde ernst.

»Und dann passierte Michis Unfall ...«, Ralf atmete tief durch, um seinen folgenden Worten mehr Nachdruck zu verleihen. »Michi hätte diesen Unfall niemals überleben können! Er hätte ihn niemals überleben dürfen!«

»Was?«, ein eisiges Gefühl griff nach meinem Herz. »Michi hätte es niemals überleben dürfen? Ralf, sag sowas nicht ... Er ist mein Freund ...«

»Ich weiß ... Und es ist gut so. Es ist passiert. Niemand wird an dem Geschehenem etwas ändern. Aber, Michi weiß es. Er spürt, dass er eigentlich Tod sein müsste.«

»Ja, du hast Recht ...«, ich blickte zu Boden. »Er hat es mir sofort gesagt. Er sagte, er hätte eine Kraft wahrgenommen. Eine Kraft, die den Wagen weggestoßen hat. War ich das?«

»Ja! Das warst du! Es war unglaublich. Du bist unglaublich. Dein Potential sprengt alles, was jemals bisher beobachtet wurde. Tobi, ich stand daneben! Ich war in der Zeitblase, die du um dich aufgebaut hast. Ich sah deine Kraft! Es war einfach gewaltig, bedrohlich. Eine Eruption purer Energie, so viel Energie ...«

»Und dann?«

»Ich wusste, dass ich mich, dass wir uns, um dich kümmern mussten. Ich entschloss mich, dich anzusprechen. Allerdings aus einem anderen Grund als vor dem Unfall. Ich wusste damals noch nicht genau, was passieren würde. Aber mir war sofort klar, dass ich irgendetwas unternehmen musste, um in Kontakt mit dir zu bleiben. Also habe ich dir die Karte eingepflanzt.«

»Eingepflanzt?«

»Na ja, du hattest nie wirklich eine Karte in den Händen. Ich hatte dir nur die Idee einer Karte in dein Gehirn eingepflanzt. Quasi einen Ankerpunkt, der eine Verbindung zu mir herstellen konnte. Du hast auch nie dein Zimmer verlassen, hast nicht wirklich mit mir telefoniert und warst auch nicht im Park. Du warst hier in diesem Raum.«

»Und warum?«, ein bisschen begann ich zu ahnen, was wohl passiert war, aber einige Dinge waren mir immer noch unklar.

Ralf wurde sichtlich unwohl. Dieser Teil der Gesichte schien ihn zu belasten.

»Nach Michis Unfall. Bin ich hier hergekommen und habe den Vorfall den Wächtern berichtet.«

»Wächtern?«

»Später. Lass mich erst zu Ende erzählen. Also, ich berichtete von dir und deiner Kraft. Zuerst wollte man mir nicht glauben, bis man meine Erinnerung an den Vorfall las. Ich habe meinen Geist geöffnet und die Wächter haben in ihm gelesen. Sie glaubten mir. Und sie waren entsetzt. Nie zuvor war eine Machtentfaltung, wie du sie vollbracht hast, von einem unausgebildeten Geist hervorgebracht worden.«, Ralf senkte seinen Blick. »Der Rat der Wächter entschied einstimmig.«

»Was entschied der Rat der Wächter?«, ich ahnte, dass mir Ralfs Antwort nicht gefallen würde.

»Deinen Tod!«

Ich behielt Recht, die Antwort gefiel mir wirklich nicht.

»Aber warum? Was hab ich getan?«

»Nichts, du hast gar nichts getan. Du hast instinktiv reagiert.«, Verzweiflung schwang in Ralfs Stimme mit. »Du warst einfach die falsche Person am falschen Ort. Doch deine Kräfte stellen eine Gefahr dar. Eine Gefahr, die wir nicht mal annähernd abschätzen können. Deine Kräfte sind so dermaßen gewaltig. Wir ahnen nicht einmal wir groß dein Potential wirklich ist. Die Entscheidung dich zu töten war eine Entscheidung aus purer Furcht, Furcht vor der Apokalypse!«

Ralf senkte seinen Blick. Ihm stand das Wasser in den Augen: »Es war meine Aufgabe, dich zu töten. Du hättest nichts gespürt. Es wäre einfach vorbei gewesen. Man hätte dich friedlich in deinem Bett gefunden. Eine schwache Ader im Gehirn, die nach dem Streit mit deinem Vater geplatzt war. So was passiert ...«

»Aber du konntest mich nicht töten, da du dich in mich verliebt hattest.«

Ralf sah auf und mich direkt an. Er wirkte ziemlich gefasst.

»Nein! Ich habe meine Aufgabe erfüllt. Ich habe dich getötet!«

Nachwort

Womit Teil 2 sein Ende gefunden hätte. Tobis bisheriges Leben in Selbstauflösung. Im Prinzip ja, aber die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zum Schluss.

In dem Sinne. Fortsetzung folgt ...

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