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Brief an die Eltern meines besten Freundes

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Liebe Ulla, lieber Harald,

all die Jahre habe ich mich nicht mehr gemeldet… Der Tod ist ein Tabu, und man schweigt sich darüber aus und behält alle Gedanken und Gefühle für sich, um nicht etwa in die Wunden von jemand anderem zu treten. Manchmal ist es aber dann vielleicht doch gut, sich mitzuteilen, und inzwischen ist ja viel Zeit vergangen… trotzdem habe ich auch dieses Jahr an Joshuas Todestag erst wieder gezögert, euch noch mal zu schreiben. Nun tue ich es einige Tage später doch, ohne zu wissen, ob es richtig ist oder nicht. Vielleicht hätte ich diese Mail auch besser nur fiktiv geschrieben und irgendwo im letzten Winkel meiner Festplatte weggespeichert. Irgendwas hat mich gedrängt, sie wirklich abzuschicken.

Ich habe Joshuas Oma damals versprochen, dass ich ihn nie vergessen werde. Das habe ich auch nicht. Wie könnte ich? Letztes Jahr bin ich mal nachts aufgewacht und musste heulen, als ich plötzlich an ihn dachte. Und besonders jedes Jahr um diese Zeit Ende November, wenn mein eigener Geburtstag vorbei ist und sein Todestag kommt, kann ich nicht begreifen, wie viel älter ich jetzt schon bin, als Joshua es jemals geworden ist. Und was er alles nicht mehr erleben kann… das ist ein sehr schmerzliches, beklemmendes Gefühl. Fast schäme ich mich für alles, was ich selbst seitdem erlebt habe.

Ich vermisse ihn und meine, wir müssten uns doch eigentlich mal wieder besuchen können, und dann könnten wir viel berichten und miteinander Zeit verbringen und uns so gut verstehen, wie es immer der Fall war. Trotz der langen Phasen, die wir uns immer nicht gesehen hatten, war es jedes Mal so vertraut gewesen zwischen uns. Ich hatte als Junge nie einen besseren Freund, als Joshua während diesen grundsätzlich zu kurzen Besuchstagen. Wenn wir euch besuchen fuhren, oder umgekehrt, habe ich mich darauf ähnlich gefreut wie auf Weihnachten. Meistens waren wir dann erstmal etwas schüchtern. Haben den anderen abgecheckt, ob alles beim Alten ist und unsere Freundschaft noch besteht. Es war ja in der Regel mindestens ein halbes Jahr vergangen, und das ist eine lange Zeitspanne für Kinder. Nach der langen Reise gab es aber erstmal Abendessen, und währenddessen sind wir aufgetaut. Häufig haben wir dann die anfängliche Spannung mit überdrehter Rumalberei abgebaut, sodass ihr Eltern uns bald vom Tisch entlassen habt. Wir sind in Joshuas Zimmer gegangen (oder in unser Spielzimmer, aber es kommt mir so vor, als wären wir öfter bei euch gewesen), und nach kurzem Zögern haben wir immer etwas zu Spielen gefunden, und von da an waren wir wieder unzertrennlich.

Auf den ersten Blick entsprach Joshua, viel mehr als ich, dem stereotypisch ‚richtigen’ Jungen. Er spielte mit Autos und konnte gut kicken. Er war sportlicher als ich und geschickter, wenn es um Bewegungsabläufe ging. Später hatte er dann eine eigene Playstation mit Formel 1 und diversen ‚Jump-n-Run’-Spielen. Damit konnte ich nicht mithalten. Normalerweise fühlte ich mich bei anderen Jungen in meinem Alter unwohl, ja unterlegen, weil ich diese Unterschiede wahrnahm. Aber Joshua ließ sie mich niemals spüren. Wir spielten Ball in eurem riesigen Garten, und ich hatte ausnahmsweise Spaß dabei. Joshua ignorierte mit einer Engelsgeduld meine krummen Pässe und krabbelte in die Büsche, um den Ball zurückzuholen. Ich war mir sicher, dass er mich unter keinen Umständen auslachen würde. Ich musste ihm nie etwas beweisen. Wir mochten uns einfach. In Wirklichkeit war er ruhig und sensibel und fair wie ich. Wir haben stundenlang Länderturniere (wie EM oder WM) mit verschiedenen Brettspielen ausgetragen und neue Varianten entwickelt. Joshua und ich haben sämtliche Flaggen aus einem Atlas auf ein Betttuch abgemalt, ganz akkurat. Fremde Länder waren meine große Leidenschaft. Ein seltsames, introvertiertes Hobby vielleicht, aber ich war ein Leser und Träumer, und Joshua hat es mit mir geteilt. Währenddessen haben wir Kassetten angehört. Joshua hatte schon ???-CDs, als ich und meine Geschwister noch auf die alten TKKG-Bänder unseres Onkels angewiesen waren. Er ließ sich nicht anmerken, dass er die Geschichten alle ja bereits kannte, wenn wir voll Spannung lauschten. Ganz früher, als ich noch nie zuvor eine PC-Maus in der Hand gehabt hatte, haben wir in Paint Montagsmaler gespielt. Einmal haben wir sein ganzes Lego gewaschen, weil ich fand, dass es schmutzig aussähe. Dann haben wir das Guinness-Buch durchstöbert und versucht, die faszinierendsten Rekorde nachzustellen. Gestritten haben wir uns nie. Wirklich nie. Und geprügelt erst recht nicht, das war ganz undenkbar. Trotzdem, die einzige Narbe, die ich besitze, habe ich von Joshua. Er saß auf einem Wipptier im Kinderplanschbecken des Freibades, und ich saß davor. Dann ist er gegen mein Kinn gewippt, ganz aus Versehen natürlich. Ich glaube er hat sich unheimlich erschrocken, als ich blutüberströmt und schreiend davonrannte…

Am besten war sein Gekicher. Ich muss daran denken, wie Joshua sich bei Stefans Konfirmation nicht mehr einkriegen konnte, weil das ‚Kyrie Eleison’ so theatralisch von der Sopranstimme vorgetragen worden war. Er musste auch immer furchtbar kichern, wenn ich Paul versohlt oder verarscht habe, weil der uns nervte. Mir tat Joshua dann immer etwas leid, weil er ja keine Geschwister hatte. Am liebsten hätte ich ihn damals gegen Paul getauscht, damit wir beide Brüder gewesen wären.

Aber am meisten gelacht haben wir wohl abends, wenn wir alleine im Bett lagen und uns Witze und Anekdoten aus der Schule erzählt haben. Außerdem haben wir dann unsere Geheimsprache erfunden und geübt. Das war die intensivste Zeit. Joshua und ich hatten ein Geheimnis miteinander. Ein echtes Geheimnis. Wir haben sogar einen dreifach codierten Geheimvertrag darüber verfasst, weil es nie ein Erwachsener oder überhaupt jemand außer uns erfahren durfte. Jetzt trage ich dieses Geheimnis alleine…

Wenn ich mich an all das erinnere, kann ich immer noch nicht so richtig glauben, dass er einfach gestorben ist, damals vor sieben Jahren. Dass Joshua wirklich einfach tot war, als ihr ihn morgens in seinem Bett fandet. Es ist so schwer erträglich, dass er nachts allein um sein Leben rang, in diesem Bett. Wieso ist er eigentlich gestorben? War es tatsächlich einer seiner Anfälle? Wir haben nie mehr von euch erfahren… Ich schaudere, wenn ich mich frage, was er dabei bewusst durchlebt hat. Ob Joshua gemerkt hat, dass er gerade stirbt, meine ich. Und doch, manchmal flüstert mir ein leiser, hässlicher Zweifel zu, ob er damit vielleicht sogar einverstanden war, irgendwie. Oder sogar nachgeholfen hatte. Oh Gott, ich möchte euch nicht zunahe treten! Ich frage mich doch nur, was eigentlich mit ihm los war…

Das letzte Mal hatten wir uns mit Fünfzehn gesehen. Am Anfang hatte es etwas länger gebraucht, bis wir uns wieder aneinander gewöhnt hatten, oder besser gesagt, an unsere neuen Stimmen. Aber dann war alles wie immer gewesen, zwischen uns… alles.

Was in den zwei folgenden Jahren noch geschehen ist, habe ich nur bruchstückhaft erfahren, über das, was meine Mutter und ihr euch am Telefon berichtet habt. Dass Joshua immer wieder diese Anfälle bekam. Dass er haufenweise Medikamente einnehmen musste. Die ihn mehr und mehr depressiv machten. Dass er mehrere Wochen in der Klinik war deswegen. Dass er in der Schule absackte, und schließlich ein Jahr wiederholen musste. Dass er manchmal abends trank, ganz alleine. Aber das erschien mir alles etwas unwirklich. Es passte nicht zu dem Joshua, den ich kannte und so sehr mochte.

Ich hatte in dieser Zeit mit meinen eigenen Problemen zu kämpfen. Meine Teenie-Jahre waren aus gewissen Gründen nicht einfach. Und Joshua war so weit weg, wie schon immer, wenn wir uns nicht gerade besuchten.

Als meine Mutter mir von deinem Anruf erzählte, Harald, schaute ich gerade ein Fußballspiel. Ich ließ es kaum aus den Augen. Alles woran ich mich heute noch erinnere, ist, dass der PSV Eindhoven spielte. Sie ging wieder nach unten. Bestimmt eine Viertelstunde lang berührte mich die Nachricht überhaupt nicht. Ich sah einfach weiter fern. Als wäre gerade zum ungezählten Mal von einem Bombenanschlag sonst wo berichtet worden, den man sich im gemütlichen Fernsehsessel nicht nahe gehen lässt. Doch dann plötzlich explodierte die Bombe direkt in meinem Herzen.

Wir waren bei seiner Beerdigung. Ich war noch nie zuvor auf einer Beerdigung gewesen. Links und rechts in dem grauen Betonquader standen die Mädels und Jungs aus seiner Klasse aufgereiht. Sie hatten keinen Platz mehr bekommen und hielten weiße Rosen. Vorne stand sein Sarg. Chris-Joshua, stand auf den Schleifen der Gestecke. Selbst da hatten wir eine Gemeinsamkeit. Einen völlig überflüssigen ersten Vornamen. Für mich war er immer nur Joshua. So wie ich immer nur Lukas war, nie Simon Lukas.

Ich nahm eine Schaufel der gefrorenen Erde. Dumpf polterte sie auf seinen Sarg. Ich musste an euch vorbei und konnte euch nicht in die Augen sehen. Tränen begannen mein Gesicht zu verschmieren, und ich lief einfach davon. Ich hatte damals schreckliche Angst, dass Joshua nicht in den Himmel gekommen wäre. Heute glaube ich nicht mehr an Himmel und Hölle. Ja, vielleicht überrascht euch das, weil ihr immer noch Christen geblieben seid, trotz allem. Und weil ich immer so ein guter christlicher Junge war. Aber ich habe mich davon letztlich verabschiedet.

Damals habe ich zum ersten Mal den ‚Kleinen Prinz’ gelesen, es ist immer noch mein Lieblingsbuch. Es hat mich etwas getröstet. Joshua, er hatte mich gezähmt. Aber das schlechte Gewissen nagte noch lange leise weiter.

Ich hatte mir fest vorgenommen, jedes Jahr an seinem Todestag Joshuas Grab zu besuchen. Im ersten Jahr müsste ich dafür ganz pünktlich zum Achtzehnten den Führerschein machen, und dann vier Tage später ganz alleine die weite Strecke fahren. Egal, ob Schnee und Eis. Meine Eltern hätten es sowieso nicht erlaubt. Aber es scheiterte natürlich auch am Führerschein, ich kann mit Autos nun mal nicht so viel anfangen. Dennoch, zu meiner Schande habe ich es bis heute nicht ein einziges Mal geschafft, auf diesen frostigen Friedhof zurückzukehren.

Ich frage mich dann, ob Joshua und ich nicht ohnehin den Kontakt verloren hätten. Vor allem, weil ich nicht besonders gut im Kontakt halten bin. Angerufen oder geschrieben hatten wir uns nie. Oder höchstens zum Geburtstag, wenn ihr oder meine Mutter uns erinnerten. Das war dann aber irgendwie zwanghaft und verstellt. Wir vertrauten als Kinder eben darauf, dass ihr Eltern wieder einen Besuch verabredetet. Und dann brauchten wir unsere kurze Anlaufphase, und dann hatten wir die Distanz, auf der wir lebten, überwunden und waren wieder Freunde.

Naja, als Jugendliche war es wohl schwierig, diesbezüglich auf Selbständigkeit umzuschalten.

Aber nun wäre ich längst selbst neugierig, Joshua mal wieder zu treffen, vielleicht auf eine Flasche Rotwein oder wer weiß… ich würde es darauf ankommen lassen, den Kontakt wiederherzustellen. Ich wüsste gerne, ob er mich immer noch verstehen kann, nach allem, was sich an der Oberfläche meines Lebens gedreht und verändert hat. Ich glaube schon, oder zumindest hoffe ich es… denn ich bin im Kern ja trotz allem immer noch derselbe, vielleicht mehr als je zuvor. Und Joshua kannte meinen Kern, wie sonst niemand.

Wahrscheinlich ist das der Grund, warum ich diese Mail schreibe. Eigentlich ist sie wohl für Joshua. Ich frage mich, wie er reagieren würde, wenn ich mich noch bei ihm outen könnte. Könnte ich bei ihm überhaupt von einem Outing sprechen?

Outing? Ja, richtig, ich habe seit eineinhalb Jahren einen Freund. Einen ‚festen’ Freund, wie man so schön sagt. Es hat lange gedauert, aber ich kann inzwischen frei und offen damit umgehen, dass ich schwul lebe. Dafür habe ich mich mühsam aus meinem Glaubensgefängnis befreien müssen. Ich weiß, dass ihr wohl auch einen anderen Standpunkt habt, was diese Thematik angeht, aber davon lasse ich mich nicht mehr verunsichern.

Jedenfalls, einige Freundschaften meiner Jugendzeit haben sich in diesem Prozess auseinander entwickelt und sind still schweigend verloren gegangen. Sie haben sich zwar um eine verständnisvolle Reaktion bemüht, wenn ich sie eingeweiht habe. Aber gleichzeitig wurde klar, dass wir nun in verschiedenen Welten leben, und es nicht mehr viel zu sagen gibt.

Irgendwie mag ich nicht glauben, dass es mit Joshua genauso passiert wäre…

Weil es nicht irgendein Dogma war, das uns als Jungen so tief verbunden hat, sondern einfach menschliche Sympathie. Innerer Einklang.

Weil er diesen besonderen Platz hat in meinem Leben.

Weil ich unsere Freundschaft nicht vergessen könnte.

Ich bedauere so sehr, dass ich es niemals erfahren werde.

Keine Ahnung, was ihr jetzt über diese Mail denkt. Es würde mich freuen, es zu hören.

Lukas

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