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Baggerseepärchen

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Jens stürmte herein und schleuderte seinen Rucksack hinter die große Yucca-Palme in der Sitzecke.

„Ey, was soll das!!“

„Vollspastie…“

Jenny und Tatjana aus der Achten hatten die Couch in Beschlag genommen, schlürften Kiba und diskutierten die letzten weltbewegenden Facebook-News, als sie Jens‘ dynamischem Auftritt beinahe zum Opfer fielen. Nicht auszudenken, wenn der tiefrote Saft sich von dem Geschoss getroffen über ihre teuren Miniröcke und Smartphones ergossen hätte…

Jens kümmerte sich keine Sekunde um das empörte Gegacker und kam zum Billardtisch rüber, wo ich mit Finn, Pasquale und Denis gerade die Kugeln umherstieß. Den Sechstklässlern gelang es eher zufällig einzulochen, was ihrem Eifer aber nicht schadete.

„Hey, Moritz!“ Jens schlug mit mir ein. „Du, ich muss mal dringend mit dir schwätzen… boah, du glaubst es nicht, aber das geht gar nicht…“

„Hey, Jens! Okay, kein Problem. Ich spiele hier noch die Runde fertig.“

Ich versenkte zwei Kugeln und verspielte dann meinen nächsten Stoß, um die Jungs nicht vorzuführen.

„Na toll, wenn man seinen Sozialarbeiter einmal sofort braucht…“, Jens grinste ironisch und setzte seinen aufgeregten Redeschwall fort.

„Du glaubst echt nicht, was mir passiert ist. Das ist voll der Skandal… Übel… Jetzt mach endlich!“, herrschte er Denis an, der ziemlich umständlich seinen nächsten Stoß plante.

„Oh Mann, was für ein Opfer…“

Denis verfehlte die anvisierte Kugel und funkelte den eineinhalb Köpfe Größeren wütend an.

„Verpiss dich!“

„Jens, halt dich hier raus. Hol dir was zu trinken und such dir eine chillige Ecke, bin gleich da und kann mich deiner Sache voll widmen“, schaltete ich mich wieder ein, um zu verhindern, dass Denis’ Queue einen der beiden verletzte.

„Alles klar Mann. Alter, ich versuch heute schon die ganze Zeit dich zu erwischen. In den Pausen warst du ja immer verschwunden. Am besten, wir gehen gleich in dein Büro. Also zieh durch und mach sie platt…“ Jens verschwand zur Bar. Bar – das war der urige Holztresen, an dem die Schüler Softdrinks, Saftcocktails und Süßigkeiten erstehen konnten.

Die Betreuung des Schulclubs an vier Nachmittagen pro Woche war eine meiner Hauptaufgaben an der Willy-Brandt-Realschule. Neben verschiedenen Freizeitangeboten konnte hier vor allem ‚abgehangen‘ werden und es war leicht, in Kontakt mit den Schülern zu kommen. Mit der Zeit entwickelte sich Vertrauen, und nicht selten war ich dann die Anlaufstelle für Probleme und Sorgen sämtlicher Art, schulisch und nicht schulisch. Diese ernst zu nehmen und zu besprechen war eben der Job, für den ich bezahlt wurde und den ich gerne machte. Da ich einen guten Draht, sowohl zu vielen Schülern, als auch zu dem Lehrerkollegium pflegte, konnte ich in den meisten Konfliktfällen vermitteln und den Schulalltag so für alle entlasten.

Pasquale, der mit mir ein Team bildete, gelang es unsere letzte Kugel einzulochen. Nachdem er sich lautstark gefeiert und mit mir abgeklatscht hatte, visierte er die schwarze an. Vorbei…

Der Schulclub war ein weitläufiger Raum neben dem Heizungskeller. Als ich vor einigen Jahren den Job angetreten war, hatte ich ihn zusammen mit den Schülern in den Sommerferien komplett renoviert und neu gestaltet. Bei einem Spendenlauf war eine ordentliche Summe zusammengekommen, von der Farben, Sofaüberzüge, gemütliche Stehlampen und eben der Billardtisch angeschafft werden konnten. Kicker, Dartscheibe und Tischtennisplatte waren bereits vorhanden. Abgenutzte Sitzmöbel überall in der Gemeinde wurden vor dem Sperrmüll gerettet und per Traktor, den der Opa eines älteren Schülers zur Verfügung stellte, herbeigeschafft. Ebenso ein gebrauchter Kühlschrank für die Bar. Das Projekt trug erheblich dazu bei, dass die Schüler sich mit dem Raum identifizierten und gerne Zeit darin verbrachten. Außerdem hatten sie erlebt, dass sie mit gemeinsamer Anstrengung etwas schaffen und bewirken konnten. Ausdruck davon war auch das visuelle Highlight rechts von der Bar. Eine Obama-Karikatur mit dem Graffiti-Schriftzug ‚Yes we can!‘ Darüber konnte man inzwischen natürlich schmunzeln, aber damals war die Euphoriewelle riesig und hatte uns erfasst, insbesondere der Slogan hatte einfach gepasst.

Denis und Finn brachen in schadenfrohen Jubel aus, als Pasquale in der nächsten Runde die schwarze Kugel ins verkehrte Loch trudelte. Der kleine Halbitaliener schaute mich konsterniert an.

„Scheiße… Revanche?!!!“

„Leider ohne mich, ich hab Jens versprochen zu kommen. Vielleicht später nochmal. Du schaffst das aber auch alleine!“

Ich schlug nochmal ein, dann schlenderte ich hinüber zur Bar, wo Jens mit Gül turtelte. Der Bardienst wurde von den Abschlussklassen übernommen, was erstaunlicherweise eine überaus beliebte Aufgabe war. Vielleicht lag es mit daran, dass damit auch die Kontrolle über die Musikanlage verbunden war, und die ‚Barkeeper‘ sich also als ‚DJ‘ probieren konnten. Heute schien sich Gül aber eher zu langweilen. Es war kaum was los. Bei dem heißen Sommerwetter hielten sich die Jugendlichen wahrscheinlich überwiegend im Freibad auf.

„Hey Gül, ein Wasser bitte.“ Etwas anderes fand ich bei der Hitze einfach widerlich.

„Wow, du bist ja ein ganz Harter“, stichelte Jens.

„Sagt der Junge mit dem Colaglas!“ Ich schubste ihn leicht an.

„Ey, da ist Captain Morgan drin! Stimmt’s Gül?“, Jens knuffte zurück.

Gül zuckte nur mit den Schultern und stellte mir mein Wasserglas hin.

„Okay, aber wehe du kotzt. Danke, Gül!“

„Also können wir dann endlich?!“

„Na bei dir brennt es aber heute… ins Büro?“

Mein Büro lag an einer Stirnseite des Clubraumes und beherbergte neben meinem Schreibtisch und Bücherregal noch eine weitere Sitzecke. Viele Gespräche bedurften eben einer vertraulicheren Atmosphäre, als es in dem Hauptraum trotz Hintergrundmusik möglich war. Dafür, dass ich meiner Aufsichtspflicht dennoch nachkommen konnte, sorgte eine riesige Glasfront. Jens setzte sich auf das Sofa mit dem Rücken zur Scheibe, sodass ich hinter ihm den gesamten Club überblicken konnte.

„Also Jens, schieß los!“

„Ich hab was rausgefunden, das ist echt krass. Da muss sofort was passieren!“

„Hmm, bin gespannt.“

Ich kannte Jens, seit er damals als Fünftklässler einer der Jüngsten bei der Renovieraktion war und von oben bis unten bekleckert die Wände bepinselte. Auf den ersten Blick wirkte seine aufgedrehte und übermotivierte Art anstrengend und hatte ihm in der Schule unter Lehrern und Mitschülern auch nicht nur Freunde gemacht. Allerdings hielt ich ihn für einen grundehrlichen und anhänglichen Kerl und nicht zuletzt da ich mit ihm einige seiner Krisen zusammen durchgestanden hatte, entstand zwischen uns ein spezielles, kumpelhaftes Verhältnis. Natürlich bezog sich das nur auf meine Rolle als Sozialarbeiter, die Grenze zu mir als Privatperson wahrte ich streng. Alles andere wäre hoch unprofessionell. Dennoch, manche bezeichneten Jens als meinen ‚größten Fan‘ oder auch etwas boshafter, als meinen ‚Stalker‘.

„Ich war gestern mit Kumpels vom Ruderverein am Baggersee in Oberbirkenheim. Rat mal, wen ich da gesehen hab?“

„Keine Ahnung… Lady Gaga?“ Oberbirkenheim lag eine knappe halbe Autostunde entfernt auf der anderen Seite der nächsten größeren Stadt. Ich kannte dort niemand und war erst einmal am besagten Baggersee gewesen.

„Haha, du bist so lustig. Nee… den Hartmann. Aber er war nicht allein…“

Jens machte eine kunstvolle Pause, beugte sich zu mir vor und beobachtete mich eindringlich. Ich zwang mich, seinem Blick standzuhalten. Herr Hartmann war sein Deutsch- und Gemeinschaftskundelehrer.

„…sondern mit so nem Typ. Die haben die ganze Zeit geknutscht und gefummelt… E-k-e-l-h-a-f-t! Der Hartmann ist ne miese Schwuchtel!“ Jens gestikulierte entrüstet.

Jens‘ Worte durchbohrten mich. Nur mühsam konnte ich meine Beherrschung bewahren.

„Wie bitte?!“, stammelte ich entgeistert.

„Der Hartmann is ne Dreckstunte! Die lagen da auf ihrer Decke und haben sich begrabscht und verliebt rumgeschwult, boah. Das hättest du auch nicht gedacht, oder? Und der Typ ist auch noch Lehrer!“ Jens redete sich in Rage. Gleichzeitig belauerte er mich und wartete auf meine Reaktion.

„Bist du dir sicher?“ Ich kannte Herrn Hartmann, und das passte ganz und gar nicht ins Bild.

„Hundertpro. Hundertpro. Er hat mich nicht erkannt, weil wir ein Stück weg hinter ihnen waren, aber das war er, sowas von. Er hat doch dieses Schlangen-Tattoo am Arm. Voll schwul. Warum macht der sowas? Das ist doch voll scheiße! Shit, bähh, ich will gar nicht wissen, was die gemacht haben, als sie abgehauen sind! Perverse Fickschwuchteln!!!“

Verdammt, das war krass. Ich musste mich zusammenreißen. Professionell bleiben! Alles andere ist gerade unwichtig. Ich atmete tief durch, um meinen Puls zu beruhigen.

„Wie findest du denn das? Du musst das sofort dem Mirrleger melden! Der ahnt bestimmt nicht, was für ein Perverser bei ihm unterrichtet!“

„Okay, Moment Jens. Du hast Herrn Hartmann mit einem anderen Mann gesehen. Die beiden haben sich geküsst und angefasst. Richtig? Du schließt darauf, dass dein Lehrer offensichtlich schwul ist und hast damit nun ein Problem?“

„Ich hab kein Problem“, brauste Jens auf, „der hat doch ein Problem! Der gehört weggesperrt, dieser Schwanzlutscher!“

„Hey, jetzt komm mal runter, ja? Es regt dich voll auf, und wir können gerne darüber reden. Aber diese Schimpfwörter finde ich scheiße. Die will ich nicht hören. Okay?“

„Wieso? Die benutzt jeder! Dafür gibt’s keine anderen Wörter! Die sind nun mal total krank! Sag bloß, du findest das in Ordnung??!“

Ich holte noch einmal Luft. Jens drängte mich ziemlich an die Wand.

„Jens, darum geht es überhaupt nicht. Ich kann nicht darüber urteilen, was Herr Hartmann in seiner Freizeit macht. Das steht mir nicht zu, das ist seine Privatsache.“

„Nein, eben nicht!“, blitzte Jens mich an und sprang auf. „Dieser Ar… der ist hier Lehrer! An dieser Schule!“

„Was genau hat das damit zu tun?“

„Na, das weiß man doch! Das sind doch alles Kinderf… also ich meine, die gehen doch voll ab auf kleine Jungs, voll pervers… Das weiß man doch! Auf jeden Fall sind die geil auf junge Kerle!“

„Woher weißt du das? Wer sagt das?“

„Alle… meine Kumpels… mein Vater… oder guck es dir im Fernsehen an! Der Typ, mit dem der Hartmann da rumgemacht hat, war auch so ein Junger! So ein blonder, tuntiger Schönling… vielleicht drei Jahr älter als ich… na ja vielleicht auch fünf.“

Ich musste schlucken. Jens ließ sich wieder auf die Couch plumpsen und verzog sein Gesicht.

„Bäh, was wenn der sich auf mich und meine Kumpels einen runterholt?! Ich werde das dem Mirrleger melden, das schwör ich dir! Was meinst du, wie mein Vater abgehen wird, wenn ich ihm das stecke!“

Jens zitterte vor Wut und rammte seine Faust in ein Sofakissen. Herr Mirrleger war übrigens der Direktor der Willy-Brandt-Realschule.

„Dein Vater?“ Ich hatte mit Oberkommissar Schulz einige Elterngespräche geführt. Gespräche im weitesten Sinn, wenn man uneinsichtige Hasstiraden und Beleidigungen so bezeichnen möchte.

„Mein Alter hasst Schwuchteln!“ Er bemerkte meine gerunzelten Brauen. „Sorry, ist doch wahr. Der lässt nicht zu, dass der uns weiter anschwult. Der macht den kalt.“

Ein Schauer lief mir den Rücken runter. Trotz der Hitze.

„Hat sich Herr Hartmann jemals nicht korrekt verhalten, gegenüber dir oder deinen Kumpels?“

„Wieso? Nein…“ Jens hielt zum ersten Mal kurz inne.

„Warum denkst du, dass er dich ‚anschwult‘, aber bisher hast du davon gar nichts bemerkt, oder? Warum sollte sich das jetzt ändern, nur weil du herausgefunden hast, dass er wahrscheinlich schwul ist?“

„Naja… bisher war er echt einer der coolsten Lehrer, das schon. So verständnisvoll und so, aber der bringt dir auch was bei. Wir haben eigentlich alle Respekt vor dem, obwohl er jetzt nicht streng ist oder so.“

Jens zögerte. Langsam entwickelte sich das Gespräch in eine konstruktive Richtung. Doch dann verdunkelte sich sein Gesicht wieder.

„Bäh, genau, das ist eben voll seine Masche, auf die Art kriegt der uns doch rum… Jetzt check ich das eben. Der hat uns alle eingeschwult… so auf die coole Schiene halt, will der uns alle schwul machen. Unterbewusst! Aber jetzt fall ich darauf nicht mehr rein!“

Ich sah an Jens vorbei durch die Glasscheibe. Jenny und Tatjana waren verschwunden. Die drei Jungs spielten immer noch Billard, außerdem war noch Adrian aus ihrer Parallelklasse dazugekommen. Gül gähnte und spielte auf ihrem Handy. Obama grinste, wie immer. Alles in Ordnung.

„Jens, ich kann dich beruhigen. Schwul sein ist nicht ansteckend, und man kann auch niemand schwul machen. Man ist es entweder, oder nicht.“

„Pah, wie willst du dir da sicher sein? Irgendwoher muss es ja kommen! Frag mal meinen Vater, der sagt dir was anderes…“

„Kennst du eigentlich jemand, der schwul ist? Kennt dein Vater jemand? Persönlich kennen, meine ich.“

Jens sah mich verblüfft an.

„Nein. Natürlich nicht! Von denen soll man sich fernhalten, die verseuchen die Gesellschaft…“

„… sagt dein Vater?“

Ich seufzte. Jens starrte mich trotzig an.

„Mann Moritz, was lässt du heute wieder den braven Sozialarbeiter raushängen... jetzt komm mal kurz raus aus deiner ‚Alle-sollen-sich-liebhaben‘-Rolle und stimm mir zu, dass das echt gar nicht geht. So jemand kann einfach nicht Lehrer sein! Der ist eine Gefahr für uns!“

Ich wagte einen Vorstoß. Hoffentlich ging er nicht nach hinten los…

„Jens… ich erinnere dich nicht gerne, aber weißt du noch die siebte Klasse?“

Er sackte sichtlich ein Stück zusammen. Ich hatte einen sehr wunden Punkt erwischt, aber vielleicht war das gerade nötig.

„Ähhm… ja klar, weiß ich noch… Alter, was hat das jetzt bitte damit zu tun?!“

„Hmm, überleg mal.“

„Boah nee! Das war ja wohl total was anderes! Das meinst du jetzt aber nicht ernst?!“

„Klar, es gibt sehr verschiedene Schubladen, in die man gesteckt werden kann. Macht das wirklich einen Riesenunterschied?“

Jens wich meinem Blick aus.

„Also ich war ja aber überhaupt kein Psycho. Das haben die anderen nur gedacht. Aber der Hartmann i-s-t schwul, das hab ich g-e-s-e-h-n!

„Hast du auch gesehen, dass er sich einen auf dich runterholt? Dass er auf euch, auf seine Schüler steht? Dass er euch schwul machen will? Oder sind das Vorurteile, weil jemand sich nicht ganz so normal verhält, so wie man es kennt?“

Ich konnte beobachten, wie Jens mit sich und seinen Erinnerungen rang. Vor gut drei Jahren war zuerst sein bester Freund weggezogen, dann wurden die Klassen aufgrund neuer Fächerwahl umstrukturiert. Jens wurde zum Außenseiter und aufgrund seiner hibbeligen Art bald zur Zielscheibe. Er fing an zu schwänzen, was natürlich nicht unbemerkt blieb. Sein Vater tobte und wurde dabei mitunter handgreiflich. Die Mutter wusste sich nicht anders zu helfen und ging mit Jens, dem Rat der Klassenlehrerin folgend, zum Kinderpsychologen. Der verschrieb die passenden Medikamente für den anpassungsgestörten Jungen. Die machten ihn zwar stiller, aber nicht glücklicher, und sein Verhalten wurde für seine Mitschüler eher noch rätselhafter, was das Mobbing befeuerte. Vor allem, als ein Klassenkamerad auf einer Klassenfahrt Jens‘ Pillen entdeckte. Seitdem war er nur noch ‚der Psychopath‘. Jens begann ausschließlich schwarze Kleidung zu tragen und wenig später sammelten sich Narben auf seinen Unterarmen. Für die anderen passte das in ihr Bild.

Jens atmete schwer durch. Die Luft im Büro war stickig. Er stützte den Kopf in die Hände.

„Naja… ich weiß nicht“, murmelte er etliche Zeit später.

„Stell dir mal vor, wie Herr Hartmann sich fühlen wird, wenn du jetzt eine Kampagne gegen ihn lostrittst. Obwohl er hier an der Schule immer ein korrekter und engagierter Lehrer war. Nur weil du zufällig bemerkt hast, dass er in seinem Privatleben in einen anderen Mann…“ Das Wort ‚verliebt‘ wollte mir nicht über die Lippen kommen. Leise ergänzte ich, „…ähm, mit einem anderen Mann zusammen ist.“

„Glaubst du echt, dass die einfach bloß ganz normal ineinander verliebt sind?“

Mein Magen zog sich zusammen. Ich unterdrückte das Gefühl. Jens klang nicht mehr so selbstsicher. Seine Frage hatte er offen in den Raum gestellt.

„Hmm, normal? Was ist denn normal?“

„Naja, so wie ein Typ und ein Mädel eben…“

„Warum ist das normal?“

„Weil man es halt so kennt.“

„Ja, aber manchmal verhalten sich Menschen eben anders, als man es kennt, oder? Das hast du doch schon an dir selbst erlebt. Nur, die Mehrheit bestimmt, was normal ist.“

„Hmm… und was für die unnormal ist, machen die fertig.“

Jens sah mitgenommen aus. Er hatte sich in eine Sofaecke gekauert.

„Ja… so ist das leider oft. Stell dir mal vor, die Mehrheit würde homosexuell leben. Dann würden alle von dir erwarten, dass du mit einem Jungen gehst. Wie würde es dir dann gehen, wenn du dich aber trotzdem in ein Mädchen verliebst?“

In diesem Moment drang ein jaulender Aufschrei ins Büro. Ich sah auf und bemerkte gerade noch, wie Denis zu Boden sackte. Adrian drehte sich um und legte den Queue auf dem Billardtisch ab. Die anderen beiden knieten sich neben den offensichtlich Verletzten. Ich sprang auf und eilte zu Denis. Der presste seine Hände an den Brustkorb und japste schwer. Tränen standen in seinen Augen.

„Hey Denis, geht’s? Was ist passiert?“

„Adrian hat ihm den Stock reingeboxt!“, klärte mich Pasquale empört auf.

„Hab ich nicht! Das heißt Queue, du Honk!“

Ich half Denis sich leicht aufzusetzen, sodass er besser Luft bekam.

„Ganz ruhig. Tief durchatmen. Gül, kannst du bitte schnell schauen, ob Herr Müller noch da ist?“

Gül war hinter der Bar hervorgekommen. Herr Müller unterrichtete Biologie und fungierte als Sanitätslehrer.

„Hat er doch! Volle Kanne! Einfach so!“ Finn funkelte Adrian an und ballte die Fäuste. „Jetzt kriegst du Sozialdienst, darauf kannst du dich verlassen!“

„Vergiss es, Schwuchtel…“ Adrian war damit beschäftigt, die Kugeln eine nach der anderen mit einer schnellen Handbewegung über den Tisch zu jagen.

Auch bei Denis schlug der Schock in Wut um.

„Die Mißgeburt! Der hat mir ne Rippe gebrochen. Scheiße, ah!“, brachte er mit sich überschlagender Stimme heraus.

„Hey Jungs, Schluss jetzt erstmal! Wo tut es weh?“

„Hier!“, jammerte Denis und deutete auf eine Stelle nah an seinem Brustbein.

„Darf ich mal sehn?“

Denis nickte und schob sein Chelsea-Trikot hoch. Da bildete sich auf jeden Fall ein blauer Fleck.

„Kannst du wieder normal atmen?“

„Denk schon, aber das tut scheiße weh…“

Ich brachte Denis zum nächsten Sofa. Wenig später erschien Herr Müller.

„Na du hast Glück, ich wollte gerade Feierabend machen. Mein armes Bier. Lass mal sehn…“

Während Herr Müller Denis‘ Rippen abtastete, schnappte ich mir Adrian und unterhielt mich mit ihm vor der Tür. Wie bei solchen Vorkommnissen üblich, stritt er es zunächst ab, dann war es ein Versehen, dann hatte Denis ihn übel provoziert. Schließlich zeigte er aber doch noch Einsicht, dass Billardstöcke nur zum Billardspielen gebraucht werden dürfen, und dass der nächste ähnliche Vorfall im Schulclub für ihn Konsequenzen haben würde.

„Sorry Denis, war keine Absicht, ja? Okay? Alles klar, oder?“, meinte er dann sogar, als die Jungen mit Herrn Müller den Clubraum ebenfalls verließen.

Denis zuckte mit den Schultern und schlug halbherzig ein.

„So, du bist also sein Stecher. Beim nächsten Mal hältst du dein Testosteron zurück, Freundchen, wenn du nicht mit deinem Stock umgehen kannst!“

Herr Müller warf Adrian einen strengen Blick zu. Er war unter den Schülern allgemein für seine zotigen und schlüpfrigen Kommentare bekannt, die mit deren pubertären Gedankengängen nahtlos kompatibel waren. Die Sechstklässler grinsten sich entsprechend vielsagend an.

„Also ich konnte nicht feststellen, dass eine Rippe gebrochen ist. Sicherheitshalber macht da aber ein Arzt ein Röntgenbild. Kümmern Sie sich darum, Herr Sander?“

„Ich kann hier eigentlich nicht weg, es ist noch ein Schüler mit einem wichtigen Gesprächsbedarf in meinem Büro. Können wir deine Eltern informieren, Denis?“

„Ja... Ich ruf mal meine Mutter an.“

Kurze Zeit später hatten wir das geklärt. Die vier Jungen verabschiedeten sich, um vor der Schule auf Denis’ Mutter zu warten. Auch Herr Müller strebte seinem Feierabendbier entgegen.

„Kann ich dann auch gehen?“, fragte Gül, als ich in den Schulclub zurückkehrte. Die Musikanlage hatte sie bereits ausgestellt.

„Oh ja klar, natürlich. Genieß noch die Sonne!“

Ich ging selbst zur Bar und trank noch ein Glas Wasser. Mein Blick schweifte durch den menschenleeren Raum. Diese Stille war seltsam, wo hier ansonsten doch ständig Trubel und Aufregung herrschte. Plötzlich drängte sich das Gespräch mit Jens wieder voll in mein Bewusstsein. Ich schritt auf das Büro zu. Mir wurde schwindelig und kurz schwarz vor Augen. Ich blieb einen Moment stehen und sammelte mich. Dann öffnete ich die Tür.

„Puh… tut mir voll Leid, dass du solange warten musstest!“

Keine Reaktion. Irritiert nahm ich war, dass Jens zusammengekauert auf dem Sofa saß, die Beine angezogen, den Kopf vergraben. Er schniefte und zitterte leicht.

„Jens, was ist los?“

Wieder keine Antwort, nur das Schniefen wurde vernehmbarer.

„Jens?“

Ich setzte mich neben ihn. Da half nur Geduld, denn ich hatte keine Ahnung, was mit dem Kerl plötzlich los war. Vielleicht kam die schmerzvolle Vergangenheit wieder hoch, die wir vorhin angeschnitten hatten?

„Okay, ich warte… wenn du willst, hör ich dir zu. Lass dir Zeit.“

Damals kam seine Klassenlehrerin irgendwann auf die Idee, mich einzuschalten. Jens besuchte zu der Zeit den Schulclub nicht regelmäßig, sodass mir nichts aufgefallen war. Viele Gespräche waren nötig, zunächst mit Jens, bis er mir vertraute und mich sicher auf seiner Seite wusste. Mit seinen Eltern, wobei sein Vater sich leider renitent uneinsichtig zeigte und darauf bestand, der Junge solle sich gefälligst zusammenreißen und ein Mann werden. Jens‘ Mutter verstand allerdings schließlich, wie sehr ihr Sohn unter der zweifelhaften Diagnose litt, und erklärte sich nach Rücksprache mit einem mir gut bekannten Psychiater bereit, auf die Psychopharmaka zu verzichten.

Ich konnte Jens außerdem soweit ermutigen, dass er in Konfliktgespräche mit seinen Klassenkameraden einwilligte. Ich wurde in die Klassenstunde eingeladen und thematisierte offen das Thema Mobbing. Herrn Müller und Herrn Hartmann, der Deutsch unterrichtete, konnte ich dafür gewinnen, im Rahmen ihres Unterrichts über psychische Krankheiten und ihre sozialen Hintergründe offen aufzuklären. Es war ein zäher Prozess. Die Gemeinheiten ebbten zwar weitestgehend ab, und einige der schlimmsten Mobber zeigten sich nach den Unterredungen geläutert. Doch Jens fand trotzdem keinen Anschluss an eine der eingeschworenen Cliquen, was zum Teil auch daran lag, dass er sich weiterhin misstrauisch einigelte. Außerdem gelang es David – einem kolossalen, gehässigen Typen – immer noch, Jens seine Feindseligkeit spüren zu lassen. Er sorgte dafür, dass seine Vasallen ihn zwar nicht mehr offensichtlich verspotteten, aber dennoch wie einen Paria behandelten und so seine Isolation in der Klasse aufrechterhalten blieb. Alle Versuche, David in eine Lösung einzubeziehen, torpedierte dieser geschickt und subtil.

Jens wandte mir seinen Kopf zu. Bestimmt zehn Minuten waren vergangen. In seinen Augen schimmerte matte Nässe.

„Bin ich eben nicht!“, presste er hervor.

„Was bist du nicht?!“

Ich wusste nicht, was er meinte. Angestrengt versuchte ich mich zu erinnern, wo unser Gespräch eigentlich abgebrochen war, als Denis losgeschrien hatte.

Der nächste Satz platzte mit ungeheurer Bitterkeit aus Jens heraus.

„In ein Mädel verknallt!“

Er verbarg sein Gesicht wieder und begann hemmungslos zu schluchzen.

Instinktiv legte ich ihm eine Hand auf die Schulter. Liebeskummer war ich gewohnt, das kam natürlich bei den Jugendlichen oft vor. Gut möglich, dass Jens versetzt worden war. Dass er sich Hoffnungen gemacht hatte, die nicht erfüllt und erwidert wurden. Zwar hatte er mir gegenüber in der letzten Zeit nichts Derartiges durchblicken lassen, aber man teilte seinem Schulsozialarbeiter selbstverständlich nicht permanent sämtliche intimen Sehnsüchte mit. Allerdings war ich schon über die Heftigkeit überrascht, mit der Jens nun zusammenbrach. Sein Schluchzen steigerte sich zu einem langgezogenen, kehligen Brüllen, während er mit dem Oberkörper rhythmisch vor und zurück schwankte.

Moment, ich stolperte darüber, was Jens tatsächlich gesagt hatte. Wenn er nicht verliebt war, warum hatte er dann solchen Liebeskummer? Worüber hatten wir die ganze Zeit geredet? In mir dämmerte eine Vermutung hoch, aber konnte das sein? In jedem Fall musste ich sehr behutsam sein, um ihn nicht zu verletzen.

„Warst du es denn?“

Er hielt einen Moment inne.

„Was?“

„In ein Mädchen verliebt.“

Er schüttelte unbeherrscht den Kopf und heulte weiter.

„Wenn es kein Mädchen ist, ist es vielleicht ein...“

„Junge!“ Jens spie das Wort aus, getränkt mit tiefschwarzem Selbsthass.

Das laute Schluchzen endete abrupt, stumm wartete er auf meine Reaktion. Dabei begann er zu zittern. Gewaltig zu zittern. Ein nackter, durchfrorener Junge in dunkler Winternacht.

Ich streichelte seinen Rücken, wie um ihn aufzuwärmen. In Wirklichkeit war es drückend schwül.

„Jens, du bist okay. Voll okay.“

„Waarummm… immm… meher… ihih… ich???“

„Das macht dir eine höllische Angst, oder?“

Nicken. Verstärktes Bibbern. Sein Körper fühlte sich heiß und kalt zugleich an.

„Jetzt weiß ich es und kann dir damit helfen. Du bist nicht mehr allein damit. Das ist gut.“

Jens weinte wieder leise. Immer noch lag sein Kopf auf seinen Knien.

„Das ist… ekelhaft… Ich will… dass es endlich… aufhört!“

Ich fühlte mich hilflos, selbst ganz erschöpft.

„Jens, niemand kann sich aussuchen, in wen man sich verliebt. Für jemand zu schwärmen, jemand anzuhimmeln, ja auch zu begehren… das ist doch ein Wahnsinnsgefühl. Das kann niemals falsch sein, egal, wer das ist. Und ganz egal, ob ein Junge oder Mädchen. Du brauchst dich nicht schämen.“

Das kann niemals falsch sein. Konnte ich meinen Worten denn jetzt eigentlich selbst noch zustimmen?

„Tue ich aber, verdammte Scheiße! Mein Vater wird mich umbringen! Ich schwör’s…“

Er rückte von mir weg und schaute mir lauernd direkt in die Augen. Hinter dem Tränenschleier begann ein zorniges Funkeln hervorzublitzen.

„Wieso sollte der denn davon erfahren? Du musst es ihm doch überhaupt nicht sagen, oder?“

Jens zuckte mit den Achseln.

„Er wird’s rausfinden, früher oder später. Hast du vergessen, dass er Kommissar ist? Wenn er Verdacht schöpft, spioniert er hinterher… er hält mich eh schon für ein Weichei…“

Der Druck, unter dem Jens litt, war förmlich von seinen angespannten Gesichtsmuskeln ablesbar.

„Ich habe deinen Vater ja kennengelernt, und es tut mir leid, das sagen zu müssen. Aber ich glaube, er hat reichlich wenig Ahnung davon, wie es im Innern seines Sohnes aussieht und was dort vorgeht. Und es interessiert ihn doch auch gar nicht. Ich denke nicht, dass er so schnell was merkt.“

Jens sank unter meinen Worten wieder in sich zusammen.

„Viele Schwule haben ihr Coming-Out erst, nachdem sie von zuhause ausgezogen sind und ihr eigenes Leben leben. Und dann vertrauen sie sich zuerst Menschen an, bei denen sie sich absolut sicher fühlen. Oft sind sie überrascht, wie herzlich sie bejaht und unterstützt werden. Und dann wird es immer einfacher, nach und nach offener und lockerer damit umzugehen. Die meisten gehen gestärkt und selbstbewusst weiter durchs Leben…“

Er sah mich erneut an, prüfend und wehmütig, während er offensichtlich damit rang, wie glaubwürdig meine Beruhigungen waren. Nach einer Weile nickte er beinahe unmerklich und fragte mit unbedingtem Ernst: „Glaubst du, dass man als… als…, dass man glücklich sein kann?“

Ich schluckte schwer und beteuerte dann aufgesetzt optimistisch: „Ja, natürlich! Jens, du wirst ganz bestimmt jemand finden und mit ihm glücklich werden! Die allermeisten werden euch in Ruhe lassen, auch dein Vater. Bestimmt.“

Einen Augenblick lang blieb sein Gesichtsausdruck noch skeptisch, dann presste er sich ein zaghaftes Lächeln ab: „Danke, Mann!“

Ich klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und rückte von ihm ab.

„Jetzt muss ich aber nach Hause, sonst bekomm ich gleich wieder Stress. Kannst du mich bitte schnell mitnehmen?“

Draußen bauten sich düstere, schwefelgelbliche Wolken über uns auf. Im Wetterbericht war angekündigt worden, dass gigantische Sommerstürme Saharasand bis in unsere Breitengrade wirbeln würden. Auf dem Weg vom verlassenen Schulgebäude bis zu meinem angerosteten Renault lief er schweigend neben mir her durch die stickige Hitze. Erstmal schien alles gesagt.

Seine entschlossene Miene erinnerte mich an die Kanu-Klassenfahrt zwei Jahre zuvor. Weil Jens getrödelt hatte und er und David die letzten waren, musste er sich ausgerechnet mit seinem Erzfeind notgedrungen ein Boot teilen. Jens weigerte sich erst eine Viertelstunde lang lautstark, während David höhnisch in sich hineinfeixte, aber dann paddelte er los. Ich fuhr im Einer-Kayak hinterher und bildete den Abschluss. Der wuchtige David thronte im Bug und beschränkte sich weitestgehend aufs Steuern, indem er lustlos wahlweise links und rechts eintauchte. Dabei stellte er sich bewusst ungeschickt an, sodass Jens ihn auf den flachen Flussabschnitten durch weite Schlangenlinien bugsieren musste. Einmal brachte David das Kanu zum Kentern, als er besonders töricht auf eine Stromschnelle zu lenkte. Jens stieg kommentarlos wieder ein und stieß umso kräftiger mit dem Paddel ins Wasser, während sein Widersacher gelangweilt die Hand durchs Wasser spritzen ließ. Die beiden wechselten kein Wort. David legte es unter meiner verschärften Beobachtung nicht darauf an zu übertreiben, sondern durch seine wohldosierte Sabotage zu zermürben. Hin und wieder stocherte er das Kanu sogar einigermaßen geradlinig vorwärts. Solange nichts eskalierte, würde ich nicht eingreifen und die erlebnispädagogische Konfrontation dieser Hassbeziehung abwartend begleiten. Allerdings kamen wir nur sehr behäbig durch die südfranzösische Schlucht flussabwärts und verpassten das gemeinsame Mittagspicknick mit der Gruppe. Mein begrenzter Proviant reichte nicht lange, um drei Mägen zu füllen. Die Sonne stach vom Himmel, und die Strecke zog sich Schleife um Schleife immer weiter zwischen den kargen Felsen hindurch, ohne dass die Ausstiegsstelle in Sicht kam. David beteiligte sich nun phasenweise ernsthaft, da auch er offenbar endlich ankommen wollte. Er drückte zwar mit seinen massigen Oberarmen kräftig zu und sorgte kurzfristig für Schwung, schien dann aber auch wieder rasch zu ermüden und ließ sich schwitzend hängen. Der ungleich schmächtigere Jens hingegen ackerte stoisch vor sich hin und zog das Paddel mit verbissener Wut rhythmisch links, rechts, links durch die Strömung. Die letzten zwei Kilometer etwa saß David zusammengesackt, mit hochrotem Kopf und nur noch trägen Steuerbemühungen, während Jens wieder allein für Vortrieb sorgen musste und seine letzten Energiereserven anstrengte. Ich hatte ihn nie so wortkarg und kontrolliert erlebt, wie an diesem Tag. Als spät am Nachmittag das Kanu schließlich auf die Kiesbank am Ziel schrammte, knurrte er doch noch verächtlich „Fetter Schwächling!“, bevor er zielstrebig über das schattige Ufer zum Bus torkelte. David, der völlig unterzuckert war und sich erst Minuten später schwerfällig erheben konnte, ließ die Beschimpfung wehrlos über sich ergehen. Er musste in dieser Situation tatsächlich anerkannt haben, dass sie ihn nicht ganz unverdient traf, jedenfalls ließ er seitdem Jens wirklich in Frieden.

Jens übrigens konnte ich durch dieses Erlebnis dazu motivieren, in den hiesigen Ruderverein einzutreten, in dem er sich bald erfolgreich in die Mannschaft integrierte und weiteres Selbstbewusstsein tankte. Bis zu dem heutigen Zusammenbruch war mehr und mehr der quirlige und lebenslustige Jens zurückgekehrt.

Er starrte nachdenklich vom Beifahrersitz auf die Frontscheibe, bis beim Einbiegen in seine Straße die ersten schweren Regentropfen darauf aufschlugen. Da drehte er sich abrupt zu mir und verkündete: „Er heißt Fabian.“ Er atmete einmal tief durch und lachte leise verlegen auf, während er mich unsicher angrinste. „Und er ist echt heiß. Ist auch im Rudern…“ Jens hob den Arm angewinkelt hoch und deutete vielsagend auf seinen eigenen trainierten Bizeps. „Wahrscheinlich steht er auf Mädchen…“ Mit einem Seufzer öffnete er die Wagentür und stieg heraus in den Platzregen.

„Lass dich nicht unterkriegen, Jens! Denk dran, du bist voll okay. Danke für dein Vertrauen, und wir sehn uns!“

Er zwinkerte mir teils gequält, teils ordentlich erleichtert zu, während er in meine Hand einklatschte und der Regen bereits begann ihn zu durchweichen: „Ja, wird schon… ich glaub, du hast vielleicht Recht, man kann glücklich werden. Der Hartmann sah auf jeden Fall s-e-h-r glücklich aus! Ciao!“

Die Beifahrertür knallte heftig zu und er sprang durch platschende Pfützen im akkurat bepflanzten und bepflasterten Vorgarten seiner Eltern auf das biedere Einfamilienhaus zu. Ich fuhr wieder an und ließ die letzten Stunden jetzt erst vollends in mein Bewusstsein dringen. Das, was Jens mir erzählt und anvertraut hatte, strömte durch mein inneres Auge wie die Regenbäche über die Autofenster. Das Unwetter brach jetzt voll über mich herein. Blitze blendeten vor mir über den Himmel, sodass die nasse Strasse vor mir sich in ein epileptisch zuckendes Neonfeld verwandelte. Die Scheibenwischer wedelten wahnsinnig vor meinem Verstand herum und sorgten doch für keinen Millimeter Klarheit. Der Donner tobte und drohte, das Blechdach über meinem Schädel zu zerstampfen. Wo blieben die Sandböen? Wo tauchte die Wüstendüne auf, die mich überrollte und zu Staub malmte?

Ich klammerte mich an das Lenkrad und schlitterte besinnungslos durch die düsteren Gewitterschatten der untergehenden Kleinstadt. Irgendwann stellte sich mein Auto auf dem überschwemmten Gehsteig vor meinem Wohnhaus ab und ich beobachtete abwesend, wie meine Hand zitternd den Schlüssel drehte und den Motor abwürgte. Mit ausgetrockneter Mundhöhle verharrte ich weiter auf dem Fahrersitz und glotzte regungslos auf den Wasserschleier vor mir. Ich bildete mir ein, dass ich soeben in den Kanal gestürzt sei und versinken würde. Gleich dränge die Flut in den Wagen ein, immer höher, bis ich unter dem Dach nach Atem ränge, und dann schnappend hinein in meine Lungen, um mich zu ertränken.

Doch das Regenmeer auf der Frontscheibe verwandelte sich nach einer Weile in eine Fluss- und Seenlandschaft, und dann tauchte hinter den wunderlichen Tropfengebilden die Welt wieder auf. Ich wartete noch, bis das sanfte Trommeln gänzlich verklang und griff tapfer in den Türöffner. Draußen sog ich die erfrischend kühle Luft ein und bemerkte, dass der Himmel in der Ferne eine klare Abenddämmerung vorbereitete.

Ich betrat leise die Wohnung und stellte meine Tasche an ihren Platz neben der vollgerümpelten Kommode. Es roch vertraulich und warm nach diesem unbeschreiblichen Duft des eigenen Zuhauses. Die sommerliche Schwüle war noch zwischen den mit Urlaubsfotos dekorierten Wänden gefangen. Teneriffa vor zwei Jahren, dieser märchenhafte Sonnenuntergang über dem Ozean, und dort verliebt im phantastischen Güell-Park auf dem spontanen Barcelona-Trip. Kitschige Ikonen vergangener Glücksmomente.

Aus dem Arbeitszimmer glomm ein einziger, schwacher Lichtschein in den graumelierten Flur. Ich tastete mich lautlos an den verstreuten Schuhpaaren vorbei bis in den Türrahmen und verharrte dort. Die Szene strahlte Ruhe und Konzentration aus. Ich zögerte einige Herzschläge. Meine Augen blieben auf dem Arm hängen, der zielsicher einen Rotstift über ein aufgeschlagenes Aufsatzheft führte und unbarmherzig die Fehler in dem entlarvte, was sich jemand gedacht hatte. Die Schreibtischlampe leuchtete auf die tätowierte, ineinander gewundene Doppelschlange, die seine Haut zierte.

„Warum?“

Nachwort

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