zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Tom - Ich bin ich

Teil 1

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

 

Unruhig schaute ich immer wieder zur Uhr und suchte nach einer schnellen Möglichkeit den Chat mit Jörg, alias „Sunboy86“, endlich zu beenden. Schon mehrmals schrieb ich, dass ich weg müsse, doch er ignorierte es einfach. Für Jörg war nur wichtig, dass wir uns endlich einmal trafen. Nur auf einen Kaffee, versprach er in jeder Mail.

„Tom!“, rief Vater aus der Küche und mahnte wiederholt, dass der Discounter gleich schloss.

Es half nichts. Ich klickte grußlos das Chatfenster weg. Sicher würde mir Jörg seine Enttäuschung über den abrupten Abbruch mitteilen oder könnte mich zukünftig sogar ignorieren. „Ach egal“, überlegte ich und machte mich auf den Weg.

Die Schmierereien im Fahrstuhl interessierten mich genauso wenig wie die unzähligen Graffitis im Haupteingang und an den Häuserwänden. Auf dem angrenzenden Parkplatz standen Autos, die vor sich hin rosteten, und bei manchen waren bereits die Scheiben eingeschlagen. Zwischen den Sperrmüllcontainern roch es immer muffig, nur ausgerechnet dort spielten kleine Kinder. Für mich ein sicheres Zeichen, dass ich in der realen Welt angekommen war. Dort oben im Achtzehnten besaß ich eher das Gefühl, dass ich über all dem stand und auch den Wolken ein Stück näher war. Über hundert Wohneinheiten, aufgeteilt auf achtzehn Etagen, befand ich in meiner Kindheit diesen Betonklotz als einen Mikrokosmos im städtischen Universum. Mittlerweile korrigierte ich meine fantasievolle Vorstellung und sah in dem Hochhaus nur noch eine gewöhnliche Wohnburg. Während hoch oben die Fenster in der Sommersonne glänzten, waren die ständigen Probleme des Zusammenwohnens hier unten weitaus sichtbarer und drängten sich in alle Sinne der Bewohner. Ständig spuckte die Wohnburg Sperrmüll aus, wurde ein- und wieder ausgezogen, mischten sich Menschen verschiedener Nationalitäten neu und veränderten ganze Wohnkulturen. Neben Diebstählen und Einbrüchen, kam es nicht selten zu lautstarken Auseinandersetzungen zwischen den Bewohnern. Zu allem entwickelten sich Strategien, wie man sich am besten aus dem Wege ging oder seine Wohnung besser sicherte. Ich glaubte fest daran, je höher man mit dem Fahrstuhl aufstieg, umso ruhiger und ausgeglichener lebte man in seinem kleinen Umfeld.

Vor dem Discounter stieß ich auf Ronny. Bis zur neunten Klasse saß Ronny neben mir. Als das zehnte Schuljahr begann, kam er einfach nicht mehr in die Schule. Seit dem sah man ihn hier fast täglich rumhängen. Bierdose in der Hand, zerschlissene Jeans und Kapuzenshirt waren auch das „Markenzeichen“ seiner Kumpels.

„Hey Tom!“, rief er mir zu, „bringst mir ein Bier mit?“

Bemüht unpersönlich zu bleiben, zeigte ich ihm wortlos den Mittelfinger. Damals redete ich noch auf Ronny ein, er sollte doch wieder in die Schule kommen, doch ihm gefiel es so lieber. Was für ihn Freiheit bedeutete, blieb mir unverständlich.

Wie ich die Waren auf das Kassenband legte, begrüßte mich Frau Helbig, eine der Kassiererinnen im Discounter, freundlich. Sie wohnte auf der gleichen Etage und seit letzter Woche wusste ich sogar, dass sie ziemlich laut kreischen konnte.

„Hm, da gibt es wohl am Wochenende Kohlrouladen“, meinte sie, während sie die Waren durch den Scanner zog. Auch setzte sie wieder dieses mütterlich freundliche Lächeln auf, was mich etwas verlegen machte. Dass Vater hin und wieder eine Frau kennenlernte, fand ich durchaus in Ordnung. Nur eben vorige Woche passierte das, was mir noch immer peinlich war. Ich musste nachts zur Toilette. Als ich die Tür aufriss, fand ich Vater, mit eben dieser brünetten Frau unter der Dusche. Noch ehe ich begriff, was da vorging und sie sich wohl mehr als zwei Hände wünschte, um alles zugleich abzudecken, schmerzte mir immer noch heftig ihr heller Aufschrei im Ohr. Erschrocken darüber verging mir mein Bedürfnis und ich machte schleunigst kehrt.

Den Sechserpack Bier bezahlte ich von meinem Taschengeld, und als ich den Wagen nach draußen schob, gab ich Frau Helbig noch mein „OK“ für den Gruß an meinen Vater.

Ich versteckte zuerst im Kellerverschlag den Pack Bier und fuhr danach hinauf.

Vater war mit dem Abendessen beschäftigt.

„Nichts vergessen?“, erkundigte er sich.

„Denk nicht“, sagte ich und richtete ihm den Gruß seiner „Flamme“ aus.

„Tom! Bitte, sie ist nicht meine ‚Flamme’, eher eine gute Freundin“, räusperte er sich und setzte zu seiner Erklärung an, die ich schon längst kannte.

Sie sei sehr nett und rein zufällig wohne sie halt gleich um die Ecke. Das mit meinem nächtlichen Auftauchen im Bad ließ er natürlich aus. Er hielt mich für alt genug und aufgeklärt. Sicher hätte ich ja auch schon Mädchen geküsst. Nur darüber, was er so bei mir voraussetzte, wurde zu meinem Glück nicht weiter diskutiert.

„Ist ja OK“, beruhigte ich ihn und nahm mir gleich eine von seinen Schnittchen.

Ich war mir sicher, dass Michael und Sascha schon auf mich warteten und schielte zur Uhr. Freitags trafen wir uns regelmäßig in der Garage von Michaels Vater. Da die schon lange kein Auto mehr beherbergte und auch keine Aussicht mehr darauf bestand, gestalteten wir darin eine Art Clubersatz. Aus dem Sperrmüll zogen wir eine Couch und Sessel, sogar einen Tisch fanden wir darunter. Sascha wechselte die Lampe gegen einen ramponierten Leuchter, und wie dann Michael auch noch einen brauchbaren Grill anschleppte, besaßen wir so eine perfekte Cluboase.

„Willst weg?“, erkundigte sich Vater und spielte darauf an, dass ich mit dem Bein wippte.

„Zu Michael.“

Im Fernseher zeigten sie Vaters wichtigste Sendung, die Nachrichten. Für mich ein sicherer Zeitpunkt, dass ich ohne Zusatzfragen und Ermahnungen davon kam.

„Na dann.“

Noch immer zählte ich gern die Anzeige der Etagen mit. Noch neun, acht, sieben – als der Fahrstuhl anhielt und sich die Tür öffnete. Der alte Kohlmann kam herein und strahlte sogleich, als er mich erblickte.

„Hallo Tom“, sagte er leise und übertrieben freundlich. Kohlmann zupfte an seinem seidenen Halstuch.

„Hi.“

Obwohl ich nichts zu befürchten brauchte, trat ich einen Schritt zurück. Er reichte mir die Hand, die ich aber ignorierte.

„Bist du mir böse?“, fragte er immer noch lächelnd und ich sah seinen Goldzahn aufblitzen.

Ich schüttelte wortlos den Kopf und wartete sehnsüchtig, dass der Fahrstuhl im Keller ankam.

Die Erinnerung an unsere erste Begegnung war mir unangenehm, und ich war seitdem immer erleichtert, wenn der Fahrstuhl die siebte Etage ohne Halt passierte. Dass ich ihn vor zwei Monaten besuchte, dafür gab ich sogar Vater die Mitschuld, da er die Höhe meines Taschengeldes nach seinen erzieherischen Kriterien festlegte. Im ständigen Streit darüber, dass ich hin und wieder leicht angetrunken nach Hause kam, wenn ich freitags die Garagenparty verließ, kürzte er mir mitunter drastisch das Taschengeld.

Den Kellerverschlag befand ich schon lange als die beste Möglichkeit, meine kleinen Geheimnisse vor Vater zu verstecken. Als der sich vornahm, ihn endlich mal aufzuräumen und zu entrümpeln, bot ich mich gleich an, dass ich das, in Form einer guten Tat sozusagen, selbst übernahm. Und wie ich dabei war, tauchte plötzlich der alte Kohlmann auf. Erst unterhielten wir uns ganz allgemein über fast schon belanglose Dinge des Alltags. Ihn störten auch die ständigen Wechsel der Bewohner im Haus und dass er sich, seit dem Tod seiner Frau, ziemlich allein fühlte. So, wie er in seiner für mich altmodischen Kleidung mit dem Seidentuch vor mir stand, fand ich ihn sogar lustig, und wir lachten viel.

Schließlich erkundigte er sich, ob ich mir den Wechsel einer Steckdose zutraute.

Als er mir versprach, dass ich auch ordentlich entlohnt würde, sagte ich zu.

Seine Wohnungseinrichtung grenzte für mich eher an ein Museum, doch sie war sauber und alles ordentlich aufgeräumt. Er zeigte mir die Steckdose im Flur, und ich bat ihn schon mal die Sicherung zu drücken. Der Wechsel ging schnell und problemlos.

Dankend stand er mit einer Flasche Sekt im Wohnzimmer. Ich war verwundert darüber, aber er versicherte mir, dass ich natürlich mein Geld bekam. Ich konnte nicht behaupten, dass mir der Sekt schmeckte. Kohlmann plauschte über seine Musiksammlung und erkundigte sich nebenbei, ob ich schon eine Freundin hätte. Als ich verneinte, sah er mich ungläubig an, dass so ein hübscher Junge, wie ich nun mal sei, keine hätte. Wir lachten darüber, doch den eigentlichen Grund verschwieg ich beharrlich.

Nach einem weiteren Glas plauderte der alte Mann über die lockere Art der heutigen Jugend untereinander. Mehrmals musste ich laut über seine Art lachen, wie er Wörter falsch aussprach oder verwechselte. Ich fand ihn richtig sympathisch, wie er witzelnd über Selbsterlebtes sprach. Bereitwillig schob ich mein leeres Glas rüber. Kohlmann kam mit den gefüllten Gläsern in den Händen zu mir und ich stand aus Respekt auf.

Wie er davon sprach, dass ich ihm eine kleine Freude machen könnte, spürte ich eine gewisse Lockerheit, was sicher vom Sekt herrührte.

Ich lachte und sagte, dass ich das ja schon getan hatte. Doch Kohlmann sah mich eindringlich, ja regelrecht flehend an. Als er mir dann behutsam vorschlug, ich könnte ihm gewähren, dass er mir beim Duschen zusah, stockte mir der Atem. Mein erster Gedanke war: abhauen, raus hier!

Vom Sekt behielt ich den faden Beigeschmack in sehr guter Erinnerung. Die entstandene Stille war schon erdrückend und ich suchte sogar nach einer schlagkräftigen Möglichkeit, wie ich dem alten Sack eine Freude machen konnte.

Kohlmann behielt diesen flehenden Ausdruck in seinem Gesicht. Zwar besaß ich aus dem Internet haufenweise Informationen bis hin über die abwegigsten sexuellen Erscheinungen. Dass man teilweise davor warnte, blieb mir im Gedächtnis haften. Nur wenn ich Kohlmann so traurig gebeugt dreinschauen sah, fragte ich mich schon, ob wirklich eine ernsthafte Gefahr von diesem alten Mann ausging. Im Grunde hielt ich ihn eher für bedauerlich. Also nur zuschauen, vergewisserte ich mich, und er nickte heftig dazu.

Zögerlich stand ich auf und ging ins Bad. Vor dem Spiegel sagte ich mir, du hast es im Griff! Kohlmann behielt es ganz sicher für sich, hämmerten meine Gedanken.

Als ich mir das T-Shirt über den Kopf zog, fröstelte es mir. Kohlmann schaute beharrlich vom Flur aus zu. Ich zwang mich zur Ruhe und knöpfte mir die Jeans auf. Nein, tue es nicht, befahl ich mir! Nein, nein! Die Tür schlug ins Schloss und ich drehte den Schlüssel um. Dass Kohlmann mich nackt sah, war mir plötzlich unerträglich. Ich horchte, ob mich Kohlmann vielleicht belauschte. Soll er doch seine Kohle behalten, rief ich mir ins Bewusstsein. Dass er mich soweit gebracht hatte, schob ich auf den Sekt.

Kohlmann erwartete mich. Sein mildes Lächeln und wie er im Flur stand, erinnerte er mich eher an einen Kobold. Immer wieder versicherte er mir, dass ja nichts passiert sei. Dankend reichte er mir einen Fünfziger hin. Ich zögerte den Schein anzunehmen. Schließlich drückte er ihn mir in die Hand. Als er sagte, dass es unser Geheimnis bliebe, hastete ich aus der Wohnung.

Zwei, eins, E und der Fahrstuhl hielt. Kohlmann ging hinaus und drehte sich um. Als die Tür schloss, streckte er den Arm dazwischen.

„Tom. Vielleicht reden wir mal?“, bat er. Ich wand mich wortlos ab. Was wollte er? Ich verlangte von ihm, dass er mich nie wieder ansprach.

Wieder stemmte er sich gegen die Tür. Wieso ist hier keiner, überlegte ich krampfhaft. Sonst standen hier immer Bewohner, die auf den Fahrstuhl warteten.

Da ich nichts sagte, stieg er wieder hinzu. Im Keller folgte er mir zum Verschlag und flehte mich an, dass ich etwas sagte.

Ich holte den Pack Bier aus dem Versteck und Kohlmann ließ mich nicht an sich vorbei.

„Bitte Tom.“

„Nein!“, fauchte ich ihn an und drückte ihn beiseite. Kraftlos lehnte Kohlmann an der Wand und blickte ängstlich. Eilig verließ ich den Keller. Auf dem Weg zur Garage zwang ich mich zur Ruhe.

„Hey Alter!“, begrüßte mich Sascha, „Wird Zeit! Wir verhungern noch.“

Michael wedelte wild und fachte die Glut des Grills an. Die Würste sahen aber immer noch blas aus. Wir begrüßten uns. Dass Katja und Helen auf der Couch kicherten, erstaunte mich schon, doch ich begrüßte sie freundlich.

Sascha wechselte mit mir einen vielversprechenden Blick und ich verkniff mir ein auffälliges Grinsen. Seit letztem Wochenende schienen Michael und Katja ein Paar zu sein. Sascha bemühte sich zwar bei Helen, doch die ließ ihn abblitzen.

Eigentlich hatten wir ausgemacht, dass freitags keine Mädels dabei waren. So, wie es aussah, hatte Sascha die Abmachung gebrochen. Vielleicht erhoffte er sich noch bei Helen anzukommen.

Von uns Jungs war er der Großmäulige, der sich gern durchmogelte. Im Grunde hatte er so auch den Abschluss der Schule geschafft. Mit Michael verband mich eher sein ruhiges sachliches Wesen. Bei ihm fand ich Vertrauen und Zuverlässigkeit. So genommen besaßen beide ihre Besonderheiten, und das fand ich in Ordnung. In der Schule galten wir als unzertrennlich, und als wir die Abschlusszeugnisse in der Garage feierten, war es ausgerechnet Sascha, der wollte, dass wir unsere Freundschaft in der Zukunft beibehielten.

Ich fand einen Platz bei den Mädels, die an ihren Colas nuckelten.

Sascha nahm sich eine neue Bierdose und stieß auf einen geilen Abend an. Katja und Helen kicherten dazu und flüsterten sich was ins Ohr. Michael gab auf und fiel in seinen Sessel.

„Na, da muss der Fachmann ran“, sagte ich und nahm den Grill von der Garage weg.

„Genau, Tom kann am besten mit der Wurst umgehen!“, grölte Sascha los und die Mädels lachten laut darüber.

Mit solchen Sprüchen gewann Sascha sicher keine Zusatzpunkte bei Helen, nur wusste man bei ihm nie so genau, worauf er eigentlich anspielte. Mehr wunderte ich mich über Michael, der so völlig unbeteiligt wirkte. Wortkarg trank er an seinem Bier und schien sich richtig unwohl zu fühlen.

„Sag mal Tom, willst heute noch woanders hin?“, fragte Sascha und schielte auf meinen Pack Bier.

„Nö!“, sagte ich nur, weil dringend die Würste gedreht sein wollten.

„Das reicht doch nur für eine Stunde“, laberte er amüsiert und verwies anschaulich auf seine beiden Stiegen Bier.

Ich zeigte ihm den Mittelfinger. Seit Ferienbeginn sah ich ihn öfters mal angetrunken, und das nervte mich heftig.

„Dauert es noch lange?“, fragte Helen.

„Trink Bier, das sättigt mehr als deine Cola“, warf Sascha dazwischen und musste sich gefallen lassen, dass Helen ihm die Zunge ausstreckte. Oh oh, überlegte ich amüsiert, so wird das nichts.

„Also ich sage mal, fünf Minuten“, schätzte ich und spritzte das letzte Bier über die Würste.

Eine halbe Stunde später wehrten sich die Mädels, dass sie noch eine zweite Wurst aßen. Wir Jungs griffen dann nochmal zu und ließen es uns mit reichlich Senf richtig schmecken.

Lachend lutschte Sascha an der Wurst rum, und die Mädels fanden es obszön. Bei Sascha musste man immer darauf gefasst sein, dass er sich anstößig benahm. Da hob er schon mal das Bein und ließ einen fahren oder spielte sich ungeniert im Schritt. Nur wenn ich ihn mit freiem Oberkörper sah, konnte ich kaum den Blick von ihm abwenden. Auch dass ihm die Schamhaare bis zum Bauchnabel gingen, fand ich schon richtig geil. Woher er den muskulösen Körper nahm, blieb mir ein Rätsel, denn sonderlich Sport trieb er nicht. Michael hingegen kannte ich nur zurückhaltend und verschlossen. Manchmal brachte er stundenlang keinen Ton hervor. Von uns war er auch der Letzte, der merkte, dass er seinen Schwanz nicht nur zum pinkeln hatte. Michael war mehr der untersetzte Typ von uns. Sein Gesicht mit Saschas Körper, das war in meiner Phantasie die ideale Vorstellung von einem Freund. Nur, wer besaß schon das Glück, dass der Freund so vollkommen war.

„Sascha, reiß dich zusammen“, ermahnte ich ihn kameradschaftlich.

„Hey. Ist deiner auch so lang?“

Ich überging schweigend seine Frage und biss lieber von der Wurst. Die Mädels kicherten über jede weitere Bemerkung von Sascha, der bereits angetrunken wirkte.

Katja saß längst bei Michael und strich ihm dauernd durch seine dunkle Lockenpracht.

„Also Michael wollte mit in die Disco“, sagte Katja plötzlich, „… kommt ihr mit?“

Fragend schaute ich auf Sascha und auch auf Michael, der regungslos blieb. Die Enttäuschung auf Saschas Gesicht war nicht zu übersehen.

„Na, Reisende soll man nicht aufhalten“, sagte Sascha, was Michael treffen sollte.

Die Stimmung war merklich gesunken, und kurz nach zehn saß ich mit Sascha in der Garage. Der trank gemächlich eine Dose Bier nach der anderen.

„Ich muss mal“, sagte ich in die Stille, und im Grunde wollte ich erstmal allein sein.

„Komm mit“, lallte Sascha.

Ich wartete, bis Sascha sich einen Platz an der Hecke gesucht hatte, und blieb im sicheren Abstand zu ihm. Nicht aus Angst, dass er mich anpinkelte, doch ich konnte irgendwie nicht, wenn er neben mir stand. Sascha kümmerte es nicht und ich sah, wie er mit dem Strahl spielte.

Wie wir zurück gingen sagte Sascha enttäuscht, dass wegen Michael und Katja die ganze Freundschaft auseinander ginge.

„Noch ein paar Wochen vielleicht“, sagte er niedergeschlagen, „dann geht jeder seine eigenen Wege.“

„Quatsch, du bist vielleicht nur eifersüchtig auf Katja.“

Sascha winkte ab und trank sein Bier aus.

„Ach Tom“, fuhr er nachdenklich fort, “ ihr macht eure Ausbildung und ich?“

„Findest auch noch eine Ausbildung“, gab ich zurück. Nur schaffte ich es nicht, Sascha damit aufzumuntern. Der warf sich lässig in den Sessel und ließ den Kopf hängen.

Sascha wollte Mechatroniker werden, doch bekam nirgends einen Ausbildungsplatz. Michael lernte ab Ende August als IT-Techniker, und für mich begann dann die Ausbildung zum Krankenpfleger. Die beiden Freunde staunten nicht schlecht, als ich im letzten Jahr ein Praktikum im Krankenhaus absolvierte und hinterher meinen Berufswunsch verkündete. Selbst Vater nahm es verwundert zur Kenntnis, als ich beharrlich dabei blieb. Ich fand die Arbeit im Krankenhaus interessant und ich tat es auch gern. Doch wenn ich ehrlich war, ich wollte es nicht unbedingt wegen des Dienstes am Menschen. Vielmehr imponierte mich der Krankenpfleger Jochen und irgendwie stellte ich mir vor, dass ich ihn so wiedersah.

Sascha nickte stumm und nahm wieder einen großen Schluck aus der Dose. Schließlich drehte er die Musik lauter und tänzelte rum. Manchmal brachte er mich zum Lachen, wenn er sich bemühte besondere Schritte zu machen. Schließlich zog er mich hoch und wir taumelten zur Musik.

Die Sommersonne strahlte längst ins Zimmer, und da es kurz vor Mittag war, stand ich auf. Obwohl es ruhig war, hatte ich mir angewöhnt erst an der Badtür zu horchen. Sicher war sicher. Vater war bereits angezogen und saß im Wohnzimmer an seinem Laptop.

„Na junger Mann“, sagte er, ohne aufzuschauen.

„Moin.“

Die Sonne blendete mir ins Gesicht und ich rieb mir die Augen.

„Tom, es war weit nach Mitternacht“, fing er an und ich kannte schon alles, was noch danach folgte. Oh man, konnte er sich nicht mal was anderes überlegen.

„Ja schon gut“, erwiderte ich verschlafen und gähnte dazu.

Wie immer in solchen Momenten erklärte er mir, dass man sich nicht unbedingt nächtens im Garagenkomplex aufhielt. Viel zu oft gäbe es dort Einbrüche und Überfälle. Wieder sagte er nachdrücklich, dass ich es endlich einsehen solle.

Ich stand lieber auf und klopfte ihn, als wollte ich ihn damit versöhnlicher stimmen, sanft auf die Schulter.

Als der Computer hoch fuhr und ich mich in die virtuelle bunte Welt namens Internet begab, las ich von „Sunboy86“ alias Jörg die voraus gesagte Mail. Wie nicht anders zu erwarten schrieb er mir, dass ich doch nicht besser als die anderen wäre, die ihre Jugend in arroganter Weise dazu benutzten, Leute wie er, die es ehrlich und nett meinten, zu demütigen. Als Gruß stand nur ein „Leck mich!“

Tja, wieder einer der meint, dass er mich kannte, überlegte ich kurz und blockierte ihn für die Zukunft. Dabei zählte ich mich wirklich nicht zu denen, die den Chat dazu nutzten ihren jugendlichen Körper grenzen- und hüllenlos zu demonstrieren. Einzig, dass ich mich um elf Monate älter ausgab, blieb ich mit meinen Aussagen und wenigen Bildern grundehrlich. Dass mit dem Alter war notwendig für die Anmeldung, und ich sah es als Notlüge an.

Verglichen mit anderen Usern war ich doch der Waisenknabe schlechthin. Mit meinen siebzehn Jahren und dem angehäuften theoretischen Kenntnissen aus dem Internet war ich trotzdem noch in keinem Szenelokal der Stadt und bisher nie in der Disco im „Kuckucksei“. Hey Leute, ich habe noch keine Ahnung von dem ganzen Schwulsein. Ich stehe doch noch auf der untersten Stufe der Erfahrungsleiter, wollt ihr das endlich zur Kenntnis nehmen!

Da keine weiteren Nachrichten vorlagen, klickte ich den Chat weg und ging duschen.

Anders als Vater schloss ich hinter mir ab. Unter der Dusche dachte ich für einen Moment an den alten Kohlmann. Keine Ahnung warum. Und wie ich so über ihn nachdachte, empfand ihn als eine bedauerliche Kreatur.

Ich wehrte mich gegen weitere Gedanken, weil ich fand, dass er mein Mitleid nicht verdiente.

„Tom? Mache mal auf“, bat Vater.

„Moment“, ich war froh, dass er mich aus den Gedanken riss.

Ich öffnete einen spaltbreit die Tür.

Vater erklärte umständlich, dass er mit der netten Nachbarin zum Strand fuhr und ich mich nicht sorgen müsste. Als ob ich mich je gesorgt hätte. Ich nahm es locker und erteilte ihm großzügig die Erlaubnis zum Strand zu fahren.

„Und“, ergänzte ich mit erhobenem Zeigefinger, „lass sie nicht absaufen.“

Er lachte verschüchtert und verabschiedete sich.

Auf meinem Schreibtisch fand ich später einen Zwanzig-Euro-Schein. Das hieß soviel wie, kauf dir etwas zu essen und ansonsten, mache dir einen schönen Tag.

Allein in der Wohnung lief ich gern mal unbefangen nackt herum. In der Küche schmierte ich mir ein Brot. Kauend besah ich mich im Garderobenspiegel und fand mich regelrecht dürr. Mich störte, dass meine Schultern knochig wirkten, die Oberarme als viel zu dünn und dass man die Rippen sah, wenn ich Luft holte. Schwer konnte ich mir vorstellen, dass ich so jemandem überhaupt gefiel. Viele User schrieben mir, sie fänden mich süß. Was immer sie darunter verstanden, sie bezogen es auf mein Gesicht. Vielleicht war es notwendig, dass ich endlich mal ein nacktes Ganzkörperfoto ins Profil setzte. Doch nein, dann kämen auch noch Angebote über Lebensmittelspenden, witzelte ich still und lief in mein Zimmer.

Ich schaltete den Player ein, und als Justin Timberlake erklang, mimte ich Justin singend nach. Tänzelnd sprang ich auf mein Bett und gab mich der Musik hin.

Erschöpft ließ ich mich darauf fallen und besah mir Justin, der schon eine Ewigkeit mein Zimmer schmückte.

Das Handy klingelte und Michael meldete sich.

„Hi“, begrüßte er mich und erkundigte sich ob es mir gut ginge. Ich bejahte und fragte nach dem gestrigen Discobesuch.

„Ganz gut“, meinte er ruhig, „schade, aber wolltest ja nicht mit.“

„Na hör mal“, spielte ich entrüstet, „freitags … wir hatten doch ausgemacht, dass …“

„Ach Tom“, unterbrach er mich, „findest es echt so toll, wenn Sascha sich nur volllaufen lässt.“

Während ich noch überlegte, ergänzte Michael, dass ihm das schon länger abstoßend vorkam.

„Was machst heute noch?“, fragte ich sogleich, da mich die zwanzig Euro auf dem Schreibtisch erinnerten, dass ich mir schon was leisten konnte.

„Katja und ich fahren zu ihren Großeltern. Wollen dort bis morgen bleiben.“

„Hm“, antwortete ich etwas enttäuscht, „viel Spaß dann.“

„Also Tom, melde mich ….bis dann“, hörte ich noch.

Sicher war ihm das mit Katja wichtig, doch bekam ich auch wieder das Gefühl, dass da noch mehr sein musste, was ihn beschäftigte. Michael konnte manchmal richtig kompliziert sein. Ich wollte Sascha anrufen, doch drückte ich dann das Handy aus. Im Grunde gab ich Michael schon recht. Schon öfter stellte ich an mir fest, dass ich mich zwischen den Freitagen den Freunden mehr und mehr entzog. Als Michael mir half, dass ich den Computer besser verstand, fing es wohl damit an. Stundenlang saß ich vor dem Bildschirm und spürte immer mehr, dass ich alles über Jungs wissen wollte und sie mich regelrecht anzogen. Im Internet fand ich Antworten auf all meine Fragen, die mich bis dahin beschäftigten. Je mehr ich begriff, dass ich anders war, umso mehr bekam ich Angst, dass die Freunde es mir ansahen.

Dass ich mit Michael darüber sprach, fand ich genauso unmöglich, wie mit Sascha, der eher dazu neigte, die „Säue“, wie er sie nannte, aus der Stadt zu jagen. Wenn ich uns insgeheim als das „ideale Trio“ ansah, musste ich schon allein über die Vorstellung lachen, dass zwischen Michael, dem eher intelligenten, und Sascha, dem prolligen, ausgerechnet ich den schwulen Typen gab.

Immer öfters verleugnete ich mich bei den Freunden und schlich dann in den Straßen herum, wo sich das „Café Regenbogen“ oder „Coming In“ und die Disco „Kuckucksei“ befanden. Das Wenige, was ich sah, verunsicherte mich noch mehr, aber beflügelte auch meine Sehnsucht dazu zugehören. So blieb es bislang nur bei Chats.

Ich wurde während den Chats sicherer und begriff langsam, die User zu unterscheiden. Ich fand es bald langweilig, mich nachts einzuwählen, da es hauptsächlich darum ging, über eine Cam die untere Körperregion auszutauschen oder einfach Cybersex betrieb. Zumal es auch vor allem ältere Männer waren. Drängte der User auf ein baldiges Treffen, schrieb ich ausweichend, weil meine Unsicherheit noch über die Neugierde siegte. Am Ende schrieben viele, wie eben „Sunboy86“.

Ich zog mich endlich an und meldete mich wieder im Chat an.

Immer noch keine neuen Nachrichten, was aber nicht hieß, dass es auf Dauer so blieb. Ich wartete noch und besuchte ein paar meiner Spezialseiten, wo sich überwiegend Bilder mit Jungs in eindeutigen Posen befanden. Bei vielen der Jungs glaubte ich, dass sie die Definition für süß beinhalteten.

Eine Mail vom User „John89“ erreichte mich.

‚Hallo Tom, schön dich hier zu sehen. Ich bin Benjamin, meine Freunde nennen mich aber meist Ben. Da ich in deinem Alter bin und auch aus der Stadt, schaue dir doch mal mein Profil an, und wenn du es auch möchtest, dann freue ich mich, wenn du dich bei mir meldest, Gruß Ben‘, las ich und klickte sein Profil an. Zu meiner allgemeinen Enttäuschung war kein Bild von Ben vorhanden. Im Übrigen las ich, dass er Gymnasiast sei und gern Musik hörte. Dann noch, dass er Kontakte zu Jungs suchte, zum Erfahrungsaustausch und vielleicht mehr.

Das las sich ganz gut, überlegte ich und antworte mit meinen schon fast standardmäßigen Sätzen.

‚Hi Ben, danke für deine Mail, freut mich, wenn ich dein Interesse geweckt haben sollte. Aus meinem Profil konntest ja schon lesen, dass ich die Realschule abgeschlossen habe und demnächst eine Ausbildung beginne. Wenn ich ehrlich sein soll, mit einem speziellen Erfahrungsaustausch kann ich weniger dienen, doch das muss ja nicht hinderlich sein, wenn wir uns trotzdem weiter austauschen wollen. Gruß Tom‘

Die Antwort dauerte und gerade wollte ich zurück auf die Bilderseite, da schrieb Ben zurück, dass er sich freue und mit den speziellen Erfahrungen hätte ich was falsch verstanden. Dafür fragte er gleich, ob ich mit jemand befreundet wäre.

In meiner Antwort verwies ich, dass ich schon Freunde besäße, doch die halt heterosexuell seien.

Ben gab an, dass er eine beste Freundin hätte, die auch bereits über seine Homosexualität informiert war und die ihm half, damit klar zu kommen. Darüber hinaus war er noch nicht zu einem Outing bereit. Überhaupt sei es für ihn kompliziert, sich darüber auszutauschen. Deshalb glaubte er, dass es hier eine Möglichkeit dafür gab. Leider ging für ihn bisher vieles hier im Chat schief und er dachte daran sich wieder abzumelden.

Na na, nicht gleich so schnell, überlegte ich und schrieb zurück, dass ich auch nicht über alles erfreut sei, doch mit der Zeit begriff, dass man auch Geduld haben muss. Diesmal erwähnte ich auch, dass ich ein Foto von ihm vermisste.

Wieder musste ich auf die Antwort länger warten. Also besah ich mir noch ein paar hübsche Jungs und legte eine neue CD in den Player. Am späten Nachmittag zeichnete die Sonne orangefarbene Wolken an den Himmel, was ein warmes Licht hervor brachte.

Ben entschuldigte in seiner Antwort das Fehlen des Bildes. Als Grund gab er an, dass er befürchtete, von Jungs aus seinem Gymnasium erkannt zu werden. Doch wenn wir länger miteinander schrieben, würde er mir später mal ein Bild per E-Mail senden. Wenn ich nicht so lange warten könnte, verstände er es, dass ich den Chat dann beendete.

Spinnst du, überlegte ich, ich kann warten und schrieb es ihm. Auch dass seine Befürchtungen unbegründet seien, denn wenn sich ein Junge hier schon anmeldete, dann doch nur der, der schwul sei, andere interessiere es doch nicht.

Gegen achtzehn Uhr, Ben musste sich verabschieden, merkte ich erst, wie schnell die Zeit vergangen war. Ich versprach Ben, dass ich ihn abspeicherte. Wie er offline ging, sah ich mir nochmals unseren Chat durch und bekam ein gutes Gefühl. Überwiegend schrieb er sachlich, konnte aber durchaus auch witzig sein. Erfreut darüber, seine Bekanntschaft gemacht zu haben, ging ich in die Küche um meinen Hunger zu stillen.

Sascha meldete sich telefonisch und erkundigte sich gleich, ob ich zur Garage kam.

„Alter! Ich habe hier noch genug Bier für uns beide.“

„Mann, Sascha, nicht schon wieder“, gab ich zurück und suchte nach einer weiteren Ausrede. Dass mich Sascha treffen wollte, war mir im Moment überhaupt nicht recht. Meine Gedanken drehten sich um den Chat mit Ben, und dann dachte ich ernsthaft darüber nach, ob ich nicht doch mal in die Disco „Kuckucksei“ ging.

„Mann Alter! Dann sauf ich eben allein“, sagte er wütend, und es klang zugleich traurig.

„Na gut. Aber nicht den ganzen Abend und in einer Stunde erst, OK?“

„OK Tom, bis dann.“

Ich fühlte mich hin- und hergerissen. Einerseits fand ich es schon schade, dass Michael seiner Wege und Interessen ging und mir damit ein schlechtes Gewissen gegenüber Sascha vermittelte. Doch mit Sascha abhängen bedeutete für mich auch nur, dass wir den Abend sinnlos mit Saufen verbrachten.

Ich riss den Kleiderschrank auf und suchte passende Klamotten. Ich entschied mich für eine dunkle Jeans und eines von den grauen Shirts. So gewappnet fuhr ich ins Erdgeschoss und folgte dem muffigem Geruch zum Garagenkomplex. Sascha hatte das Tor aufgelassen und saß im Sessel. Wie viel er bereits getrunken hatte war schwer auszumachen, doch seine Augen zeigten bereits einen gewissen Glanz.

„Hey Alter! Hast dir Zeit gelassen“, begrüßte er mich und schob mir eine Dose Bier rüber.

„Wie lange bist schon hier?“, erkundigte ich mich.

Sascha hob gleichgültig die Schultern und deutete an, nicht mehr ganz genau zu wissen, ob er nicht sogar hier geschlafen hatte. Der Player spielte irgendwelchen Hip-Hop-Sound, womit ich wenig anfangen konnte.

„Die Katja hat ihn ja schnell unterm Pantoffel bekommen“, meinte er zu wissen und fuchtelte wild mit dem Arm herum.

„Quatsch, Micha doch nicht“, behauptete ich.

Ich trank langsam und wollte so zumindest erreichen, dass Sascha mich nicht drängte mehr zu trinken. Wenn ich wirklich in die Disco ging, wollte ich dort nicht angetrunken ankommen.

„Die sind heute zu ihrer Oma, was soll der Scheiß?“

„Keine Ahnung“, antwortete ich ehrlich, weil ich von alledem keine Ahnung besaß. Vor einem halben Jahr suchte Helen meine Nähe. Doch je näher sie mir auf die Pelle rückte, umso mehr wehrte ich mich dagegen. Ich fand einen Vorwand nach dem anderen, bis sie mich einen Trottel schimpfte. Für eine gewisse Zeit war ich zum Gespött der Klasse geworden. Lieber ertrug ich die Bemerkungen der Mitschüler, als das ich mich vor ihr rechtfertigten musste.

„Glaubst er hat sie schon geknallt?“, dachte Sascha laut und nahm wieder einen Schluck vom Bier.

„Selbst wenn“, gab ich zurück, „es ginge uns nichts an.“

„Helen ist eine bescheuerte Kuh!“, brüllte er los und warf die leere Dose hinter sich weg.

„Ach Sascha“, wollte ich ihn aufmuntern, „es gibt noch andere Mädel.“

„Stimmt!“, rief Sascha und ging nach draußen. Torkelnd schleppte er sich in Richtung Hecke und ich sah noch, dass er stolperte. Sascha rappelte sich auf und erreichte die Hecke. Ich lief ein paar Schritte zu ihm und sah, dass er mächtig schwankte.

„Willst nicht lieber heim gehen?“, fragte ich ihn, doch Sascha kippte vornüber in die Hecke.

Seine Füße blieben regungslos liegen und ich lief hin.

„Sascha!“, rief ich, doch es sah aus, als hörte er mich nicht.

So gut ich konnte holte ich ihn aus der Hecke und zog ihn mehr zur Garage. Völlig weggetreten lag er auf der Couch. Da sah ich auch, dass hinter dem Sessel schon mehr als zehn Dosen Bier lagen.

Wieder rief ich seinen Namen, doch es kam keine Reaktion zurück. Schließlich überlegte ich nur noch, wie ich ihm am besten half. Da mir nichts anderes übrig blieb, ging ich zu ihm nach Hause und informierte seine Mutter.

Dass sein Vater sich ziemlich ärgerte, sah ich ihm deutlich an. In der Garage dann ging er nicht gerade zimperlich mit Sascha um. Zwei Ohrfeigen brachten Sascha auch nicht wieder zu sich und sein Vater packte ihn sich und trug ihn wortlos davon.

Einen Moment saß ich im Sessel und überlegte, ob ich richtig gehandelt hatte. Doch dann sagte ich mir, anders ging es eben nicht. Also kippte ich das Bier der angefangenen Dosen weg, schraubte die Sicherung heraus und schloss ab. Den Schlüssel legte ich in unser Versteck.

Zu Hause zog ich das verschwitzte Shirt aus und entschied mich für ein schwarzes.

Die Sonne war längst in den Horizont eingetaucht und Dunkelheit legte sich über die Stadt, als ich zum „Kuckucksei“ aufbrach.

Da ich es nicht eilig hatte, nahm ich absichtlich keine Straßenbahn. Der Weg war lang genug, dass ich mir Mut machen konnte, damit ich auch hineinging.

Das „Kuckucksei“ war eigentlich eine bereits mehrfach umgebaute Turnhalle. Die alte Schule selbst kannte ich nur als Ruine. Was ich von der Internetseite wusste, war, dass es einen Saal zum Tanzen gab und dazu einen sogenannten Kennenlernbereich und mehrere Bars, die für eine angenehme Atmosphäre sorgten. Die Fotos auf der Homepage stammten von früheren Discoabenden und zeigten fröhlich lachende Jungs.

Vor dem hell erleuchteten Eingang standen ein paar junge Leute, die sich angeregt amüsierten. Rauchend unterhielten sie sich, liefen dann durcheinander und sprachen mit anderen Jungs.

Von der gegenüberliegenden Straßenseite besah ich mir das Geschehen im Spiegelbild des Schaufensters. Mehrmals atmete ich tief durch und suchte nach innerer Ruhe.

An den Punkt angekommen, ein richtiger Kerl zu sein, ging ich über die Straße. Die Blicke der Umstehenden ignorierte ich und suchte zielsicher nach der Kasse. In einem sogenannten Vorflur, wo auch Jugendliche saßen, orientierte ich mich an denen, die vor mir gingen, und erreichte die Kasse. Der junge Mann schaute kurz auf. Ohne Worte wechselte mein Geld in seine Hand und er gab mir den Stempel auf den Handrücken. Wie ich weiterlief und die Musik langsam lauter wurde, schaute ich weder nach rechts oder links. Auf der Stirn bildete sich kalter Schweiß. Aufblitzende, sich drehende farbige Spots kündeten zusammen mit einem Dream Dance Sound an, dass ich mein Ziel erreicht hatte. Zwischen all den herumlaufenden oder tanzenden Jungs suchte ich für mich eine freie Stelle. Ich zwängte mich zwischen ihnen durch und fand an der Wand einen geeigneten Platz.

Dort angekommen wischte ich mir den Schweiß von der Stirn und fühlte mich etwas erleichtert. Langsam begann ich mich auch auf Details zu konzentrieren. Ich fand die beiden Bartresen und erkannte, dass jeweils an deren Enden sich knapp bekleidete Jungs rhythmisch an der Stange bewegten. Der DJ war hoch oben platziert. Ich wusste nicht, ob es das Licht, die Musik oder die niedlichen Jungs an den Stangen waren, ich fühlte mich zunehmend begeistert. Die meisten der Tanzenden zeigten ihre nackten Oberkörper. Um mich herum saßen die Jungs in kleinen Gruppen zusammen, lachten, tranken, rauchten und das Wichtigste für mich, sie nahmen von mir keinerlei Notiz. Bisher bestätigte sich keine meiner Befürchtungen und ich entschied, dass ich an die Bar ging.

Nach ein bisschen sich vordrängen und anstoßen schaffte ich es nach vorn an den Tresen und zeigte auf eine Cola. Reden schien mir bei der Lautstärke sinnlos. Der Keeper verstand mich auch so, und mit dem ersten Schluck spülte ich auch den Kloß in meinem Hals herunter.

Da es mir völlig reichte, dass ich mich umsah, suchte ich auch meinen Platz an der Wand wieder auf. Noch konnte ich den Zugang zum Kennenlernbereich nicht finden, doch das war mir im Moment unwichtig. Was ich sah, reichte völlig, überlegte ich und trank von der Cola. Die Musik spielte pausenlos und die Tanzfläche leerte sich nie. An das bunte grelle Licht gewöhnte ich mich und sah die Galerie über mir. Auch dort saßen Jungs, die das Geschehen aus der Höhe beobachteten. Als der DJ Rosenstolz auflegte, grölte die tanzende Masse den Text mit. Die Stimmung steigerte sich und nahm selbst von mir Besitz. Da ich nicht befürchten musste, dass man mich hörte, sang ich lautstark „Ich bin ich, das allein ist meine Schuld“. Erleichtert holte ich tief Luft. Plötzlich tauchte aus dem Nichts ein Blondschopf mit weißem ärmellosem Shirt vor mir auf.

„Bist neu hier?“, schrie er mir zu und lachte mich herzlich an.

Weil ich ein bisschen erschrak, nickte ich nur.

„Willst tanzen?“, fragte er freundlich.

Bevor ich was sagen konnte, zog er mich auf die Tanzfläche. Zögerlich begann ich dem Rhythmus zu folgen. Noch befangen, schaute ich nur auf den Jungen, der sich ausgelassen der Musik hingab.

Seine hellen blonden Haare bildeten einen schönen Kontrast zu der sonnengebräunten Haut, was das weiße Shirt noch unterstrich. Die engen abgeschnittenen Jeans kitzelten fast meine Phantasie heraus.

„Bastian!“, rief er mir ins Ohr und lachte wieder.

„Tom!“, schrie ich zurück und vollbrachte sogar ein Lächeln.

Bastian verstand es sich gut zu bewegen, und sicher wurde er von Sitzenden genügend gemustert. Ich fand schon, dass er gut aussah. Mehr beschäftigte mich aber, was er vielleicht von mir erwartete. Sein Alter schätzte ich auf gut zwanzig und ordnete ihn zwischen Student oder zumindest arbeitenden jungen Mann ein. Doch im Schätzen war ich nie so gut.

„Komm, wir gehen!“, und schon nahm mich Bastian an der Hand. Ich folgte ihm widerspruchslos. Er öffnete eine Flügeltür. In dem kurzen Flur konnte ich regelrecht die neugierigen Blicke der Umstehenden spüren. Bastian führte mich in einen Raum, der in seichtes Licht getaucht, mit Sesseln und Clubtischen ausgestattet war.

„Man kann sich hier besser unterhalten“, sagte er freundlich und wies mir einen Sessel zu. Die Musik glich der im Saal, nur spielte sie leiser. An den bereits besetzten Plätzen schien es mir, dass man sich schon ziemlich gut kannte. Es wurde nicht nur geküsst, auch manche Hand befand sich auf Entdeckungsreise.

„Tom, was möchtest trinken?“, erkundigte sich Bastian.

„Cola bitte.“

Bastian entschwand und ich bekam Zeit das Geschehen um mich herum etwas genauer zu beurteilen. Dass man sich auch mal vor Fremden küsste, fand ich nicht außergewöhnlich. Etwas befremdlich war aber, dass manche der abgetauchten Hände sehr eindeutige Bewegungen beim Partner vollzogen. Verlegen knetete ich meine Hände und hoffte, dass Bastian bald zurück kehrte.

Mit dem gleichen freundlichen Lächeln kam er an den Tisch und stellte das Glas Cola vor mich ab.

„Danke.“

Mit leichtem Schwung nahm er auf der Lehne neben mir Platz und schlug sanft die Gläser aneinander.

Nach einem größeren Schluck leckte er sich die Lippen. Da der Cola Alkohol beigemischt war, nahm ich vorsichtig einen Schluck und stellte das Glas auf den Tisch. Vorsicht Tom!, klingelte es mir im Ohr.

„Also Tom, erzähle mal …“, forderte er sanft und schaute erwartungsvoll auf mich herab.

„Hm“, überlegte ich krampfhaft, „bin heute das erste Mal hier und …“

Ich wusste nicht so recht, was man sagte um sich hier kennen zu lernen. Also schaute ich ihn nun erwartungsvoll an. Doch Bastian lächelte erfahren genug, um sich nicht beirren zu lassen.

„Was treibt dich in den Sündenpool?“

„Reine Neugierde nur.“

„Studierst oder Ausbildung?“

„Ausbildung.“

„Freund?“

„Nein.“

„Du bist süß“, säuselte er und nahm noch einen Schluck.

„Weiß ich.“

Bastian lachte auf und beugte sich ziemlich nah zu mir herab. Dass er mich küssen wollte, begriff ich schnell und neigte mich zu ihm. Ich roch seinen alkoholisierten Atem und zuckte zurück.

„Hey, magst mich nicht?“, flüsterte er mir ins Ohr und nahm mein Kinn in die Hand. Behutsam drehte er mein Gesicht, doch mich ekelte vor seinem warmen Alkoholgeruch. Ich sah plötzlich Sascha in der Garage liegen, ja glaubte sogar den gleichen Geruch wahrzunehmen, und sprang aus dem Sessel. Bastian verlor sein Lächeln. Er stand ernst und sehr entschlossen vor mir.

„Du Arsch! Glaubst, bist was Besseres?“, sagte er schroff, dass man sich nach uns umdrehte.

Ich fühlte mich ziemlich blamiert und suchte schnell das Weite. Im Gehen sah ich, dass mancher der Jungs blaue oder weiße Pillen einnahm, was mir aber völlig egal war. Eigentlich wollte ich nur noch weg. Im Saal kam ich nicht schnell genug voran und entschloss mich, in der stimmungsvollen Masse unterzutauchen.

Die Lust am Tanzen war mir vergangen. Unterhalb der Galerie war es dunkel genug und ich stellte mich an die Wand. Dass Bastian mich in der Menge sah, glaubte ich nicht.

Wenn ich mich umschaute, bemerkte ich schon, dass ich von anderen Jungen beäugt oder beobachtet wurde. Ich konnte mir vorstellen, dass man mich als Neuling wahrnahm. Viele vermittelten mir den Eindruck, dass sie sich in irgendeiner Form bereits kannten. Auch sah es aus, dass sie sich in der Kleidung glichen. Sie gaben sich Küsschen, wechselten ein paar Worte, setzten sich auf den Schoß eines Jungen, und das alles passierte in vertrauter ungezwungener Form. Ich zwang mich, nicht zu genau die Anderen zu beobachten. Wenige Schritte neben mir lehnte auch ein Junge an der Wand, dem es allem Anschein nach nicht anders als mir ging. Mit dem Glas in der Hand schaute mehrmals zu mir herüber. Ich schätzte ihn zumindest gleichaltrig, nur verdeckte bedauerlicherweise ein Cape sein Gesicht. Seine Jeans wirkten bereits ziemlich verschlissen, doch das konnte auch gewollt sein. Über den Bund sah ich, dass seine Shorts ein bekannter Markenname zierte. Auch gewollt, überlegte ich gelassen, das typische Outfit eben.

Was soll’s, sagte ich mir, eine Blamage reicht. Dass sicher nicht alles glatt ablief, war mir schon vorher klar. Doch so vor anderen vorgeführt zu werden, damit konnte ich nicht rechnen.

Wie ich wieder zu dem Typen mit dem Cape blickte, sah ich für einen winzigen Augenblick seinen Mund und Nasenspitze. Schon glaubte ich, dass er vielleicht lächelte. Na ja, konnte ja sein, überlegte ich und sah wieder auf die Tanzfläche. Ich bekam Durst. Ich ging langsam und vorsichtig, damit ich keinem auf die Füße trat, zur nächstliegenden Bar. Wieder tippte ich auf eine Colaflasche und gab dem Keeper das Geld. Schon wollte ich zurück, da stand der Capejunge vor mir.

„Wollen wir tanzen?“, fragte er, was ich aber mehr seinen Lippen ablas.

„Ungünstig!“, schrie ich zurück und verwies auf die Flasche in meiner Hand.

Wortlos gingen wir auseinander. Während ich meinen Durst löschte, sah ich kurz das Cape auf der anderen Saalseite. Ich wusste zumindest, dass man mich wahrnahm.

Ich fragte einen der Jungen, die vor mir am Tisch saßen, nach der Uhrzeit. Als ich sie erfuhr, murmelte ich einen Fluch und suchte sogleich nach dem Ausgang. Fast vier Uhr, sicher wartete Vater längst zu Hause.

Es war bereits hell geworden und goss in Strömen. Obwohl ich rannte, konnte ich die Straßenbahn nicht mehr erreichen und suchte im gläsernen Bereich der Haltestation Schutz vor dem Regen.

Ich überlegte, womit ich schneller zu Hause sein konnte, zu laufen oder auf die nächste Bahn zu warten. Der Himmel zeichnete sich geschlossen grau, was sicher bedeutete, dass es nicht so schnell aufhörte.

Selbst wenn ich mich beeilte, ich würde gut eine viertel Stunde im Regen laufen. Das hieße, dass ich völlig durchnässt ankam. Dann wartete zu Hause sicher schon Vater auf mich und würde endlos Fragen stellen. Erstmal brauchte ich eine gehörige Portion Antworten für Vater, ging es mir durch den Kopf, und dann rannte ich los. Eines beruhigte mich, ich roch nicht nach Alkohol. Während ich so rannte und mir die Nässe langsam über den Rücken in die Jeans lief, schauderte es mir. Das T-Shirt klebte mir am Körper und ich blies mir die Tropfen von der Nasenspitze. An der nächsten Haltestelle sprang ich unter das gläserne Dach und atmete tief durch. Wie ich wieder aufschaute, sah ich den Jungen aus der Disco herankommen.

„Scheißwetter!“, sagte er und atmete schwer.

Wie er so klatschnass neben mir stand, kam mir die Situation befremdlich vor. Überhaupt bekam ich ein beklommenes Gefühl, dass er mir nachkam. Obwohl wir in einer menschenleeren Haltestelle standen, schaute ich mich vorsichtig um. Anders als in der Disco bedrängte mich plötzlich seine Nähe.

Ohne Rücksicht auf ihn lief ich weiter und blickte auch nicht zurück. Immer schneller, immer den Gleisen entlang. Die nächste Haltestelle passierte ich ohne Stopp und rannte als ginge es um mein Leben weiter. Ich sah endlich das Hochhaus und glaubte mich allein. Langsamer werdend hielt ich im Schutz einer der alten Linden an. Ich rang nach Luft. Fünf- oder sechshundert Meter, mehr konnte es nicht mehr sein. Langsam ging ich weiter und hob durchatmend die Arme. Ich spürte wieder meine nassen Sachen am Körper, doch es störte mich nicht mehr.

„Kannst du mal warten!“, rief eine Stimme hinter mir.

Erschrocken blickte ich mich um. Da war er wieder und ziemlich fertig dazu. Der gibt einfach nicht auf, sagte ich mir und ging eilig weiter.

„Bitte! Warte doch mal!“, hörte ich hinter mir.

Er schleppte sich förmlich schon. Mir huschte ein Grinsen über das Gesicht. Nicht gerade ein ausdauernder Läufertyp. Ich wischte mir die Nässe aus dem Gesicht.

„Läufst vor mir weg oder wieso rennst so?“, quälte er völlig außer Atem hervor.

„Hab es nur eilig.“

„Aha und ich dachte schon …“, sagte er erleichtert und konnte schon wieder lächeln. Er nahm sein Cape ab und schüttelte sich die Nässe aus den Haaren. Die fielen in langen glänzenden Strähnen auf seine Schultern.

„Scheißwetter!“

„Du wiederholst dich“, bemerkte ich amüsiert, weil seine Ohren zwischen den nassen Haaren hervorstanden.

„Wo musst du hin?“

Ich zeigte unbestimmt hinter mich.

„Wohnst du hier in der Nähe?“, war seine nächste Frage.

So fragt man Leute aus, warnte ich mich. Der hat es drauf und steht einfach vor der Tür, überlegte ich, und dann? Ich mochte es mir erst gar nicht ausmalen und blieb stumm. Der Regen prasselte unaufhörlich auf uns herunter, doch mir war es egal. Nässer als jetzt konnte ich ja schon nicht mehr werden.

„Wie heißt du eigentlich?“, erkundigte er sich und hielt mir sogleich die Hand hin, „ich heiße Christoph.“

Ich schätzte vorsichtig, dass er beharrlich und unnachgiebig an mir Interesse zeigte. Unsympathisch war mir seine Art nicht. Nur so unbedarft wie er, soweit war ich einfach nicht. Ich käme zum Beispiel nie auf die Idee, dass ich jemandem nachlief, nur weil ich ihn in der Disco „Kuckucksei“ begegnet war.

„Tom“, sagte ich ruhig und gab ihm kurz die Hand, „ich muss weiter.“

Wir liefen schweigend und näherten uns bereits dem Hochhaus.

„Na, ich muss dahin“, sagte Christoph und zeigte in Richtung der von mir so genannten Wohnburg.

„Da?“, fragte ich ihn verwundert. Was sollte ich denn jetzt tun? Mitgehen wollte ich nicht, da würde er schnell herausbekommen, wo ich wohnte.

„Ja, seit kurzem erst“, meinte er nachdenklich, „ist eine längere Gesichte.“

Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Was sollte ich ihm sagen? Dass es gar nicht schlimm sei, darin zu wohnen? Nein! Das würde nur noch mehr Fragen hervorrufen. Also sagte ich ihm, dass ich noch weiter müsste und wollte mich gleich verabschieden.

„Rufst mich mal an?“

Da ich zögerte, fragte er, ob er mich dann anrufen könnte.

„Nicht so schnell. Bitte.“

„OK Tom, dann komm gut heim“, sagte er schließlich, „nächstes Wochenende im Kuckucksei?“

Ich nickte wortlos und sah zu, wie Christoph über die Pfützen sprang, ehe er im Hauseingang verschwand. Eigentlich kam mir alles wie ein unwirklicher Traum vor. Doch der Regen sorgte schon dafür, dass ich mich in der Realität wiederfand. Ich wischte mir über das Gesicht. Es war schon egal, ich kam so oder so zu spät. Wenn ich auch kein Donnerwetter von Vater zu befürchten hatte, um eine Diskussion mit ihm kam ich sicherlich nicht mehr herum. Ich wartete vielleicht noch fünf Minuten, dann nahm ich den direkten Weg zum Eingang.

Im Fahrstuhl blieb eine Wasserlache zurück und ich hastete gleich ins Bad. Die nassen Sachen hing ich in der Dusche auf, und wie ich nackt im Flur stand, beruhigte es mich, dass Vater schlief.

Noch immer peitschte der Wind den Regen an die Scheiben und ich fiel erschöpft und müde ins Bett.

Die Arme über den Kopf verschränkt, dachte ich über den gestrigen Abend nach. Über die missglückte Kuss-Begegnung mit dem Bastian konnte ich bereits lachen. Dafür beschäftigte mich mehr, dass Christoph irgendwo im Hochhaus lebte und wir uns unvorhersehbar über den Weg laufen konnten.

Das größte Unbehagen bereitete mir dabei der Gedanke, wenn man mich mit ihm zusammen sah. Wer ihn als schwul kannte, würde sofort darauf schließen, dass ich es ebenfalls wäre. Und dann? Ich hatte doch bislang alles getan, dass niemand so über mich dachte. Vater nicht und Michael und Sascha auch nicht. Erst die Begegnung mit dem alten Kohlmann und jetzt auch noch dieser Christoph. Zwei dicke Probleme innerhalb des Weges vom Achtzehnten bis Keller und zurück, überlegte ich.

Ich fuhr heftig zusammen, doch es klopfte tatsächlich an der Tür. Seit wann klopfte Vater denn an? Das sind ja völlig unbekannte Seiten. Wieder klopfte es leicht.

„Ja?!“, sagte ich verwundert, und wie sich die Tür spaltbreit öffnete, erschrak ich erneut.

Ich riss die Bettdecke an den Hals und erkannte sofort, dass Frau Helbig reinschaute. Völlig überrascht vergewisserte ich mich, auch wirklich in meinem Zimmer zu sein.

„Morgen oder besser schon guten Tag, Tom“, sagte sie und war überaus real, sagte ich mir.

„Moin.“

„Noch Frühstück oder schon Mittagessen?“, erkundigte sie sich und zeigte mir wieder ihr mütterlich freundliches Lächeln. Ich schaute verwirrt zur Uhr. Dreizehn Uhr. Mir war echt nicht nach Essen, doch sollte mir Vater unbedingt mal erklären, was hier vorging.

„Ich steh erst mal auf“, sagte ich nur und wartete, dass sie die Tür schloss. Was war mit Vater los? Früher hörte ich höchstens, wenn morgens jemand ging, doch nie blieb eine Frau länger. Dass sie nebenan wohnte, ist doch nur reiner Zufall, hatte er doch gestern noch gemeint. Jetzt hat sie wohl schon die Küche übernommen? Verstehe einer alte Leute, sagte ich mir und wollte schon in den Flur. Ich besann mich und schlich ins Bad.

Angezogen fühlte sich ihr Dasein besser an, urteilte ich und fand Vater und Frau Helbig in der Küche.

„Guten Morgen“, betonte Vater freundlich, was nichts anderes hieß, als dass es höchste Zeit war.

„Moin.“

Ich stand unschlüssig an der Tür und wusste nicht so recht, ob ich mich auf den noch freien Stuhl setzen durfte. Jahrelang reichten die beiden Stühle für Vater und mich. Unfreundlich wollte ich aber auch nicht sein. Mit ihrer Anwesenheit waren sicher meine Biereinkäufe im Discounter auch bald kein Geheimnis mehr. Oh Mann, ich brauche schnell eine andere Einkaufsquelle.

„Setze dich doch, Tom“, sagte sie und jetzt sah ich, dass auf dem Herd schon das Mittagessen brutzelte.

Vater stützte den Kopf in die Händen und schien zu überlegen. Na, was kommt jetzt, überlegte ich und war auf alles gefasst.

Vater schwieg weiter und schien ganz mit sich beschäftigt. Ich bekam von Frau Helbig eine Tasse hingestellt und nahm mir eins der vom Frühstück gebliebenen Brötchen. Der Kaffee duftete irgendwie kräftiger, und so schmeckte er auch. Der konnte also nur von ihr gekocht sein. Gut gemacht, lobte ich sie still.

Vater rieb sich die Hände, was bedeutete, gleich ging es los.

„Tja“, sagte er, „wo warst gestern solange?“

Ich stutzte. Wieso ich jetzt? Du solltest doch erstmal erklären, was hier vorgeht, überlegte ich.

„Disco nur“, sagte ich leise, „wollten dann warten bis der Regen aufhörte, doch das schiffte bis heute Morgen.“

„Allein?“

„Mit … Micha“, sagte ich vorsichtig und beobachtete seine Augenbrauen. Die zuckten aber nicht.

„Saschas Mutter rief mitten in der Nacht an.“

„Ach so.“ Ich erklärte ihm, was mit Sascha gestern passiert war und das ich vorsichtshalber seine Eltern informiert hatte.

Vater hörte geduldig zu und blieb nachdenklich.

„Wir hatten doch eine Abmachung“, erinnerte er mich und ich nickte.

„Ich habe nur eine halbe Dose … da hatte er schon über zehn intus“, verteidigte ich mich ruhig, denn es entsprach ja der Wahrheit.

„Na gut“, zeigte sich Vater zufrieden, „nur kümmer dich mal um Sascha. Vielleicht hat er Probleme.“

Ich nahm erleichtert einen Schluck von dem wirklich gut schmeckenden Kaffee. Frau Helbig schien sich schon wie zu Hause zu fühlen. Auch merkte ich, dass sie ohne groß zu fragen all das fand, was sie so brauchte. Überhaupt, es roch nicht mal nach Kohlrouladen.

Sie bemerkte wohl, dass ich ihr zuschaute und lächelte verlegen.

„Habe schon mal für deinen Vater gekocht, nicht Harald?“, sagte sie etwas verlegen, „da warst immer unterwegs.“

„Ist doch OK …“, sagte ich, und wollte wissen, „ein … zwei Mal oder noch öfters?“

Sie überlegte und kam auf mindestens vier Mal, könnten aber auch mehr gewesen sein.

„Tom bitte“, warf Vater dazwischen, „Inge und ich, wir kennen uns schon seit Wochen. Das hatte ich dir doch gesagt.“

Ich verbarg nicht länger mein Grinsen, denn das hätte ich ganz sicher gewusst. Vater mochte es nicht, wenn ich ihn mehr über seine Bekanntschaften ausfragte. Da ich mir sowieso nicht vorstellen konnte, dass er überhaupt Sex hatte, fragte ich nie beharrlich.

Doch immerhin, schon seit Wochen also ging das mit der Nachbarin, überlegte ich weiter, solange wie mit keiner vorher. Inge war ihr Name, und ich schätzte sie auf Anfang vierzig. Ihr Aussehen einzuschätzen, überließ ich eher Vater. Zumindest gefiel mir ihre natürliche mütterliche Art.

An meine Mutter konnte ich mich nur noch vage erinnern. Sie starb, als ich fünf Jahre alt war. Ich konnte nicht mal behaupten, dass ich sie in all den Jahren richtig vermisste. Vater beinhaltete für mich beides. Wenn ich als Kind krank war, saß er am Bett und las mir Geschichten vor, oder wir spielten zusammen Puppentheater. Er brachte mir das Schwimmen und Fahrradfahren bei und half mir bei den Hausaufgaben. Als es um das Gymnasium ging und ich vor dem höheren Leistungsdruck Angst bekam, zeigte er sich schweren Herzens verständnisvoll. Als ich in der achten Klasse kurze Zeit mit Susanne befreundet war, ging er richtig rücksichtsvoll mit mir um.

„Harald, du wolltest doch noch …“, meinte Frau Helbig, die dabei war den Tisch im Wohnzimmer zu decken.

„Ja richtig“, räusperte sich Vater und begann mit seiner unverwechselbaren Art umständlich zu erklären, das sie das kommende Wochenende nach Schwerin verreisen wollten.

Da ich große Augen bekam und er mich so eindringlich ansah, hüstelte er verlegen und meinte doch tatsächlich, also wenn ich nicht solange allein bleiben wollte, dann könnte ich auch mitreisen.

„Nein nein!“, sagte ich schnell, „ist schon OK.“

Ein ganzes Wochenende allein, wann hatte ich das mal, überlegte ich und erinnerte mich an keines.

Vater hatte geregelte Arbeit bei der Stadt. Von Montag bis Freitag, morgens halb acht ging er aus dem Haus und kam in der Regel siebzehn Uhr zurück. Früher fuhren wir sogar gemeinsam in den Urlaub, doch die letzten Jahre nicht mehr. Dann waren wir auch noch drei Wochen in den Ferien zusammen. Nur in diesem Jahr bekam er seinen Urlaub erst später. Wenn ich mich auch nicht von ihm kontrolliert fühlte, war ich doch auch gern mal allein.

„So, dann bitte mal zu Tisch“, sagte Frau Helbig freundlich lächelnd.

Ich kam nicht umhin, ihr mein Lob für das leckere Gulasch auszusprechen. Sie dankte es mir mit ihrem fürsorglichen Lächeln und wirkte richtig umgänglich auf mich.

„Dann wurdest also schon wochenlang mit einem solch gutem Essen verwöhnt“, bemerkte ich und Vater hätte sich bald verschluckt.

„Bist deshalb verhungert?“, wehrte sich Vater, der es sonst bei einem Fertiggericht beließ.

„Nein, das nicht. Nur, jetzt weiß ich, wieso es öfter nur Stullen gab“, witzelte ich und lachte.

Frau Helbig sah mich ungläubig an und Vater warf gleich ein, dass ich nicht ernst zu nehmen sei.

Vater öffnete eine Flasche Wein und ich erkundigte mich, ob es etwas zu feiern gab.

„Das nicht“, sagte Vater und fügte mit einem kurzen Blick auf Frau Helbig hinzu, noch nicht. Als die Gläser erklangen, glaubte ich zu erkennen, dass sie sich ziemlich intensiv anschauten. Jedenfalls funkelten ihre Augen für einen Augenblick.

Später dankte ich nochmals für das gute Essen und verzog mich in mein Zimmer.

Von Ben lag keine Nachricht vor, und er war auch nicht online. Erst überlegte ich, ob ich ihm vielleicht eine Nachricht schrieb, doch unterließ ich es. Eigentlich müsste ich Sascha anrufen, überlegte ich. Nur ob der auch schon ansprechbar war, bezweifelte ich.

Das Wetter lud auch nicht gerade ein, an den Strand zu fahren. Eigentlich mochte ich keine Sonntage, denn die grenzten die Möglichkeiten an Unternehmungen ein. Erst schlief man sich aus, dann gab es Mittagessen und schon war die erste Hälfte des Tages vorbei. Die Geschäfte waren geschlossen und auf den Straßen spazierten die Leute gelassen an den Schaufenstern vorbei. Ich nannte sowas Langweile pur.

Ich klickte ein paar meiner speziellen Seiten an, doch da gab es nur die Bilder, die ich schon kannte. Man stieß überall mal an Grenzen, sagte ich mir und versuchte es damit, neue CDs zu finden und vielleicht herunterzuladen. Tja, aber nichts, was mich interessierte.

Na endlich! Der User „Silverboy1983“ schrieb mir und ich öffnete die Mail.

Hi Kleiner, schrieb der, biste allein? Hm, dass er mich als Kleiner bezeichnete, gab schon mal keinen Pluspunkt bei mir. Wenn er schon danach fragt, ob ich allein sei, konnte das auch nichts Gutes bedeuten.

Ja, antwortete ich und wartete. In seinem Profil las ich, dass er studiere und seine persönlichen Interessen und Hobbies waren ziemlich allgemein. Das Bild zeigte nur einen schlanken Torso, was mich störte, da es unpersönlich blieb.

Wollte mal fragen, was du gerade anhast? Na danke, dachte ich und wollte ihn schon blockieren. War gerade duschen, also noch nichts. Soll er doch drauf abwichsen, lachte ich still. Es folgte aber die Frage nach der Webcam. Na gut, dann eben nicht, und schrieb ihm, dass ich keine besaß.

Damit hatte es sich erledigt und ich blockierte ihn vorsichtshalber.

Manchmal ging es tagelang auf die Art und man gewöhnte sich sogar daran. Mitunter ließ ich mich sogar auf ein cybersexuelles Abenteuer ein. Nur war das dann schon mehr aus der Not heraus, da man ja auch Bedürfnisse besaß. Schlimmer aber waren die, die erst tagelang einem schrieben und sich dann als Faker herausstellten, das tat dann manchmal weh.

Zumindest brachte mich „Silverboy1983“ dazu, in die einschlägigen lokalen Homepages zu klicken. Ich las, dass in zwei Wochen der alljährige CSD stattfand und notierte mir den Termin in meinen Kalender. Wenn ich der Parade bislang fern blieb, so wollte ich wenigstens zu einem der Straßenfeste. Im letzten Jahr überwand ich meine Hemmungen und schlich mich förmlich dorthin. Hinterher fühlte ich mich höchst begeistert, denn mir war klar, dass ich gern dazu gehören wollte.

Auf der Seite des Lesben-Schwulen-Vereins der Stadt gab es weitere Hinweise dazu. Überhaupt fand man hier alle Informationen von Beratungsmöglichkeiten, Vereinsleben, Eventterminen bis hin zu HIV und AIDS. Mir war schon klar und wichtig, dass man sich schützte. Nur trug die Kondomverpackung die Daten des CSD aus dem letzten Jahr.

Für mich brauchte ich ja keine Kondome, und dann gäbe es eben noch erhebliche Bedenken für mich, wenn ich mal so nebenbei auch eine Packung auf das Kassenband legte.

Schon deshalb wollte ich zum Straßenfest, da konnte ich mich damit sogar kostenlos eindecken.

Das Handy meldete, dass Michael am anderen Ende war.

„Hi Micha“, begrüßte ich ihn gleich.

„Hey Tom! Was treibst gerade?“, fragte er und hörte sich richtig freudig an.

„Nichts richtiges“, antwortete ich, „bist schon wieder zu Hause?“

„Nein nein“, hörte ich und beurteilte, dass Michael ziemlich ausgelassen wirkte, „deshalb rufe ich ja an. Wir bleiben noch ein paar Tage, also Katja und ich. Ich soll dich grüßen!“

So kannte ich ihn selten, und betrunken schien er auch nicht. Also konnte es nur mit Katja zusammenhängen, schätzte ich und wollte ihm dazu gratulieren. Doch dann kam es mir billig vor.

„Danke und re …“

„Also Tom, wir melden uns, wenn wir zurück …“, der Rest ging in Kichern unter und Katja hörte ich im Hintergrund lachen.

„Ja klar.“

Michael sagte nichts mehr. Hm, dann ist er sicher glücklich verliebt, schlussfolgerte ich. Ach ja, das Leben könnte so schön sein, wenn man … Ja, was eigentlich? Ich fühlte mich zumindest nicht unglücklich. Ich befand mich auf einer Entdeckungstour, beurteilte ich mich. Sicher taten das Michael und Sascha ebenso, nur auf ihre Weise. Michael entdeckte die Liebe zu Katja. Ich näherte mich meinen Gefühlen, indem ich meine Hemmungen überwand, und Sascha? Was wollte Sascha?

Es kam mir vor, dass er eher die Zeit anhalten wollte. Nur ging das nicht, auch weil es Michael und ich nicht vermochten.

Ich riss mich von weiteren Gedanken los und schrieb eine E-Mail an Ben. Ich berichtete ihn, dass ich zum ersten Mal im „Kuckucksei“ war und ich eigentlich auf eine Nachricht von ihm gehofft hatte. Details aus dem „Kuckucksei“ ließ ich absichtlich aus, ich schrieb nur, dass ich morgens erst zu Hause war. Den Hinweis, dass es ausschließlich wegen der neuen Eindrücke war, schrieb ich absichtlich dazu.

Mit Sascha traf ich am Montag zusammen. Kurz nach Mittag klingelte er bei mir und sah noch ein wenig ramponiert aus. Eine der Ohrfeigen seines Vaters bescherte ihn ein leicht bläuliches Auge. Er murmelte sowas wie eine Entschuldigung. Ich war immerhin erleichtert, dass er es mir nicht übel nahm, dass ich seine Eltern informierte. Wie er das Verhältnis zu seinen Eltern als reinen Terror bezeichnete, fiel ich ihm ins Wort und sagte entschieden, dass mir seine Sauferei auch nicht gefalle.

Sascha nickte und gab mir in soweit Recht, dass er einerseits übertrieb. Er fühlte, dass er sich auf der Stelle befand. Gemeinsam überlegten wir, was er wollte und was möglich war. Dass er sich ausschließlich auf Mechatroniker konzentrierte hielt ich für ebenso schwierig, wie dass er noch nie über Alternativen nachgedacht hatte. Obwohl er ziemlich verzweifelt wirkte, eine Ausbildung fernab von seinem Zuhause kam für ihn nicht in Frage. Allein auf sich gestellt zu sein war ihm ein Gräuel, auch dass er dann keine Freunde um sich hätte.

Schließlich sagte ich ihm, dass wir alle begreifen müssten, dass jeder von uns neue Freunde fand und wir alle die Zeit nicht anhalten können. Sascha schaute mich an, als hätte ich ihn niedergestochen und er könnte mir noch seine letzten Worte mitteilen. Er fragte mich, ob ich das wirklich so sah, und ich nickte nachdrücklich. Aber ich versicherte ihm, dass wir trotzdem Freunde blieben.

Während des ganzen Nachmittags spielten wir am Computer. Manchmal unterbrach Sascha sein Spiel, und wenn er wieder auf das Thema zurückkam, merkte ich, dass er noch etwas Zeit brauchte, sich mit meinem Gedankengang anzufreunden.

Wie wir tags darauf zusammen Einkaufen gingen, war Sascha wieder ganz der Alte. Sein Veilchen bedeckte er mit einer Sonnenbrille. Damit brachte er mich auf die Idee, selbige als Tarnung vor einer unvorhergesehenen Begegnung mit Christoph zu nutzen. Immer wenn ich den Fahrstuhl bestieg, stellte ich mich gleich an die Rückwand oder verbarg mein Gesicht mit einem Cape. Sascha witzelte bereits über meine Kopfbedeckung, doch ich blieb beständig dabei.

Im Discounter erzählte ich ihm von Frau Helbig

„Das ist die ‚Stoßdame‘ deines Vaters?“, fragte Sascha vor dem Discounter und ich bestätigte es ihm.

„Na und“, entgegnete ich und verkniff mir natürlich weitere Details. Bei Sascha musste man immer damit rechnen, dass seine Kommentare nicht ganz stubenrein ausfielen.

„Mann Alter. Die wird vielleicht noch deine Mutter.“

„Stiefmutter!“, verbesserte ich hin. Wir lachten darüber.

Abends meldete sich Michael bei mir. Vom Ausflug zurück, kam er zusammen mit Katja. Wie sie auf meinem Bett saßen, sah man das ganze Glück in ihren Augen. Ich musste mir geduldig anhören, dass sie schöne Tage bei den Großeltern verlebt hatten. Wenn auch keinen Strand, so hatten sie doch einen Badesee.

Wir sprachen auch über Sascha. Ich erwähnte sogar, dass ich ihn überzeugen konnte, nicht mehr wöchentlich in der Garage zu hocken. Dass wir auch mal eigene Wege gingen, sollte doch unserer Freundschaft nicht schaden können. Michael stimmte mir sofort zu. Meinen Vorschlag, dass wir einen Tag gemeinsam am Strand verbrachten, fanden beide gut.

Ich fand es schon schade, dass ich sie nicht an meinem E-Mail-Austausch mit Ben teilhaben lassen konnte. Zwar wuchs in mir die Erkenntnis, dass ich selbst reinen Tisch machte, doch nur allein der Geist war willig. Ben schrieb sehr schöne und inhaltsreiche Mails und ich beschrieb ihm meine Zeit mit den Freunden. Ich druckte mir sogar seine Mails aus und heftete sie in einen speziellen Ordner ab. Blatt für Blatt wusste ich so über Ben, dass er mit seinen Eltern, und seiner besten Freundin nebenan, am Stadtrand lebte. Sein persönliches Coming Out hatte er mit fünfzehn, und damals schwärmte er grenzenlos für einen Jungen aus seiner Klasse. Die Freundschaft kam deshalb nicht zustande, weil seine Angst zu groß und der Junge dann weggezogen war. Danach habe er ziemlich gelitten und bis jetzt keine neue „Liebe“ gefunden. Mit seinen Eltern konnte er bis heute nicht reden, die seien ihm viel zu konservativ eingestellt und hätten für ihn schon einen fertigen Lebensplan parat. Erst Abitur und danach Studium, wenn möglich sogar im Ausland, und danach könnte er sich binden und eine Familie gründen. Einerseits fühlte er sich eingeengt, doch dass er ausbrach, war für Ben unmöglich.

Wie ich ihm meine Situation zu Hause schilderte, schrieb er gleich zurück, dass er mich etwas darum beneidete. Wie ich es sah, wollte Ben sich halt Zeit lassen und nichts überstürzen.

Am Abend zuvor teilte mir Vater mit, dass er mit Frau Helbig schon am Freitagabend losfuhr und am Sonntag zurücksei. Neben den üblichen Belehrungen worauf ich achten sollte, gab er mir das Taschengeld und den Bonus für Essen. Ich versprach ihm, dass ich keinen Blödsinn anstellte und mich nicht nur von Döner ernährte. Daran, dass er die Abendstunden immer öfter in der Nachbarswohnung verbrachte, gewöhnte ich mich bereits.

Als erster an der S-Bahn-Station angekommen, begrüßte ich nacheinander Sascha, Michael und Katja, und auch Helen kam mit.

„Guten Tag, Helen“, sagte Sascha, als hätte er einen Benimm-Kurs absolviert. Auch wunderte es mich, dass er während der Fahrt ruhig neben mir saß und sogar seine üblichen lästernden Sprüche unterließ.

„Ist dir nicht gut?“, erkundigte ich mich vorsichtig, doch Sascha belehrte mich, dass er kein Kind mehr wäre. Erleichtert erkannte ich, dass er darüber lächelte.

Michael und Katja hatten nur Augen für sich und wie sie dann Händchen haltend vor uns gingen, kam sogar sowas wie Neid bei mir auf. Helen lief meist neben mir und gab sich ansonsten wortkarg bis überwiegend stumm. Endlich, nach schon fast ewiger Suche richteten wir uns am Strand ein. Während sich die Mädels beim Umziehen halfen, nutzte ich den Schutze meiner Sonnenbrille, die Freunde einer kurzen Begutachtung ihrer nackten Körper zu unterziehen. Besonders Sascha ließ sich ungeniert Zeit und ich fand schon, dass er wohl besonders Helen damit imponieren wollte. Bevor die anderen meine leichte Erregung erkannten, zog ich es vor, mich abzukühlen und rannte allen voraus ins kühle salzige Wasser.

Wir bespritzten uns und tauchten uns manchmal gegenseitig unter. Sascha und ich hielten uns an den Händen und halfen so, dass die anderen in die nahenden Wellen springen konnten. Selbst Helen taute etwas auf. Sascha unterließ alle plumpen Berührungen bei Helen und zog höchstens mal eine Grimasse, wenn sie gerade wegschaute. Mein Fingerzeig war aber Mahnung genug, dass er es nicht übertrieb.

Erfrischt und ausgelassen liefen wir zu unserem Platz am Strand.

Michael ölte Katja ein und Helen setzten sich abwartend zu mir. Sascha warf sich in den heißen Sand, und wenn sich unsere Blicke trafen, sah ich sein breites Grinsen. Ich beugte mich zu ihm und zeigte ihm meinen Mittelfinger, worauf er nur müde lachte.

„Helen, ölst mich ein?“, fragte Sascha, doch Helen reagierte nicht weiter darauf. Also bat Sascha sie nochmals, doch auch das ignorierte sie beharrlich.

„Komm her“, sagte ich, doch plötzlich drehte sich Helen zu ihm. Ihr Oberteil rutschte weg, doch das störte sie nicht. Schließlich setzte sie sich sogar auf Sascha, der sogleich sein grölendes Lachen unterließ.

„Hier!“, sagte sie ernst, „das willst doch. Schau sie dir an oder noch besser, fass zu!“

Sascha lag mit offenem Mund erstaunt da und rührte sich nicht. Soviel Courage hatte ihr wohl keiner von uns zugetraut.

„Mann, wenn du nur ein bisschen vernünftiger wärst, man könnte man dich sogar mögen“, sagte sie und legte sich wieder zu mir. Das Oberteil ließ sie achtlos liegen. Ich legte mich in die Sonne und wartete, was noch passierte. Eigentlich schien Helen ihn zu mögen, doch das begriff Sascha anders.

Michael und Katja kicherten und küssten sich fortwährend, also schloss ich lieber die Augen.

Bei einem zweiten Badespaß im Meer sah ich, wie Sascha und Helen miteinander sprachen. Zwar verstand ich nichts, doch dann glaubte ich, dass es doch ganz gut aussah. So wie Helen lachte, wenn Sascha sie bespritzte, konnte es nur so sein. Auf dem Rückweg nahm Sascha sogar ihre Hand.

Für den Abend wollten alle in die Disco und ich fügte mich.

Wir trafen uns vor dem „Sky“ und Sascha hatte sogar schon den Arm um Helen gelegt. Ohne Begleitung zu sein, war mir nicht ungewohnt und im Grunde war es mir doch so am liebsten. Ich spendierte uns allen eine Runde Wodka Lemon, und wie wir zu fünft tanzten, fühlte ich mich ein wenig an das „Kuckucksei“ erinnert.

Die dritte Flasche Wodka Lemon machte mich regelrecht happy, dass ich mich sogar mutig genug fand, auf dem Heimweg vielleicht sogar ins „Coming In“ reinzuschauen. Dass ich „sturmfreie Bude“ hatte, behielt ich sowieso die ganze Zeit für mich.

Ich blieb noch gut eine Stunde. Während die Freunde unbekümmert tanzten, ging ich, ohne mich von ihnen zu verabschieden und entging so zugleich ihren neugierigen Fragen.

Ich fuhr die fünf Stationen mit dem Bus und stand entschlossen genug vor dem „Coming In“. Drinnen spielte Musik, und durch die geöffnete Eingangstür sah ich, dass es gut besucht war.

An der Bar waren auch Plätze frei. Die neugierigen Blicke nahm ich gelassen hin und setzte mich.

Ich bestellte mir eine Cola und schaute mich um. Im hinteren Teil war ein Großteil der Tische besetzt und auch am Billardtisch war reger Betrieb. Hin und wieder sah man zu mir, was mir als rein zufällig erschien. Die zwei Männer hinter dem Bartresen, die sich mit den Gästen unterhielten, waren schon mittleren Alters. Ich gestand mir ein, es mir doch anders vorgestellt zu haben, aber Irren war eben auch menschlich.

Mit der zweiten Colabestellung ging ich zur Toilette. Keiner folgte mir oder wartete schon auf der Toilette, um mich zum Sex zu bedrängen. Im Gegensatz zu den ganzen Informationen aus dem Internet, schlussfolgerte ich, schien das schwule Leben in der Stadt weniger gefahrvoll. Mich sprach keiner an und es blieb auch aus, dass mich jemand anmachte.

Nach Mitternacht leerte sich langsam das „Coming In“. Mehr oder weniger auffällig verabschiedete man sich und schlenderte hinaus.

Ohne große Worte oder Bemerkung kassierte mich der Mann ab und ich lief den Weg nach Hause.

„Hi Tom“, sprach mich plötzlich jemand an, der aus einem dunklen Hauseingang auf mich zukam.

Wenn mir auch nicht gleich sein Name einfiel, vom Chat her kannte ich doch sein Gesicht.

„Hey?!“

Er lachte kurz und erinnerte mich an „NordSven“.

Ah ja, dämmerte es mir, er hieß Sven. Genaueres fiel mir aber nicht mehr ein. Er war Mitte Zwanzig, studierte noch, der Rest war belanglos für mich. Als ich ihm schrieb, dass er für mich schon zu alt sei, war der Chat beendet.

„Wie geht’s dir?“, fragte er, und seine Freude, dass er mich wohl richtig erkannte, wirkte ehrlich auf mich.

„Ganz gut“, meinte ich und überlegte doch, wie ich ihn loswurde.

„Ich hatte Spätschicht und war hier noch was trinken“, entgegnete er und erklärte, dass er während der Semesterferien bei der Post jobbte.

„Aha“, erwiderte ich ruhig, „ich muss los, ist spät für mich.“

„Klar, verstehe …“

Sven trat unentschlossen hin und her. Ich reichte ihm die Hand, die er übersah und dafür fragte, wohin ich ginge. Ich zeigte nur die Straße hinunter. Sicher kannte er solche Gesten, wenn man es vermeiden wollte, dass man die Adresse nannte, und er nickte verlegen.

„Na dann, vielleicht schreiben wir nochmal.“

Svens Enttäuschung war deutlich und ich sagte schnell, dass wir das machen könnten.

„Dich jetzt auf ein Glas einzuladen, ist ja wohl aussichtslos“, bemerkte er leise. Das „Ja“ lag mir schon auf den Lippen, doch fand ich, wieso nicht. Selbst wenn Sven eine gewisse Absicht verfolgte, fühlte ich mich soweit gut, dass ich mich erfolgreich wehren könnte.

„Aber nur auf ein Glas?!“, vergewisserte ich mich.

„Versprochen.“

Während wir nebeneinander liefen, erzählte Sven, dass er schon lange keinen Besuch mehr hatte und entschuldigte gleich, dass vielleicht sein Zimmer nicht ganz aufgeräumt sei. Mit seinem Freund war er seit drei Wochen zerstritten, und das belaste ihn ziemlich. Seine Ein-Raum-Wohnung lag im Erdgeschoss eines Plattenbaus, und ich fand sie gar nicht unaufgeräumt. Die Einrichtung war typisch für einen Studenten. Spartanisch eben, auf das Nötigste beschränkt.

Sven wuselte zwischen Küche und Bad. Vielleicht war es Freude oder Nervosität, überlegte ich. Wie ich mich so umschaute, sah ich auch ein Poster von Justin Timberlake, was mir schon mal gefiel. Auch unter den CDs fand ich ein paar Scheiben.

„Soll ich was Spezielles einlegen?“, erkundigte sich Sven, der sich umgezogen hatte. Freundlich und richtig locker wirkte er auf mich. Ich sagte ihm, dass ich gern Timberlake oder Rosenstolz hörte, und Sven suchte sogleich in seiner Sammlung danach. Wir einigten uns auf Rosenstolz und Sven setzte sich zu mir. Ich fragte nach seinem Studium. Sven erzählte, dass er mindestens noch zwei Jahre brauche, um den Abschluss zu machen.

Wir tranken Cola und ich übernahm es selbst, mir ein paar Tropfen Wodka dazu einzuschenken.

„So Tom, jetzt mal zu dir“, sagte Sven, nachdem er einen Schluck getrunken hatte, „schon einen Freund gefunden?“

Ich wiegte den Kopf und grinste vielsagend. Dann erzählte ich, dass ich letztes Wochenende im „Kuckucksei“ war und mir auf dem Nachhauseweg jemand gefolgt sei.

„Könnte sein, dass ich ihn heute Abend wieder im ‚Kuckucksei’ treffe“, sagte ich. Noch war es vage für mich, denn über die Woche kamen mir schon Gedanken, dass das alles eher einmalig war.

„Hm, warum nicht. Sieht er gut aus?“, wollte Sven wissen.

„Ehrlich gesagt, ich sah ihn bislang nur klatschnass, und da sind mir vor allem seine abstehenden Ohren mehr in Erinnerung.“

Wir lachten darüber. Sven fand, mein Humor sei angenehm und ich richtig süß.

„Wieso bist mit deinen Freund zerstritten?“

Sven wechselte gleich seine Mine und wurde nachdenklich. Schließlich begann er damit, dass Karsten auch studiere und sie sich vor über einem Jahr im „Regenbogen“ kennengelernt hatten. Anfänglich gab es seinerseits Bedenken, da Karsten schon einen gewissen Ruf in der Szene besaß. Für Sven hieß das, dass Karsten kaum eine Gelegenheit ausließ. Doch war eben die Zuneigung größer, und sie taten sich zusammen. Mit der Zeit aber merkte er, dass Karsten fortwährend auch mit anderen noch was hatte und sie sich immer öfter stritten.

„Tja, ich bin wohl eben der häusliche Typ. Das ist mein Nachteil, damit muss ich leben“, schlussfolgerte Sven schwermütig und trank noch einen Schluck.

„Ich weiß gar nicht, wie das so mit einem Freund für mich wäre“, sagte ich ruhig, doch stellte ich es mir ähnlich vor.

Sven lächelte verlegen und sah mich eindringlich an.

„Ach Tom“, meinte er nachdenklich, „das kannst erst sagen, wenn du mehr Erfahrungen hast.“

Wir saßen schweigend nebeneinander. Ich dachte dabei an Christoph und ob ich ihn überhaupt heute Abend im „Kuckucksei“ antraf.

„Sven, ich müsste mal in …“, unterbrach ich unser Schweigen.

„Ja klar, vorn rechts.“

Während ich mir die Hände wusch und mich dabei im Spiegel besah, riet ich mir, dass ich endlich ging.

Sven hatte die Couch aufgeklappt und lag in seiner Bettwäsche.

„Hier Tom … möchtest mal Fotos von mir sehen?“, fragte er und klopfte einladend auf die Bettdecke neben sich.

„Ich wollte gehen.“

„Bitte. Nur einen Moment“, meinte er gelassen.

Ich setzte mich zu ihm und blätterte in dem Album. Sven erklärte dazu, wann die Fotos entstanden waren. Ebenso beschrieb er die damalige Situation oder Begebenheit, worüber es auch genug zu lachen gab.

Durch die Jalousie sah ich, dass es hell geworden war und wollte mich verabschieden.

„Du kannst doch hier schlafen“, sagte Sven einladend und rückte, als wollte er mir vermitteln, dass ich nichts befürchten müsste, an die Wand.

Ich war mir sicher, dass Vater vormittags anrief. Doch ich hatte auch mein Handy dabei, überlegte ich noch zweifelnd.

„Nur schlafen?!“, ermahnte ich ihn und Sven versprach es.

Ich ging ins Bad, wusch mich und löschte überall das Licht. Sven lag still und ich spürte meinen Herzschlag an den Schläfen.

„Gute Nacht“, sagte ich in die Stille.

„Schlaf gut“, hörte ich Sven und bald danach, dass er schlief.

Gegen zehn Uhr weckte mich das Handy.

„Tom?! Bist du nicht zu Hause?“, fragte Vater gleich und ich log, dass ich das Telefon nicht gehört hatte.

„Aha. Und alles in Ordnung?“, fragte er weiter, was ich bejahte. Vater teilte noch mit, wann er am nächsten Tag zurück sein wollte.

„OK Papa, schönen Gruß an deine Freundin“, sagte ich dazwischen. Sven sich drehte sich zu mir und schaute ziemlich verwundert. Vater erzählte ohne Unterlass vom gemeinsamen Essen und dem Konzert hinterher, dem schönem Wetter und der Schiffsfahrt auf dem See.

„Ja ja, doch das kannst mir morgen auch erzählen.“

Sven beugte sich an mein Handy und lachte darüber, als Vater gerade meinte, ich sollte die Ohren steif halten.

„Bye Papa und noch viel Spaß, bis morgen dann.“

Wir lachten beide darüber, ich aus dem Grund, weil ich sowieso was Steifes spürte.

„Guten Morgen, Tom“, sagte Sven und gab mir lässig einen Kuss auf die Wange.

„Moin moin, Sven.“

Ich fühlte mich ausgeschlafen und stand auf. Sven streckte sich hörbar, während ich ins Bad verschwand. Als ich mich anzog und er immer noch lag, meinte Sven wieder, dass ich richtig süß aussah. Ich schenkte ihm ein wortloses Lächeln.

„Dann mache ich mal Frühstück für uns“, sagte er und setzte sich auf.

„Darf ich mal deinen Laptop benutzen?“

„Ja, klar“, sagte Sven. Ihm machte es nichts aus, dass ich sah, was sich in seinem Slip abzeichnete.

Ich setzte mich an seinen Schreibtisch, schaltete den Laptop ein. Erwartungsvoll las ich, was Ben schrieb. Er schilderte hauptsächlich den Inhalt eines Buches von St. Lem, was er gerade las. Da ich das Buch nicht kannte, übersprang ich die weiteren Zeilen. Der Rest war das Übliche, was er gestern so mit seiner besten Freundin erlebte und dass er die nächste Woche auch mal in der Stadt sei, um Einkäufe zu tätigen.

Da keine weitere Nachrichten im Postfach waren, klickte ich den Chat weg.

Sven kam aus dem Bad. Sein Slip zeigte wieder normale Rundungen und er füllte die Kaffeemaschine.

Nebenbei erklärte er mir, wo ich das Geschirr und Besteck fand.

„Konntest schlafen?“, erkundigte er sich, was ich nickend bestätigte.

Beim Frühstück zeigte sich Sven entspannt und plauderte über seinen Job. Ich hingegen sprach über die Schulfreunde und dass Michael und Sascha sich mit Katja und Helen angefreundet hatten.

„Freunde sind wichtig“, entgegnete Sven, aber auch, dass er sich bei vielen seiner früheren Freunde geirrt hatte.

„Weist Tom, wenn man sie am nötigsten braucht und sie doch nur an sich denken, dann taugen sie nicht viel“, erklärte er mir, während er an seinem Toast kaute. Sven belegte es auch anhand von Beispielen.

„Denke schon, dass ich mich auf Michael und Sascha verlassen kann“, räumte ich ein.

„Sicher, nur wie sieht es aus, wenn sie wissen, dass du schwul bist?“

„Keine Ahnung, werde ich ja sehen“, meinte ich und dachte insbesondere an Sascha, dem Schwule nicht gerade sympathisch schienen.

Mit seinen Eltern, erklärte Sven, besaß er kaum noch Kontakt. Selten Anrufe, und Besuche gar nicht mehr. Deshalb sei er auch hierher zum Studieren gekommen. Sie schämten sich für ihn und im Dorf sah man sie schief an, waren die letzten Worte seines Vaters. Da sei es Zeit für ihn gewesen, dass er ging.

„Ist nun mal so, ich habe nur dieses Leben, ich kann nicht anders“, sagte Sven ernst.

Bis nach Mittag saßen wir in seiner kleinen Küche und redeten. Über den bevorstehenden CSD, wie auch darüber, dass er gern zum Angeln fuhr, wenn er sich ganz mies fühlte.

Es gab mir ein angenehmes Gefühl, wie wir so zusammen saßen und uns unbefangen unterhielten, doch schließlich war es Zeit für mich, dass ich ging.

An der Tür gab diesmal ich ihm einen Kuss auf die Wange und bedankte mich für alles.

„Wäre schön, wenn wir uns wieder schreiben“, sagte Sven und fügte hinzu, dass er sich riesig freute, wenn ich ihn auch wieder besuchte.

Ich bedankte mich bereits das zweite Mal bei ihm und versprach ihm, dass ich gern sein Angebot wahrnahm.

Als ich zur Haltestelle lief und mich umdrehte, schaute er mir nach und ich winkte kurz. Im Bus überlegte ich, dass ich im Chat zu vorschnell ein Urteil über Sven fällte.

Zu Hause nahm ich die Post aus dem Kasten und sortierte gleich die Werbung aus. Die Briefe galten nur Vater. Ich schaltete den Computer ein und nahm die Blockierung von „NordSven“ zurück.

Dann rief ich Michael an und erkundigte mich, wie der Rest des Abends war.

„Tom! Wir haben dich gesucht. Wieso biste einfach los?“

Ich überlegte kurz und erklärte, dass ich mich als überzählig fühlte.

„Hey?! Alles OK bei dir?“, wollte Michael wissen, was ich bestätigte und zugleich versicherte, dass die Aktion einmalig blieb.

Michael erzählte dann, dass Sascha wie ausgewechselt gewesen sei. Keine dummen Sprüche oder Bemerkungen. Katja meinte aber, dass Helen gern bestimmen tat und sie sich nicht wundern würde, wenn das Sascha mal nervte.

„Na, ich denke eher, der braucht das“, meinte Michael und wollte wissen, wie mein Tagesablauf aussah. Ich erfand, dass ich das Zimmer dringend aufzuräumen und ein paar Sachen zu waschen hatte.

Michael teilte mit, dass er mit Katja am Strand sei und wenn ich wollte, könnte ich ja nachkommen.

„OK, Micha, ich melde mich dann.“

Sascha rief Stunden später selbst an, doch wollte er nur wissen, ob ich vorbei kam.

„Geht nicht“, sagte ich, „bin am Waschen.“

„Alter! Soll ich dir was verraten?“, scherzte Sascha, „Ich kapiere immer noch nicht, wie die Weiber ticken.“

Dazu erklärte er, dass Helen ihn erst als Blödmann beschimpfte und sofort darauf wie wild küsste.

„Ist ganz normal, musst dir keine Sorgen machen“, witzelte ich.

„Ich soll Helen heute Abend ins Kino abholen. Meinst ich nehm auch Kondome mit?“

„Du bist echt ein Blödmann“, sagte ich lachend, „die hat man immer dabei.“

„Stimmt. Hab nur keine.“

„Dann beeil dich, der Discounter hat noch auf.“

„Alter!“, spaßte er noch, „… und wichs nicht so viel!“

„Arsch!“, gab ich zurück, doch Sascha hatte mich schon weggedrückt.

Mein Abendessen bestand zwar nur aus belegten Stullen, doch dafür war ich schnell fertig.

Danach nahm ich mir noch Zeit um Ben eine Mail zu schreiben. Dass sie diesmal etwas länger ausfiel, wunderte mich angesichts dessen, wie der gestrige Tag verlief, nicht.

Im Chat meldete sich Sven.

‚Hallo, mein Tom‘, so seine Begrüßung.

‚Hi Sven.‘

‚Bist schon nervös, wegen deinem Christoph?“

‚Bin noch nicht mal angezogen‘, scherzte ich.

‚Oh, das würde ich gern sehen‘, kam sogleich zurück.

‚Aha, sah ich selber heute Morgen schon. ‘

‚Ach, wo denn?‘

‚War bei einem jungen Mann, sehr sympathischer Typ auch‘, witzelte ich weiter.

‚Hm, vielleicht kenne ich den?‘

‚Denke schon … heißt Sven.‘

Nach einer kurzen Pause dankte Sven und fügte hinzu, wer mich als Freund hat, kann sich glücklich schätzen.

‚So viel Lob gleich … willst mich wohl echt verlegen machen.‘

‚Das meine ich ehrlich, mein Tom.‘

‚Danke dir, aber … also es wird langsam Zeit für mich. Das Outfit muss ich auch noch heraus suchen.‘

Sven wünschte mir Erfolg. Er selber wollte noch mal kurz ins „Coming In“. Könnte ja sein, dass sich sein Prinz dahin verirrte, ulkte er noch, ehe er off ging.

Unter der Dusche kamen mir Saschas letzte Worte in den Sinn. Was kümmerte es mich, was er mir riet, ich fand es in diesem Moment dringend notwendig.

Da ich das letzte Mal dunkle Sachen trug, entschied ich mich für Bluejeans und ein weißes Oberteil. Vor dem Spiegel bestätigte ich mir, dass man damit nie etwas Falsches anhatte.

In der Straßenbahn glaubte ich, dass einige der Jungs den gleichen Weg hatten. Zumindest gaben sie sich untereinander ziemlich vertraut und locker. Auch ihre Outfits ließen darauf schließen. Wie recht ich hatte, bewies, dass sie an der Haltestelle beim „Kuckucksei“ ausstiegen. Ich fuhr noch eine Station weiter und ging dann zurück.

Der Saal war diesmal übersichtlicher und nicht so voll wie vor einer Woche. Doch das konnte auch daran liegen, dass ich diesmal ziemlich früh hier war.

Am Tresen holte ich mir eine Cola und ging auch schon mal hinüber zum Kennenlernbereich. Nur zwei der Tische waren besetzt. Die Jungs waren völlig auf ihren jeweiligen Freund konzentriert und ich lief zurück. Von Christoph sah ich nichts, doch der Abend fing ja erst an. Auf der Galerie waren auch noch freie Tische. Also blieb ich meinem letzten Platz treu und schaute dem Treiben auf der Tanzfläche zu. Es mutete an, als tanzte man sich ein.

Manchmal schauten Jungs zu mir, doch das nahm ich als gewöhnlich hin. Erleichtert nahm ich aber schon mal zur Kenntnis, dass der Bastian ziemlich intensiv mit einem Jungen tanzte. Ich tippte, dass es nicht mehr lange dauerte und er mit ihm im Kennenlernbereich verschwand. Ihn zu beobachten vertrieb mir die Zeit und gab mir die Sicherheit, dass er nicht zu mir kam.

Mit meiner leeren Colaflasche ging ich zum Tresen. Wortlos wechselte die Bedienung die Flasche gegen eine volle und nahm mein Geld.

Plötzlich stieß mir jemand sanft in die Hüften. Ich hörte bereits sein Lachen, als ich mich noch bemühte, dass die Flasche nicht herunterfiel.

„Na Tom“, sagte Christoph und zeigte mir sein strahlendes Lächeln, „hast auf mich gewartet?“

„Ich habe mir eine Cola gekauft“, sagte ich ernst und sah, wie das Lächeln verflog.

Es war an mir darüber zu lächeln und da Christoph mich verstand, bekam ich wieder einen sanften Knuff.

„Wollen wir tanzen?“

„Wieder ungünstig“, sagte ich, und lachte, weil es beim letzten Mal auch so war.

Christoph holte sich auch eine Flasche und wir gingen hinüber in den Kennenlernbereich.

Abseits der bereits besetzten Tische nahmen wir Platz.

„Hier werden die Jungs angemacht“, flüsterte mir Christoph wissend zu.

„Weiß ich!“

„Dafür bist aber ziemlich reserviert oder besser ziemlich zickig bei Bastian gewesen.“

Entweder hatte er mich letzte Woche beobachtet oder man trug es ihm zu.

„Na und!“, sagte ich entschlossen und trank von der Cola.

„Hey, ist doch OK. Gefällt mir sogar. Ich bin auf den Arsch früher mal reingefallen“, äußerte Christoph gelassen. Schließlich klärte mich Christoph auf, dass Bastian alles flachlegte, was nicht schnell genug laufen kann.

Ich lachte und witzelte: „Angst habe ich keine, kann aber schnell laufen.“

„Genau!“, bestätigte Christoph, „… und ziemlich schnell sogar.“

Wir lachten noch darüber, als die Tür aufging. Christophs Lachen verschwand sogleich und er schaute mürrisch hinüber. Ein älterer Mann, im Sommeranzug, kam herbei und flötete ziemlich übertrieben: „Der Chrissi! Du hier?“

Christoph stand auf und sie teilten gegenseitig Bussis aus.

„Stellst mich vor?“, bat der Mann und ich erhob mich.

„Das ist Tom“, stellte mich Christoph vor, „Frank oder besser bekannt als der ‚Herzog von Büskow‘.“

Schon wollte Frank mich abküssen, doch war meine Hand schneller. Sanft nahm er sie und sah mich eindringlich prüfend an.

„Oh, ein junger unerfahrener Prinz noch“, säuselte er und bewegte lässig seine angehobene Hand.

Mich wunderte mehr das ganze Getue, ich tat es als Schmierenkomödie ab und unterdrückte ein drängendes Auflachen.

Wir setzten uns und Christoph wechselte mit dem Mann noch formale Worte über das beiderseitige Befinden und wer was so trieb. Da ich von allem sowieso nichts begriff, überlegte ich, ob ich nicht lieber ging. Hin und wieder sah die ältere Hoheit zu mir. Sein Blick wirkte auf mich, als schätzte er mich herablassend ein.

„Na ich merke schon“, sagte der alte Mann, „ihr wollt euch beschnuppern. Dann werde ich mal zu meinem Harem eilen.“

Mit einem Adieu entschwand die graue ‚Hoheit‘ und ich verkniff mir nicht länger das Lachen.

„Wie hieß der Film, der soeben spielte?“, fragte ich dazwischen und mein Lachen übertrug auf Christoph.

„Komm jetzt tanzen“, forderte mich Christoph auf und zog mich mit.

Irgendwo zwischen den Tanzenden fanden wir eine Stelle und Christoph gab sich gelassen der Musik hin.

Als mich Christoph später bei einem Titel von Rosenstolz in die Arme nahm, schien mir sein naher warmer Körper bereits vertraut. Ich mochte den Geruch seiner sonnengebräunten Haut. Ich vergaß meine Hemmungen und legte den Arm um seine Schultern. Gleichmäßig bewegten wir uns. Mein Herz schlug heftig und mein Puls raste.

Keiner der tanzenden Jungs beachtete uns und ich sah zu, wie sich manche küssten oder ihre Hände über die nackten Rücken des Partners strichen. Christoph legte den Kopf zurück, sah mich lächelnd an und näherte sich verdächtig zu mir. Fast hätten sich unsere Lippen berührt. Im letzten Moment drehte ich den Kopf zur Seite. Sein Kuss traf meinen Nacken.

„Ist schon OK“, sagte Christoph und küsste nochmals meinen Nacken, „ich mag dich, Tom.“

Christoph zog mich von der Tanzfläche und weiter zur Bar.

Mit zwei Gläsern gingen wir nach nebenan und setzten uns. Ich mochte den Wodka Lemon, wie auch seine Nähe. Seine Hände ebenso, die meine hielten, und wie er mich so mit seinen bläulich schimmerten Augen ansah. Christoph löste seinen Zopf und strich sich kurz durch die blonden Haare.

An den umstehenden Tischen war bereits reges Treiben, was mir aber nicht mehr wichtig vorkam.

„Ich hatte schon Angst, du würdest nicht hier sein“, sagte er leise.

„Ich weniger als letzte Woche“, sagte ich ruhig und Christophs Grinsen zeigte, dass er mich verstand.

Was interessierte mich, wenn man uns so sah, ich war einfach glücklich. Wir lehnten uns zurück und hielten uns bei den Händen.

Christoph wollte wissen, wie ich die Woche verbrachte. Ich erzählte ihm von meinen Freunden und was wir zusammen unternommen hatten. Nur seien deren Probleme nicht meine, worüber ich aber zufrieden sei.

„Und du?“, wollte ich wissen.

„Na ja, ich spiele manchmal Beach-Volleyball und ansonsten …“, sagte er ruhig, „ … an dich gedacht … und einfach nur rumgehangen.“

Ich lachte und hätte gern gewusst, was er von mir gedacht hatte. Christoph wehrte ab, versprach aber, dass er es mir später mal erzählte. Auf meine Nachfrage, belehrte er mich, dass man doch nicht gleich alle Geheimnisse preisgab. Stimmt, würde ich auch nicht machen. Dass ich verschwieg, ebenso im Hochhaus zu wohnen, hielt ich im Augenblick noch für das Geringste. Dann waren da noch der rege E-Mail-Austausch mit Ben, der mittlerweile bei mir den Wunsch hervorrief ihn gern mal zu treffen. Doch das Wichtigste war im Moment wohl, dass ich die letzte Nacht bei Sven verbracht hatte. Wenn auch nichts passiert war, so fand ich doch unangebracht, dass ich mit Christoph darüber sprach.

„Bist woanders?“, fragte mich Christoph, da ich lange nichts sagte.

„Nein, am Einschlafen“, entgegnete ich lachend.

„Na los, dann müssen wir tanzen!“, meint er und erhob sich.

Hinter Christoph bauten sich zwei Jungs auf und baten ihn nachdrücklich, dass er bei der alten Hoheit erschien.

„Jetzt nicht, später …“, sagte Christoph ernst.

Einer der Jungs wiederholte, was ihn aufgetragen war und Christoph gab nach.

„Warte hier bitte“, bat er mich und ich nickte.

Verwundert schaute ich Christoph und den beiden nach. Anscheinend besaß der ‚Herzog‘ soviel Autorität, dass man ihm lieber nicht widersprach. Ich trank meinen Wodka Lemon aus und ging an die Bar, wo ich mir eine Cola bestellte.

Von hier aus sah ich, dass Christoph ziemlich heftig auf die ‚Hoheit‘ einredete. Der blieb gelassen, nippte an seinem Cocktail und die beiden Jungs saßen ruhig an seiner Seite.

Ich war mir sicher, dass Christoph es mir später erklärte und ging zurück in den Nebenraum. Unser Tisch war inzwischen besetzt und die Boys daran ganz schön lüstern miteinander beschäftigt. Ich wartete an der Treppe zur Galerie. Im Saal schien man sich an Ausgelassenheit zu überbieten, und das Schauspiel lenkte mich ab.

„Wollen wir gehen?“, fragte mich plötzlich Christoph, womit ich einverstanden war. Draußen empfing uns eine angenehme Nachtwärme. Am Himmel zogen vom Mond beschienene dunkelgraue Wolken auf. Ich atmete durch und merkte, dass Christoph ziemlich beschäftigt wirkte.

Wortlos folgte er mir zur Haltestelle. Dass der Discobesuch ziemlich abrupt endete, störte mich nicht, denn wichtig blieb für mich, dass ich mit Christoph zusammen war.

Die nächste Straßenbahn fuhr in einer halben Stunde, was Christoph wortlos hinnahm.

Wir setzten uns. Ich betrachtete Christoph, der sehr vertieft wirkte. Leider verbargen die schulterlangen Haare sein Gesicht. Mir war schon klar, dass es bei dem Gespräch nicht um irgendeine Belanglosigkeit ging. Doch sollte er nicht von mir denken, ich wäre neugierig.

„Probleme?“, fragte ich vorsichtig.

Er nickte stumm und blieb ansonsten regungslos.

„Möchtest darüber reden?

Christoph brauchte noch eine Weile und sprach dann davon, dass er eine Dummheit begangen hatte und die wollte er nun ungeschehen machen. Welche, darüber sagte er nichts und ich traute mich nicht, danach zu fragen.

„Wollen wir laufen?“, fragte ich mehr aus Verlegenheit, denn mir fiel nichts ein, womit ich Christoph aufmuntern konnte.

„Hm, vielleicht ganz gut, oder?“

Ich nahm seine Hand und zog ihn mit. Wie wir rannten, wechselten wir, wer wen mitzog und Christoph fand auch sein Lachen wieder. Als wir die zweite Haltestelle passierten, konnte Christoph nicht mehr und blieb zurück.

Ich stoppte und ging langsam und durchatmend auf ihn zu.

„Du solltest … bei Olympia … mitmachen“, schnaubte er und rang nach Luft.

Wir trotteten langsam weiter und ich erzählte, dass ich früher viel mit meinen Vater gelaufen war.

„Meinen kenne ich nur arbeiten“, beschrieb Christoph seinen Vater, „ist jetzt öfters sogar die Wochenenden weg.“

„Was macht er denn?“

„Na ja, früher besaß er eine kleine Firma. Als die Pleite kam, war auch gleich alles futsch. Sogar aus unserem Haus mussten wir raus. Jetzt arbeitet er eben als Bauleiter in Dänemark und vielleicht ziehen wir da auch ganz hin“, berichtete Christoph und man merkte ihm die Traurigkeit darüber an.

Am Luisenplatz setzten wir uns in die menschenleere Haltestelle. Christoph holte wieder Luft.

„Ich denke auch, mein Freund hat deshalb Schluss gemacht“, erklärte Christoph weiter.

„Gleich als wir hierher zogen, machte er sich rar. Wie ich ihn zur Rede stellte, sagte er tatsächlich doch, so wie ich jetzt lebte, passten wir nicht zusammen“, sagte Christoph grüblerisch, „na ja, sowas gibt’s eben.“

Nach einer Pause fügte er hinzu: „Ich hasse diesen Wohnklotz!“

Ich schaute zum meinem früheren „Mikrokosmos“ hinüber, und wenn mir auch nicht alles gefiel, hassen konnte ich ihn nicht.

Während ich mit den Füßen scharrte und Christoph noch immer nachdenklich still neben mir saß, kam die Straßenbahn.

„Gehen wir das letzte Stück?“, fragte er mich und stand auf.

„Klar. Ich fange schon zu wurzeln an“, gab ich zurück und lachte selbst über mich.

Vor dem Hochhauseingang fragte Christoph, ob ich gleich nach Hause wollte.

„Ich bin zu Hause“, sagte ich und klärte ihn auf.

„Du musst ja mächtig Angst vor mir haben“, bemerkte Christoph sachlich.

Doch Christoph lächelte schon wieder, knuffte mich und schaute dann hinauf, um die Höhe einzuschätzen.

Während wir auf den Fahrstuhl warteten, einigten wir uns darauf, dass jeder zu sich fuhr. Im Zweiten, wo Christoph ausstieg, tauschten wir die Handynummern aus. Christoph wollte noch unbedingt wissen, wie lange ich so schlief und ob wir uns hinterher zum Eis essen trafen. Ich versprach, ihn gleich anzurufen und wünschte ihm, sicher schon zum fünften Mal, eine gute Nacht.

Mehrmals hielt ich die Türen des Fahrstuhls offen. Zwischen reichlich Gekicher, über ein paar zweideutige Bemerkungen, überließ ich es Christoph, dass er mir noch einen kurzen Kuss gab.

Ich ließ die Türen los und sprang noch rechtzeitig hinein.

Mit jeder Etage fühlte ich mich regelrecht beflügelt und befreit zugleich. Immer wieder las ich seine Handynummer auf meinem Unterarm.

Ich stand am Fenster und schaute in den Morgen. Zum Schlafen war ich viel zu aufgeregt. Meine Gedanken kreisten fortwährend um Christoph. Mir fiel sein Gespräch mit der alten ‚Hoheit‘ ein. Welche Dummheit konnte er getan haben, dass er sie unbedingt rückgängig machen wollte? Über meine Dummheiten konnte ich nur noch lachen und die paar Peinlichkeiten in meinem Leben, damit konnte ich durchaus leben. Also musste es schon eine schlimme Dummheit sein, die ihn sorgte. Dass er nicht darüber sprach hieße ja keineswegs, dass er mir nicht vertraute. Ich fand es schon komisch, das sich jemand als ‚Herzog von …‘ bezeichnete. Die Art seiner Bewegungen stieß mich ebenso ab wie die Art der beiden Jungs, die sich dem alten Sack gegenüber als hörig verhielten.

Das Handy klingelte.

„Kannst du auch nicht schlafen?“, meldete sich Christoph.

„Doch!“, sagte ich, bestrebt nicht erfreut zu lachen.

„Hm, dann schlaf gut weiter.“

„Du auch, Chrissi.“

„Bitte Tom“, klang Christoph entschiedener, „vergiss den Namen, bitte!“

„Ja klar, entschuldige“, sagte ich sofort.

Christoph blieb still.

„Schläfst schon?“, fragte ich in die Stille.

„Nein, natürlich nicht“, klang es von ihm schon versöhnlich, „ich muss immer an vorhin denken.“

„Vorhin?“

„Ach Tom, bist du nie romantisch?“

„Mal überlegen“, scherzte ich locker, „mit Kerze und Wein, als Hosenöffner? Oder Strand, nackt im Sand räkeln und Sonnenuntergang?“

Christoph lachte und meinte, dass er sich sowas vorstellte und vor allem mit mir zusammen. Auch, dass man sich an der Fahrstuhltür küsste. Mir huschte ein besinnliches Lächeln über das Gesicht.

„Damit willst mir doch nur an die Wäsche. Nein nein, so schnell ist der Tom nicht“, ulkte ich weiter.

„Wäsche? Was hast du im Bett an?“

Da ich nicht lügen wollte, gab ich mich geschlagen.

„Bin noch gar nicht im Bett.“

„Ich auch nicht. Was machst du?“, fragte Christoph.

„Stehe am Fenster.“

Christoph wollte wissen, was ich sah. Ich beschrieb ihm den Ausblick aus dem Achtzehnten.

„Ich sehe hier Garagen, Müllcontainer und …“, gab er zurück.

„Was noch?“

Er erklärte ruhig, dass er was Ungewöhnliches zwischen den Containern sah. Schließlich meinte er, dass es durchaus ein toter Hund oder eine tote Katze sein konnte. Ich verdrehte grinsend die Augen.

Dann erkundigte er sich, ob es bei mir oben schon hell sei, worüber ich laut kichern musste.

„Sicher, und wenn ich mich hinausbeuge, dann sehe ich, dass das Licht bis nach unten reicht.“

„Hier ist es dunkel“, entgegnete Christoph ernst, „Scheiße! Ich habe ja die Jalousie noch unten.“

Wir kicherten hin und her.

„Dann gehe ich mal endlich ins Bett“, plauderte ich locker weiter, doch Christoph wollte, dass ich es ihm beschrieb.

„Nur wenn du auch“, gab ich zurück.

Christoph war nur leise zu hören, wie er meinte, dass er sich das Shirt auszog. Ich tat es ihm gleich.

„Tom?“

„Ja?“

„Darf ich bei dir schlafen?“, fragte er lieb.

Ich hielt erschrocken die Hand auf das Handy. Was sollte ich sagen? Ja, weil ich mich sowieso schon danach sehne? Nein, weil ich Angst vor einer Blamage habe? Christoph war nicht Sven.

„Bin auch ganz brav“, sagte er, im Ton eines kleinen Kindes.

Christoph brachte mich zwar zum Lachen, doch die Beklommenheit blieb.

„Lieber nicht“, sagte ich sachlich.

Christoph seufzte laut und schien zutiefst traurig. Nochmals versicherte er mir, dass er mich damit nicht überrumpeln wollte. Zumindest wisse er, dass es mir auch gefallen hätte, doch ich noch nicht soweit sei.

„Wohnung 12, Etage weißt ja“, sagte ich ruhig und zweifelte sogleich, ob ich in der Wirklichkeit war.

„Echt jetzt?“, hörte ich Christophs Stimme erstaunt fragen.

„Ja.“

Als es an der Tür klingelte, erschrak ich mächtig. So laut hatte ich das Klingeln noch nie wahrgenommen. Für einen Moment dachte ich an Vater. Ich verwehrte mir weitere Gedanken in diese Richtung und öffnete die Tür.

Christoph stand, die Hände in den Taschen seiner Jeans und mit hochgezogenen Schultern, vor mir und ich bat ihn herein.

Er drückte hinter sich die Tür ins Schloss. Der Kuss fiel diesmal länger und inniger aus. Ich hielt ihn fest in meinen Armen.

Auf meinen Bett liegend, drückte ich mich fest an ihn und gierte nach seinem Mund. Christoph beruhigte mich sanft und bedeckte meine Brust mit unzähligen Küssen. Schweratmend gab ich mich den Liebkosungen hin.

„Was machst du?“, fragte ich unsicher, als er mir das Shirt über den Kopf zog.

„Ich will in dich hineinhören.“

Ich lachte laut und Christoph erhob den Kopf.

„Nicht so laut, bitte.“

Die Augenlider fühlten sich bleiern an und ich hielt die Augen geschlossen. Wie lange wir schon so beieinander auf dem Bett lagen, war mir ohnedies egal. Nur Christoph schien noch hellwach, denn seine Hand kreiste sanft über meinen Bauch und meine Brust. Ich spielte mit seinen Haaren und hielt an dem Schwebezustand fest.

„Magst nicht schlafen?“, fragte ich leise.

„Hm, machen wir das nicht schon?“

„Ich meine richtig, wie man eben schläft.“

„Echt? So richtig?“, vergewisserte er sich und ich fühlte förmlich, dass er dabei lächelte.

„Christoph“, mahnte ich, „ich glaub sowieso, dass ich schon träume.“

Christoph drehte seinen Kopf zu mir und küsste meine Lippen.

„Tommy. Das ist kein Traum.“

Obwohl es mir schwer fiel, stand ich auf und warf auch die weiteren Sachen über den Stuhl. Christoph tat es mir gleich und als ich ihn bat, dass er an der Wand lag, hielt er mir einladend die Bettdecke hoch.

Ich kuschelte mich an ihn und während ich in den Schlaf sank, spürte ich wohlig seinen Arm.

„Tom!“

Ich hörte von weit her meinen Namen rufen. Wieder rief man ihn leise und ich suchte nach dem Rufer.

„Tom!“, rief Christoph leise und rüttelte an meiner Schulter.

„Nicht jetzt. Bin gerade erst eingeschlafen“, sagte ich müde und suchte nach der wohltuenden Stille.

„Tom!“, rief Christoph flehend, „da stand jemand in der Tür.“

„Na und …“, gab ich mürrisch zurück.

„Ich glaub, dein Vater!“

Christoph war aufgesprungen und strich sich nervös durch die Haare.

„Scheiße … Scheiße!“, zischte ich, „wie spät?!“

„Gleich drei Uhr nachmittags“, schätzte Christoph vorsichtig.

Wir zogen uns hastig an. Während Christoph wissen wollte, wie er hier unbeschadet raus kam, packten mich panikartig ziemlich viele Fragen und Zweifel zugleich.

„Du wartest erstmal hier!“, befahl ich Christoph. Ich erklärte ihm meine Strategie und verwarf sie sogleich wieder.

„Am besten, du gehst einfach. Ich klär das!“, entschied ich schließlich und wartete ungeduldig an der Tür. Christoph war immer noch unschlüssig.

„Was nun?!“, forderte ich ihn auf.

Christoph nickte nur. Im Flur war es still und ich ging voran. Vater stand am Wohnzimmerfenster und ich schob Christoph an mir vorbei hinaus. Der murmelte noch sowas wie einen Gruß und ich schloss die Wohnungstür. Mein Herz schlug heftig. Wie erklärte ich es ihm nur? Die Stille verstärkte meine Beklemmung noch mehr.

Ich stand im Türrahmen und suchte nach den geeigneten Worten.

„Wie war es?“, fragte ich schließlich. Ich fand es zwar zugleich blöd von mir, doch immerhin war es ein Anfang.

„Erklär’ mir lieber, was das soll!“, sagte Vater ernst und schaute weiter ins Freie.

„Das war Christoph“, erwiderte ich stockend, „ein Freund … mein Freund … also …“

Vater blieb stumm. Wie er so da stand, die Arme fest vor die Brust verschränkt, wirkte er unberechenbar, ja sogar fremd. Wenn er sonst ernsthaft mit mir sprach, dann schaute er mich wenigstens dabei an und wir diskutierten die Sache aus. So aber ignorierte er meine Anwesenheit. Ich rührte mich nicht von der Stelle und meine Beklommenheit vermischte sich damit, dass Vaters Regungslosigkeit mich aufbrachte.

„Ich mag ihn … sehr sogar!“, brachte ich wütend heraus.

Soll er doch weiter ins Freie schauen, ich kläre es so oder so, entschloss ich.

„Sag’ doch auch mal was!“, forderte ich Vater auf.

„Du bist noch lange nicht in der Position, was zu verlangen!“

„OK“, erwiderte ich ernst, „dann eben nicht!“

Am liebsten wäre ich in mein Zimmer gelaufen und hätte mich eingeschlossen. Nur wäre es dann unausgesprochen geblieben, was seit langem schon mein Gewissen belastete.

„Ich will auch nichts verlangen!“, rief ich Vater zu, „aber … ich bin … schwul!“

Ich wartete, doch Vater sagte nichts. Wütend riss ich die Tür auf und warf sie laut ins Schloss. Frau Helbig kam gerade aus ihrer Wohnung und trug einen Kuchenteller. Als sie mich sah, blickte sie mich unentschlossen an. Sicher wusste sie alles und hatte auch den Knall der Tür wahr genommen, überlegte ich. Mein Herz schlug so heftig, dass ich nichts sagen konnte. Wortlos lief ich vorbei und wollte nur noch weg.

Im Treppenhaus hielt ich die Tränen nicht mehr zurück. Ich lehnte mich an die Wand und spürte wie der lastende Druck wich. Ich fühlte elend. Elend, weil ich es endlich ausgesprochen hatte, weil ich Vater damit enttäuschte, weil ich nun mal anders bin. Ich wischte mir über das Gesicht. Ich beruhigte mich und rief Christoph an.

„Tom, komm erst mal zu mir“, sagte er, als ich ihm kurz die Situation erklärte.

„OK.“

Seit einer Ewigkeit nahm ich die Treppe. Hier konnte ich wenigstens sicher sein, dass mich keiner sah.

Es ging schließlich keinem etwas an, dass ich meiner Traurigkeit freien Lauf ließ. Mehrmals holte ich Luft und klingelte.

„Ist für mich!“, hörte ich Christoph.

„Komm rein“, bat er mich und wir gingen gleich in sein Zimmer.

Ich setzte mich auf seine Liege und verbarg mein Gesicht vor ihm. Tröstend legte er mir den Arm um den Hals und strich sanft meinen Nacken.

„Ach Tom, das wird schon wieder“, redete Christoph beruhigend auf mich ein.

Ich drückte mich an ihn und heulte los. Seine Nähe gab mir das Vertrauen, dass ich meine Gefühle nicht weiter isolierte.

„Tom, Lieber“, beruhigte mich Christoph und küsste meinen Hals.

Nur langsam fasste ich mich. Ich war von mir enttäuscht, dass ich weggelaufen war und nicht standhaft blieb. Christoph verglich, was ich ihm erzählte, mit seinem Coming Out. Nur gäbe es auch immer Unterschiede, gab er zu.

Ich seufzte wieder, und als ich sagte, dass es ja nun raus wäre, fühlte ich mich etwas erleichtert.

Es klopfte an der Tür und ich schob Christoph ruckartig weg.

„Entschuldigt Jungs“, sagte Christophs Mutter freundlich und schaute sogleich besorgt, wie sie mich verheult dasitzen sah. Es machte auch nichts mehr aus, sagte ich mir und erhob mich.

„Sie sind sicher Tom, nicht?“, erkundigte sie sich besorgt und reichte mir die Hand.

„Ja“, brachte ich hervor. Christoph hatte sie wohl über mich informiert.

„Möchtet ihr Kuchen und Kaffee?“, fragte sie wieder freundlich.

„Ich komme mit und helfe.“ Christoph sprang auf und geleitete sie in die Küche. Mit Tassen und einem Teller frischgebackenem Streuselkuchen kam er zurück. Ich verschwand kurz im Bad und erfrischte mein Gesicht.

Der Appetit kam beim Essen und wir verputzten ruck zuck die Stücken. Christophs Zimmer war mehr eine Ansammlung von unzähligen Büchern, dazwischen CDs und DVDs und wo mal kein Regal war, sah man Poster von Boygroups. Ziemlich eindeutig, urteilte ich, dass er sich für Jungs erwärmte.

Neben dem Computermonitor hingen ein paar Fotos, auf denen verschiedene Jungs abgebildet waren. Sicher Freunde von ihm, befand ich, fragte aber nicht danach.

„Wie findest das Zimmer?“, wollte Christoph wissen und ich sagte ihm, dass es durchaus was hat.

Lachend setzte er sich zu mir, knuffte mich und meinte schließlich, dass ich schon wieder ganz der alte sei.

„Na, solltest erst mal sehen, wenn ich aufgeräumt habe.“

„Ist es nicht?“

„Hm, mach’ bloß nicht den Schrank auf“, meinte er und gab mir einen Kuss.

„Schlampe“, sagte ich und konnte schon wieder lachen, als er mich umarmte.

Christoph legte eine der Kuschelrock-CDs ein und wir lauschten der Musik. Ich fand mich stark genug, dass ich die noch kommenden Auseinandersetzungen mit Vater überstand. Der Anfang war gemacht und unumkehrbar für mich.

„Wer ist das auf den Bildern da?“, fragte ich Christoph.

„Hm, einer ist mein Ex und die Anderen kenne ich soweit gut, dass ich sie nicht missen möchte.“

Ich stand auf und setzte mich an den Computer. Manche der Jungs schienen sich in ihrem Äußeren zu ähneln, doch ich konnte mich bei keinem entscheiden, wer der Ex sei.

„Welcher ist dein Exfreund?“

„Der links oben“, sagte Christoph gelassen.

Ich sah einen dunkelhaarigen Typen, der irgendwo auf einer Terrasse saß. Die Oberarme ließen auf eine sportliche Figur schließen.

„Aha“, bemerkte ich lediglich und Christoph hielt plötzlich eine Digitalkamera in der Hand.

„Bleib so“, sagte er, und es klickte mehrmals.

„Bitte nicht“, wehrte ich mich und hielt die Hand vors Gesicht.

Christoph hörte nicht auf, lachte nur und gab Anweisungen.

„Jetzt setz dich aufs Bett, bitte.“

Da ich ihn sowieso nicht mehr hindern konnte, tat ich es, und die Kamera klickte drauf los.

„Jetzt noch zusammen“, und schon war Christoph neben mir und hielt die Kamera vor uns.

Wie sein Computer hochfuhr, sah ich ein unscharfes Foto auf seinem Desktop. Ich erkannte das „Kuckucksei“.

„Na, schon gefunden?“, fragte Christoph lächelnd.

„Was?“

„Nicht was, sondern dich“, bemerkte er erwartungsvoll und da ich nichts fand, tippte er auf einen der tanzenden Jungs.

„Das bist du.“

Ich erkannte mein T-Shirt. Beim Rest brauchte ich schon Fantasie, weil der unscharf war.

Christoph überspielte die Fotos und wir lachten, weil die Grimassen ziemlich heftig ausfielen.

Recht wählerisch suchte Christoph ein Bild von mir aus und legte es auf den Desktop ab.

„Danke“, sagte er zufrieden und gab mir einen Kuss.

Dann löste er das Bild seines Ex von der Pinnwand und zerriss es.

Die Zeit verging und ich blieb zum Abendessen. Seine Mutter bat uns in die Küche, wo schon der Tisch gedeckt war.

„Geht’s wieder Tom?“, erkundigte sie sich und ich entschuldigte mich.

„Sie müssen sich doch nicht entschuldigen. Wir haben damals alle erst gelitten und es gelernt zu akzeptieren.“

Sie sagte es ruhig und gelassen, was mir die Zuversicht gab, dass Vater es auch mal tat. Christoph wurde nur einen Augenblick ernst, als sie von Rico sprach, den sie gern mochte. Doch sie verstand auch, wenn man in unserem Alter sich nicht gleich für immer bindet. Man probiert sich heutzutage eben aus, meinte sie.

„Trotzdem mag ich es nicht, wenn man wie eine Biene von Blüte zu Blüte fliegt“, räumte Christoph ein.

„Weiß ich doch, Chris“, beruhigte sie gelassen. Dann sprach sie von ihrem Mann, der dabei sei, die Familie zu überzeugen, dass man woanders auch leben kann. Chris soll aber erstmal im nächsten Jahr sein Abitur machen, soviel Zeit müsse sein.

Natürlich erkundigte sie sich, was ich machte, und ich gab bereitwillig Auskunft.

„Und was machen Ihre Eltern?“

„Mein Vater arbeitet bei der Stadt. Meine Mutter ist bereits tot“, sagte ich und Christophs Mutter gab mir zu verstehen, dass es ihr leid tat.

„Ich erinnere mich gar nicht mehr richtig an sie, ist eben schon sehr lange her“, erwähnte ich und ich ließ nicht unerwähnt, dass Vater wohl fest mit einer Frau befreundet sei.

„Ja klar“, meinte sie locker, „keiner kann ewig allein bleiben.“

Christophs Mutter brachte mich darauf, dass ich vielleicht mit Frau Helbig sprach. Doch das hielt ich vorerst nur für eine vage Möglichkeit.

Wir blieben in der Küche. Christoph räumte wie selbstverständlich das Geschirr in die Maschine und holte dann „Spiel des Wissens“ auf den Tisch. Mal lag Christoph vorn, dann seine Mutter. Schließlich bat ich seine Mutter, mich zu duzen, was mir lieber wäre.

Als es dreiundzwanzig Uhr war, verabschiedete und bedankt ich mich bei Christophs Mutter.

„Tom, du bist immer willkommen“, sagte sie freundlich und gab mir sogar einen Kuss auf die Wange.

Vor dem Fahrstuhl kicherten wir und Christoph knuffte mich zweimal, weil er meinte, ich hätte noch ein Herz erobert. Da wir allein waren, küssten wir uns ungezwungen.

„Soll ich dich wecken?“, fragte Christoph lachend.

„Nicht vor Mittag, bitte.“

Christoph blieb in der Fahrstuhltür stehen, und ich gab ihm noch einen Kuss. Dann schubste ich ihn zurück und lachte, wie er vergeblich versuchte, die Tür wieder aufzudrücken.

Vor der Wohnung holte ich tief Luft und schloss auf. Im Wohnzimmer saß Vater und schaute noch fern.

Auf mein „Hi“ bekam ich keine Antwort, und so ging ich in mein Zimmer.

Ich fuhr den Computer hoch. Es war längst Zeit, dass ich Ben schrieb. Mehrmals setzte ich an, doch so richtig wollten mir die passenden Worte nicht einfallen.

Schließlich berichtete ich der Reihe nach und sendete die Mail ab.

Da sich kein anderer User bei mir meldete, klickte ich mich aus dem Chat. Mich interessierten die Seiten, wo andere User über ihre Coming Out schrieben, und ich las mir ein paar Beiträge durch.

Ich kam zu dem Schluss, dass die Erfahrungen so unterschiedlich wie das Leben überhaupt waren.

Anders konnte es auch nicht sein, urteilte ich. Doch zumindest beruhigte mich, dass die meisten von letztendlich positiven Ergebnissen berichteten. Selbst wollte ich mich nicht beteiligen.

Schließlich wunderte ich mich, dass weder Michael noch Sascha mich angerufen hatten, doch die gingen sicher ihren Freuden nach.

Zum Duschen brauchte ich diesmal nicht so lange und ich legte mich ins Bett. Ich gönnte mir genussvolle Gedanken an Christoph.

Durch das Surren des Handys und die hell herein scheinende Sonne wusste ich, dass ich traumlos durchgeschlafen hatte.

„Hm?!“

„Frühstück am Mittag!“, rief Christoph lachend und forderte mich auf, an die Tür zu kommen.

„Oh Mann“, klagte ich, „lass mich schlafen.“

„Schlafmütze, los hoch jetzt und mach auf!“

„Moment noch“, brummte ich und stand auf.

Vater war längst auf Arbeit, und in der Küche sah ich einen Zettel liegen.

Ich öffnete Christoph die Tür, der mich gleich umarmte und küsste.

„Oh oh, was spüre ich da?“, fragte er belustigt.

„Hände weg!“, sagte ich und verschwand im Bad.

Selbst als ich das Wasser kalt stellte, es half nichts.

Beim Abtrocknen fühlte mich erleichtert genug und ging nackt in mein Zimmer, wo ich mir neue Wäsche aus dem Schrank nahm und anzog.

Christoph beäugte mich zwar, doch blieb er ruhig sitzen. Ihn war es sicher nicht fremd, wie er mich nackt sah und er respektierte eben meine Einstellung.

Auf dem Zettel in der Küche las ich: „Einkäufe erledige ich.“

Kein „lieber Tom“ und kein „Gruß Vater“ wie sonst, was mich zwar enttäuschte, doch erinnerte es mich, dass sicher noch manche Diskussion bevorstand. Ich knüllte den Zettel zusammen und warf ihn in den Mülleimer.

„Koche doch schon mal Kaffee“, bat ich Christoph und lief in mein Zimmer.

Ich nahm mir ein Blatt Papier und schrieb darauf ‚Hier beginnt die schwule Zone!‘ und klebte sie an meine Tür. Zufrieden mit mir zeigte ich es Christoph, der es auch als gute Idee befand.

Nach dem kurzen Frühstück las ich Bens Mail. Der gratulierte mir zu Christoph und wünschte mir viel Glück mit ihm. Natürlich würde er sich freuen, wenn wir uns mal in der Stadt trafen. Wenn mir das jetzt nicht möglich sei, verstände er das durchaus. Überhaupt wünschte er sich, dass wir eine Pause in unserem Mailaustausch einlegten, da man später wieder mehr zu berichten hätte. Das hieß für mich, er wollte den Kontakt beenden, und ich schrieb das auch in meine Antwort.

„Punkt und aus“, sagte ich zu Christoph, der meinte, dass Neid unter Schwulen weit verbreitet sei.

Danach packte ich Handtuch und Badeshorts ein. Christoph und ich fuhren zum Strand. Unterwegs rief Michael an und wollte wissen, ob ich überhaupt noch lebte. Ich bejahte es und wir verabredeten, dass wir abends weiter telefonierten.

Christoph lehnte gelassen auf der Sporttasche und beobachtete mich lächelnd. Manchmal drehte ich mich um, doch keiner der anderen Fahrgäste beachtete uns sonderlich.

Am Strand liefen wir am sonstigen Zugang vorbei. Ich nahm wortlos an, dass Christoph eine ruhige Stelle für uns suchte.

Als wir Stadt längst hinter uns gelassen hatten, bog er in einen unbefestigten Zugang ein.

Ich stapfte ihm durch den weichen heißen Sand hinterher. Ruhig konnte man die Stelle nicht gerade bezeichnen. Jungs und Männer lagen oder saßen einzeln oder in Gruppen im Sand. Während wir nach einem Platz für uns suchten, grüßte Christoph hin und wieder einer der Anwesenden.

Nahe der Dünen und dem Volleyballplatz warf Christoph die Sporttasche in den Sand.

Gelassen blickte er in die Runde und zog sich dabei aus. Verlegen blickte ich zu all den Nackten um mich. Unsicher, ob man mich bereits beobachtete, saß ich auf der Decke und zog auch die Beine schützend an. Christoph stand daneben und fühlte sich völlig frei.

„Wollen wir nicht schwimmen?“, fragte er mich und war darüber belustigt, wie ich mich zusammenkauerte.

„Hättest ja mal was sagen können“, sagte ich leise und spürte schon deutlich die Enge in meiner Hose.

Lachend legte er sich neben mich und strich fürsorglich über meinen Arm.

„Tommy. Da ist doch nichts dabei.“

„Für mich schon!“, zischte ich und drehte mich auf den Bauch.

„Aha, verstehe“, schlussfolgerte er erheitert und flüsterte mir ins Ohr, dass das hier durchaus normal sei.

„Klar, sieht man ja überall!“, wehrte ich ab und vergrub mein Gesicht.

„Du kannst doch die Badehose anlassen, dann sieht‘s keiner“, riet er mir und ergänzte, dass im Wasser sowieso keiner was sehen würde.

Ich drehte mich zu ihm: „Du meinst, das sieht keiner?“

Christoph pfiff anerkennend durch die Zähne und lachte wieder.

„Na komm, zieh dich doch sitzend um oder soll ich die Decke halten?“

Wir lachten über die Vorstellung, dass damit erst recht die Aufmerksamkeit hervorgerufen würde, und ich setzte mich auf.

Ich ließ mich von ihm überreden und zog mich um. Ohne auf ihn zu warten lief ich ins kalte Wasser und tauchte weg. Mit ein paar kräftigen Schwimmzügen näherte ich mich Christoph, der tauchte mich unter und ich ihn. Vergessen war die Anspannung und wir tobten durchs Wasser.

Auf dem Weg zu unserem Platz bemerkte ein junger Mann, ob ich noch Windeln bräuchte. Das Gelächter der um ihn liegenden nahm ich gelassen und zeigte ihnen meinen Mittelfinger.

„Huu, wie mutig!“, rief einer und fiel in das Gelächter ein.

Christoph streckte sich in der Sonne und ich zog die Shorts aus.

„Man soll zeigen, was man hat“, bemerkte er liebevoll und gab mir einen Kuss.

Wir halfen uns gegenseitig, das Sonnenöl aufzutragen und lagen dösend in der Sonne.

„Hi Christoph!“

Als ich aufblickte, kniete neben Christoph ein nackter Jüngling, der mir achtlos ebenso die Hand reichte.

„Hast schon gehört, dass die Polizei beim Herzog war?“

„Quatsch!“

„Doch doch! Gestern, und mitgenommen haben sie ihn auch“, berichtete der Junge und wusste auch noch, dass eine Anzeige gegen den ‚Herzog‘ vorlag.

Christoph hörte aufmerksam zu und fragte nach Details, die der andere aber nicht so genau kannte.

Immer wieder fragte Christoph nach eventuellen Fotos, doch das beförderte Kopfschütteln bei dem Jungen hervor.

Als der Nackte wieder verschwand, blieb Christoph nachdenklich.

„Ist das wichtig für dich?“, fragte ich vorsichtig und Christoph wirkte in sich gekehrt, doch nickte er dann.

„Schlimm, wenn wir gehen?“, erkundigte er sich und ich verneinte.

„Was hast du mit dem Herzog zu tun“, wollte ich endlich wissen, denn Christoph machte keinerlei Anstalten mich einzuweihen.

„Ich erzähle es dir“, sagte er fahrig, „heute Abend, dann weiß ich mehr.“

„Gut“, gab ich zurück und zog mich an.

Der Rückweg kam mir kürzer vor oder es lag daran, dass Christoph zügig ging und ich wortlos nebenher lief.

Bei ihm zu Hause rief er jemanden an, der mehr zu wissen schien.

„Christoph, ist Frank da?“

Anscheinend nicht, denn Christoph fragte weiter, was denn los sei. Minutenlang hörte er zu und ging nervös hin und her.

„Was haben sie denn alles mitgenommen?“

Schließlich legte Christoph auf und setzte sich auf sein Bett. Mehrmals wischte er sich über das Gesicht und schien ernsthaft zu überlegen.

„Geht’s besser?“, fragte ich in die Stille.

„Sollte es“, sagte er nachdenklich, „doch das kommt schon noch.“

Nach einer weiteren Pause erzählte Christoph, dass der ‚Herzog‘ verhaftet sei. Mit den Computern, die sie beschlagnahmt hätten, würde sogar eine Verurteilung so gut wie sicher sein.

„Hm und was hast du damit zu tun?“, fragte ich wieder.

„Eigentlich nichts“, meinte er ernst, „also ich habe ihm keine Jungs besorgt.“

„Wie besorgt?“

„Oh Mann Tom“, sagte er gereizt, „ich hatte deshalb mit dem ‚Herzog‘ doch die ganze Zeit Krach. Ich sollte ihm Knaben mitbringen, sehr junge. Am besten so ab dreizehn Jahre. Nur weigerte ich mich.“

„Wieso konnte er das von dir verlangen?“

„Einfach so“, wich er aus und ging hinaus.

Als er mit Cola und Gläser zurück war, fragte ich nochmals und machte Christoph klar, dass ich meine Jeans nicht mit der Kneifzange anzog.

Wohl genervt, dass ich weiter beharrlich danach fragte, setzte sich Christoph an den Computer und rief ein paar Bilder auf.

Was ich sah, verschlug mir den Atem. Bis auf sein Gesicht, waren die anderen unkenntlich gemacht.

„Er wollte die meinen Eltern schicken, wenn ich nicht …“, unterbrach Christoph und klickte das Sichtfenster weg.

Ich weigerte mich, dass ich weiter darüber nachdachte, was ich da eben sah. Doch hatten sich Details in mein Gedächtnis gebrannt. Christophs lachendes Gesicht, die alten Männer, alle nackt. Wieso lachte Christoph auf dem Foto? Es hatte ihm wohl noch Spaß gemacht, wie er auf dem alten geilen Kerl saß?

Mir lief ein Schauer über den Rücken. Erst ritt er auf alten Säcken und gaukelt mir dann vor, vernünftig zu sein? Von wegen, ich mach’s nicht mit jedem. Für mich besaß Christoph plötzlich weder Skrupel, noch kannte er überhaupt irgendwelche Grenzen.

„Alles OK?“, wollte er von mir wissen.

„OK … OK?“, sagte ich fassungslos und wütend zugleich, „du … du …!“

Mir fiel das passende Wort für ihn nicht ein und ich sprang auf.

„Tom, lieber …“, bemühte sich Christoph, mich zu beruhigen, „das war …“

„Mach‘s doch mit wem du willst“, sagte ich völlig aufgebracht, „nur, lass mich in Ruhe!“

Ich flüchtete aus dem Zimmer und der Wohnung. Ich lief die Treppen hinunter und rannte ins Freie.

Das Handy klingelte, doch ich schaltete es gleich ab. Nein! Ich will nichts erklärt oder sogar noch beschrieben haben, sagte ich mir und lief über den Parkplatz in Richtung Innenstadt.

Die Enttäuschung über Christoph schmerzte bereits, je mehr ich darüber nachdachte. Am Stadthafen setzte ich mich auf eine Bank. Gestern erst verteidigte ich ihn vor Vater und gab sogar mein gut gehütetes Geheimnis für unsere Freundschaft preis. Ich empfand, dass ich nur ein weiteres Abenteuer für ihn war. In seiner Sprache hieß das, die Jungfrau, die man knacken muss. Nicht mit mir! Was kam da noch alles über Christoph zum Vorschein? Ich erinnerte mich an die Begegnung mit dem ‚Herzog‘ in der Disco und Übelkeit überkam mich.

Später war ich entschlossen, Sven zu fragen und so mehr über den ‚Herzog‘ und seine Clique zu erfahren.

Zu Hause hatte Vater bereits gegessen und ich fand meinen Teller Spaghetti in der Mikrowelle. Während er den Nachrichten lauschte und mich nicht beachtete, aß ich unbeteiligt in der Küche.

Eigentlich war es nicht seine Art, dass er tagelang schwieg. Ich machte erst gar keinen weiteren Versuch etwas zu sagen. Es war einfach alles zu viel für mich.

In meinem Zimmer drehte ich demonstrativ laut den Schlüssel um und warf mich auf das Bett.

Den Abend über saß ich am Computer und spielte.

Sven traf ich erst am Freitag im „Regenbogen“. Auf seiner Arbeit sei gerade die Hölle los, doch die Überstunden konnte er gut gebrauchen. Zuerst seine Freude am Telefon und wie er dann vor mir saß, übertrug sie sich sogar auf mich.

Wir saßen abseits vom Billardtisch. Ich erzählte ihm von Christoph und was passiert war, die Begegnung mit dem ‚Herzog‘, was ich über ihn erfuhr und auch von dem Foto.

„Hm“, meinte Sven nachdenklich, „das ist sicher hart jetzt für dich.“

„Ja“, erwiderte ich, „dabei fing es gerade so gut mit Christoph an.“

Viel wusste Sven nicht über den ‚Herzog‘ zu berichten. Ihm gehörte das „Kuckucksei“. Ansonsten hielt er zwar ein paar Bengels aus, nur stand er damit nicht allein da. Viele der Älteren, die auch das nötige Kleingeld besaßen, machten so noch auf sich aufmerksam.

„Von irgendwelchen Partys mit Minderjährigen hab ich keine Ahnung.“

Sven verstand durchaus meine Enttäuschung und seine Meinung zu der Community allgemein klang auch eher unglücklich. Ihm fehle es an Akzeptanz untereinander. Viel Selbstdarstellung gäbe es und alles sei nur noch auf Show ausgerichtet. Für ihn war die Szene gnadenlos und vor allem von einem Jugendwahn beherrscht. Für ihn hieß das, mit Fünfundzwanzig biste out. Auch deshalb bevorzuge er das „Café Regenbogen“. Gemischte Gäste, bisschen plaudern, was trinken und wenn, kannst auch mal den einen oder anderen mit nach Hause nehmen, meinte er, mit einer zufriedenen Gelassenheit.

„In der Community gilt nun mal, Hauptsache Fun und Action“, ergänzte Sven, „für Prävention und Beratung fehlt denen immer Geld. Da heißt dann schnell, ist nicht unsere Schuld, wenn sich die Jungs anstecken.“

Sven war es ernst damit, dass man vom Verein der Lesben und Schwulen wie auch von der Politik nichts erwarten könnte. Wichtig sind denen CSD oder ein anderer Event, das wollen wir doch! Erst wenn die Zahlen über AIDS wieder soweit stiegen, dass selbst ihre gesellschaftlichen Kreise berührt sind, dann schrecken sie auf und wollen letztlich nur mit schnellem Verteilen von Geld ihr Profil aufpolieren.

„Na gut“, meinte er, „dein Problem ist anders.“

Sven schlug vor, dass ich mit Christoph zumindest darüber nochmal sprach. Die Chance sollte ich ihm wenigstens einräumen. Ich nickte, denn ich hatte mich die letzten Tage völlig von ihm distanziert. Mehrmals versuchte er mich auf dem Handy zu erreichen, doch ich drückte ihn immer weg. Auch klingelte es mittags und ich sah ihn im Türspion, aber ich machte nie auf.

Vor zwei Tagen sprach mich Frau Helbig im Discounter an. Ihr ging es natürlich darum, wie ich mit Vater klarkam. Als ich ihr sagte, dass wir nur noch Zettel austauschten, war sie traurig. Zumindest fand sie es richtig mutig von mir, dass ich es ihm gesagt hatte. Sie bot mir an, wenn mir danach wäre, sei sie natürlich für mich da.

„Immerhin“, gab Sven zu bedenken, „muss es auch nicht so gewesen sein, dass es deinem Christoph Freude machte. Heute kannst jedes Foto elektronisch so verfälschen, dass es ganz anders wirkt.“

„Stimmt auch wieder“, sagte ich und schlug vor, dass wir gingen. Michael und Sascha luden mich für den Abend zu einer vorletzten Garagenparty ein, da wollte ich dann kein Spielverderber sein.

Sven zahlte die Rechnung und ich begleitete ihn bis zu seinem Hauseingang.

„Danke, das wir miteinander reden konnten“, sagte ich und reichte ihm die Hand.

„Na ja, dafür sind doch Freunde da, oder?“, bemerkte er freundlich.

Mit einem „Du machst schon das Richtige“ entschwand er hinter der Haustür.

Unterwegs besorgte ich mir einen Pack Bier und fühlte mich soweit zufrieden, dass ich mit Sven insofern mein Problem geteilt hatte.

„Also Anwesende“, sagte Sascha, der sich erhoben hatte, „das heute ist die vorletzte Garagenparty. Die letzte ist nächste Woche, abgemacht?! Damit es ein schöner Abend wird, sag ich mal prost.“

Katja und Helen klatschten, und wir stießen alle auf einen geilen Abend an, worüber vor allem gelacht wurde.

„Sascha macht sein berufsorientiertes Praktikumsjahr und für uns geht es in drei Wochen mit der Ausbildung los“, teilte Katja mit und ich gratulierte Sascha dazu.

„Alter! Ihr musst gratulieren“, grölte Sascha und zeigte auf Helen, „sie hat mich immerhin dazu überredet.“

„Auf Helen!“, warf ich in die Runde und kümmerte mich um den Grill.

So gut wie an diesem Abend, war die Stimmung schon lange nicht mehr. Musik, was zu essen und zu trinken und sogar getanzt, besser konnte es nicht sein.

„Sag mal Tom“, brüllte Sascha, der schon etwas angetrunken wirkte, „wie heißt deine Freundin eigentlich?“

Etwas verschreckt, stutzte ich und erklärte vielsagend, dass das noch mein Geheimnis bliebe.

„Na komm, Tom“, ging Michael, auch neugierig geworden, darauf ein. Katja und Helen schauten erwartungsvoll zu mir, doch ich bestätigte ihnen, dass es noch keine Richtige für mich gäbe.

„Ich rate mal“, warf Katja dazwischen, „Nadja? Yvonne? Susann? …“

Ich schüttelte lachend den Kopf.

„Oh bitte, Tom“, flehte mich Helen an, dass ich ja wenigstens den Namen sagen könnte.

So ging es noch eine Weile. Egal welches andere Thema ich anbrachte, man kam darauf zurück.

„Chris.“ Ich erschrak selbst, dass ich die Namenskürzung von Christoph sagte.

Sie waren alle nicht mehr zu bremsen. Alle wollten, dass ich sie beschrieb. So bestätigte oder korrigierte ich, was Katja vorgab. Gleich groß, schlank, blond, mittellanges Haar und welches Gymnasium.

Nur ließ ich sie im Glauben, dass es sich um eine Freundin und nicht um Christoph handelte.

„Wieso ist sie nicht hier?“, fragte Sascha.

„Na ja“, suchte ich nach einer Erklärung, „wir haben gestritten.“

Die Mädchen wollten den Grund wissen, doch ich meinte nur, dass das sich vielleicht wieder einrenkte.

„Alter! Nächste Woche bringst sie mit!“, bestimmte Sascha.

Der Abend endete damit, dass die Freunde noch in die Disco gingen und ich nach Hause.

Vater war nicht zugegen, was nichts neues mehr war und ich ging in mein Zimmer. Mit ein paar Chats zwischendurch blieb ich noch bis kurz nach Mitternacht auf.

Der Samstag begann grau und regnerisch. Verwundert las ich in der Küche, dass Vater vormittags im Büro sei und das Taschengeld lag auch daneben. Es war nichts einzukaufen und im Bad fand ich auch keine schmutzige Wäsche. Na, dann erledigten das wohl die Heinzelmännchen, sagte ich mir amüsiert und ging ins Bad.

Erst wollte ich gleich den Zettel an meiner Tür entfernen, doch dann besann ich mich und er blieb hängen. Soll Vater ruhig jedesmal daran erinnert sein.

Ich bezog mein Bett und räumte auf, saugte durch die Wohnung und klopfte mir hinterher anerkennend selbst auf die Schulter.

Die Schlüssel drehten sich in der Tür und Frau Helbig begrüßte mich. Aha, die Wäschefee!

„Ich hoffe, es ist dir recht“, sagte sie freundlich und stellte den Wäschekorb ab.

„Habe mich schon gewundert.“

„Harald musste heute ins Büro zu einer Veranstaltung oder sowas …“

„Ja ja, ich weiß“, erwiderte ich, „doch wir haben auch eine Maschine.“

Sie lachte herzlich und gab mir natürlich Recht. Dann meinte sie, ob wir vielleicht Kaffee trinken wollen.

„Klar, Ihrer schmeckt auch besser“, lobte ich sie. Dass ich eine gewisse Absicht bereits erkannte, behielt ich aber für mich. Entweder bat Vater so zum Einlenken oder es war rein ihre Idee.

„Schön“, sagte sie erleichtert, „hier oder bei mir?“

„Hm“, guter Anlass, dass ich mal ihre Wohnung sah, „bei Ihnen.“

„Gut. Gehen wir rüber.“

Ihrer Wohnung fehlte nur das Kinderzimmer, ansonsten glich sie unserer. Die Möbel modern und praktisch, alles in allem richtig gemütlich. Sie bat mich ins Wohnzimmer und flink wirbelte sie in die Küche. Der Kaffee war schon fertig und damit meine Annahme über die Absicht bestätigt.

Nun gut, sagte ich mir, wenn es hilft. Die letzten beiden Tage waren schon richtig belastend für mich, dass wir, Vater und ich, nicht miteinander sprachen.

„Schön Tom“, sagte sie und goss den duftenden Kaffee ein, „Kekse oder Kuchen?“

„Was zuerst wegmuss“, scherzte ich und wir lachten.

Sie brachte einen Rührkuchen, selbst gebacken, der besser schmeckte, als man das sonst vom Bäcker her kannte.

„Mann, Mann“, urteilte ich lobend, „sowas Leckeres.“

„Danke“, sagte sie verlegen und kam aber auf das eigentliche Thema.

„Du weißt ja nun, dass ich mit Harald, also deinem Vater, befreundet bin“, erklärte sie behutsam und nahm manchmal einen Schluck Kaffee, um die Aufgeregtheit zu überspielen.

Sie kannten sich nun seit Monaten schon und sie versicherte sogleich, dass sie ihn sehr mochte. Zwar hätten sie noch keine genauen Pläne, doch man wüsste ja nie. Worauf ich, auf ihr freundliches Lächeln hin, nickte.

„Also Tom“, fragte Frau Helbig, immer noch unsicher wirkend, „wie denkst du eigentlich darüber?“

Aha, daher weht jetzt der Wind, überlegte ich und dachte verwundert nur, dass ich annahm, es ginge eigentlich um Vater und mich.

„Ist doch so OK oder?“, sagte ich kurz.

„Du meinst also … für dich … gibt es da keine … Einwände?“

Sie war sich immer noch unsicher, merkte ich, und meinte dann, dass ich sie persönlich ganz in Ordnung fand. Gegen ihr freundlich-fürsorgliches Wesen konnte ich nichts Arges empfinden und selbst wenn sie heiraten sollten. Mir kam es vor, als hätte Vater sich so selbst um eine umständliche Erklärung vor mir gedrückt.

Ich sah eine Welle der Erleichterung auf ihrem Gesicht.

„Also Tom, natürlich habt ihr beiden da noch …“, sagte sie später, „ach Quatsch, also was ich sagen will. Ich weiß, wie dir zumute ist, und ich habe es auch schon deinem Vater so gesagt. Man darf sich nicht gegen die Homosexualität stellen. Es gibt sie und schlimm ist es auch nicht. Früher hatte sich deswegen ein Kollege von mir das Leben genommen. So weit darf es aber nicht kommen. Ich akzeptiere es voll und ganz. Heute wird man doch deswegen nicht mehr schief angesehen. Und wenn du homosexuell bist, dann bleibst du doch trotzdem sein Sohn!“

Ich sah sie erwartungsvoll an, denn ihr lag es förmlich auf dem Herzen, sah ich.

„Jetzt weiß dein Vater nicht, wie er es dir sagt“, sagte sie ruhig und erleichtert auch, „hilf ihn ein bisschen dabei. Er leidet wirklich, so wie es jetzt ist.“

Ich spürte plötzlich einen unsäglichen Schmerz und schämte mich nicht meiner Tränen. Ich wusste zwar nicht, was mich trieb, doch ich umarmte sie.

„Ich liebe ihn doch auch“, presste ich heraus.

Frau Helbig strich mir liebevoll über den Rücken und meinte, dass dafür Frauen bestimmt seien, Männer zu lieben, zu trösten und zu umsorgen.

Später holte sie zwei Likörgläser und die Flasche auf den Tisch und wir einigten uns auf Inge und Tom.

Inge erzählte schwärmend und mit einem Funkeln in den Augen, wie sie Vater kennenlernte, dass ihr Mann vor fünf Jahren an Krebs verstorben war und sie leider keine Kinder bekam. Den Job im Discounter besaß sie erst seit vier Jahren.

„Besser ein schlechten, als gar keinen“, lautete ihre Devise und sie träume davon, wieder einmal in den Karpaten Urlaub zu machen.

Schließlich erkundigte sie sich nach meinem Freund und ich berichtete ihr, dass wir zerstritten waren, weil ... Den Grund nannte ich nicht, und sie fragte auch nicht danach.

Dann meinte sie, dass doch sowas immer mal passiert. Dann sprach man sich aus, versöhnte sich wieder oder ging halt auseinander. Wir seinen noch jung, da macht man die meisten Erfahrungen. Selbst schmerzhafte Erfahrungen seien hilfreich im Leben, aber am besten, man liebte sich ein Leben lang.

Wir tranken noch einen Likör, doch dann machte ich mich los. An der Tür sagte sie, dass Vater, wegen einer anschließenden Feier, wohl später heim kam. Dass ich noch in die Disco ginge, wollte sie ihm ausrichten.

In meinem Zimmer war ich doch etwas belustigt darüber, dass Vater Inge vielleicht heiratete und sie so meine Stiefmutter wäre. Aber ich gönnte ihm diese Frau.

Auf dem Weg zur Disco im „Kuckucksei“ ließ ich mir absichtlich Zeit, denn zu früh wollte ich dort nicht sein. Ich nahm einen Umweg über den Stadthafen in Kauf. Die beleuchtete Pier war fast menschenleer. In den Restaurants waren noch viele Gäste und manchmal hörte man etwas von ihren Gesprächen, vor allem wenn sie lachten. Ich dachte an Christoph. Ich mutmaßte, dass er sauer auf mich reagierte oder, was noch schlimmer für mich wäre, erst gar nicht anwesend war. Ich fand es selber unfair, dass ich mich die letzten Tage total verweigerte. Eigentlich müsste ich mich nicht wundern, wenn er sich längst einem anderen Jungen zugewandt hatte. Das wäre ganz schön dumm, doch dann hätte ich mich zugleich selbst bestraft.

Tom, da musst durch, sagte ich mir. Es war kurz vor Mitternacht, als ich dem jungen Mann im „Kuckucksei“ das Geld gab und meinen Stempel bekam.

Im Saal tobten die Massen schon ausgelassen. Die Musik und das Licht gaben ihr bestes, um die Stimmung noch zu steigern. Die Tanzfläche war überfüllt. Wenn ich auch wusste, dass es vergeblich war, suchte ich nach Christoph. Keiner der Umstehenden nahm mein Ausforschen nach Christoph wahr, und wie ich auch auf die Galerie sah, blieb er auch dort für mich unsichtbar. Also doch, überlegte ich krampfhaft, er war nicht hier. Ich ging hinüber in den „Anmach-Raum“. Auch hier waren alle Tische besetzt und die Jungs mehr oder weniger mit einem der beisitzenden Jungen beschäftigt. Nur Christoph war nicht unter ihnen, diesmal zum Glück, wie ich fand.

An der Bar bestellte ich mir einen Wodka Lemon und hielt mich abseits von dem Gedränge.

Nach zwei Stunden, die Suche gab ich längst auf, lief ich hinaus in die warme Nacht. Mit einem elendigen Gefühl im Magen ging ich in Richtung Luisenplatz. Die Erinnerung, wie ich mit Christoph hier lief, schmerzte und mir war regelrecht zum Heulen zumute.

Erst als ich aus dem Bad kam, merkte ich, dass mein Hinweiszettel an der Tür verschwunden war. Es hörte sich nicht danach an, dass Vater schon auf war. Jedoch als Langschläfer kannte ich ihn auch nicht, und im Schlafzimmer nachzuschauen, tat ich aus reiner Vorsicht nicht. In der Küche füllte ich die Kaffeemaschine. Das Schlüsseldrehen in der Wohnungstür kündete sein Erscheinen an.

„Moin“, sagte er ruhig.

„Moin“, gab ich erleichtert zurück. Seine Stimme zu hören und dass er mit mir sprach, tat richtig gut.

„Ich habe den Zettel abgemacht.“

„Ist OK.“

Vater stand unschlüssig im Türrahmen und knetete die Zeitung in seiner Hand.

„Wir müssen doch keine Zonen errichten. Wir leben hier doch zusammen“, sagte Vater.

Ich ging zu ihm. Die Umarmung erübrigte alle weiteren Worte.

Nach dem Mittagessen, das diesmal bei Inge stattfand, fuhr ich hinunter zu Christoph. Leider war nur seine Mutter an der Tür. Sie bedauerte, dass sie mir nur mitteilen konnte, dass Christoph bei seinem Vater sei.

„Wieso, hat er dir das nicht gesagt?“, hätte sie gern gewusst und ich erzählte kurz, dass es einen dummen Streit gab.

„Warte“, sagte sie lächelnd, „komm doch rein.“

Sie nahm das Telefon und rief Christoph an. Ohne mich zu erwähnen sprach sie mit ihm, wie es ihm gefiel und wann er endlich zurück sei. Aufmerksam hörte sie Christoph zu.

„Das ist schön, wann denn?“, fragte sie in den Hörer und nickte verständnisvoll.

Schließlich legte sie auf und gab mir die Auskunft, dass er gegen zwanzig Uhr mit dem ICE ankomme. Ich bedankte mich bei ihr und fuhr wieder hinauf.

Ich suchte die Bahnauskunft und las dann, 19.56 Uhr, Bahnsteig 4.

Schon mal darüber zufrieden, dass Christoph allein bei seinem Vater war, machte ich mich zum Bahnhof auf. Bis zur Ankunft blieben noch zehn Minuten und ich platzierte mich am Abgang zu den anderen Bahnsteigen. Hier mussten schließlich alle Fahrgäste entlang.

Mit ein paar Minuten Verspätung, brauste der ICE heran. Ungeduldig suchte ich nach Christoph und orientierte mich hauptsächlich an seinen blonden Haaren. Nichts, kein Christoph unter den ankommenden Fahrgästen, überlegte ich enttäuscht. Hier war für den Zug Endstation. Immer noch sah ich den leeren Bahnsteig entlang, in der Hoffnung, dass doch noch Christoph kam. Das Zugpersonal lief schon durch die Waggons, also konnte er nicht im Zug sein.

Ich ging die Treppe hinunter.

„Tom!“, hörte ich plötzlich meinen Namen, und ich erkannte sofort seine Stimme.

Er stand auf dem Treppenabsatz, einen dicken Rucksack auf dem Rücken und kam die Treppe herunter.

„Christoph!“, sagte ich erfreut.

„Na du?!“

Ich spürte, wie ich sein Lächeln vermisst hatte, und seine Nähe tat mir gut. Seine Freude erkannte ich in seinen strahlenden Augen, und ich spürte ein prickelndes Gefühl in der Magengegend.

„Bist noch sauer auf mich?“, fragte ich verlegen.

Christoph sah mich eindringlich an, lachte auf und nahm mich in die Arme. Ich war ihm dankbar, dass er es mir leicht machte.

„Schade“, sagte er, „dass ich allein fahren musste. Es hätte dir sicher gefallen.“

Wir fuhren mit der Straßenbahn. Christoph berichtete von seinem Aufenthalt bei seinem Vater und ich erzählte ihm, dass ich mit Vater ins Reine gekommen war. Ebenso, dass Inge eine ganz patente Frau sei und ich nichts dagegen hätte, wenn sie sogar meine Stiefmutter würde. Ehe er im Zweiten ausstieg, vereinbarten wir, dass er abends nochmal zu mir kam. Vater und Inge waren im Wohnzimmer.

„Hi“, grüßte ich sie.

„Tom, warte mal“, rief mir Vater nach.

„Wir wollten dich fragen, ob du am Donnerstag Lust auf ein gemeinsames Essen hast?“, fragte er etwas unsicher.

„Hm. Warum nicht“, erwiderte ich.

„Na ja“, ergänzte er und schaute hilfesuchend zu Inge, „also … du kannst auch deinen Freund dazu einladen … wollt ich noch sagen.“

„Christoph“, sagte ich ruhig, „er heißt Christoph.“

„Natürlich. Christoph, mein ich auch.“

Ich überlegte kurz. Doch dann war ich der Meinung, dass die Einladung besser von ihm kommen sollte und Christoph nachher noch zu mir kam. Er nickte unentschlossen und ich verschwand in mein Zimmer. Mit Inges Hilfe schafft er es schon, überlegte ich.

Der Computer war gerade hoch gefahren, da klingelte es schon. Ich öffnete einen spaltbreit die Tür und hörte in den Flur. Christoph erkundigte sich nach mir und Inge bat ihn herein. Anscheinend waren sie ins Wohnzimmer gegangen, denn ich verstand nichts mehr. Neugierig öffnete ich die Tür.

Gerade hörte ich noch Christoph, dass er sich bedankte, und plötzlich war er auch schon vor mir.

„Man lauscht nicht!“, sagte er lachend und schob mich ins Zimmer zurück. Ungeduldig gab er mir einen Kuss. Seine Hände wanderten über meinen Körper.

„Oh Mann, habe ich dich vermisst“, flüsterte er mir ins Ohr und drückte mich fest an sich.

„Ich auch!“

Es klopfte und ich schob Christoph weg.

„Kannst reinkommen!“

Inge steckte den Kopf herein und meinte, dass sie in ihre Wohnung gingen und nach einem kurzem „OK“ von mir, war sie auch schon weg. Ich horchte, wie die Tür ins Schloss fiel, und atmete erleichtert auf.

„Daran muss ich mich noch gewöhnen“, sagte ich Christoph, „dass sie eben auch da ist.“

Der lachte nur und legte sich auf mein Bett.

„Komm lieber zu mir“, bat er mich einladend.

Ich legte mich zu ihm, und Christoph bedeckte meine Lippen mit einem innigen Kuss.

Seine Hände wanderten sanft unter mein Shirt, und seine Wärme steigerte meinen Wunsch, ihm ganz nah zu sein. Immer wieder küssend halfen wir uns beim Auskleiden, und als Christoph sich nackt auf mich legte, fühlte ich ausgiebig seinen begehrlichen Körper. Gerade spürte ich seine Lippen auf meinen, schon wanderten sie sanft über meine Brust und tiefer gehend umspielten sie meinen Nabel. Gerade glaubte ich die Höhe meiner Erregung erreicht zu haben, da küsste mich Christoph in völlige Ekstase. Schnell atmend und von lüsternen Blitzen durchzuckt, nahm ich seinen Kopf und küsste ihn gierig. Mit einem Verlangen nach absoluter Nähe presste sich Christoph fest an mich und ich umklammerte ihn mit Händen und Füßen. Was folgte, war die Verschmelzung unserer Körper in völliger Hingabe. Von unzähligen Küssen begleitet gaben wir uns dem herrlichen Wärmegefühl der Entspannung hin. Die gegenseitigen Liebesschwüre bestärkten mein bereits vorhandenes Gefühl für Christoph.

Christoph lag ruhig atmend neben mir. Ich drehte mich zu ihm und drückte mein Ohr an seine Brust. Sein Herzschlag war kräftig und gleichmäßig.

„Was hörst du?“, fragte er leise.

„Bum bum bum … ich liebe dich“, flüsterte ich glücklich.

Christoph lachte und drückte mich liebe voll an sich.

Als ich auf die Uhr schaute, war es bereits lange nach Mitternacht. Vater blieb sicher bei Inge.

„Hast du Hunger?“, fragte ich Christoph.

„Bisschen nur.“

„Ich schon“, sagte ich in die Stille und stand auf. Die Lichter der Straßen und Fenster kamen mir leuchtender vor.

Ich ging schließlich in die Küche und schmierte uns Brote. Den Teller stellten wir zwischen uns und fütterten uns gegenseitig. Christoph stürzte sich regelrecht auf jeden der Bissen, die ich ihm reichte.

Beim letzten Happen ließ er mich zappeln, indem er ihn kurz davor zurücknahm. Lachend öffnete ich immer wieder den Mund, bis Christoph mir das Stück Brot regelrecht in den Mund drückte.

Schnaufend fiel ich nach hinten und er kam zu mir. Küssend und dabei lachend rang ich nach Luft.

Christoph begann von Neuem küssend über meinen Körper zu wandern, und ich gewährte ihm, dass keine Region ungeküsst blieb. Der Teller fiel zu Boden, doch das war in dem Moment völlig unwichtig.

Als es anfing hell zu werden und getragen von einem wundervollen Glücksgefühl, schwebte ich in den Schlaf hinein.

Erst als meine Hand vergeblich Christophs Körper suchte, öffnete ich die Augen. Ich war zwar allein, doch zugleich glücklich, dass ich seine Kleidung sah. Ich erinnerte mich genüsslich an die letzten Stunden mit ihm.

Die Tür ging auf und Christoph trug ein Tablett herein. Tassen mit Kaffee und Toast mit Marmelade bestrichen standen darauf.

„Guten Morgen, mein lieber Tom“, flüsterte er und gab mir einen Kuss.

„Moin, mein lieber Chris.“

Der zerbrochene Teller lag immer noch vor meinem Bett. Christoph stellte das Tablett auf das Bett und setzte sich zu mir. Der Kaffee schmeckte gut, lobte ich ihn, und er gab mir dafür sofort einen weiteren Kuss.

„Fahren wir an den Strand?“, fragte er kauend.

„Wohin du immer willst, Schatz“, scherzte ich und lachte.

Christoph knuffte mich sanft und ich ihn.

„Ach, übrigens“, sagte ich, „meine Freunde wollen dich kennenlernen. Am Freitag soll die ultimativ letzte Garagenparty sein. Ich musste ihnen versprechen, dich mitzubringen.“

Christoph glaubte erst ich scherzte, doch ich wiederholte, was bei der letzten Party vereinbart wurde.

Ich beschrieb ihm kurz, wer mit wem zusammen befreundet sei, und auch, dass Sascha sich vielleicht daneben benahm. Auch verschwieg ich nicht, dass ich lediglich Chris als Namen angegeben hatte.

„Also, die denken, ich bringe ein Mädchen mit“, sagte ich lachend.

„Ach, ich kneif nicht so schnell“, meinte Christoph und gab mir einen Kuss.

„Ich schon“, sagte ich nachdenklich.

Christoph strich mir durch das Haar und meinte aufmunternd, dass ich auch noch am Anfang stände.

Der Nachmittag am Strand verlief zwar mit viel Lachen und Gekicher, doch für mich nicht mehr so kompliziert. Ich schaffte ich es sogar, dass ich mich ohne sichtbare Erregung bewegte. Christoph spielte mit ein paar Jungs Volleyball und ich bewunderte sein sportliches Talent.

Überhaupt, die Zeit mit ihm war immer abwechslungsreich.

Wenn wir morgens aufwachten, bedauerte ich, dass die Ferien bald vorüber gingen. Umso mehr nahm ich jede gemeinsame Minute mit ihm wahr.

Der gemeinsame Abend mit Vater und Inge war recht unterhaltsam und amüsant zugleich. Vater erlebte ich locker wie lange nicht, und Inge scherzte lässig, was uns zu einem munteren Gekicher hinriss.

Als ich Vater auf dem Heimweg sagte, dass Christoph bei mir schliefe, kamen keinerlei Einwände. Inge, die vom Wein etwas angeheitert war, entgegnete gelassen, dass sie dann Vater mit zu sich nahm und so wieder ausgleichende Gerechtigkeit herrsche.

Vater bemerkte, dass er kaum noch wisse, wo er seine Kleidung fand. Aufhorchen ließ mich aber, dass ihn die doppelte Haushaltsführung langsam nerve. Doch ich vermied das Thema Hochzeit und hielt es für verfrüht davon anzufangen.

In meinem Zimmer entkleidete mich Christoph ungeduldig und küsste mich dabei überall. Schwer keuchend standen wir unter der Dusche und Christophs Hände vollbrachten wahre Wunder bei mir.

Schließlich trug er mich sogar hinüber ins Bett, und wie ich bäuchlings liegend seine Küsse entlang des Rückens spürte, gewährte ich es ihm bereitwillig. Christoph war dabei sehr einfühlsam mit mir.

Als ich gegen Mittag meine Augen aufschlug und Christoph neben mir wach sah, spürte ich deutlich, wie sehr ich ihn liebte.

Wie ich es ihm zuflüsterte, gab mir Christoph einen Kuss: „Ich dich auch.“

An ihn geschmiegt, wollte ich, dass dieses unglaublich herrliche Gefühl nie enden sollte. Während dem Frühstück zur Mittagszeit machten wir Pläne für das Wochenende. Wir einigten uns, dass wir die Parade zum CSD am Luisenplatz anschauten und später zum Straßenfest beim „Coming In“ gingen.

Je näher die Garagenparty heran rückte, umso aufgeregter wurde ich. Christoph, der sich bereits umgezogen hatte, bemühte sich, mir Mut zu machen.

„Tom, mach dich nicht verrückt!“, beruhigte und liebkoste er mich dabei, „Freunde akzeptieren es, ansonsten sie sind gar keine Freunde.“

Schon im Fahrstuhl überkam mich die Nervosität, dass ich am liebsten umgekehrt wäre. Schon hörte ich die Musik aus der Garage schallen und sah Sascha und Helen, wie sie am Grill standen.

Meine einzige Zuversicht war Christoph, der neben mir blieb.

Michael und Katja knutschten in der Garage und als sie uns kommen sahen, sprang Katja zu Helen und sie tuschelten miteinander.

„Das ist Chris“, sagte ich und wunderte mich, wie ruhig ich es konnte. Ich nahm Christophs Hand und stellte ihm die Anderen vor. Sascha hielt den Mund offen, die Mädchen kicherten und Michael kam zu mir.

„Tom“, sagte er ruhig, „ich dachte mir schon sowas. Respekt.“

„Danke“, brachte ich hervor und winkte zu Sascha, weil die Würste anfingen zu verkohlen.

„Scheiße Alter!“, rief der und Helen reichte ihm schnell einen Teller.

Christoph machte die Runde und gab allen die Hand. In der Garage platzierten wir uns, dass jeder sitzen konnte.

Natürlich brachte Sascha die Sache auf den Punkt: „Also Tom, bist du nun schwul oder …?“

„Schlimm für dich?“, gab ich zurück.

Helen gab Sascha eine Kopfnuss und küsste ihn gleich.

„Alter! Hauptsache ist, du bleibst so, wie du bist!“, sagte er mir, worüber ich mich riesig freute.

Im Laufe des Abends kamen Katja und Helen zu mir und umarmten mich freundschaftlich.

„Wichtig ist doch nur, du bist glücklich“, flüsterte mir Katja ins Ohr.

„Bin ich, sehr sogar“, sagte ich.

Katja nickte aufmunternd und küsste mich auf die Wange.

Sascha wurde erst im Laufe des Abends Christoph gegenüber zutraulicher, als der davon erzählte, dass sein Vater seit Längerem in Dänemark arbeite und dabei sei, dass die Familie nachzog.

Als wir gemeinsam an der Hecke standen meinte er sogar, dass wir gar nicht so komisch wären.

„Na ja, gibt auch andere Schwule, mit denen hätte sogar ich Schwierigkeiten“, sagte ich lachend.

Nur bei Michael war alles, wie man es von ihm kannte. Ruhig erzählte er, an welchem Programm er gerade tüftelte, was aber kaum einer von uns verstand, und es wurde mehr gelacht, wenn Sascha dazwischen fragte.

Die Freunde brachen schließlich zu ihrem Discoabend auf. Die Party in der Garage von Michaels Vater war damit die ultimativ letzte. Christoph und ich nahmen den Umweg über den Stadthafen, ehe wir nach Hause gingen.

Lesemodus deaktivieren (?)