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Ist dein Gott schwul, Ben?

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Die Gartenpforte scheppert, ich schaue genervt von meinem PC hoch durch das Fenster in den Garten. Wer stört denn jetzt schon wieder? Zu Hause arbeiten ist wirklich manchmal eine Qual, aber ich muss die Statistiken, die sich als lose Blattsammlungen auf meinem Schreibtisch türmen, endlich in den PC hacken. Spaß macht das nicht gerade, gehört zu meinem Job hier an der Küste dazu. Enten und Gänse zählen in der freien Natur, ist natürlich wesentlich interessanter, aber dies muss auch sein.

Der Kirschbaum zeigt seine ersten Blüten, dort lehnt das Rad. Jos betritt gerade das Haus über die Terrasse, die Tür ist wie immer offen. Nun höre ich den Rucksack auf den Dielenboden aufschlagen, den Reißverschluss seines Anoraks ratschen und kurz danach beide Turnschuhe auf den Dielenboden aufklatschen. Ich habe ihn nicht erwartet, die Probe ist erst für Donnerstag angesetzt. Auf Socken betritt er mein Büro und schmeißt sich ohne Hallo in den braunen, abgewetzten Ledersessel, seufzt laut und zieht seine Füße zu sich heran, seine Arme umklammern seine Knie, den Kopf hält er gesenkt.

Lockige Haare, Jeans, ein Sweatshirt, selbstgestrickte bunte Socken, solche hat meine Oma mir früher schon immer gestrickt, kratzig und hart, aber warm, denke ich gerade.

Was hat er bloß? Eine sechs in Mathe, Liebeskummer, Ärger mit den Eltern, nee mit denen versteht er sich doch eigentlich ganz gut, die sind nett, zumindest soweit ich sie kenne. Ein wenig altmodisch, konservativ und zu den Konzerten kommen sie auch nicht, aber die Musi ist wohl auch nicht immer elternkompatibel. Er will doch wohl nicht die Probe absagen, bis zum Auftritt unserer Band, müssen die Jungs noch ganz schön üben. Jos spielt Schlagzeug, er ist ziemlich begabt, aber bei den Proben sollte er schon dabei sein. Donnerstags wird immer in meinem großen Schuppen geübt, da kann sich niemand in seiner wohlverdienten oder auch nicht verdienten Ruhe gestört fühlen. Ich wohne ziemlich außerhalb unseres kleinen Dorfes.

Ich schaue mir also mal Jos an: die ganze Erscheinung vor mir ist gerade das personifizierte Elend, es muss etwas Ernstes sein!

„Moin“, sage ich, streiche meine viel zu langen, glatten Haare aus meinem Gesicht, versuche ein entspanntes Lächeln und nehme in dem anderen Sessel Platz, ein kleiner runder Tisch trennt uns, vollgemüllt mit Büchern, Notenblättern, einem Weinglas und dem Holzkasten mit den Zigarren.

Mein PC schaltet gerade auf den Bildschirmschoner, ein schwarz/weiß Foto der Band baut sich auf, sechs gutgelaunte Jungs in schwarzen Klamotten, die mit aufgestützten Armen am Deich liegen und ich in der Mitte, ebenfalls in schwarz, über uns der endlose graue Himmel, am Deich nur noch ein weißes Schaf. Sieben schwarze Schafe und ein weißes, die Jungs fanden das geil. Jos ist auch dabei, allerdings grinst er dort verwegen in die Kamera.

Er schaut hoch, wie kann er nur so große und braune Augen haben. Die ebenfalls braunen Locken umrahmen sein schmales Gesicht. Gott, ist der Kleine hübsch geworden, die letzten Pickel sind schon verschwunden, makellose reine Haut, abends während der Proben und bei den Auftritten hat er immer schwarze geschminkte Augen, heute sind sie groß und offen, aber tieftraurig.

„Ben“, sagt er, „meine grottenblöden Eltern, sie haben es gründlich versaut, verdammt noch mal.“

Aha, also doch die Eltern, in der Schule ist er gut, hätte mich auch gewundert, und bei seinem Aussehen, die Mädels sind bestimmt alle entzückt, das habe ich schon bei den Auftritten gemerkt, auch wenn er als Drummer ja immer ziemlich weit hinten sitzt und von den Mädels oft erst mal der Sänger angeschmachtet wird. Ja, ich bin schon ziemlich stolz, wenn die Band nach ihren Auftritten den Applaus entgegennimmt. Die johlenden Teenies und meine Jungs - verschwitzt, verklebt und kaputt, aber mit diesem Glanz in den Augen. Immer sehe ich auch mich genau so, wie sie heute, mich mit noch längeren Haaren, der Glanz allerdings in meinen Augen kam oft genug vom Dope, den wir kurz hinter der holländischen Grenze gekauft hatten und mit Omas Hilfe, sie besuchte dort immer eine Freundin, problemlos rüber schmuggeln konnten. Die Oma, die nicht nur Socken strickte, Dope schmuggelte, sondern auch meine Jeansjacke mit dem Namen meiner Lieblingsband „Birthcontrol“ bestickte, wobei der Umstand, dass Oma kein Wort Englisch konnte, wohl sehr half. Das ist lange vorbei. Jos holt mich zurück.

„Meine dämlichen katholischen Eltern“, stöhnt er.

Moment, was ist das denn? Katholisch? Jos ist katholisch? Hier leben wir doch in dem Land der Evangelen und Gottlosen, hier gibt es doch noch nicht einmal eine katholische Kirche weit und breit.

„Katholisch, du bist katholisch, Jos?“, frage ich dämlich, als ob es mich interessiert, was jemand für einen Glauben hat oder überhaupt, ob er irgendetwas glaubt.

„Ja, katholisch und schwul!“

Nun schaut er mich doch unsicher an

„Das ist dir doch egal oder?“

„Was, das du katholisch bist?“

„Nee Mann, das ich schwul bin?“

Vorsicht Ben, jetzt bloß nichts Falsches sagen, so oberlehrerhaft: das habe ich mir schon fast gedacht, weil es ja auch nicht stimmt. Obwohl doch, ich habe es geahnt. Damals als er sich das Fotobuch mit den Schwarzweißfotos angeschaut hat, dieses Kunstbuch, welches bei mir immer auf dem Schreibtisch liegt, die großformatigen Bilder mit nackten Menschen eingebettet in der Natur. Er hatte sich nicht die Frauen im Wald angeschaut, die elfengleich zwischen den Moosen und Farnen im Nebel wandeln und liegen, so wie die anderen Jungens immer.

Nein, er hatte fast entrückt den nackten Mann angestarrt, der sich mit dem Rücken an einen Felsen im Meer schmiegt und mit seinem Körper fast mit dem Gestein zerschmilzt und er hatte das Buch ziemlich schnell zugeschlagen, als ich über seine Schulter geschaut hatte - so zartbesaitet sind die Boys sonst nicht. Ja, es gab auch andere Anzeichen, er hatte sich nie an den sogenannten Weibergeschichten beteiligt. Und ich habe wohl auch eine geschulte Wahrnehmung! Wie blöde klingt denn das jetzt. Aber es sind doch noch Kinder, die zu mir kommen zum Musik machen, da mache ich mir doch keine Gedanken über deren sexuelle Ausrichtung. Mein Gott, Jos ist gerade sechzehn, ich würde mir doch nie Gedanken machen…..

„Been“, bringt er mich wieder in die Gegenwart zurück, „es ist dir doch egal, cooler Mann, oder?“

„Natürlich ist es mir egal, das weißt du doch!“

Nein, es ist mir nicht egal! Jos ist homosexuell, wie schön und wie schrecklich, mir wird ganz anders.

Was will er jetzt von mir hören: Du bist schwul und das ist gut so? Klar ist das gut so, aber er scheint ja Probleme zu haben, so wie er hier gerade als Häufchen Elend sitzt.

Natürlich hat er Probleme, wer hat die nicht!

Also muss ich ihm jetzt wohl erst mal helfen bei seinem sogenannten Coming out. Als ob ich dabei helfen kann, verhöhne ich mich innerlich. Die Eltern scheinen Bescheid zu wissen, entnehme ich seinem Wutausbruch, aber sind anscheinend nicht begeistert, wenn ich ihn richtig verstanden habe.

Aber jetzt erst mal richtig reagieren, was fragt ein cooler Typ, dem die Kids vertrauen?

„Du bist also schwul, ich frag mal nicht, ob du das schon ganz genau weißt, davon gehe ich nun mal aus, willst du einen Tee?“

Tee ist immer gut, ich kann einen Tee zubereiten und mir in aller Ruhe überlegen, wie ich dieses Gespräch professionell über die Bühne bringe.

„Nee, Kaffee“, sagt er.

„Mit Rum?“, lächle ich, wohl wissend, dass er bei mir keinen Alkohol bekäme.

„Nee, mit deinem Whisky, den du immer vor uns versteckst.“

Aha, das weiß er also auch, soll doch niemand meinen sauteuren 20 Jahre alten Single Malt trinken von den Milchbubis.

Er springt auf „Kaffee mach ich mir selber, dann kannst du deinen Whisky aus deinem Versteck holen“, grinst er schon wieder aufmüpfig.

Ich höre ihn in der Küche mit meinem Kaffeeautomaten hantieren und suche tatsächlich den gewünschten Whisky. Dann stelle ich mich ans Fenster und überlege und träume und bin ganz weit weg. Wische meine Gedanken beiseite und starre in den Garten.

Kurz darauf kommt er zurück, zwei Becher balancierend, die er auf dem kleinen Tisch absetzt. Ich gieße ihm ein Minischlückchen und mir ein wenig mehr Whisky in den schwarzen Kaffee.

„Ha, das war noch nicht einmal ein Teelöffel voll Alkohol“, beschwert er sich, „Du bist aber spießig.“

Ja, wenn er das so sehen will.

„Sag mal, bist du schon verliebt?“, will ich ihn ablenken, aber auf keinen Fall zu neugierig erscheinen.

Er strahlt plötzlich und springt schon wieder auf.

„Ich habe ein Bild von ihm, er geht in meine Parallelklasse, ist supersüß und trara“, er breitet beide Arme aus, „wir sind fest zusammen.“

Wow, Jos ist homosexuell, verliebt und hat einen Freund. Ein wenig viel auf einmal.

„Ich suche die Fotos“, schreit er, läuft in den Flur und wühlt in seinem Rucksack.

Und ich habe etwas Zeit, um meine Gesichtszüge zu glätten, und schaue einmal mehr durch das Fenster zu meinem leicht erblühten Kirschbaum, der im Frühlingswind leise rauscht.

Da ist er schon wieder, seine Kamera in der hoch erhobenen Hand. Er strahlt, seine Augen blitzen, er rutscht auf Socken über meinen Holzfußboden zu meinem Sessel.

„Kannst du damit um?“, fragt er, „Ne, lass mal, ich zeig‘s dir.“

Er stellt sich hinter meinem Sessel. Beide Arme gleiten rechts und links an meinem Kopf vorbei, er lehnt seinen Kopf auf meine Schulter und fuchtelt mit seinen Händen mit der Kamera vor meinem Gesicht herum. Sein warmer Atem streift mein rechtes Ohr.

„Warte“, säuselt er, „gleich sind die richtigen Fotos da.“

Seine langen braunen Locken kitzeln mich, sein Gesicht ist mir gefährlich nahe, seine Augen starren fast ekstatisch auf die Kamera.

Ich konzentriere mich auf das Display.

„Da“, haucht er, „das ist er, Jan-Martin!“ Wie kann man solch einen langweiligen Namen so behutsam und bedeutungsvoll aussprechen?

Jan-Martin ist blond, hat blaue Augen und passt im Alter perfekt zu Jos. Er grinst unternehmungslustig in die Kamera und ja, auf dem nächsten Foto schaut er definitiv sehr, sehr verliebt Jos an.

„Toller Typ“, brumme ich.

„Toller Typ“, grunzt er, „Jan Martin ist der süßeste Typ ever, ich bin total verknallt.“

Dann darf ich noch einige weitere Fotos betrachten, wo die zwei sich sehr gekonnt küssen, mit Zunge, also die Beiden haben eindeutig schon richtig viel Übung.

Aber nun zu wirklich wichtigen Themen.

„Also Jos, du scheinst mir momentan himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt. Was ist los, Liebesleben okay - Elternleben alles sch---?“

„Ja“, seufzt er nun wieder, steht auf und kuschelt sich erneut in seinen Sessel. Das ist auch besser so, ein wenig Distanz tut Not bei dieser Art von Beratung.

„Meine Eltern haben die Fotos gesehen und mich zu einem Gespräch zitiert.“

„Na immerhin, haben sie die Fotos nicht gelöscht.“

„Doch haben sie, wir haben neue gemacht.“

„Also mal Klartext“, er rezitiert, als habe er die Sätze auswendig gelernt.

„Sie sagen, sie lieben mich nach wie vor.“

Das ist doch schon mal sehr viel, bei all den ungeliebten Kindern auf dieser Welt, muss ich denken.

„ - aber Schwulsein leben gibt es bei den Katholiken nicht, ich soll mir das aus den Kopf schlagen und notfalls mein ganzes Leben enthaltsam leben. Ich darf homosexuelle Gedanken oder so was haben, also auf Männer stehen, aber ich darf nicht, eh ja nicht ficken“, er wird knallrot, „oder eben Jan-Martin knutschen.“

Na, nach den Fotos zu urteilen, scheint er das mit der Enthaltsamkeit gerade nicht vor zu haben. Wie viel Erfahrung er wohl schon hat? Ich werde ganz bestimmt diese Frage nicht stellen.

Aber, er hat mir gerade mit sehr einfachen Worten ziemlich genau die offizielle Lehrmeinung der katholischen Kirche wiedergegeben.

„Und ich kann darüber nicht mit ihnen diskutieren, das ist unumstößlich sagen sie, sie verzeihen mir, was ich getan habe, aber sie bitten mich, hinfort nicht mehr zu sündigen“, rezitiert er weiter.

Tja, das ist ein harter Brocken, den Jos dort vor die Füße geworfen bekam. Seine Eltern verhalten sich den Dogmen der katholischen Kirche entsprechend richtig. Homosexualität ja, aber nicht ausleben, die sexuelle Vereinigung, damit Kinder geboren werden können. Moment mal: Jos hat doch nur noch eine Schwester, Idealfamilie - Mutter, Vater, Sohn und Tochter. Die strenggläubigen katholischen Eltern haben doch wohl nicht verhütet?

„Jos, du hast doch nur noch eine Schwester?“

„Ja, wieso?“

Er plappert gleich weiter: „Wie denkst du denn über diese scheißkatholische Auffassung, Ben? Ach du kannst das bestimmt überhaupt nicht verstehen, du glaubst doch an gar nichts!“

„Doch Jos, ich bin religiös und ich glaube auch, dass es einen Gott gibt.“

Das ist mir nun so raus gerutscht, ich gehe normalerweise nicht so hausieren mit meinem Glauben. Ist doch meine Privatsache, geht niemanden etwas an. Aber bei Jos ist es wohl etwas anderes.

„Duu?“ Er schaut mich ungläubig an. „Gehst du etwa auch in die Kirche und zur Beichte? Ach, du hast ja auch nichts zu beichten, du bist ja schon heilig.“

„Erstens bin ich ganz bestimmt kein Heiliger, zweitens gibt es zum Beispiel die Beichte in der evangelischen Glaubensrichtung gar nicht und drittens ich brauche nicht unbedingt zur Institution Kirche zu gehören, um religiös zu sein und viertens, Kirchen sind schon sehr schöne sakrale Bauten und gerade die katholischen Kirchen, in ihnen kann ich sehr gut meditieren und neue Kraft schöpfen.“

„Wow“, Jos schaut mich ungläubig an. „Du findest … den Kölner Dom schön?“

Na ja, beim Meditieren habe ich gerade an Kirchen irgendwo am Mittelmeer gedacht und nicht gerade an den riesigen Kölner Dom. Immer, wenn ich im Urlaub auf Wandertouren bin, sitze ich oft in schönen, alten und kleinen Kirchen - zur Meditation habe ich zu Jos gesagt, na seit Jahren oft auch nur zum Grübeln, zum endlos langen Grübeln.

„Dann kannst du mir das tatsächlich erklären mit meinen Eltern? Weißt du, ich liebe meine Eltern wahnsinnig, hab mich immer gut mit denen verstanden, die haben mich auch nie mit zur Kirche gezerrt, weißt du. Sie selber sind wohl immer regelmäßig zur Kreisstadt zur Kirche gefahren, aber ich brauchte nicht mit, na außer zu Weihnachten und so. Über Katholisches Glaubenszeug haben wir nie miteinander gestritten, alles war gut und nun kommen sie plötzlich mit diesem ganzen Zeug, von wegen Schwulsein ist eine Todsünde und so. Und ihre Augen, ach Ben sie schauen mich jetzt immer so an, als wäre ich schon gestorben und ich liege im Sarg und sie nehmen Abschied. Sie flüstern nur noch miteinander, und mit mir reden sie nur das nötigste. Ich will sie doch nicht verlieren.“ Tränen laufen über Jos‘ Gesicht.

„Aber ich habe auch Jan-Martin lieb, auf den kann ich auch nicht verzichten.“ Kommt dann schon wieder etwas klarer und lauter.

Armer Jos! 

„Du heißt wohl auch richtig Josef, Jos?“, frage ich unvermittelt.

„Ja, wusstest du das nicht?“, grinst er jetzt schon wieder, „Josef, alter erzkatholischer Vorname, ich soll mir wohl eine Maria suchen und richtig viele kleine Jesuskinder in die Welt setzen. So haben sich meine Eltern das wohl für mich ausgedacht.“

„Jesus war ja nun auch nicht unbedingt der Vorzeigesohn für Eltern“, muss ich ihn einfach unterbrechen

„Hä?“, fragt er nach.

„Na, mit zwölf Jahren rennt er einfach davon in den Tempel und verleugnet seine Eltern und später zieht er mit zwölf Männern durch die Landen und predigt, ohne Berufsausbildung ohne festen Wohnsitz. Dann legt er sich mit der Obrigkeit an, hält nie seinen Mund und lässt sich lieber auch noch kreuzigen als kleinbeizugeben. Wenn das ein idealer Sohn ist?“

„Du bist frech, Ben, nun sag bloß noch, du glaubst Jesus war schwul?“

„Nein, Jos, das weiß ich nun wirklich nicht, wohl eher nicht, soweit wollen wir nicht spekulieren!“

„Und in der evangelische Kirche, da ist Schwulsein kein Problem? Weißt du Ben, in der Schule bei uns da hat niemand, na soviel ich weiß, niemand, ein Problem damit, ich kann mit Jan-Martin Hand in Hand über den Schulplatz gehen, die Lehrer grinsen sich einen und meinen Mitschülern ist das tatsächlich latten und die Mädchen finden uns irgendwie süß.“

Jos und sein Freund Hand in Hand, die Zeiten haben sich anscheinend geändert. Zu meiner Zeit durfte man nicht einmal mit einem Mädchen Hand in Hand auf dem Schulgelände gesehen werden. Na ja, das ist nun etwas übertrieben, und als ob ich das je gewollt hätte. Aber meine Jeansjacke, auf der mit rotem Stickgarn „Birthcontrol“ aufgestickt war, die war schon tabu, mit ihrem Statement zur Geburtenkontrolle, da nutzte auch mein Hinweis auf die Band nicht. Ach, es waren schon wilde Zeiten damals und auch schon damals hatten wir uns immer in unserer Scheune getroffen um Musik zu machen und zu hören. Ich habe dann später diesen alten Hof übernommen, als meine Großeltern gestorben waren und es mich wieder aufs Land zog.

Aber ich muss Jos jetzt erst einmal etwas erklären. Wie erkläre ich ihm den Unterschied zwischen Katholizismus und Evangelischer Glaubensrichtung. Ohne ihn zu langweilen? Und überhaupt so viel weiß ich nun selber nicht. Vielleicht ist es besser, ich rede über meine eigene Auffassung.

„Ben“, unterbricht er meine Gedanken schon wieder, „ich staune, du glaubst irgendetwas, du bist doch ein Alt-68er, du hast doch die sexuelle und die politische Freiheit mit der Muttermilch aufgesogen.“

„Jos, 1968 war ich noch nicht einmal geboren.“

„Ja, sag ich doch: mit der Muttermilch.“

„Stillen war zu der Zeit gerade völlig out“, kläre ich ihn auf. Die Vorstellung einer schwellenden Mutterbrust ist mir gerade ziemlich zuwider.

Was glaube ich denn nun?

„Jos“, beginne ich noch mal, er schaut mich mit seinen großen braunen Augen erwartungsvoll an, ich halte seinem Blick professionell stand. Die Augen sind sehr tief, wie lange ist es her, dass ich in irgendwelche Augen versunken bin, blaue, graue, grüne, braune Augen, es gab schon mal so tiefe braune Augen, so schön, wie die von Jos. Braune Augen, was passiert hier eigentlich?

„Du träumst, Ben oder denkst du nach?“

Ich denke nach, wie ich dir das alles erklären soll? Ich träume von deinen braunen Augen, Jos. Nein, ich träume von anderen braunen Augen.

„Fang einfach an, Ben.“ Er klingt leicht genervt.

„Okay, also, die evangelische Kirche ist da auch noch lange nicht einer Meinung. Du weißt, es gibt viele Gruppierungen: einige Gruppen halten Schwulsein nach wie vor für eine Sünde. Es gibt Kirchen, die auch heute noch ihre Hilfe anbieten, Homosexualität zu heilen. Sie sind damit restriktiver als die katholische Kirche, andere stellen Homosexualität mit Heterosexualität als gleichwertig. In manchen Kirchengemeinden werden zwar die schwulen Paare gesegnet als Menschen, andere segnen in einem Gottesdienst explizit auch deren Partnerschaft, da heißt die Paare können sich dort faktisch kirchlich trauen. In vielen Gemeinden kann auch der Pfarrer oder die Pfarrerin in einer gleichgeschlechtlichen Ehe zusammenleben. Aber du merkst schon die feinen aber prägnanten Unterschiede.“

Nun unterbricht er mich zum ersten Mal: „Warst du schon mal auf einer Schwulenhochzeit, Ben, wieso weißt du das alles?“

„Nee, war ich nicht!“

Wieso wird mir jetzt so heiß? Nicht nachdenken, weiterreden.

„Aber du willst eigentlich meine Auffassung hören, nicht die der Kirchen, dich interessiert, wie Gott darüber denkt. Also ich glaube an einen liebenden Gott, der uns alle so liebt wie wir sind. Und im neuen Testament steht nichts wirklich Bedeutendes zur Homosexualität, nur Jesus gibt uns eine wunderschöne neue Aufgabe: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Und das ist Aufgabe genug, da haben wir Menschen genug dran zu knabbern und wir scheitern immer wieder. Bei den meisten hapert es schon gewaltig mit der eigenen Akzeptanz, damit, sich selbst zu lieben. Mein Gottesbild ist also ein liebender Gott, den brauche ich. Ein Gott, der das Elend in der Welt nicht will, aber aus irgendwelchen Gründen, die wir nicht verstehen, nicht eingreifen kann. Viele Menschen suchen sich ein Gottesbild, welches für sie am wichtigsten ist. Wenn dir großes Unrecht zuteilwurde, benötigst du einen gerechten Gott. Wenn du Verweichlichung nicht leiden kannst, wirst du ein hartes Gottesbild haben, oder eben eine strafenden Gott.“

Ich merke, dass ich gerade anfange zu dozieren, das will ich nicht, aber er hat gefragt und sieht mich auch noch sehr interessiert an, also weiter:

„In der Bibel steht, Gott schuf den Menschen zu seinem Ebenbild als Mann und Frau, also ist Gott sowohl Mann und Frau und wenn wir sein Ebenbild sind, dann ist Gott jung und alt, schön und hässlich, strotzend vor Kraft und zart…“

„Und hetero und schwul, willst du das wirklich sagen, Ben? Ist dein Gott schwul? Ben, glaubst du das wirklich?“ Jos schaut mich sehr perplex an.

Na ja, Kleiner, das wäre doch ein guter Gedanke.

„Ein schwuler Gott, Ben, ist das nicht Blasphemie, wenn du das laut sagst?“

„Nun ich sage es dir, Jos und ich glaube fest daran, dass Gott dich wirklich gut versteht, er liebt dich, so wie du bist. Und he, du liebst deinen Jan-Martin, gibt es etwas Schöneres“, will ich jetzt wieder etwas weniger ernst sein. Dieses Gespräch geht in eine merkwürdige Richtung, was habe ich da eigentlich gerade alles gesagt? Das bin doch nicht ich, oder?

„Na ja zunächst bin ich mal verliebt, Liebe ist so was Großes, ich bin doch erst 16, Ben.“

Gut, dass du mich erinnerst Kleiner, du bist noch viel, viel zu jung. Und schau mich nicht so an!

Wie kann jemand so süß zusammengekuschelt in meinem Sessel hocken. Ich lasse meinen Blick wohl lieber noch mal durch meinen Garten streifen, sein Fahrrad lehnt noch immer am Kirschbaum, ich glaube einige Blüten sind schon zaghaft erblüht in der Aprilsonne.

„Dein Gott mag schwul sein, Ben“, holt er mich zurück, „aber der Gott meiner Eltern ist es ganz bestimmt nicht.“

„Wir haben nur einen Gott, Jos, wir werden ihn uns teilen müssen. Wir sind nun mal eine monotheistische Christenheit, tja, alle Christen haben nur einen Gott und so viele verschiedenen Ansichten. Wir werden also nach unserem Tod alle zusammen vor diesem einen Gott sitzen, da werden einige von uns ganz schön dumm aus der Wäsche gucken.“

„Glaubst du allen Ernstes an einem Leben nach dem Tod, Ben, ich bin entsetzt über dich, wo ist der coole Zocker geblieben?“

„Ach Jos, weshalb bist du zu mir gekommen, weil ich der obercoole Macker bin oder weil du gewusst hast, dass ich ziemlich emotional werden kann?

Und überleg dir mal, da sitzen dann deine Eltern zwischen dem Papst und den Dragqueens vom Christopher-Street-Day einträchtig nebeneinander im Himmel oder wo auch immer im Jenseits.“

Er lacht sich kaputt. „He, ich liebe unseren Gott“, giggelt er.

„Und wenn du nun stirbst und alles ist ganz anders und es gibt gar keinen Gott?“

„Jos, nicht zu philosophisch werden“, ermahne ich ihn, „aber du wirst lachen, das habe ich schon mal irgendwo gelesen, da antwortete der Gefragte, dann werde ich sagen, ich habe mit meinem Gott in der Welt vor meinem Tod ganz wunderbar gelebt.“

„Boah, Ben“, sagt er „du bist ja weise und so gut haben wir noch nie miteinander geredet, obwohl bei meinen Eltern bin ich ja kein Stück weitergekommen, aber ich glaube, ich muss da wohl irgendwie durch und meine Eltern auch, oha, das kann noch was werden, aber dein Gedanke, dass ich nur eine Schwester habe, der ist auch irgendwie interessant.“

Hat er also doch zugehört.

Du bist mutig, Kleiner, du schaffst das! Du bist viel mutiger, als ich es jemals war. Und wieso führe ich hier auf einmal theologische, tiefgreifende Gespräche, ich konnte das doch immer wunderbar ausblenden und verdrängen? Ich bin doch der Coole, der unabhängige Alleingänger, der Einzelkämpfer, der mit der Natur verwachsen ist und keine näheren Kontakte braucht.

„Trink mal erst deinen Kaffee zu Ende, Jos.“

„Igitt, der ist kalt geworden“, schüttelt er sich.

„Danke Ben“, flüstert er. Anschließend springt er auf, schlittert zu meinem Sessel, will sich anscheinend unvermittelt in meine Arme stürzen, bremst aber abrupt, stemmt seine Arme rechts und links an meine Sessellehnen ab und schaut mich sehr ernst an: „Hast du eigentlich zur Zeit eine feste Freundin?“, fragt er sehr bestimmt.

„Neeein, siehst du hier eine?“

„Na, dann also, nein. Dann darf ich das hier tun!“

Er beugt sich vor und berührt mit seinen Lippen ganz zart meinen Mund, verwundert schau ich ihn an, seine Augen lachen, er bittet nicht um Erlaubnis, er fordert es ein. Als ich nicht erschreckt zurück zucke, schließen sich seine Augenlider, er ist sich sicher und seine Lippen legen sich etwas fester auf meine. Oh Jos, weißt du, was du da gerade machst? Ja, er weiß es. Meine Hände streichen über seine braunen Haare, sie sind so weich, gleiten in seinen Nacken und ziehen ihn etwas fester zu mir heran. Er weicht nicht zurück, knickt seine Arme ein und kommt mir näher. Ich schließe meine Augen und gebe mich seinem Kuss hin. Der Kuss bleibt zart, jung und unschuldig. Es ist erregend ja, aber mein Verstand bleibt eingeschaltet. Ich halte Abstand, genieße, es ist so schön, mein Herz flattert, mein Bauch fährt gerade Slalom, Ich spüre meine Erregung, aber mein Verstand sagt mir: Vorsicht. Du darfst es nicht verderben, bleibe bei dir, du kannst das. Eine enorme Zärtlichkeit überspült mich – und dann ist es vorbei.

Jos zieht sich zurück, er steht vor meinem Sessel und grinst mich an, seine Wangen sind gerötet, aber seine Augen schauen etwas überheblich.

„So Ben, nun hast du zum ersten Mal in deinem Leben einen schwulen Mann geküsst. Jetzt hast du auch etwas, was du mit deinem Gott besprechen kannst.“

Wenn er sich da mal nicht gewaltig irrt, mit „zum ersten Mal einen schwulen Mann geküsst“, und wieso Mann, Jos ist nun mal wirklich noch kein Mann, denn einen Mann, der so gut küsst, den hätte ich definitiv nicht so davon kommen lassen, einen festen Freund im Hintergrund hin oder her. Und mein Gott, der kann mit meinen schwulen Küssen umgehen, beichten muss ich wohl eher, meine Gefühle einem 16 jährigen Jungen gegenüber.

„Been, es hat dir gefallen, gib es zu“, schon wieder Jos und dann grinsend „ich habe es gesehen“ Er schaut frech runter auf meine Jeans.

Wo nehmen die Kids heutzutage nur das Selbstbewusstsein her?

„Du, ich muss jetzt los, aber zum Treffen am Donnerstag bringe ich Jan-Martin mit, du musst den unbedingt kennenlernen.“ Seine braunen Augen blitzen schon wieder.

„Tja, er ist natürlich herzlich willkommen, aber keine Knutschorgien auf meinem Sofa, wir haben zunächst Bandprobe und danach wollen wir Karten spielen. Karten spielen! Nicht vergessen.“ Ich drohe ihm mit meinem Zeigefinger.

„Okay, für andere Spiele gehen wir ins Separee“, er zeigt auf meinen Wintergarten und dann noch frecher grinsend auf meine Schlafzimmertür.

Böser Junge! ich kann endlich wieder aufstehen und wuschel durch seine Haare, das kann ich grad nicht lassen.

Aber er ist schon halb draußen und bald höre ich wie er sich im Flur anzieht, „Tschüüß!“ ruft und durch die Küche verschwindet.

Ich stelle mich ans Fenster und schaue ihm hinterher, er winkt, bevor er das Fahrrad vom Kirschbaum holt.

Starker Jos, er ist so positiv denkend, er wird das schaffen.

Er schwingt sich auf das Rad und fährt etwas waghalsig durch die Gartenpforte davon.

Ich stehe am Fenster und schaue wehmütig hinter ihm her.

Mein Kirschbaum zeigt die ersten Knospen, zart und rötlich, bald wird er in voller Blüte stehen.

„Ich will mit dir machen, was der Frühling mit den Kirschbäumen macht.

Dieses Gedicht kommt mir in den Sinn, ich wäre gerne der Frühling gewesen.

Nun hat jemand anderes Jos wach geküsst und das ist auch gut so!

Aber hat er nicht viel eher mich wieder wach geküsst? Geschüttelt wie ein Frühlingswind, zum Erröten und Glühen gebracht durch seine Jugend? Auch das ist gut so.

Danke Jos.

Meine Knie schlottern plötzlich, meine Hände zittern und eine einsame Träne bahnt sich einen Weg über meine erhitzte Haut.

Es war wohl weit mehr, als nur wach geküsst. Und auf einmal weiß ich, wenn ich es jetzt nicht tue, werde ich es nie mehr können.

Ich seufze leise und gehe zum Schreibtisch, lange muss ich nicht suchen, das Foto liegt noch immer in der obersten Schublade, braune Augen schauen mich an, darunter heftet eine Visitenkarte, ein Name und der Zusatz: Theologische Seelsorge und Pastor der Gemeinde in …..und seine Telefonnummer. Ich starre die mir wohlbekannte Nummer lange an und nehme das Telefon. Seit drei Jahren war Funkstille, kein Telefonat, kein Wort zwischen uns. Es erklingt das Freizeichen, er meldet sich fast sofort. Meine Knie werden weich, ich umklammere den Hörer.

„Hei, hier ist Ben“, flüstere ich, und höre ihn schwer atmen. „Ben“, sagt er mit unendlich müder und alter Stimme, „Ben, du solltest erst wieder anrufen, wenn du Ja zu uns sagst. Ich bin nicht mehr für dein Seelenheil und für die Lösung all deiner Probleme verantwortlich. Was willst du? Willst du mich etwa heiraten?“ Die Stimme klingt nun lauter, spöttisch, hart und bitter. Ich nehme all meinen Mut zusammen. Nach all den Jahren flüstere ich: „Ja“ in den Hörer.

„Was ja?“, fragt er genervt. „Ja“, sage ich nun noch leiser. „Ja?“, fragt er zögerlich und ungläubig. „Ja“, sage ich nun noch einmal, etwas lauter, aber mit sehr krächzender Stimme. „Ich komme, bin gleich da!“ erwidert er, kein Wort mehr und er muss auch nichts mehr sagen, alles wurde schon gesagt vor langer Zeit, er wird kommen.

Ich stelle mich ans Fenster und warte, er wird mindestens eine halbe Stunde fahren müssen. So wie ich ihn kenne, wird er das Motorrad, seine Hayabusa, nehmen, so wird er am schnellsten hier sein.

Meine Beine zittern nicht mehr, mein Herz schlägt wieder ruhig und gleichmäßig, tiefe Ruhe erfüllt mich. Hier werde ich stehenbleiben, bis er den Klinkerweg hochkommt. Alles wird gut.

Ich hatte mich immer versteckt, so viele Jahre waren wir ein heimliches Liebespaar gewesen. Hatten zusammen in der Band gespielt, und wenn alle anderen gegangen waren, hatten wir uns in unserem alten Schuppen geliebt. Hungrig waren wir immer wieder übereinander hergefallen, genau wie damals, als wir zum allerersten Mal nach einer durchzechten Nacht und total bekifft nackt gemeinsam in seinem Schlafsack aufgewacht waren, und ohne uns zu fragen, was passiert war, aneinander gedrängt hatten. Niemand hatte je etwas geahnt! An den Wochenenden waren wir später mit seinem Motorrad unterwegs gewesen, auch als er schon lange Theologie studiert hatte. Zunächst hatte er Journalismus gewählt, er wäre ein großartiger wortgewaltiger Journalist geworden. Aber als plötzlich seine kleine Schwester an Leukämie erkrankte und wenig später verstarb, wechselte er auf Theologie um. Immer saß ich geschützt hinter ihm auf seinen schnellen Motorrädern, klammerte mich an seinen Rücken und war glücklich.

Aber dann musste er sich ja unbedingt öffentlich outen, er wollte das Versteckspiel in seiner Kirchengemeinde nicht mehr und ich sollte ihm in seiner Kirche in unserem Nachbarort das Jawort geben. Allerdings war ich viel zu feige, hatte tausend Einwände, wollte, dass alles so blieb, wie es war. Er hatte mich irgendwann vor die Wahl gestellt, entweder oder… Ich hatte den Schwanz eingezogen und war gegangen. Hatte meinen Liebhaber, meinen Seelengefährten und meinen besten Freund verloren. Er hatte den Mut, war stark wie immer und es war gut gegangen, er war nach wie vor beliebt und angesehen in seiner Gemeinde, nur wenige hatten die Kirche zukünftig gemieden, andere waren neu dazugekommen. Der Kirchenrat, die Jugendgruppen und der Seniorenfrauenkreis fraßen ihm aus der Hand. Hatten sie ihn vorher mit allen jungen Frauen versucht zu verkuppeln, machten sie ihn nun auf junge Männer aufmerksam, aber er hatte immer nur geheimnisvoll gelächelt und gesagt, er könne sein Herz nur einmal verschenken und derjenige hätte ihm sein Herz noch nicht wieder zurückgebracht. Man hatte mir dies erzählt, beiläufig beim Einkaufen, ich war ja aus ihrer Sicht nicht betroffen. Geschämt hatte ich mich, dennoch nicht reagiert und unsere Liebe verleugnet… Und nun würde ihr schwuler Pastor mich heiraten, sich verpartnern, heißt das wohl, blöder Ausdruck. Ich muss grinsen und erschauere doch innerlich bei meinen Vorstellungen – er und ich vor dem Altar und die neugierigen Blicke des ganzen Dorfes in seiner Kirche.

Genau zwanzig Minuten später höre ich den tiefen hammerartigen Bassschlag des Motors und schon braust er durch die Gartenpforte. Er ist schnell, zu schnell gefahren. Dort, wo vorhin noch das Fahrrad von Jos lehnte, stellt er sein Motorrad ab. Es glänzt in der Sonne, einige voreilige Kirschblüten fallen auf die blanke Verkleidung.

„Ich will mit dir machen, was der Frühling mit den Kirschbäumen macht.

Nun, er ist wohl eher ein gewaltiges Frühlingsgewitter, wie er dort den Fußweg hochkommt. In seinen Sturzhelm packt er seine langen Handschuhe und lässt alles gleichgültig auf den Terrassentisch liegen. Er schüttelt seine braunen Locken, die schwarze lederne Motorradkluft und die hohen Lederstiefel lassen ihn, kombiniert mit seinem grimmigen Gesichtsausdruck, sehr gefährlich erscheinen. Zwei Meter Länge und 100 Kg geballte Kraft donnern durch meine Küche und er zieht im Flur ganz bestimmt nicht seine Stiefel aus.

Da steht er nun vor mir, breitbeinig, braune Augen mustern mich bösartig abschätzend, minutenlang von oben bis unten.

Ich habe keine Angst, alles wird gut!

Plötzlich breitet er beide Arme aus, zeigt seine blitzenden weißen Zähne, seine braunen Augen locken und seine Zunge ploppt aufreizend in seine Wange – ein böser Mann mit gefährlich viel Sexappeal. Und ich, ich fliege an seine Brust, endlich! Und ich weiß ganz genau, er wird mir heute noch die Seele aus dem Leib ficken, der Herr Pastor. Und er wird nicht warten bis zur Hochzeitsnacht.

Sein Kuss ist nicht keusch, sondern wild, heiß und erbarmungslos sexy, dann muss ich plötzlich in seinen starken Armen, die mich inzwischen fast zerquetschen, schmunzeln: Ob meine Band zu unserer Hochzeit in der Kirche spielen wird? Ganz bestimmt! Tja Jos, das wird eine Überraschung!

Pablo Neruda, Chile, Liebesgedichte, Poema XIV, Quiero hacer contigo lo que la primavera hace con los cerezos. Ich will mit dir machen, was der Frühling mit den Kirschbäumen macht.

Die Bibel „So schuf Gott den Menschen als sein Ebenbild, als Mann und Frau schuf er sie“ (1 Mose 1,27).

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