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Dämonenjäger

Teil 12

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Inhaltsverzeichnis

Irgendwo in Bayern, Deutschland, Anno Domini 2017

Doktor Raymund Berg saß in seinem Büro und blätterte in den Akten der Schüler. Dieses Doppelschuljahr war eines des Schwierigsten, die er bisher als Direktor dieses Hauses gehabt hatte. Angefangen von der Anstrengung, genügende qualifizierte Schüler zu bekommen, bis hin zu den Vorfällen, die einen eben dieser Schüler das Leben gekostet hatten. Doktor Berg hatte damals seinen Rücktritt eingereicht, der allerdings vom Stiftungsrat nicht befürwortet und vom Exekutivrat nicht angenommen worden war.

Der Rückblick konfrontierte ihn ebenso mit einigen Erinnerungen an die Schüler des vorigen Durchgangs, die zwar nicht gerade die besten geistigen Leistungen vollbracht hatten, aber die bei weitem die besten sozialen Fähigkeiten gezeigt hatten. In der Planung für das kommende Doppelschuljahr standen zwei junge Herren auf der Liste, die durch Vermittlung der Herrn Böttcher und Lanz-Ravensberg diese Schule besuchen würden. Dass es sich dabei um ein Kampfmagierpaar handelte, machte die Sache nicht gerade einfacher. Aber was war schon Einfach, wenn man es mit jugendlichen Magiern zu tun hatte. Dass sie sich bei den ersten Stunden in Magie nicht selbst umbrachten, schien manchmal noch das geringste Übel zu sein. Und die Tatsache, dass sie ausgerechnet hier einen Partner für ihr ohnehin schon kompliziertes Liebesleben verpasst bekamen, wollte Dr. Berg manchmal am liebsten verdrängen.

Das Nächste, worauf Dr. Berg bei seinem Durchblättern stieß, war eine Notiz vom Geschichtsbeauftragten des Exekutivrates. Professor Heilmann hatte sich äußerst lobend über die Arbeit der Schüler Neubert und Petersen ausgesprochen. Mit Erstaunen musste Doktor Berg feststellen, dass die Schüler Krantz und Zimmermann ebenfalls an dieser Arbeit beteiligt gewesen waren. Professor Heilmann schlug vor, ein Team der SMU zur Unterstützung dieser kleinen Gruppe anzufordern, damit die Untersuchungen weiter gehen konnten, ohne den Unterricht in größerem Umfang zu stören. Kopfschüttelnd nahm Doktor Berg zur Kenntnis, wer sie beehren sollte. Oberleutnant Kerner war in seinen Augen eine gute Wahl, was man von Oberleutnant Nochterville nur bedingt sagen konnte. Immerhin waren sie nun Mitglieder der SMU, die trotz ihrer kurzen Existenz schon für einige unorthodoxe Vorgehensweisen bekannt, oder besser, berüchtigt war. Seufzend machte sich Dr. Berg eine kurze Notiz für die Wiedervorlage zum Schuljahresbeginn.

Zu Beginn des zweiten Schuljahres wurde nur eine kurze Versammlung in der Aula abgehalten, während der die beiden Offiziere der SMU vorgestellt wurden.

In der Mittagspause gab es ein regelrechtes Gedränge in der Cafeteria, als die sechs Kameraden, die während den Ferien bei der SMU gewesen waren, tausende neugieriger Fragen beantworten mussten.

„Ihr habt einen Elementar verhaftet?“

„Daniel wurde richtig verletzt?“

„Stimmt es, dass ihr schon ein paar Schüler für den nächsten Durchgang getroffen habt?“

„Ihr seid ernsthaft in Thailand gewesen?“

Einige Dinge durften dabei allerdings nicht erwähnt werden und so mussten besonders Daniel und Felix den Teil mit dem gestaltwandelnden Luchs irgendwie umgehen. Prasong und Florian mussten ebenfalls den für sie interessantesten Teil mit dem Drachen auslassen. Dennoch wurde es ziemlich hektisch, bis Christian die Versammlung auflöste und alle auf ihre Stuben schickte, damit sie sich auf den nachmittäglichen Unterricht vorbereiten konnten.

Am späten Nachmittag trafen sich Lucien, Tobias, Oliver, Torben, Sebastian und Tim dann zu ihrer ersten Besprechung.

Oliver gab noch einmal eine kurze Zusammenfassung der Vorgänge, die zum Auffinden des Tagebuches geführt hatten und Torben fasste ihre ersten Ergebnisse zusammen.

Tobias lehnte sich etwas in seinem Stuhl zurück und sah auf die Zusammenfassung, die Torben vorgetragen hatte.

„Das ist im Prinzip eine Ermittlung vom Hölzchen zum Stöckchen. Vom Betrieb des Konzentrationslagers Sachsenhausen seid ihr über geheime Anweisungen bis zu dieser Forschungsarbeit über Hexenprozesse vorgedrungen. Das ist natürlich ein interessantes Ergebnis, trifft aber nicht den ganzen Umfang eurer selbstgewählten Schwerpunkte der Ermittlung.“

Die vier Hobbyhistoriker sahen Tobias erstaunt an.

„Na, mal sehen. Erster Punkt war: Alles zur Historie und dem Betrieb des Konzentrationslagers Sachsenhausen und seiner sämtlichen Außenlager, insbesondere das von Köpenick. Das ist nur teilweise durchgeführt worden. Gibt es noch weitere Unterlagen für das Hauptlager, die interessant sein könnten? Sind außer dem Lager Köpenick noch andere Außenlager mit Sonderbefehlen bedacht worden? Sind Unterlagen über das Lager Köpenick verfügbar?“

Tim sah Tobias betroffen an. Der sah hinüber zu Lucien, welcher aber immer noch kopfschüttelnd in den Unterlagen blätterte.

„Wir machen es folgendermaßen: Ihr durchforstet weiterhin die Archive und versucht, soviel wie möglich über die einzelnen Punkte eurer Ermittlung zusammenzutragen. Dann werden wir gemeinsam versuchen, die gefundenen Daten zu einem Netz zu verknüpfen, das einen groben Überblick über die gesamten Vorgänge erlaubt, die damals gelaufen sind.“

Alle vier Schüler nickten begeistert und auch Lucien sah nun auf und nickte.

„Außerdem werden wir bei der Datenerhebung helfen. Ich möchte gerne ein fünftes Thema bearbeitet wissen. Ich kann mich erinnern, dass wir gelernt haben, dass es 1934 schon einmal eine Säuberungsaktion, ich glaube bei der SA, gegeben hat.“

Tobias nickte.

„Der Röhm-Putsch. Dabei ging es aber hauptsächlich um politische Ziele. Die Unterwanderung der SA durch Homosexuelle war da wohl eher Nebenschauplatz.“

Lucien sah auf die Unterlagen.

„Ich möchte gerne wissen, ob vielleicht irgendjemand in den Unterlagen von Sachsenhausen von 1942 oder auch 1945 erwähnt wird, der bereits 1934 schon einmal aufgefallen ist. Sei es als Insasse, als Wache oder sogar an höherer Stelle.“

„Hat das was mit unserem Fall zu tun?“

Lucien bedachte Sebastian mit einem nachdenklichen Blick.

„Ich weiß es nicht. Aber schon `34 wurden jede Menge Homosexuelle ermordet, die mit den politischen Zielen der SA nur ganz am Rande zu tun hatten. Die Ausrede war die Beseitigung einer moralisch nicht tragbaren Gruppe. Tatsächlicher Hintergrund war natürlich die Beseitigung der SA-Führung wegen ihrer für die Partei gefährlichen politischen Strömung. Dazu hätte es aber gereicht, die höheren SA-Führer zu beseitigen und ihnen das moralische Fehlverhalten anzuhängen. Warum sind damals so viele ermordet worden, selbst einige, die nicht mal in der SA waren?“

„Mitwisser beseitigen?“

„Die in Bad Wiessee vielleicht, aber zu Hause? Wir werden erst einmal nach Übereinstimmungen suchen. Ihr habt ja alle eine Aufgabe, deshalb übernehme ich die Suche. Tobias übernimmt die Koordination und einmal in der Woche, nein zweimal, mittwochs und samstags Abend ist dann Besprechung.“

Tobias nickte seufzend. So was war ja fast zu erwarten gewesen. Aber bis jetzt hatte Lucien eigentlich immer Recht behalten mit seinen manchmal merkwürdigen Einfällen.

Irgendwo in Baden-Württemberg, Deutschland, Anno Domini 2017

Robin, Kyan, Michael und Rafael hatten für die Dauer ihrer Abordnung einen der Kombis ihrer Tarnfirma bekommen. Ihr Weg führte sie, ähnlich wie bei Haus Birkenstein, in eine abgelegene Gegend mit dichtem Waldbestand.

Als Michael mit dem Wagen am Ende eines langen, gewundenen Privatweges angekommen war, hielt ihn ein schmiedeeisernes Tor in einer knapp anderthalb Meter hohen terracottafarbenen Mauer mit roten Ziegeln auf. Das Schild an der rechten Mauerseite schien schon etwas älter zu sein: Sport- und Wellnesscenter Waldesruh. Darunter hatte jemand mit Klebeband eine eingeschweißte Nachricht gehängt: Ab 01.10.2017 – Stiftung Jugend für die Zukunft – Pädagogisches Zentrum Waldesruh.

„Ach du ahnst es nicht. Waldesruh! Was besseres ist denen nicht eingefallen?“

„Birkenstein ist auch nicht viel besser. Steig mal aus und geh zur Sprechanlage.“

Das Fahrzeug musste direkt hinter dem Einfahrtsbereich geparkt werden. Michael und Rafael sahen sich prüfend um. Ähnlich wie in Birkenstein waren eine ganze Anzahl Überwachungseinrichtungen installiert worden. Sie zählten alleine im Bereich der Einfahrt sechs Mann des Security-Personals. Das Schild am Tor hatte schon auf die ursprüngliche Nutzung der Anlage hingewiesen. Es gab einige kleinere Gebäude, anscheinend Wohngebäude, die in einem lockeren Kreis vier große Zentralgebäude umstanden. Das markanteste stand weit im Hintergrund und war deutlich als Schwimmhalle erkennbar, direkt mit einer weiteren Halle verbunden. Schräg davor stand das größte Gebäude mit vier Stockwerken. Der Aufteilung der Fenster nach zu urteilen, gab es dort Büros oder andere kleine bis mittlere Räume. Direkt mit der Front zum Zugangsbereich der Anlage stand ein leicht geschwungener Flachbau auf dem die metergroßen Buchstaben EMPFANG angebracht waren.

Achselzuckend machten sich die vier auf den Weg zum Empfang. Dort trafen sie zu ihrer Überraschung auf Brigadegeneral Kayser, der, zusammen mit seinem Vorzimmerhasen, einem jungen Mann über die Schulter sah, der schon etwas genervt mit der Eingabemaske auf dem Monitor kämpfte.

Robin und Kyan zögerten etwas, da sie alle in Zivil waren, doch Michael und Rafael gingen schwungvoll zum Tresen.

„Guten Morgen. Das Unterstützungspersonal ist eingetroffen.“

Amüsiert sah der General auf.

„Ah, Herr Lehrke, richtig? Ich nehme an, Sie erinnern sich an mich? Nun, es ist erfreulich, dass sie so früh eingetroffen sind. Eigentlich wollte ich dem Leiter von Haus Waldesruh nur noch einen kurzen Besuch abstatten, aber da gab es dann hier ein kleines Problem. Wo Sie schon mal hier sind, können Sie mich auch gleich begleiten. Marcel, du machst bitte hier weiter, bis die ersten Lehrgangsteilnehmer eintreffen.“

Marcel nickte heftig und sah dem General einen Moment hinterher, als dieser in Richtung des Zentralgebäudes ging. Kyan, der als letzter an ihm vorbeilief, stutzte etwas, dann grinste er. ‚Ist der nicht nur Schneehasi, sondern auch Betthasi?‘

Im Zentralgebäude ging es mit dem Aufzug in den vierten Stock.

„Die Anlage war günstig zu bekommen, denn ein Wellnesscenter mitten im Wald ist nicht besonders gewinnbringend. Es mussten etliche Umbauten vorgenommen werden, hauptsächlich im Trainingsbereich, aber das ist fast alles erledigt. So, kommen Sie bitte mit.“

Durch ein noch leeres Vorzimmer ging es in das Büro des Direktors.

„Meine Herren, dies ist Doktor Gerald Brüggen, der Direktor von Haus Waldesruh. Herr Brüggen, die vier Herren sind Ihre Ausbildungsunterstützung für die ersten drei Monate. Ich hoffe, es wird eine gute Zusammenarbeit.“

Doktor Brüggen war eine etwas überraschende Erscheinung. Er war groß, schlank und geschätzt Mitte dreißig. Seine rostroten Haare waren militärisch kurz geschnitten, doch er lächelte seine Besucher an. Zur heimlichen Freude von Rafael trug Dr. Brüggen Jeans und ein rotes Polo-Shirt.

„Ich freue mich, dass Sie so freundlich sind, uns hier beim Aufbau der Schule zu helfen. Ich muss zugeben, ich habe nicht viel Erfahrung mit einem Schulbetrieb und noch weniger Erfahrung mit Gestaltwandlern, egal welcher Art. Mein Partner und ich haben den aktiven Dienst verlassen um eine akademische Karriere zu beginnen, doch wie man sieht, kommt es manchmal anders als man denkt.“

Doktor Brüggen winkte nun leicht einem im Hintergrund stehenden Mann zu, der etwas kleiner war als er und mit seinen blonden Haaren und dem freundlichen Gesicht sogar etwas jünger aussah.

„Das ist mein Partner, Frank Deisenberg. Er ist Astralmagier, hat Psychologie studiert und wird als Berater tätig sein, wenn schwerwiegende Probleme auftreten sollten.“

Womit Doktor Brüggen dann ja tatsächlich der Kampfmagier sein dürfte.

Die vier Besucher wurden alle vorgestellt und mit Handschlag begrüßt, doch zu ihrer Überraschung verabschiedete sich Brigadegeneral Kayser auch schon wieder.

„Ich habe noch Termine heute. Ich wünsche Ihnen allen viel Glück.“

Doktor Brüggen seufzte leicht und sah einen Moment geistesabwesend aus dem Fenster.

„Entschuldigung, aber das alles ging ein wenig schnell. Bis vor etwa drei Monaten habe ich noch nicht einmal ansatzweise daran gedacht, dass wir wieder für die Organisation arbeiten könnten. Dann kam das überraschende Angebot mit dieser Schule und die große Herausforderung einen Lehr- und Ausbildungsplan zu erstellen und gleichzeitig diese Anlage hier den Erfordernissen anzupassen.“

Dann drehte sich Doktor Brüggen direkt zu Robin und Kyan.

„Dank Ihrer Hilfe konnte der Ausbildungsplan ziemlich schnell in eine endgültige Form gebracht werden. Ich bin den ersten Entwurf mit meinem Kollegen, Doktor Berg von Haus Birkenstein durchgegangen und sein erster Kommentar war: Haben Sie etwa Kontakt zur Special Mission Unit?“

Robin und Kyan verzogen etwas säuerlich ihr Gesicht, doch Doktor Brüggen und auch sein Partner lachten.

„Ich habe noch einen Stapel mit Verwaltungsarbeit auf meinem Schreibtisch, deshalb wird Frank mit Ihnen durch das Gelände gehen, denn ich nehme an, Sie wollen alles sehen, bevor die Lehrgangsteilnehmer eintreffen.“

Die vier Besucher nickten und Frank Deisenberg begleitete sie hinaus.

„Sie müssen schon entschuldigen, aber er steht etwas unter Stress. Bis jetzt hat er Pädagogik nur in der Theorie kennengelernt. Dies hier ist etwas anderes als akademische Studien oder auch als ein Kampf gegen Dämonen.“

Langsam gingen sie hinüber zum Aufzug.

„Das Zentralgebäude beherbergt in den beiden oberen Stockwerken die Verwaltung, im zweiten Stockwerk sind Unterrichtsräume, Schullabore und ähnliche Einrichtungen. Wir sind darauf eingerichtet, in der Zukunft bis zu drei Klassen in jedem Jahr zu unterrichten. Es ist noch offen, ob diese dann nach Alter oder nach Bildungsstand aufgeteilt werden sollen, denn wir erwarten auch etliche ältere Teilnehmer. Das Erdgeschoß umfasst die Cafeteria mit Küche und Lagereinrichtungen, ebenso einige Freizeiteinrichtungen.“

Robin und Kyan sahen sich nur mit hochgezogenen Augenbrauen an. Vor dem Zentralgebäude deutete Frank Deisenberg einmal in die Runde.

„Die kleineren, flachen Gebäude sind die Unterkünfte. Das waren ursprünglich Luxusapartments die wir umgebaut haben. Jetzt beherbergt jedes Gebäude zwei Apartments mit Doppelunterbringung, ähnlich wie im Offiziersseminar. Die terracottafarbigen Häuser mit den roten Ziegeln sind die Unterkünfte der Schüler, die weißen Gebäude mit den blauen Ziegeln die des Lehrpersonals. Das technische Personal und die Angehörigen der Security sind außerhalb der Anlage untergebracht.“

Michael sah Rafael kurz an und sie schüttelten beide den Kopf.

„In dem flachen Gebäude hier vorne ist der Empfang und teilweise auch die Verwaltung. Im Keller darunter befindet sich die Zentrale der Security.“

Kyan sah gerade einen jungen Mann mit einer kleinen Reisetasche den Empfang betreten. Wenn er sich nicht getäuscht hatte, war das Fynn gewesen.

„So und hier hinten ist die Anlage für den zweiten Schwerpunkt der Ausbildung. Eine große Sporthalle, die für alle Mannschafts- und Kampfsportarten ausgerüstet ist. Direkt angeschlossen eine kleinere Halle für Leichtathletik und Turnsport.“

Hier machte Herr Deisenberg eine kleine Pause und sah seine Besucher fragend an.

„Diese kleine Halle wurde auf dringende Empfehlung von Doktor Berg angebaut. Er wollte allerdings nicht sagen, warum es ausgerechnet eine Halle für diesen Zweck geben sollte. Wissen Sie zufällig etwas darüber?

Michael und Rafael sahen sich grinsend an.

„Wenn die Halle eine große Hochsprungmatte hat, wissen wir allerdings, worum es sich handelt. Wir werden es Ihnen gerne heute Abend erklären.“

Frank Deisenberg schwieg einen Moment, dann nickt er und deutete auf das größte Gebäude.

„Das war einer der Gründe, warum dieses Gelände in die nähere Auswahl kam. Die Schwimmhalle hat ein 50-m-Becken und ist wettkampftauglich. Die Tribünenseite wurde entfernt und ein offener Zugang zur großen Sporthalle geschaffen, der bei Bedarf durch eine Trennwand abgeteilt werden kann.“

Alle vier Besucher drehten ihre Köpfe hin und her und versuchten, einen Eindruck von der Anlage zu gewinnen. Frank Deisenberg sah auf seine Uhr.

„Ich werde Sie jetzt alleine lassen. Sie können sich gerne alles aus der Nähe ansehen. Ich würde mich freuen, wenn wir uns zum Essen in der Cafeteria wiedersehen.“

Nachdem er gegangen war, holte Robin tief Luft.

„Ich weiß nicht, ob es so gut ist, wenn man die Ausbildung der Gestaltwandler ein paar Magiern überlässt.“

„Hey, ganz ruhig, Kleiner. Erstens waren das die Leiter und die unterrichten nur selten. Zweitens wissen wir nicht, wer alles als Ausbilder vorgesehen ist und drittens, möchtest du den Unterricht hier komplett den Werwölfen überlassen?“

Robin klappte seinen Mund zu und sah Rafael von der Seite her an. Okay, sie wussten nicht, wer Lehrer oder auch Ausbilder sein würde. Und die Sache mit den Werwölfen? Robin wusste aus eigener Erfahrung, wie schwierig etliche von ihnen waren.

Michael deutete hinüber zur kleinen Sporthalle.

„Mich würde interessieren, was sie darin untergebracht haben.“

Fünf Minuten später wusste er es.

„Tatsächlich! Eine Hochsprungmatte. Und auch die große Bodenmatte. Der Grundriss ist fast der Gleiche wie in Birkenstein. Bin mal gespannt, wo die Zugangstür ist.“

Auf dieser Seite war sie klar erkennbar, doch als sie hindurchgingen, standen sie in einem der Geräteräume. Rafael drückte das Schwingtor auf. Von dieser Seite war die Tür der Wandvertäfelung angepasst und hinter den Geräten versteckt.

„Ist ja fast wie zu Ostern“, murmelte er.

Die große Halle erfüllte tatsächlich alle genannten Anforderungen und dann war da noch das riesige Sektionaltor, das fast eine ganze Kopfseite der Halle einnahm. Michael erforschte die Hallentechnik und fand auch die Steuerung. Unter lautem Hupen und dem Blinken mehrerer roter Rundumleuchten begann das Tor sich zu heben. Dahinter kam dann tatsächlich die Schwimmhalle zu Tage, mit acht 50-m-Bahnen und einem Turm mit Sprunggelegenheiten bei einem, drei, fünf und zehn Metern.

Kyan starrte ins Wasser.

„Wow, wie tief ist es denn hier?“

Michael deutete auf die Anzeige am Beckenrand.

„Sechs Meter. Ich nehme an, das Becken fängt auf halber Länge an zu steigen.“

Die Umkleideräume und die Dusche boten keine Überraschungen, lediglich Kyan bemerkte, dass der Duschraum nur aus einem großen Raum ohne jegliche Abtrennungen bestand. Michael grinste.

„Wozu? Willst du dich verstecken? Die Gestaltwandler werden ohnehin die Hälfte ihres praktischen Unterrichts unbekleidet absolvieren.“

„Das war bei uns aber nicht so.“

Robin stieß Kyan an.

„Denk mal bitte nach. Wie groß ist der Anteil an praktischer Ausbildung? Abgesehen von der Sport- und Kampfsportausbildung steht Gestaltwandel auf dem Programm. Du hast doch selbst ‚Interaktion mit Magiern und weiteren Wandlern‘ aufgenommen. Das meiste davon passiert in Tierform. Sollen die sich nach jeder Wandlung erst wieder anziehen? Übrigens, wir sollten uns auch darauf einstellen, öfter mal in Tiergestalt aufzutreten.“

Robin grinste, während Kyan schwieg. Die praktischen Aspekte hatte er dabei gar nicht bedacht.


Der einzige wichtige Punkt am Nachmittag war die Begrüßung der Neuzugänge. Beim Mittagessen in der Cafeteria hatten sie sich mit Doktor Brüggen geeinigt, ebenfalls daran teilzunehmen. Sie würden dazu dann die schwarzen Uniformen der Organisation tragen.

Zur Verblüffung und auch Erheiterung von Doktor Brüggen und seinem Partner erzählte Michael dann etwas über die Nutzung der Hochsprungmatte in der kleinen Halle.

Pünktlich um 15:00 Uhr war die Begrüßung in der Aula, einem Anbau des Zentralgebäudes. Rafael hatte den Verdacht, dass hier mal ein Meditationsraum gewesen war, denn der Raum war halbkreisförmig und den gesamten Halbkreis nahmen vom Boden bis zur Decke reichende Fenster ein, die einen grandiosen Blick auf den dichten Wald freigaben. Die Stühle für die Schüler waren in zwei Reihen mitten im Raum aufgebaut und sahen mit ihren elf Plätzen etwas verloren aus. Alle Plätze waren besetzt, als Doktor Brüggen, diesmal in einem tadellosen zweireihigen Anzug, gefolgt von vier Offizieren in Uniform, den Saal betrat.

Zwei der jungen Herren standen sofort auf und die anderen folgten etwas zögerlicher.

Der Blick von Doktor Brüggen wanderte kurz über die Anwesenden.

„Vielen Dank, meine Herren.“

Die meistens der Schüler interpretierten die Aussage auch richtig als Aufforderung, sich wieder zu setzen, nur ein paar folgten Augenblicke später.

"Meine lieben neuen Schüler!“

Die Akustik im Raum war nur mittelmäßig, aber Doktor Brüggen wurde überall verstanden.

„Ich begrüße Sie herzlich im Haus Waldesruh des Internatsverbundes der Stiftung ‚Jugend für die Zukunft’. Mein Name ist Dr. Gerald Brüggen und ich bin der Leiter dieses Hauses. Gestatten Sie mir ein paar kurze Ausführungen zu unserer Stiftung, zu den Gebäuden und zur Organisation Ihrer Ausbildung.

Die Stiftung ‚Jugend für die Zukunft’ wurde offiziell gegründet, um einerseits begabten Schülern, die finanziell nicht dazu in der Lage sind, eine hochwertige Schulausbildung zu bieten, andererseits um schwer erziehbare Jugendliche auf den Weg der Tugend zurückzubringen.

Dieses Haus hier, ein ehemaliges Wellness-Center, wurde mit seinen modernen Einrichtungen übernommen und unseren Bedürfnissen angepasst. Sie werden hier wohnen und Ihren Unterricht erhalten. Für die Einwohner der umliegenden Gemeinden ist dies hier schlicht eine Privatschule für Wohlhabende, deshalb auch die Sicherheitseinrichtungen.

Sie alle hier vor mir, sind jedoch mit einer ganz besonderen Begabung hergekommen. Jeder von Ihnen ist ausreichend über die Bedingungen informiert worden, die mit seinem Aufenthalt hier verknüpft sind und jeder ist eingehend über die danach folgende Arbeit aufgeklärt worden.“

Jetzt hatte der Leiter die gespannte Aufmerksamkeit aller Schüler.

„Sie alle werden nach Abschluss dieser Schule Mitglieder einer Organisation, deren Wichtigkeit für das Bestehen unserer Zivilisation nicht oft genug betont werden kann. Ich darf Ihnen schon jetzt sagen, dass Ihr Einsatz und Ihre Mitarbeit bei der folgenden schulischen Ausbildung ebenso wichtig sind, wie die Weiterbildung Ihrer speziellen Begabung. Der allgemeinbildende Unterricht ist eine Pflichtveranstaltung, auch für diejenigen, die bereits einen Schulabschluss haben oder einen Beruf erlernt haben. Für diejenigen unter Ihnen, die eine höhere Bildungsanstalt besucht haben, werden wir versuchen, Ihnen einen Bildungsstand zu vermitteln, der Sie in die Lage versetzt, an der Abiturprüfung teilzunehmen. Ich hoffe, dass Sie sich nicht allzu sehr ablenken lassen und sich mit der gebotenen Ernsthaftigkeit, Energie und Fleiß in die Arbeit stürzen.“

Einige der Schüler wechselten eher betroffene Blicke, andere schienen etwas erstaunt.

„Um ein neutrales und wertfreies Zusammenarbeiten zu gewährleisten, ist für alle Schüler unseres Institutes eine Schuluniform vorgeschrieben. Wichtig für Sie ist es zu wissen, dass hier streng auf das korrekte Tragen der Schuluniform geachtet wird."

Die nächsten betroffenen Blicke geisterten umher.

"Ab 16:00 Uhr beginnt die Einweisungen durch Ihre Mentoren, was Ihre schulische Ausbildung betrifft. Um 17:00 Uhr beginnt die fachliche Einweisung. Da es auch für uns der erste Durchgang einer Klasse mit Ihrer Begabung ist, haben wir um eine Ausbildungsunterstützung gebeten. Die vier Offiziere hier hinter mir, werden Sie die ersten drei Monate an diesem Institut begleiten. Die für Ihre weitere Ausbildung vorgesehenen Lehrkräfte werden Sie zunächst nur aus der Ferne beobachten und nicht in die Unterweisungen eingreifen. Nichts desto trotz heiße ich Sie nochmals herzlich Willkommen und danke Ihnen für Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.“

Die Schüler erhoben sich, als Dr. Brüggen sich wieder der Tür zuwandte, durch die er gekommen war. Michael sah Rafael fragend an, doch der grinste nur.

„Kam es mir nur so vor oder hab‘ ich die Ansprache schon mal gehört?“

„Anscheinend hat Dr. Berg so einige Tipps und Tricks hier hinterlassen.“


Die Einweisung um 17:00 Uhr war in der großen Sporthalle. Elf junge Männer standen in einer Reihe nebeneinander, lediglich in den kurzen Sportanzug gekleidet.

Nach längerem Überlegen hatte man sich entschieden, keine farblichen Unterscheidungen für die Lehrgangsteilnehmer zu wählen. Die von Doktor Brüggen so eindringlich angemahnte Schuluniform bestand lediglich aus schwarzen Jeans und einem weißen T-Shirt. Die wärmere Version sah Kapuzenpullis, Sweat-Shirts, Pullover und Regenbekleidung in einem einfachen dunkelgrau vor. Lediglich die Ausbilder trugen während des Unterrichts schwarze Jeans und Polohemden in ihren entsprechenden Farben.

Ebenso war es mit dem Sportzeug. Die Schüler trugen kurze, schwarze Hosen und weiße Sporthemden. Vor ihnen standen vier junge Männer, einige davon nicht gerade viel älter als sie selber, in blauen, roten und orangefarbenen Sporthemden zu den kurzen schwarzen Hosen. Interessanterweise waren die beiden Herren mit den blauen und roten Sporthemden die einzigen, die Schuhe trugen. Einer der beiden Herren in Orange trat nun einen Schritt vor und sah prüfend an der Reihe entlang.

„So, meine Herren. Mein Name ist Oberleutnant Robin Wolff und ich heiße nicht nur so. Wir sind hier, um Ihnen einen ersten Eindruck von Ihrer Ausbildung und den Aufgaben zu vermitteln, die Sie erwarten könnten. Aus den Papieren, die Sie mitgebracht haben, konnte ich entnehmen, dass Sie die vorgeschriebene Einweisung in die Grundidee der Organisation und ihren Aufbau hinter sich haben. Wer immer noch Schwierigkeiten damit hat, Magie zu akzeptieren, sollte schlicht überdenken, welche Begabung ihn hierher geführt hat.“

Ein leises Murmeln ging durch die Reihe.

„Sie alle sind Gestaltwandler, das heißt, Sie nehmen die äußere Form eines Tieres an und können bei vollem Bewusstsein damit interagieren.“

Da gab es schon die erste Meldung, doch Robin winkte ab.

„Lassen Sie mich erst einmal ausreden. Möglicherweise werden im Laufe der kleinen Ansprache ja schon einige Fragen geklärt. So, wo waren wir? Ach ja, die Wandlung. Sie werden es wahrscheinlich nicht bemerken, aber für die Wandlung bedarf es des Einsatzes von Magie. Was sich dahinter verbirgt und wie das genau passiert, wird Oberleutnant Lehrke“, damit wies er auf den blonden Riesen im blauen Sporthemd, „in einer Theoriestunde erklären. Dann kommen wir jetzt zu einem, für Einige möglicherweise noch etwas peinlichem Thema, nämlich dem der Manifestation von Magie. Dass sich die magische Energie, das sogenannte Mana, bei ihnen überhaupt festigen und zeigen konnte, dazu bedurfte es eines Anstoßes und zwar Ihre sexuelle Ausprägung.“

Es wurden bereits einige fragende Blicke gewechselt, doch Robin wollte es deutlich machen.

„Ich weiß ebenfalls aus den Unterlagen, dass Sie alle vor Ihrer Reise hierher befragt worden sind, ob Sie Ihre Homosexualität offen zeigen würden. Wenn einige geglaubt haben, dass das eine theoretische Frage ohne Auswirkungen war, muss ich Sie leider enttäuschen. Gestaltwandel ist angewandte Magie und Magie funktioniert nun einmal leider nur, wenn man schwul ist.“

Obwohl es natürlich alle erklärt bekommen hatten, blickten einige doch etwas erschrocken, aber dennoch neugierig um sich. Anscheinend waren doch nicht alle daran gewöhnt, diese Tatsache offen auszusprechen.

„Wenn wir im Laufe der Ausbildung praktischen Gestaltwandel machen, wird diese Unterrichtseinheit logischerweise unbekleidet stattfinden. Falls jemand ein Problem damit haben sollte, darf er dieses Institut jetzt gerne verlassen.“

Niemand rührte sich auch nur einen Millimeter von der Stelle.

„Sehr gut. Bei der Darstellung und den Ausbildungsabschnitten werden natürlich nicht alle gleichzeitig in die Tierform wechseln. Diejenigen, die sich nicht gewandelt haben, muss ich bitten, etwas beherrscht und zurückhaltend gegenüber Ihren Kameraden zu sein. Ich dulde keine, wie auch immer gearteten, anzüglichen Kommentare über Schweiflängen, Ohren, Puschel oder andere Körperteile.“

Robin sah in einige grinsende, andere nachdenkliche Gesichter.

„Da sind wir auch schon beim nächsten Punkt. Zwei Ihrer Kameraden sind eine Sonderform der Gestaltwandler. Die Wölfe sind doppelt magisch begabt und können sich in zwei verschiedene Formen wandeln. Dazu werde ich noch etwas sagen, wenn die Wölfe aufgerufen werden. Die anderen neun Wandler setzen sich aus acht verschiedenen Tierarten zusammen. Das bedeutet, es gibt nur noch einmal ein Doppel, alle anderen sind Einzelkämpfer.“

Jetzt wurden die Blicke ringsum deutlich neugieriger.

„Letzter Punkt dieser kurzen Einweisung. Die gesamte Klasse besteht, wie gesagt, aus insgesamt neun verschiedenen Tierarten. Einige sind in freier Wildbahn die Jagdbeute der anderen.“

Nun gab es die ersten lauten Kommentare.

„Ruhe bitte! Die Wandlungen werden durch die Ausbilder angesagt. Sollte sich jemand ohne Befehl wandeln wird er durch den Kampfmagier“, damit wies er auf den blonden Riesen im roten Sporthemd, „betäubt und sieht sich vor dem Tor wieder. Sollte jemand bei der Ausbildung aus der Rolle fallen und einen Kameraden bedrängen, führt das ebenfalls zu ernsthaften Konsequenzen. Ist das klar?“

Von einigen kam tatsächlich ein zögerndes „Jawohl.“

Und einer verstieg sich sogar zu „Jawohl, Herr Oberleutnant.“

Robin warf einen fast verzweifelten Blick zu Michael, der aber nur grinste.

„Hat bis hierhin noch jemand eine Frage?“

Niemand meldete sich.

„Okay. Dann kommen wir jetzt zur Vorstellung der einzelnen Schüler. Ich werde Sie jetzt in alphabetischer Reihenfolge der Nachnamen aufrufen und Sie sagen kurz Ihren vollen Namen und was Sie sonst noch als wichtig erachten. Auf mein Zeichen hin werden Sie sich dann wandeln und auf ein weiteres Zeichen hin wieder zurück. Niemand, ich wiederhole, niemand, rührt sich auch nur ansatzweise von der Stelle, solange die Wandlung anhält.“

Wie auf ein Signal hin, begannen fast alle schon einmal, ihr Sportzeug abzulegen. Der etwas schüchternere Rest folgte kurz darauf. Robin ließ ihnen eine kurze Pause, weil die Aufmerksamkeit ohnehin gerade stark abgelenkt war.

„Der erste ist Simon Bekker.“

Ein schlanker junger Mann von etwa 1,80m trat einen Schritt aus der Reihe vor, mit hellbraunen Haaren und braunen Augen. Ohne seine Kameraden anzusehen, fixierte er Robin.

„Mein Name ist Simon Bekker. Ich bin achtzehn Jahre alt und bis vor kurzem in die zwölfte Klasse eines Gymnasiums gegangen.“

Bei einem lauten Geräusch neben sich zuckte Simon etwas zusammen, doch er nahm die erhobene Hand von Robin sofort wahr. Die Wandlung ging ziemlich zügig vor sich und nur Robin, der eine Liste in der Hand hielt, war nicht von dem Anblick überrascht. Vor ihm stand ein ausgewachsener Rehbock und sah ihn mit seinen braunen Augen traurig an. Zwischen den hochstehenden Ohren prangten zwei dreiendige Stangen.

„Aha. Capreolus capreolus, das europäische Reh. Vielen Dank.“

Die Rückverwandlung ging genauso schnell und Robin erwischte noch einen Blick auf die rehbraunen Augen von Simon.

„Der nächste ist Marvin Beyer.“

Dieser junge Mann sah seinem Vorgänger in Größe und Statur sehr ähnlich, lediglich hatte er dunkelblonde Haare.

„Ich heiße Marvin Beyer, bin neunzehn Jahre alt und habe Tischler gelernt, denn Holz lag mir schon immer.“

Robin musste sich das Lachen verkneifen und hob die Hand. Die Wandlung führte zu einem relativ kleinen Tier, welches jetzt Männchen machte und zu Robin aufsah.

„Castor fiber, der Eurasische Biber. Ein wahrer Holzspezialist. Danke sehr.“

Auch hier war die Rückverwandlung problemlos.

„Wie Sie eben gesehen haben, war der Biber ein wenig zu groß für das tatsächlich vorkommende heimische Wildtier. Herr Beyer, wie viel wiegen Sie?“

Marvin Beyer antwortete prompt.

„Achtundsechzig Kilo, Herr Oberleutnant.“

„Damit kommen wir zu einer der Merkwürdigkeiten, die niemand erklären kann, nämlich, dass es bei der Wandlung eine Beschränkung der Masse nach oben und auch nach unten gibt. Die Tierform kann nur maximal die doppelte oder minimal die halbe Masse des menschlichen Körpers haben. Herr Beyer dürfte also als Biber so um die vierunddreißig Kilo gewogen haben, was bei einem echten Tier fast hinkommen könnte, denn ein Biber wiegt normalerweise zwischen 25 und 30 Kilo.“

Marvin Beyer nickte zustimmend.

Beim nächsten Kandidaten musste Robin noch einmal auf die Liste blicken. Etwas zögernd sah er quer durch die Halle.

„Bevor wir zur nächsten Tierform kommen, werden wir kurz die Halle etwas verändern.“

Wortlos zeigte Robin Rafael den nächsten Eintrag. Der nickte nur und ging hinüber zur Technik, von wo aus kurz darauf das große Sektionaltor hochgefahren wurde und den Blick auf die Schwimmhalle freigab.

Es erklangen einige Ah’s und Oh’s und auf ein Zeichen von Robin folgten ihm alle bis zu den Startblöcken. Einige der jungen Herren machten verwirrte Gesichter, doch Robin fuhr mit seiner Liste fort.

„Tristan Ebendorf, bitte.“

Nun trat der größte der Schüler bis an den Beckenrand vor. Fast so groß wie Michael oder Rafael, musste er gut 1,90m groß sein, mit einem ausgeprägt muskulösen Körper und dunkelblonden Haaren und blauen Augen.

„Tristan Ebendorf. Achtzehn. Kein Beruf.“

Robin grinste etwas bei der kurzen Vorstellung, doch dann gab er das Zeichen. Tristan drehte sich einfach um und sprang in das Schwimmbecken. Bevor die anderen reagieren konnten, kam von Robin eine laute Anweisung.

„Ihr bleibt da, wo Ihr seid.“

Mit offenen Mündern sahen jetzt die anderen Schüler der Wandlung zu. Schon konnte man über der Oberfläche des Wassers eine Rückenflosse erkennen. Die ersten Kommentare wurden laut.

„Ein Hai?“

„Bist du dämlich, das ist doch kein Säugetier.“

„Ein Delfin.“

Robin war ebenfalls an den Beckenrand getreten.

„Richtig, Delphinus delphis, der gewöhnliche Delfin.“

Nun war auch Tristan an den Beckenrand gekommen und streckte die spitze Schnauze und den Kopf aus dem Wasser. Dann ließ er sich wieder zurückfallen und drehte sich auf die Seite, so dass man sehr gut die zweifarbige Zeichnung sehen konnte.

„Sehr gut, vielen Dank.“

Tristan wandelte sich und stieg an einer der Leitern wieder aus dem Wasser. Er hatte sofort die volle Aufmerksamkeit seiner Mitschüler, als sich der nackte Körper, von dem das Wasser abperlte, langsam über dem Beckenrand erhob.

Robin führte die kleine Truppe zurück in die Übungshalle, wo sie sich wieder nebeneinander aufbauten. Kyan zeigte Tristan in der Schwimmhalle die Spinde mit den Handtüchern.

Beim nächsten Kandidaten sah Robin hoch und sein Blick wanderte hinüber zu dem weißblonden Schneehasen. Hier würde er aufpassen müssen, dass die Wölfe nicht abdrehten.

Irgendwo in Bayern, Deutschland, Anno Domini 2017

Die ersten Besprechungen brachten keine neuen Erkenntnisse. Lediglich Lucien musste zugeben, dass seine selbstgewählte Aufgabe nicht so einfach war, wie er gedacht hatte. Obwohl die Vorgänge erst 83 Jahr her waren, gab es fast keine öffentlichen Informationen. Schon damals war die ganze Aktion äußerst geheim gehalten worden. Selbst die Datenbank der Organisation gab für diesen Zeitraum nur wenig Aufschlüsse.

Den größten Fortschritt hatte Oliver gemacht, auf seiner Suche nach Doktor Robert Feldermayr. Dennoch war da nichts dabei, was Aufschluss über seine Arbeit während der letzten Kriegsjahre hätte geben können.

„Also, Robert Feldermayr, geboren am 29. März 1898 in Deggendorf. Sohn eines Gastwirts. Besuchte das Gymnasium. Ist 1918 noch eingezogen worden, erlebte aber keinen Fronteinsatz mehr. Studierte ab 1919 Medizin in Jena mit der Fachrichtung Psychiatrie. Dort lernte er auch den von Professor Berger eingeführten Elektroenzephalographen kennen. Interessanter Weise war dieser Professor ein sogenanntes förderndes Mitglied der SS.“

„Was ist das denn?“

„Ein förderndes Mitglied gehörte der SS an, nahm aber nicht am aktiven Dienst teil, sondern unterstützte die SS finanziell. Ab September 1926 gab es die Möglichkeit dieser Mitgliedschaften. Nur „Arier“ konnten fördernde Mitglieder werden, Mitgliedschaft in der Partei war nicht Bedingung. Bis 1932 gab es übrigens etwa 13.000 fördernde Mitglieder, 1933 sprang die Zahl auf über 167.000 Fördernde Mitglieder.“

„Also jemand, der die SS unterstützt hat. Und da hat Feldermayr studiert?“

„Ja, komplette Facharztausbildung und auch die Doktorarbeit. Übrigens, der Titel der Doktorarbeit lautete ‚Signifikante Abweichungen Neuronaler Prozesse bei abweichendem Sozialverhalten‘.“

Lucien runzelte die Stirn.

„Hat er einen Zusammenhang herstellen können?“

„Glaub ich nicht. Das funktioniert bis heute nicht. Es gibt keine Zusammenhänge zwischen erlerntem Sozialverhalten und körperlichen Äußerungen. Die ganze Arbeit ist auch ein wenig konfus und ich habe sie an die medizinische Abteilung des Magie-Korps gegeben. Sie sollen mal prüfen, ob das irgendeinen Sinn macht und wieso er mit dem Ding überhaupt durchgekommen ist.“

„Aber mal weiter. Seit 1929 an der psychiatrischen Anstalt Berlin-Lichtenberg tätig, ab 1933 dort als Oberarzt. Hat dort ab 1939 mit medizinischen Begutachtungen dazu beigetragen, dass ein großer Teil der Insassen dem ‚Euthanasieprogramm‘ zugeführt wurden.“

Sebastian sah erschreckt hoch.

„Die Ermordung der Behinderten?“

„Ja. Eine Anordnung von 1939 verfügte, „dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann“. Die zur „Euthanasie“ ausgesuchten Patienten wurden aus der jeweiligen Heilanstalt wegverlegt und in besonderen Einrichtungen durch Luftinjektionen oder mit Medikamenten getötet.“

Tobias schüttelte sich und Tim sah aus, als ob ihm schlecht werden würde.

„Dennoch hat Doktor Feldermayr sein eigentliches Forschungsgebiet nicht aufgegeben. Es existiert ein Exemplar einer kleinen Schriftenreihe über ‚Sexuelle Derivationen und ihr Einfluss auf neuronale Fehlfunktionen‘ aus seiner Feder. Da war er noch bei Fehlfunktionen. Irgendwer muss ihm dann einen entscheidenden Hinweis gegeben haben. Ich vermute allerdings, den hat er selber gefunden.“

„Ach so?“

„Wart mal ab. Also, 1941 hat sich Doktor Frankenstein dann zum Kriegseinsatz gemeldet, wurde aber nicht genommen, denn Psychiater waren zu der Zeit noch nicht besonders gefragt. Aber die SS hat ihm erstaunlicherweise 1942 einen sogenannten ‚Ehrenrang‘ verpasst. Und dann sogar als Obersturmbannführer, das ist so viel wie Oberstleutnant, also schon ziemlich hoch. 1944 taucht er plötzlich mit diesem Forschungsprogramm auf, das allerdings in die Hose geht. Und ab 1945 ist er weg.“

„Wie, weg?“

„Untergetaucht. Wie so viele. Er ist ab dem Kriegsende nirgendwo mehr erfasst. Bis es einen einzelnen Hinweis aus den USA gibt. Nämlich die Karteikarte einer Einbürgerungsakte für einen gewissen R. Feldermayr, der nun naturalisiert wurde und Dr. Robert Fielding heißt. Ausgestellt wurde die Karte 1949 vom Lincoln County in Nevada.“

Torsten und Tim sahen sich an und riefen gleichzeitig.

„Area 51!“

Irgendwo in Baden-Württemberg, Deutschland, Anno Domini 2017

Robin gab Michael und Rafael einen kleinen Wink und sie machten sich auf ein Eingreifen gefasst.

„Marcel Franckh, bitte.“

Marcel trat, wie die anderen vor ihm, ein wenig vor und man konnte erkennen, dass er nur ein paar Zentimeter kleiner war als Tristan, der immer noch mit einem Handtuch herumwedelte. Robin musste unwillkürlich grinsen, denn Marcels gut durchtrainierter Körper mit der braunen Haut und den weißblonden Haaren ließ keine Rückschlüsse auf das Tier zu.

„Marcel Franckh, mit CK und H bitte. Achtzehn Jahre alt und bis vor kurzem noch Schüler eines Gymnasiums. Hobbys sind Skilaufen und Bergsteigen.“

Aha, daher also der trainierte Körper und die tiefe Bräune‘.

Die Wandlung verlief ziemlich schnell und Robin sah nun doch einigermaßen verblüfft auf den niedlichen weißen Schneehasen vor ihm herab.

„Lepus timidus, ein Schneehase.“

Robin rechnete kurz. Marcel musste wohl etwa 80 kg wiegen, das hieß, der Hase hier vor ihm musste mindestens 40 kg haben. Was nicht zu übersehen war, denn Robin hatte noch nie einen gut anderthalb Meter langen Hasen gesehen, dessen schwarze Ohrspitzen ihm fast bis zum Brustkorb reichten. Dennoch hatte das Aussehen etwas niedliches, bedingt durch die Körperfülle und das erkennbar flauschige Fell.

Ein leises Grollen vom Ende der Reihe ließ Robin herumfahren. Einer der jungen Herrn hatte ein kleines Problem. Man konnte erkennen, dass eine Wandlung einsetzte, doch der angespannte Gesichtsausdruck, der sich manchmal sogar durch die Wandlung bedingt veränderte, sprach von inneren Qualen.

„Barriere.“

Michael nickte nur und der Wandler wurde von einer orangefarbig leuchtenden physischen Barriere umschlossen. Die Barriere war glockenförmig und hatte einen Durchmesser von etwa drei Metern. Robin sah Michael an und der nickte nochmals. Es war sichergestellt, dass die Schallwellen weitergeleitet wurden.

„Sie können der Wandlung jetzt Ihren Lauf lassen.“

Nur Sekunden später stand ein graubrauner Wolf in der Barriere und sah gierig hinüber zu dem Schneehasen.

„Sie wären ohnehin als nächster dran gewesen. Thies Kleinert, Wolf oder Canis lupus. Herr Kleinert, ich kann auch Herrn Franckh bitten, in der Tierform zu bleiben, wenn wir die Barriere aufheben. Sind Sie in der Lage, den Wolf zu beherrschen?“

Der Wolf starrte weiter auf den Schneehasen, dann schüttelte er sich, senkte den Kopf und zog den Schweif wie ein Fragezeichen gebogen zwischen die Hinterläufe.

„Dann also auf Nummer sicher. Nein, halt. Wo ist Herr Vahrenholz?“

Einer der Kleinsten der Gruppe hob eine Hand. Er war eigentlich ziemlich unscheinbar mit dunkelblonden Haaren und blauen Augen.

„Sind Sie in der Lage zu wandeln, ohne den Schneehasen zu gefährden?“

„Ja, bin ich.“

„Dann mal los. Oberleutnant Diberg ist Kampfmagier. Machen Sie einen Schritt zuviel auf den Hasen zu, werden Sie sofort betäubt.“

Der junge Mann lächelte etwas schüchtern in die Runde.

„Okay, mein Name ist Fabian Vahrenholz, Siebzehn Jahre alt und ich hatte gerade eine Lehre als Tierpfleger begonnen. In einer Anlage für europäische Wildtiere.“

Bevor Robin etwas sagen konnte, kam auch schon die Wandlung. Der Wolf war etwas kleiner als der vorherige, doch fast durchgehend hellgrau. Auch er sah in Richtung des Hasen, dann in die Richtung von Rafael. Zum Schluß legte er sich einfach ab und sah abwartend zu Robin.

Die nächste Aktion überraschte alle, bis auf Rafael. Im Gegensatz zu Robin hatte er Zeit genug gehabt, die zögerlichen Interaktionen der Schüler vor ihm zu beobachten. Nach dem Ablegen der Bekleidung waren die Blicke natürlich immer wieder neugierig hin und her gegangen, einige jedoch hatten schon ganz bestimmte Ziele und wurden auch schon eindeutig beantwortet.

Deshalb wunderte er sich nicht, als der Schneehase langsam in gestreckter Haltung loshoppelte und sich dem Wolf direkt von vorne näherte. Alle hielten die Luft an, als der Wolf den Kopf hob. Aus seiner liegenden Position begann er, ein wenig an dem Hasen zu schnuppern.

Aus der Barriere kam ein frustriertes Heulen, doch die beiden schienen sich nicht stören zu lassen. Wie auf ein geheimes Zeichen verwandelten sich beide gleichzeitig zurück und Marcel beugte sich nach vorne, um Fabian einen Kuss zu geben.

Robin verdrehte die Augen und hakte irgendetwas auf seiner Liste ab.

„Wenn Sie sich zurückverwandelt haben, werden wir die Barriere auch wieder aufheben.“

Da der Schneehase nun verschwunden war, schien die Rückverwandlung einfacher zu gehen.

„Herr Kleinert, Sie dürfen sich wieder in die Reihe begeben. Wie bereits gesagt, sollte jemand eine unerlaubte Wandlung durchführen, ist er draußen.“

Fabian und Marcel standen nebeneinander und Thies Kleinert warf beiden einen tödlichen Blick zu.

„So, dann bitte Herr König.“

Der junge Mann schob sich langsam nach vorne. Er war kräftig gebaut und hatte schwarze Haare, die sich auch auf Oberkörper und Beinen zeigten.

„Mein Name ist Maximilian König, ich bin neunzehn Jahre alt und gelernter Metzger.“

„Au weia.“

Der erste Kommentar nach der Wandlung kam von Marcel Franckh und bezog sich augenscheinlich auf den erwähnten Beruf von Herrn König, denn vor ihnen stand ein mittelgroßer, gut drei Zentner schwerer Keiler.

„Sus scrofa, Wildschwein. Vielen Dank.“

Nach der Wandlung sah Maximilian zu Marcel hinüber und grinste breit.

„Ich hab auch schon Hasen das Fell über die Ohren gezogen.“

Auf Robins stirnrunzelnden Blick zuckte er mit den Schultern.

„Und ja, ich habe auch schon Wildschweine zerlegt. War ein merkwürdiges Gefühl, aber es war nichts - wie soll ich es sagen? - nichts Persönliches.“

Robin nickte und sah auf seine Liste.

„Ah, ja. Da können wir doch gleich noch einmal ein Doppel versuchen. Herr Lübbert und Herr Seibert, bitte.“

Zwei der jungen Herren traten nach vorne und sahen sich dann fragend an. Jetzt, nebeneinander, konnte man erkennen, dass sie sich ähnlich sahen. Sie waren genau gleich groß, dennoch zusammen mit Fabian die Kleinsten der Gruppe. Der eine hatte hellblonde Haare, beim anderen waren sie rotblond. Selbst im Körperbau glichen sich beide. Sie waren schlank, ohne jedoch mager zu wirken.

„Dominik Lübbert. Siebzehn Jahre, Schüler.“

„Fynn Seibert. Siebzehn Jahre, Schüler.“

Die beiden grinsten nun breit, denn sie hatten realisiert, dass sie, neben den Wölfen, das zweite Doppel waren. Kurze Zeit später umkreisten sich auch spielerisch zwei Füchse und sprangen wie Welpen aufgeregt hin und her.

„Vulpes vulpes, der Rotfuchs.“

Wobei die beiden nicht tatsächlich rot waren. Der eine hatte ein mehr rötlich-gelbes Fell, während der andere ein rostrotes Fell trug.

Nach der Rückverwandlung konnte man dann auch erkennen, dass der rothaarige Fynn das dunklere Fell hatte, während die hellblonden Haare von Dominik wohl einen Gelbstich ergaben.

„Der nächste in der Reihenfolge wäre dann Herr Lutter.“

Der junge Mann der nun vortrat, bot ein etwas anderes Bild als die bisherigen. Obwohl er fast so groß war wie Tristan, war er deutlich schwerer und seine Bewegungen ließen eher auf eine weniger sportliche Betätigung schließen. Die braunen Haare standen etwas unordentlich ab und seine ganze Körpersprache zeigte eigentlich, dass er sich deutlich unwohl fühlte.

„Jonas Lutter. Achtzehn Jahre alt und seit zwei Jahren arbeitslos.“

Die Wandlung überraschte schon wieder die meisten. Der gut einen Meter hohe und anderthalb Meter lange Braunbär drehte sich nur kurz um und verharrte dann phlegmatisch.

„Ursus arctos arctos, der Europäische Braunbär. Vielen Dank.“

Die Rückverwandlung war problemlos und Jonas trottete fast zurück in die Reihe.

„So, wen hatten wir denn jetzt noch nicht? Ah ja. Herr Mostrau ist der letzte.“

Der war auch schon vorgetreten und sah Kyan neugierig an, bevor er sich kurz vorstellte.

„Ich bin Ludwig Mostrau, siebzehn Jahre alt und war Auszubildender als Eventmanager.“

Ein wenig größer als die Füchse, war er ebenso wie Fynn rotblond mit grünen Augen. Das rotblonde Haar fand sich dann auch in der Farbe des Luchses wieder, der sich vor Kyan ablegte. Kyan grinste schwach, streifte sein Sportzeug ab und nur Sekunden später tobten zwei Luchse ebenso spielerisch durch die große Halle wie zuvor die Füchse.

„Lynx lynx, der Europäische Luchs.“

Eine Hand hob sich aus der Reihe.

„Ja, bitte, Herr Beyer?“

„Müssen wir die ganzen lateinischen Bezeichnungen auch lernen?“

Robin grinste.

„Aber sicher. Sie werden im Laufe des Jahres die gesamte Taxonomie der Säugetiere durchgehen. Und die der europäischen Tiere sollten Sie am Ende des Jahres schon auswendig kennen, denn auch das ist prüfungsrelevant.“

Ein leises Stöhnen lief durch die Reihe.

„Ja, ich weiß. Aber so schwer ist es auch nicht. Abgesehen davon ist für heute erst einmal Schluss. Bis zum Abendessen dürfen Sie ruhig das Schwimmbad benutzen. Allerdings gibt es eine Einschränkung: Bis auf Herrn Ebendorf darf niemand - und ich wiederhole - niemand, das Schwimmbad in seiner Tierform benutzen.“

Zwei enttäuschte Ausrufe kamen, der eine, wie zu erwarten, vom Biber, der andere erstaunlicherweise vom Wildschwein.

Köln, Deutschland, Anno Domini 2017

Kevin und Lucas waren abgereist und Max hatte vor ihrer Abreise noch ein längeres Gespräch mit den beiden gehabt. Es ging vor allem um die unbewusste Begabung, die in Martin schlummerte. Lucas hatte versucht, Informationen darüber zu bekommen, ob so etwas schon einmal beobachtet worden war, doch alle Stellen, die er abgefragt hatte, waren etwas ratlos.

„Du weißt, worauf du zu achten hast. Du sollst nicht eingreifen, sondern das, was du siehst, einfach nur dokumentieren.“

Max nickte zum hundertsten Mal. Die Anweisungen waren klar und deutlich. Ebenso die Anweisung, Martin in Ruhe zu lassen. Er sollte erst einmal mit sich selbst und seiner Situation hier klar kommen. Vielleicht war es ja auch ganz gut, dass außer Max niemand weiter im Haus war. Robin, Kyan, Michael und Rafael hatten sich auf den Weg zur Gestaltwandler-Schule gemacht und Thomas war schon zum Unterrichtsbeginn zusammen mit Lucien und Tobias zum Haus Birkenstein gefahren.

Der erste Morgen war für Max ziemlich ungewohnt, denn es war gespenstisch ruhig geworden. Neben ihm schlief Martin, dicht an ihn gekuschelt. Weiter war noch nichts passiert, wenn man davon absah, dass Martin mehr als einmal beim Anblick eines nackten Max eilig im Badezimmer verschwand.

Max hatte sich für den heutigen Tag etwas Besonderes ausgedacht, denn er wusste aus der Personalakte, dass Martin Geburtstag hatte. Der Junge wurde heute 22 und er wollte ihm etwas bieten.

Also schwang er sich mit einem bedauernden Blick auf den blonden Haarschopf aus dem Bett und ging ins Bad. Als er zurückkam, erhaschte er noch einen Blick auf einen nackten Martin, der an ihm vorbei ins Bad eilte. Max grinste. Der brauchte sich nirgends zu verstecken, aber egal, er hatte heute etwas anderes vor. Als Martin endlich wieder erschien, deutete Max auf die Sachen, die etwas im Zimmer verstreut waren.

„Heute ist schick Anziehen angesagt. Wir fahren zum Frühstück in die Stadt.“

„Was? Warum denn das?“

„Nur so. Mir ist heute danach. Dann gehen wir noch ein wenig shoppen.“

„Shoppen? Wovon denn? Ich habe kein Geld.“

„Glaubst du. Du bist seit Mitte letzten Monats hier als Servicetechniker bei DIGISOFT angestellt und hast zum Monatsende dein Gehalt bekommen. Was glaubst du, wofür Kyan deine Kontonummer gebraucht hat?“

Martin sah Max erstaunt an.

„Ehrlich? Geld für nichts?“

„Wieso für nichts? Du hast hier einen festen Job. Sobald die Fahrzeuge hier eintreffen, werden wir die regelmäßig bewegen. Apropos bewegen. Beweg mal deinen Hintern, wir wollen los.“

In der Innenstadt von Köln führte Max Martin etwas abseits von den Hauptstraßen in eine Gegend mit etlichen Kneipen und Straßencafés. Dort ließen sie sich in einem der Cafés nieder und Martin sah sich etwas schüchtern um. Selbst zur Vormittagszeit war ziemlich viel Betrieb und es war ein ständiges Kommen und Gehen bei den Gästen. Langsam fiel Martin auf, dass es hauptsächlich männliche Gäste waren und als sich ein Paar in aller Öffentlichkeit küsste, sah er Max an.

„Ist das hier ein… ich meine, ein, äh…“

„Schwules Café? Ja, ist es. Fast alle Cafés und Kneipen hier ringsum haben hauptsächlich schwule Gäste. Hast du nicht die Regenbogenaufkleber an den Türen oder Schaufenstern gesehen?“

„Doch, aber ich habe mir dabei nichts gedacht.“

Sie wurden von der Bedienung, einem jungen Mann in ihrem Alter, unterbrochen.

„Na, ihr beiden, was darfs denn sein?“

„Zweimal das Frühstück und dann brauche ich noch…“

Plötzlich flüsterte Max mit der Bedienung und Martin sah ihnen erstaunt zu. Mit einem enthusiastischen Kopfnicken verschwand dann auch die Bedienung und eilte in Richtung Küche. Martin sah misstrauisch zu Max, aber der lächelte nur. In Rekordzeit wurde ein opulentes Frühstück aufgetragen und Martin staunte über die große Auswahl. Noch viel größere Augen machte er, als die Bedienung mit der letzten Bestellung ankam. Auf einem kleinen Schokoladenkuchen steckte eine brennende Kerze.

„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.“

Max beugte sich etwas herüber und gab Martin einen Kuss auf die Wange. Martin war sichtlich ergriffen von der Geste und Max zwinkerte ihm zu.

„Wart mal ab, bis wir nachher shoppen gehen.“

Martin nahm die Äußerung irgendwie gar nicht ernst und stürzte sich auf das Frühstück. Max wunderte sich ein wenig, wie er diese Mengen in sich hineinstopfen konnte. Auf seine Nachfrage lächelte Martin nur.

„Ich bin eigentlich sehr viel in Bewegung gewesen. Auf der Arbeit und auch privat. Aber wir haben ja leider keinen Trainingsraum oder so was. Und bei dem Thema Arbeit fällt mir was ganz anderes ein. Wie soll denn das ablaufen, wenn die neuen Fahrzeuge da sind? Wir haben ja weder eine Garage, noch eine Werkstatt.“

Max hatte schon öfter einige Kommentare von anderen Mitgliedern der Einheit gehört, die über unzureichende Trainingseinrichtungen gemeckert hatten oder auch nur zu wenig allgemeine Freizeitmöglichkeiten in ihrer Unterkunft. Jetzt hatten sie auch noch das Problem mit den Fahrzeugen. Max erinnerte sich an das Memo über eine Erweiterung des Gebäudes oder einen Umzug, dass er Kevin und Lucas gleich nach dem Einbau der Einsatzzentrale hatte zukommen lassen. Er würde nachfragen, ob sie schon etwas veranlasst hatten.

„Das muss erst noch entschieden werden. Ich hoffe, sie werden sich was einfallen lassen, bevor wir wieder richtig die Arbeit aufnehmen oder bevor vielleicht sogar noch mehr Leute erscheinen.“

Martin beendete sein Frühstück mit einem satten Lächeln, während Max überlegte, ob er es nicht vielleicht etwas übertrieben hatte. Schließlich war er stolz darauf, nicht mehr als 60 kg zu wiegen, auch wenn ihm der eine oder andere schon mal gesagt hatte, dass er etwas verhungert aussähe.

Die nächste Straße in die Max einbog, hatte das Schild ‚Kettengasse‘ und Martin fragte sich ernsthaft, ob das etwas zu bedeuten hätte. Doch das versprochene Shopping begann gleich in einem der nächsten Läden mit einem großen Regenbogen als Reklame. Martin sah skeptisch hoch, sagte aber nichts. Drinnen gab es die gesamte Palette an Angeboten von Büchern über DVDs bis hin zu T-Shirts und Kleinartikeln mit Regenbogenmotiven.

„Was gibt’s denn da unten?“

Max grinste breit.

„Unten gibt’s die Pornos und die Sex-Toys.“

Martin sah Max beinahe entsetzt an und schüttelte sich etwas. Trotzdem bemerkte Max, dass Martin sich neugierig umdrehte, als sie den Bereich der Treppe verließen. Am Ende der Schnuppertour zerrte Max Martin hinüber zu den T-Shirts. Diese hatten die unmöglichsten Motive, doch Martin fand eines davon besonders witzig, das Max ihm dann auch kaufte. Auf der Vorderseite stand: I AM NOT GAY, und auf der Rückseite: BUT MY BOYFRIEND IS.

„Und du bist sicher, dass du damit durch die Innenstadt laufen willst?“

„Ja. Irgendwann muss ich dazu stehen.“

„Zu was? Dass dein Boyfriend schwul ist?“

Martin lachte, aber dann wurde er ernst.

„Nein. Ich mag Jungs, auch wenn es nicht gerade so aussieht. Aber es kostet mich immer noch Überwindung, mir vorzustellen, dass du keine Hörner und einen Schwanz hast.“

Max strich sich verblüfft über die Haare, die in der Mitte wieder den flachen Streifen der Mohawk-Frisur zeigten.

„Okay, das mit den Hörner ist ja klar, aber einen Schwanz habe ich definitiv, wenn auch nicht so, wie du gerade…“

Halb amüsiert, halb erschrocken hielt Martin Max den Mund zu.

„Psst. Wenn das jemand hört.“

Max befreite sich schnell und lachte dann.

„Na los, dann zieh das Ding mal an. Mal sehen, wie du drin aussiehst.“

Das T-Shirt war körperbetont und Max wurde etwas kribblig, als er bemerkte, dass sich Martins Brustwarzen unter dem dünnen Stoff abzeichneten. Soviel zu der Idee, ihm ein T-Shirt zu kaufen. Doch auf der Straße draußen trug Martin zu seinen blauen Jeans ohnehin eine schwarze Lederjacke, die das Meiste von dem T-Shirt zum Leidwesen von Max verdeckte.

Der nächste Besuch war in einem Spezialgeschäft für Modellbau. In einem der zahlreichen Regale standen Automodelle im Maßstab 1:18. Wie Max richtig vermutet hatte, konnte Martin seine Blicke gar nicht mehr lösen von den zahlreichen Modellen. Bei fast jedem von ihnen entfuhr ihm ein Ausruf und er nahm mehr als einmal einen der durchsichtigen Kartons vorsichtig auf und drehte ihn hin und her.

„Nun, welcher gefällt dir am besten?“

„Alle!“

Max lachte und stieß Martin sanft an.

„Pass auf, wir gehen noch ein wenig weiter shoppen und auf dem Rückweg kannst du dir dann überlegen, welchen du haben möchtest.“

„Ehrlich?“

Martins Blick war nun auch auf das Preisschild gefallen und er kam sich richtig schäbig dabei vor, dass Max heute alles bezahlen wollte. Doch er stimmte schweren Herzens zu und so verbrachten sie den halben Tag in der Innenstadt von Köln. Auf dem Rückweg hatte Martin auch einen Entschluss gefasst und er zeigte etwas nervös auf das Modell eines VW T3 in hellblau.

„Warum denn gerade den?“

Martin grinste etwas schüchtern.

„Das war der erste, den ich in der Werkstatt anfassen durfte. Gleich am ersten Tag, bei der Einweisung durch den Meister.“

Martins Augen leuchteten und um seinen Körper schien sich ein ähnliches leichtes Glühen gelegt zu haben. Max sah sich nervös um, ob vielleicht noch jemand etwas bemerkt hatte, aber niemand sah zu ihnen herüber.

„Du kannst dich richtig begeistern für Autos.“

„Ja. Für mich ist es fast so, als ob sie leben würden. Manchmal kann ich nur am Geräusch erkennen, ob etwas defekt ist.“

„Das klingt für mich immer gleich.“

„Nein, nein. Das Geräusch ändert sich, ein kleiner Fehler nur und schon verschiebt sich das Gesamtbild. Wenn ich die Hand auf die Motorhaube lege, spüre ich an den Vibrationen, ob etwas nicht richtig läuft.“

Plötzlich hatte Max eine Eingebung. Er hatte schon oft den Erzählungen der Magier gelauscht, wenn sie von der Schule oder dem Einsatz berichteten. Ganz so, wie Martin es eben erzählt hatte, klang es, wenn Kevin über Timo berichtete. Er würde sich morgen noch einmal mit dem Magie-Korps in Verbindung setzen, doch diesmal mit der Abteilung für Heiler.

Am Abend hatte sich Martin, wie inzwischen jeden Abend, an Max herangerobbt und lag nun auf der Seite, einen Arm über Max, der auf dem Rücken lag.

„Du, Max.“

„Ja?“

„Ich.. ich möchte mich für den heutigen Tag bedanken.“

„Hu? Gerne geschehen, es war…“

Max wurde durch Martin unterbrochen, der sich etwas erhoben hatte und nun Max küsste. Nicht etwa kurz, sondern ausdauernd und dann öffnete er vorsichtig dabei seine Lippen. Max war komplett überrascht, doch er ließ sich gerne entführen. Als der Kuss dann schließlich endete, seufzte Martin.

„Ich wusste nicht, dass es so schön sein kann.“

Max antwortete erst einmal nicht, sondern beobachtete verblüfft, wie Martin sich etwas herabbeugte und anfing, mit seiner Zunge an einer von Max‘ Brustwarzen zu spielen.

„Äh, bist du sicher?“

Martin kicherte.

„Ich werde dir Bescheid sagen, wenn ich mir sicher bin.“

Max sah Martin nachdenklich an, doch dann legte er sich entspannt zurück und war neugierig, wie weit Martin wohl gehen würde.

Irgendwo in Bayern, Deutschland, Anno Domini 2017

Lucien lehnte sich in seinem Stuhl zurück und grinste schwach.

„Nu kommt mal wieder auf den Boden zurück. So weit sind wir noch gar nicht. Ich möchte erst einmal alles zusammen haben, was vor 1945 passiert ist. Vielleicht brauchen wir davon ja noch was. Der nächste dürfte Sebastian sein, mit seinen Erkenntnissen aus Berlin.“

Sebastian schob seine Unterlagen etwas unschlüssig hin und her.

„Meine Aufgabe lautete eigentlich, alle Daten zu sammeln, die ich im Zusammenhang mit Daniel kriegen konnte. Daraus ist die kurze und traurige Geschichte einer Familie geworden und ein Einblick in die Szene der dreißiger Jahre.“

Sebastian zog ein einzelnes Blatt hervor.

„Zunächst noch einmal die technischen Daten. Daniel Gerstner, geboren am 11. Februar 1924 in Berlin-Lichtenberg. Für die, die es nicht kennen, Lichtenberg liegt östlich des Zentrums, etwa auf halber Strecke zur Ostgrenze Berlins. Damit ist der Ortsteil Lichtenberg gemeint, nicht der Bezirk. Dann die Taufe, am 2. März 1924 in der katholischen Kirche St. Nikolaus. Daniel ist der zweite Sohn des Ehepaares Josef und Maria Gerstner. Beide können ihre Vorfahren bis ins 18. Jahrhundert als in Lichtenberg ansässig verfolgen. Obwohl der Vater lediglich Vorarbeiter in einem Margarinewerk ist, kann Daniel 1934 das Gymnasium besuchen. Seine Zeugnisse sind schlicht hervorragend. In der Quinta hat er nicht eine einzige Drei. Die folgenden Jahre sehen ähnlich aus, aber ab der Untersekunda, also so mit 15 geht es dann etwas bergab. Das war ab 1939, als sein Vater als einer der ersten aus der Gegend zur Wehrmacht eingezogen wurde. Ab 1936 war er zwangsweise Mitglied in der HJ und vom ersten Tag an gab es laufend Berichte und Meldungen der HJ-Streifen über fehlende Teilnahmen am Dienst oder auch wegen Übertretung der Ausgangssperre.“

„Klingt nach pubertierendem Jugendlichen.“

„Bis jetzt. Dann kommen wir am 17.05.1941 zu dem Fall von ‚Verdächtigem Verhalten auf einer öffentlichen Toilette‘. Das Datum klingt jetzt etwas blöd, war aber anscheinend mit Absicht so gewählt worden. Da war Daniel gerade siebzehn. Das Protokoll beschreibt eine Zeugenaussage, nachdem sich ‚der G. mehrfach hintereinander in kurzen Abständen auf das öffentliche Urinal an der Kaiserstraße begeben hat, um dort in verdächtig langem Zeitraum zu urinieren. Da er jedoch bei jedem dort stattfindenden Aufenthalt auch urinierte, konnte ein anderweitig beabsichtigter Aufenthalt nicht nachgewiesen werden.‘ Was bedeutet, dass in dem Häuschen ein Polizeispitzel gewesen sein musste. Trotz des ‚nicht nachgewiesenen anderweitig beabsichtigten Aufenthaltes‘ ist er in die Verdächtigenkartei der Rosa Listen aufgenommen worden. Übrigens mussten alle Kriminalpolizeistellen solche Listen führen, die dann zentralisiert wurden. Allein zwischen 1937 und 1939 wurden fast 100.000 Männer in der sogenannten geheimen ‚Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung‘ erfasst.“

„Wie, da stand einer den ganzen Tag und hat den Leuten beim Pinkeln zugesehen?“

„Nein, aber auch schon damals gab es Beobachtungsposten hinter einer Tür mit einem kleinen Fenster, das Einblick auf den Hauptraum hatte.“

Oliver schüttelte sprachlos den Kopf.

„Es war zu der Zeit schon ziemlich gefährlich, sich erwischen zu lassen. 1936 bereits war der § 175 StGB geändert worden und zwar in eine verschärfte Form. Der Straftatbestand galt nun als erfüllt, wenn „objektiv das allgemeine Schamgefühl verletzt und subjektiv die wollüstige Absicht vorhanden war, die Sinneslust eines der beiden Männer oder eines Dritten [zu] erregen“. Dies bedeutete, dass nunmehr jede unzüchtige Handlung zwischen Männern belangt werden konnte, soweit mit ihr eine „wollüstige Absicht“ verknüpft war. Theoretisch sollte nun bereits das „bloße Anschauen des geliebten Objekts“ oder das „bloße Berühren“ dafür ausreichen, bestraft zu werden. Auch das bisher straffreie „Streicheln, Umarmen, Küssen u. dgl.“ wurde nun mit Gefängnis bedroht.“

Tim sah Sebastian entgeistert an.

„Also einmal beim Pinkeln auf den Schwanz des Nebenmannes geschaut und schon warst du im Knast?“

„So ähnlich, ja.“

Tim schnaubte entrüstet.

„Da mussten die ja eine Menge zu tun gehabt haben, bei der Polizei.“

Sebastian zog einen großen, mit etlichen Zahlenkolonnen bedeckten Bogen aus seinen Unterlagen.

„Kann man so sagen. Nach § 175 sind 1933 noch 853 Erwachsene und 104 Jugendliche im ganzen Reich verurteilt worden. 1937 waren es bereits 8271 bzw. 973. Man sieht, nach der Gesetzesänderung haben sich die Verurteilungen fast verzehnfacht. Übrigens, 1940 waren es bei den Erwachsenen nur noch 3773.“

„Warum denn das? Hatten die schon alle erwischt?“

„Wohl kaum, aber die hauptsächlich in Frage kommende Altersgruppe dürfte sich da bereits bei der Wehrmacht befunden haben.“

Die Umsitzenden grinsten und überlegten, was da wohl so alles passiert war.

„Dann kommen wir zum zweiten Mal. Das war schon sechs Wochen später. Am 01.07.1941 wurde er von einem zivilen Polizisten festgenommen wegen ‚Straßenprostitution‘. Das war damals schon eine ganz andere Hausnummer. Das Protokoll sagt aus, dass er sich wieder an der besagten Kaiserstraße herumgetrieben hat und dort einige der vorübergehenden Männer um Feuer für seine Zigarette gefragt hat.“

Tobias schüttelte den Kopf.

„Blöder geht’s nun wirklich nicht.“

„Einer der Männer war ein ziviler Beamter der Sittenpolizei. Daniel wurde verhaftet und gemäß § 175a angeklagt. Der war ebenfalls 1936 neu eingeführt worden und betraf die schweren Fälle, nämlich homosexuelle Vergewaltigung, die Ausnutzung eines Abhängigkeitsverhältnisses, homosexuelle Handlungen mit Männern unter 21 Jahren und die männliche Prostitution. Diese Fälle wurden mit Zuchthaus zwischen einem und zehn Jahren bestraft.“

„Das glaub ich nicht. Aber wieso mit Männern unter 21?“

Oliver sah Sebastian etwas ratlos an, bis Torsten ihn anstieß.

„Weil du damals mit 21 erst volljährig warst, du Depp.“

„Okay, wo war ich? Ah, hier. Fall es jemanden interessiert, die Änderungen des § 175 wurden damit begründet, dass Homosexualität die „Neigung zu seuchenartiger Ausbreitung“ habe und „einen verderblichen Einfluss“ auf die „betroffenen Kreise“ ausübe. Selbst damals hat Heinrich Himmler schon ein Bedrohungsszenario erstellt, Homosexuelle könnten den nationalsozialistischen ‚Männerstaat‘ unterwandern und zerstören.“

„Ja. Und das bei der Zurschaustellung des ‚arischen‘ Männerkörpers in allen Lebenslagen.“

Alle drehten sich zu Lucien herum.

„Hat sich mal jemand mit der Kunst im Dritten Reich beschäftigt? Ich habe den Eindruck, dass in keiner Epoche zuvor so viele nackte Männer dargestellt worden sind. Im Übrigen habe ich ebenfalls einen Querverweis auf den Röhm-Putsch 1934 gefunden, der den § 175 betrifft. Angeblich soll die Änderung eine der Folgen dieses Putsches gewesen sein, um sich bei der konservativen Bevölkerung wieder anzubiedern.“

„Aktion sauberes Reich oder was?“

„Nein, eigentlich nicht. Was Sebastian vorhin über den Reichsheini gesagt hat, hatte Auswirkungen. Noch im Jahr 1934, also kurz nach dem Röhm-Putsch, begannen die ersten Razzien auf Homosexuelle. In den folgenden Monaten wurden hunderte, wahrscheinlich sogar mehrere tausend, homosexuelle Männer verhaftet. Doch den meisten verhafteten Homosexuellen konnte man keine strafbaren Handlungen im Sinne des Paragrafen nachweisen, denn dieser kriminalisierte nur „beischlafähnliche Handlungen“, die wechselseitige Onanie war damals dagegen noch straffrei. Viele der Verhafteten räumten Letztere bei ihren Vernehmungen ein, bestritten aber weitergehende Handlungen. Juristisch konnte man sie so nicht belangen, also musste eine Änderung der Gesetze her.“

Sebastian sah auf seine Unterlagen, nickte zustimmend und nahm den Faden wieder auf.

„Daniel hat damals noch Glück gehabt. Mit siebzehn hat man ihn anscheinend noch für ‚heilbar‘ gehalten und ihm sechs Monate Jugendhaft in einem Erziehungslager verpasst. Was danach passiert ist, konnte ich nicht mehr genau nachverfolgen, aber er ist im März 1942 mit Auflagen nach Hause entlassen worden. Für die Schule war er natürlich nicht mehr tragbar und so wurde er in einer Fabrik zu ‚kriegswichtiger Arbeit‘ herangezogen. Dort kam es im Mai 1942 gleich zum nächsten Vorfall mit einem polnischen Fremdarbeiter. Diesmal wanderte Daniel für ein Jahr in die ‚Schutzhaft‘ eines Konzentrationslagers.“

„Wieso denn nicht in ein Gefängnis?“

„Ein Erlass des Reichssicherheitshauptamtes vom 12. Juli 1940 bestimmte pauschal, „alle Homosexuellen, die mehr als einen Partner verführt haben, nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis in polizeiliche Vorbeugungshaft zu nehmen. Warum er sofort dorthin wanderte und nicht vorher seine normale Gefängnisstrafe absaß, weiß ich nicht. Diese Vorbeugungs- oder Schutzhaftverlegungen sind sehr oft nicht nachzuvollziehen. Es wird nur geschätzt, dass von den knapp 50.000 Männern, die wegen Homosexualität abgeurteilt worden waren, etwa zehn Prozent in ein Konzentrationslager kamen, wo sie mit den besagten Rosa Winkeln gekennzeichnet wurden.“

„Dann war er ein Jahr lang im KZ und ist dann wieder rausgekommen?“

Oliver staunte etwas ungläubig.

„Es sind viele wieder entlassen worden, hauptsächlich in den ersten Jahren. Wir reden hier nicht von den Vernichtungslagern wie Auschwitz oder Buchenwald. Zu Anfang haben wohl tatsächlich einige geglaubt, dass ein mehr oder weniger kurzer Aufenthalt in einem KZ jemanden zu einem besseren Menschen macht.“

Jeder der sechs jungen Männer dachte an die Berichte und Bilder aus den Konzentrationslagern, die sie in der Schule oder auch in Dokumentationen gesehen hatten. Nicht einer von ihnen glaubte, dass solche menschenverachtenden Handlungen jemals etwas Gutes würden hervorbringen können.

„Und jetzt kommt der Renner. Daniel wird also im Mai 1943 aus dem KZ entlassen und geht wieder nach Hause. Diesmal ist eine seiner Auflagen, sich in einer der damals so genannten Irrenanstalten medizinisch untersuchen zu lassen, ob seine Veranlagung nicht vielleicht heilbar wäre. Und ratet mal, wer diese Untersuchung durchgeführt hat.“

„Doktor Frankenstein!“, platzte Oliver hervor.

„Ich hab’s gewusst! Da musste irgendeine Verbindung bestehen.“

Sebastian lächelte schwach.

„Doktor Feldermayr hat in seiner Eigenschaft als Oberarzt in dieser Anstalt seit 1940 mehr als dreihundert Untersuchungen an homosexuellen Jugendlichen durchgeführt. Aus dieser Gruppe wurden im August 1943 26 Jungen im Alter zwischen 16 und 20 Jahren in das KZ Sachsenhausen eingewiesen. Alle Karteikarten hatten eine Markierung mit dem Wort ‚Erleuchtung‘.“

Irgendwo in Baden-Württemberg, Deutschland, Anno Domini 2017

Der nächste Tag brachte erst einmal theoretischen Unterricht. Damit war Michael gefragt, der den Klassenraum stirnrunzelnd betrachtete. Im Raum waren insgesamt zwanzig einzelne Schülerplätze wahllos verteilt.

Zwei der Arbeitstische wurden sofort zusammengerückt, wo dann auch Marcel und Fabian Platz nahmen. Zur Überraschung von Michael und wohl auch der meisten Schüler, gab es noch ein zweites Paar, das ihre Tische zusammenstellte. Dominik und Tristan gaben ein etwas seltsames Paar ab, sie trennten nicht nur gute fünfzehn Zentimeter Größenunterschied, sondern auch gut 30 kg Gewicht. Michael zuckte nur mit den Achseln. Jeder so, wie er es gerne hätte.

„Guten Morgen, meine Herren. Noch einmal zu Erinnerung, ich bin Oberleutnant Lehrke, ein Bannmagier und werde bei Ihnen die Grundlagen der Magietheorie unterrichten.“

Da schoss auch schon die erste Hand nach oben.

„Ja, bitte, Herr Lübbert?“

„Wozu brauchen wir das? Wir können doch gar nicht zaubern.“

„Wer hat denn etwas von zaubern gesagt? Magietheorie beginnt zunächst mit uns selbst, nämlich mit dem, was die Magie ausmacht und warum sie sich manifestiert.“

Einige der jungen Herren schienen schon jetzt geistig abzuschalten.

„Die Magie selbst ist an das sogenannte Mana gebunden. Ob das Mana selbst magisch ist oder die Magie irgendwoher bezieht, darüber streiten Gelehrte schon seit Jahrhunderten, wenn nicht sogar Jahrtausenden. Die Astralmagier sind in der Lage, Mana zu erkennen und auch damit zu agieren, das heißt, sie konzentrieren ihre Fähigkeiten auf die geistige Ebene und können Einfluss auf andere Bewusstseine ausüben. Sie können uns auch bestätigen, dass jeder Mensch, und auch jedes Tier, ein Bewusstsein hat und dieses von Mana geprägt ist.“

„Also könnte jeder zaubern?“

„Nein, so einfach ist es nicht. Das Bewusstsein einer Person muss sich dem Mana öffnen können. Die beiden müssen zusammenarbeiten, was heißt, dass ich tatsächlich auf das Mana zugreifen können muss. Und das passiert nur bei den wenigsten Menschen. Diese Fähigkeit entsteht mit der Geschlechtsreife und zwar zunächst unbemerkt. Erstaunlicherweise tut es das nur bei männlichen Wesen, deren sexuelle Ausprägung homosexuell ist. Das ist, soweit man sich heute sicher ist, teilweise genetisch bedingt. Dazu muss dann noch die bewusste Ausrichtung kommen, das heißt, die willentliche Hinwendung zu homosexuellem Sexualverhalten.“

„Also muss ich schon rumgefickt haben, bevor ich zaubern kann?“

„Abgesehen von Ihrer Wortwahl, Herr Kleinert, ja. Aber nicht so direkt. Es genügt, sich dieser Hinwendung bewusst zu werden. Es gab schon Magier in der Ausbildung, die noch nie einen Jungen geküsst hatten, geschweige denn etwas anderes getan.“

„Aber Sie hätten ganz gerne.“

„Ganz richtig, Herr Seibert. Doch auch da sind nicht alle sofort magisch begabt. Es trifft etwa einen unter zehntausend.“

„Und was ist mit uns?“

„Nun, Herr Lübbert, da muss ich gleich eine Einschränkung machen. In Ihrer Klasse gibt es zwei verschiedene Arten von Wandlern.“

„Was? Wer?“

Aufgescheucht sahen sich jetzt etliche um. Marcel dämmerte etwas, als Fabian seinem fragenden Blick auswich.

„Zunächst einmal etwas Grundsätzliches zu den Gestaltwandlern. Auch bei Ihnen hat sich Ihr Bewusstsein dem Mana geöffnet, allerdings in einer anderen Form. Bei Ihnen wird nicht die geistige Komponente verändert, sondern die körperliche. Wo die Magier plötzlich zaubern können, so verändern Sie Ihr äußeres Aussehen. Der Zeitpunkt der Veränderung ist immer der Gleiche, während der Pubertät, mit bewusstwerden der sexuellen Ausrichtung. So wie ich unsere Gestaltwandler verstanden habe, passiert so etwas sehr häufig nachts bei irgendwelchen Träumen.“

Die meisten ringsum nickten langsam.

„Dann kommen wir zu den Gestaltwandlern, bei denen die Wandlung bereits genetisch vorgegeben und nicht von der homosexuellen Ausprägung bestimmt ist.“

„Die Wölfe.“

Marcel hatte es halblaut gemurmelt und sowohl Fabian als auch Thies fuhren erschreckt zu ihm herum.

„Völlig richtig. Die Lykanthropen sind keine einfachen Gestaltwandler, sondern ihre menschliche und ihre Wolfsgestalt sind beide eine gleichberechtigte Grundform. Ihre Verbindung zum Mana ist, wie gesagt, komplett genetisch bedingt und ruft sowohl männliche als auch weibliche Wandler hervor.“

„Mit acht Titten?“

Die Stimme kam aus der zweiten Reihe und Fabian fuhr herum. Zornig funkelte er Dominik an, der sich automatisch duckte.

„Ja, allerdings. Sieht ein Bisschen blöd aus, aber man gewöhnt sich an den Anblick, wenn man im Rudel zur Jagd geht. Du kannst ja gerne mal meine Schwester fragen, die wird dir schon eine passende Antwort geben. Außerdem wüsste ich nicht, warum es denn ausgerechnet dich interessiert.“

„Ruhe, bitte. Auch hier gilt, was Oberleutnant Wolff bereits gesagt hat. Ich dulde ebenfalls keine anzüglichen Kommentare über Schweiflängen, Ohren, Puschel oder andere Körperteile.“

Dominik wollte anscheinend noch etwas sagen, doch Michaels strenger Blick hielt ihn davon ab.

„Wir waren bei den beiden Grundformen der Wölfe, nämlich der tierischen Wolfsform und der menschlichen Form. Dazwischen gibt es dann noch eine Halbform, den Werwolf.“

„Ein Werwolf!?“

Marcel starrte nun mehr überrascht als entsetzt Fabian an, der seinen Kopf auf den Tisch gelegt und seine Augen geschlossen hatte.

Thies hingegen funkelte seine Mitschüler an.

„Ja und? Was ist?“

„Ruhe, bitte. Die Wölfe sind, bis auf eine andere sehr seltene und sehr scheue Ausnahme, die einzigen Gestaltwandler Nordeuropas, die als eine eigenständige Community in unserer Gesellschaft leben. Nichts und niemand wird sie als Gestaltwandler erkennen, wenn sie es nicht wollen, ausgenommen vielleicht ein Astralmagier. Da die Lykanthropen in ihrer Gemeinschaft fest auf einen Zusammenhalt in Familien bauen, sind schwule Werwölfe nicht sehr erwünscht. Sie werden meistens von der Gemeinschaft ausgeschlossen und einige von ihnen schließen sich uns freiwillig an. Und das schon seit über tausend Jahren.“

„Da… das bedeutet, es leben überall unerkannt Werwölfe unter uns?“

„Herr Bekker, es sind ebenso Gestaltwandler wie Sie auch. Sie leben als Mensch und als Wolf wie jeder andere Gestaltwandler in unserer Gesellschaft. Wenn Sie sich jedoch auf den eigentlichen Werwolf in seiner Halbform beziehen, haben Sie schon jemals davon gehört, dass irgendwo Werwölfe aufgetaucht sein sollen? Außer in obskuren Verschwörungstheorien oder schlechten Filmen?“

Simon schüttelte wortlos den Kopf.

„Der Werwolf ist in seiner Halbform eine sogenannte halbmagische Kreatur. Diese Kreatur könnte ohne Magie gar nicht existieren, denn ihr Aussehen ist mit nichts vergleichbar, was in der Natur vorkommt. Ebenso werden seine Fähigkeiten magisch unterstützt. Bei den Werwölfen sind es hauptsächlich ihre Schnelligkeit, Stärke und Kondition.“

Einige der Schüler sahen nun interessiert zu den beiden Wölfen.

„Vergessen Sie es ganz schnell. Den Wölfen ist es bei Todesstrafe verboten, ohne zwingenden Grund oder die Anweisung einer autorisierten Person in ihre Halbform zu wechseln. DAS GILT AUCH HIER! Und das mit der Todesstrafe war keine Redewendung. Die Community der Wölfe vollzieht diese auch heute noch.“

Jetzt wurden ringsum die Augen größer. Michael bemerkte, wie Marcel tröstend einen Arm um Fabian legte.

„Und wenn wir schon einmal beim Thema sind: Es gibt noch eine dritte Kategorie Gestaltwandler. Sie wechseln von der menschlichen Form in eine halbmenschliche Zwischenform und von dort aus in eine magische Tiergestalt. Dabei ist die Zwischenform und die Tierform jeweils magisch begabt, denn sonst könnten beide nicht existieren, denn auch hier gilt, dass diese Formen in der Natur nicht vorkommen.“

„Was ist denn eine magische Tiergestalt?“

„Das, Herr Lübbert, ist zum Beispiel hier in Europa ein Minotaurus, in Südamerika ein Quetzalcoatl oder in Asien ein Drachen.“

Jetzt saßen vor Michael die ersten jungen Herren mit offenen Mündern.

„Ein Drachen? Wie groß soll der denn sein?“

„Oh, richtig. Das habe ich vergessen. Die magischen Halbformen, die Zwischenformen und auch die magischen Tiergestalten sind nicht an irgendwelche Beschränkungen gebunden. Ein Minotaurus zum Beispiel ist gute zweieinhalb bis drei Meter groß und wiegt über 250 kg. Ein asiatischer Drache ist zehn bis zwölf Meter lang. Über das Gewicht können Sie gerne spekulieren.“

Thies Kleinert schüttelte unwillig den Kopf.

„So ein Scheiß. Minotauren, Drachen. Als ob es so etwas wirklich geben würde.“

„Genauso wenig wie Werwölfe oder?“

Fynn hatte sich umgedreht und sah Thies erbost an.

„Was glaubst du eigentlich, wo du hier bist?“

Michael hob beide Hände.

„Ruhe, bitte. Ich weiß, es ist schwer zu verstehen, selbst wenn man zu dieser Personengruppe gehört. Ich selber habe vor meiner Ausbildung nie an Zauberei geglaubt. Ich hab nicht mal Harry Potter gelesen.“

Das leichte Gelächter löste etwas die angespannte Stimmung.

„Aber wir waren bei den Grundlagen der Magietheorie. Da Sie ja im nächsten Jahr zusammen mit den Magiern am Offiziersseminar ausgebildet werden, gibt es nun eine kurze Einführung in die Schulen der Magie, ihre Fähigkeiten und ihre Zauber. Ob Sie es gut finden oder nicht, aber dieser Anteil Magietheorie ist für Sie am Ende des Jahres prüfungsrelevant.“

Ein leichtes Aufstöhnen in den Reihen zeigte Michael, dass er sehr gut verstanden worden war und er nickte mehr zu sich selber, als einige der Schüler ihre Unterlagen zückten, um sich Notizen zu machen.

„Sehr schön. Sie sind hoffentlich darauf hingewiesen worden, dass alle, und ich wiederhole, alle Unterlagen, die Sie während des Unterrichts erstellen, am Ende des Jahres abgegeben werden müssen. Nichts von dem, was hier gesagt und gezeigt wird, darf die Organisation in irgendeiner Form verlassen.“

Alle nickten, zum Erstaunen einiger nickten die Werwölfe am heftigsten. Sie kannten die Schwierigkeiten, die mit Geheimhaltung einhergingen.

„So, kommen wir nun zu den einzelnen Magieschulen. Jemand schon eine Vorstellung oder sogar eine Einweisung?“

Drei der Schüler haben die Hand. Neben Fynn waren es Marcel und Dominik. Waren jetzt die jungen Herren nur zufällig informiert oder waren die Füchse etwas schlauer?

„Ohne ihnen jetzt zu Nahe zu treten, aber färbt die Tiergestalt etwas auf den menschlichen Charakter ab oder ist es umgekehrt?“

Die beiden Füchse sahen sich fragend an, doch Marcel seufzte.

„Nicht direkt. Ich weiß zufällig, dass es eine Studie darüber gibt. Aber die ist steinalt und auf Grund dieser Ergebnisse wurden ja auch die meisten Gestaltwandler für den Dienst in den Einsatzeinheiten abgelehnt. Angeblich soll sich der grundlegende Charakter einer Person in der Tiergestalt niederschlagen.“

Die ersten Zwischenrufe wurden laut und Marcel wedelte mit den Händen.

„Moment, ich bin noch nicht fertig. Das ist natürlich so nicht haltbar. Was für einen Charaktertyp soll denn Tristan zum Beispiel haben? Oder ich? Sehe ich so aus, als ob ich einer Auseinandersetzung aus dem Weg gehe? Ich habe die meiste Zeit meines Lebens Sport getrieben und zwar hauptsächlich Kampfsport.“

„Ein Kampfkarnickel“, kam es leise aus der hinteren Reihe, doch noch laut genug, dass alle es hören konnten. Marcel fuhr herum und funkelte Marvin an.

„Ich geb‘ dir gleich ein Kampfkarnickel. Hast du dir mal überlegt, warum du Tischler gelernt hast? Ich nehme an, du hast den Beruf ergriffen, nachdem du wusstest, in was für ein Tier du dich wandelst.“

Marvin sah etwas irritiert zu Marcel, zuckte dann aber mit den Schultern.

„Stimmt. Ich habe eigentlich nie viel darüber nachgedacht, warum ich Tischler geworden bin. Ich glaube, ich habe den Zusammenhang damit irgendwie verdrängt.“

„Und was ist mit mir? Hab‘ ich da auch was verdrängt oder hatte ich da einen Anfall von Kannibalismus?“

Alle sahen nun zu Maximilian König, der mit verschränkten Armen hinter seinem Tisch saß. Michael verdrehte die Augen. Wenn das so weiterging, würden sie heute nie fertig.

„Das werden wir jetzt hier bestimmt nicht beleuchten. Das ist wohl mehr ein Fall für eine erneute Studie und vielleicht eine tiefenpsychologische Betrachtung, als für diesen Unterricht. Also, wer kennt die fünf Magieschulen?“

Köln, Deutschland, Anno Domini 2017

Max tippte an seinem Bericht für das Magie-Korps. Kevin hatte ihm aufgetragen, alle Beobachtungen, die er im Zusammenhang mit Martins unbewusster Begabung machte, zu dokumentieren und dem Magie-Korps zuzusenden. Max fügte auch noch seine persönliche Einschätzung hinzu, dass für diese Art der Magie möglicherweise die Schule der Heiler zuständig wäre.

Am Nachmittag wurden dann auch zu Martins großer Erleichterung die Fahrzeuge geliefert, die die Kommandeure angekündigt hatten. Martin hatte schon das Gefühl gehabt, er wäre hier überflüssig.

Es dauerte eine ganze Weile mit der Übergabe und Max grummelte etwas herum, denn das wäre eigentlich die Aufgabe von Kyan gewesen, doch der spielte ja jetzt Lehrer. Max merkte, dass er etwas ungerecht war. Kyan konnte sich nicht teilen und die Aufgabe an der Schule war wichtig. Warum war er auf einmal so zickig? Lag es an Martin? Nein, der konnte nichts dafür. Max merkte auf einmal, dass ihm die anderen fehlten. Nichts gegen Martin, aber ihm fehlte eigentlich Lucas‘ unauffällige Präsenz, Robins quirlige Ausgelassenheit und auch Luciens spitze Bemerkungen. Er fühlte sich wie ein ausgeschlossener Wolf aus einem Rudel.

Zum Glück hielt ihn Martin an dem Tag noch mit allen möglichen Fragen auf Trab. Am Abend kontrolliert Max noch einmal die Posteingänge und bemerkte eine kurze Nachricht vom Magie-Korps.

Der Eingang Ihres Berichtes wird bestätigt. Nach eingehender Prüfung wurde, nach Rücksprache mit Kdr Div WE, ein Repräsentant des Magie-Korps Med damit beauftragt, eine fachliche Überprüfung der festgestellten Tatbestände durchzuführen.

Max hob die Augenbrauen. Das würde Kevin bestimmt nicht gefallen, doch wenn die Kommandeure zugestimmt hatten, blieb ja wohl nichts anders übrig. Er bestätigte den Empfang und bekam kurze Zeit später einen Zeitplan mit einem Codewort für den Zugang.

Später am Abend, als Martin aus dem Bad kam, fand er Max zusammengerollt unter der Bettdecke liegend, das Gesicht abgewandt. Als er näher kam, hörte er ein leises Weinen. Alarmiert kroch er näher zu Max.

„Was ist los?“

„Nichts.“

„Das sieht aber nicht aus wie Nichts.“

„Ach es ist… ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Es ist so leer hier im Haus.“

Martin schwieg zunächst. Er glaubte zu wissen, was Max fehlte.

„Du vermisst sie, nicht wahr?“

„Ja. Ich hätte nie geglaubt, dass ich das einmal sagen würde, aber ich glaube, ich liebe sie, sie alle. Jeden einzelnen von ihnen.“

„Verwechselst du da nicht was?“

„Was? Du meinst den Sex? Nein. Den kann ich notfalls auch alleine haben. Ich meine das zusammen Leben, das zusammen Arbeiten und naja, auch das zusammen Schlafen. Es fehlt mir einfach das Lachen von Robin, die belehrende Stimme von Rafael oder auch die witzigen Bemerkungen von Lucien. Einfach alles, was das Zusammenleben hier ausmacht.“

Langsam hatte sich Max herumgedreht und lag nun auf dem Rücken.

„Es tut mir leid, dass ich dich damit belästigt habe, aber es ist nicht einfach für mich. Ich war ein Einzelkind als meine Eltern starben und ich bin dann adoptiert worden. Dort war es zwar sehr schön, doch ich war auch dort ein Einzelkind. Erst hier habe ich diese Gemeinschaft kennengelernt, eine, die sehr viel enger zusammensteht, als ich es mir je vorgestellt habe.“

Kommentarlos beugte sich Martin vor und küsste Max. Die Küsse wurden intensiver und Max fragte sich, was Martin wohl beabsichtigte. Das merkte er dann sehr schnell, als sich eine Hand unter seine Bettdecke schob. Max zögerte einen Moment, doch dann drehte er sich zu Martin und kroch unter dessen Bettdecke. Als Martin ein paar hektische Bewegungen machte, wunderte sich Max, doch dann bemerkte er, dass Martin seine Unterhose ausgezogen hatte und nun presste er seinen komplett nackten Körper an den von Max.

Hoffentlich mache ich jetzt nicht etwas, was ich nachher bereuen muss.‘

Max ließ seine Hände an dem Körper vor ihm auf und ab wandern und spürte, dass Martin das Gleiche tat. Noch schien Martin etwas verkrampft, doch langsam entspannte er sich. Als er dann leise anfing zu brummen, wurde Max mutiger.


Am nächsten Morgen erwachte Max durch eine Hand, die leicht über seine Haare strich und den aufgestellten Kamm des Mohawk durcheinanderbrachte. Als er die Augen öffnete, sah er Martins lächelndes Gesicht mit seinen blonden Haaren über sich.

„Guten Morgen, Max. Du bist echt niedlich, wenn du schläfst.“

Dann beugte sich Martin vor und gab Max einen kurzen Kuss.

„Ich geh‘ runter und mach das Frühstück.“

Nackt, wie er war, verließ Martin das Bett ohne sich auch nur im Geringsten um Bekleidung zu kümmern. Max sah ihm erleichtert hinterher. Die letzte Nacht hatte mehr etwas mit Lehren und Lernen zu tun gehabt, doch Martin war ein sehr gelehriger Schüler gewesen. Stichwort Schüler. Heute würde irgendwann ja auch noch ein Repräsentant – wie das klang – des Magie-Korps erscheinen. Er musste unbedingt mit Martin vorher darüber reden.

Das Frühstück war dann schon ein Brunch, doch für den Tag war ohnehin nicht viel geplant. Während des Essens kam Max dann auf den Besuch des Magie-Korps zu sprechen. Martin schüttelte den Kopf.

„Was wollen die denn noch? Ich war schon zweimal da und niemand konnte etwas Genaues feststellen oder mir sagen.“

„Diesmal ist es etwas anders. Der Herr kommt von der Schule der Heiler.“

„Heiler? Wieso denn das? Bin ich jetzt krank?“

„Nein, natürlich nicht. Aber kannst du dich an das erinnern, was du mir über den Umgang mit den Fahrzeugen gesagt hast?“

„Äh, was denn? Worauf willst du hinaus?“

„Du hast gesagt: Wenn ich die Hand auf die Motorhaube lege, spüre ich an den Vibrationen, ob etwas nicht richtig läuft. Das ist genau die gleiche Methode, mit der ein Heiler einen Menschen untersucht.“

Bevor Martin etwas erwidern konnte, klingelte es an der Tür. Max ging hinüber zur Einsatzleitkonsole und kontrollierte die Zufahrt. Vor dem Tor stand ein PKW mit vier Insassen. Max runzelte die Stirn. Von vier Mann war nicht die Rede gewesen.

„Ja, bitte.“

„Magic Electronic Devices. Wir kommen zu einer Fehlerbeseitigung.“

Das war das verabredete Kennwort und Max ließ den Wagen ein, dann ging er mit Martin nach vorne zur Tür.

Vor der Tür standen die vier Herrn aus dem Auto und Max blickte zunächst etwas verblüfft auf das erste Paar. Der junge Mann zur Linken war wohl noch ein paar Zentimeter kleiner als er und hatte schwarze Locken. Der andere junge Mann mit den dunkelblonden Haaren war fast so groß wie Lucas und hatte eine ähnlich breite Statur.

„Guten Tag. Wir kommen von der Firma Magic Electronic Devices. Dürfen wir eintreten?“

Max nickte und während sie hereinkamen, konnte er auch einen Blick auf das zweite Paar werfen. Hier gab es eine ähnliche Verteilung. Ein kleinerer, diesmal goldblonder junger Mann und ein dunkelblonder etwas größerer.

Die Tür fiel ins Schloss und Max sah auf die Leuchtdiode neben dem Türschloss. Als sie auf grün sprang nickte er.

„Sicherheitsstufe zwei Alpha.“

Der junge Mann mit den schwarzen Locken lächelte wieder, während er Max ansah.

„Sehr schön. Mein Name ist Oberleutnant Mavelli und ich bin vom Magie-Korps beauftragt worden…“

„Timo Mavelli?“, entfuhr es Max unwillkürlich und der Oberleutnant vor ihm hob erstaunt die Augenbrauen, während sein Nebenmann spöttisch grinste.

„Wenn du der IT-Analyst bist, kannst du auch bestimmt sagen, wer die anderen sind.“

Max wurde unwillkürlich an den ersten Tag erinnert, als Kevin und die anderen hier eingetroffen waren. Diesmal war es einfacher. Immer wieder hatte er den Erzählungen und auch den manchmal sehr genauen Beschreibungen gelauscht, die die Magier aus ihrer Schulzeit zum Besten gaben.

„Richtig, ich bin Feldwebel Maximilian Harder. Sie müssten demnach Alexander Sarutin sein und die beiden anderen Herren im Hintergrund sind Sven Hansen und Dorian Müller.“

Alexander lachte, drehte sich um und klatschte Dorian ab.

„In Ordnung. Wir sehen schon, irgendwer konnte die Klappe nicht halten, aber ich nehme an, es waren alle, richtig?“

Max nickte grinsend, ebenso wie Timo, der nun allerdings wieder ernst wurde.

„Ich wurde mit einem sehr merkwürdigen Auftrag hergeschickt. Ich muss zugeben, dass wir uns alle gewundert haben, dass es so eilig ist und wir nicht einmal warten sollten, bis Kevin und Lucas zurück sind. Wo liegt denn das Problem?“

Max drehte sich kurz zu Martin, der bis jetzt etwas ratlos am Durchgang zum Wohnzimmer gestanden und die merkwürdige Begrüßung beobachtet hatte.

„Das Problem steht hier. Dies ist Unteroffizier Martin Keller vom Logistik-Corps. Sein Fall dürfte beim Magie-Korps vorliegen, denn von dort haben wir ja die Anweisung bekommen, ihn zu beobachten.“

Max bemerkte, wie Martin die Sache immer peinlicher wurde, aber da konnte er jetzt ja nichts dran ändern.

„Ich habe alles zusammengefasst. Wir können nachher alles in der Einsatzzentrale chronologisch durchgehen. Zunächst würde ich vorschlagen, dass die Zimmer bezogen werden. Wir hatten eigentlich das Gästezimmer vorbereitet, aber…“

Der Blick von Max glitt über alle vier und er erinnerte sich an ihre komplizierte Beziehung.

„…ich kann auch das große Schlafzimmer für alle vier zurechtmachen.“

Martin sah ihn verblüfft an, während Dorian nickte.

„Mach dir keine Arbeit damit. Wir richten uns selber ein. Das Vierer wäre schon ideal.“

Also machten sich alle auf den Weg nach oben und Alexander pfiff leise, als er das Zimmer sah.

„Wer wohnt hier denn normalerweise?“

„Kevin, Lucas und Robin.“

„Ah, die hohe Führung. Aber hier sind doch noch mehr Plätze.“

„Wir haben auch schon alle zusammen hier geschlafen, besonders als Christian die ersten Tage hier war.“

Timo flüsterte Sven etwas zu, worauf dieser nickte. Alexander sah zu Dorian, dann wieder zu Max.

„Dann mal bitte zur Lageeinweisung.“

In der Einsatzzentrale sahen sich die Besucher zunächst staunend um. Alexander und Dorian nickten anerkennend, während Timo und Sven leise miteinander tuschelten.

Max startete seinen Vortrag mit der Zuweisung von Martin und dem Auftrag, mit dem er eigentlich hergeschickt wurde. Dann folgte der Bericht des Magie-Korps über die unbewusste Begabung und die vergeblichen Versuche, diese zu manifestieren. Als letztes trug Max vor, was Martin ihm gestern erzählt hatte.

Timo blätterte stirnrunzelnd in einigen Unterlagen und sah dann etwas ratlos auf.

„Also, der letzte Bericht fehlt bei mir natürlich wieder einmal. Irgendwie kriegen die da auch nichts gebacken.“

Dann fiel sein Blick auf Martin, der immer nur kopfschüttelnd den Berichten von Max zugehört hatte.

„Also, Martin, ich möchte mich mit dir ganz gerne einmal unter vier Augen unterhalten. Es ist nichts Tragisches. Du weißt sicherlich, dass ich ein Heiler bin. Meine Magie beschäftigt sich mit den Körpern der Menschen und ihrem richtigen Funktionieren. Ich möchte zuerst allerdings erst einmal deine Geschichte hören, wie du zu dieser Begabung gekommen bist. Du bist nicht dazu gezwungen, aber es würde meine Arbeit erleichtern. Was hältst du davon?“

Martin überlegte einen Moment, doch dann nickte er.

„Wir können nach vorne ins Büro gehen.“

Max schüttelte den Kopf.

„Nehmt das Gästezimmer. Kann sein, dass wir öfter die Einsatzzentrale benutzen, dann würden wir durchs Büro latschen.“

Irgendwo in Bayern, Deutschland, Anno Domini 2017

Olivers Lachen verstummte schlagartig und er sah fragend zu Sebastian.

„Kann es sein, dass dieser Doktor Feldermayr ein Heiler war?“

Sebastian schüttelte vehement den Kopf.

„Mal abgesehen davon, dass er dann ja auch schwul gewesen sein muss, äußert sich so etwas oft das erste Mal in Selbstheilung. Wenn er so etwas an sich entdeckt hätte, wieso hätte er dann Psychiater werden wollen und nicht Humanmediziner?“

„Aus Angst vor Entdeckung?“

Sebastian schüttelte wieder den Kopf.

„Bestimmt nicht. Wenn du nicht gerade geil darauf bist, durch Presse, Funk und Fernsehen bekannt zu werden und als Wunderheiler zu gelten, gibt es sehr viele Wege, vollkommen ohne Aufsehen zu heilen. Diese sogenannten Wunderheiler sind, soviel ich weiß, bis auf eine einzige Ausnahme alle Betrüger gewesen.“

Lucien sah nachdenklich zur Zimmerdecke.

„Na gut, also kein Heiler. Ein Astralmagier vielleicht?“

Tobias verdrehte die Augen.

„Das nützt doch nichts, jetzt einfach zu spekulieren. Dann sind wir wieder genauso weit wie am Anfang. Erstens müsste er schwul gewesen sein und zweitens: Überleg mal, was ein Astralmagier alles kann. Selbst wenn er nicht ausgebildet war, dürfte er im Laufe seines Lebens so einiges entdeckt haben.“

„Ha, deshalb also auch Area 51!“

„Sagt mal, geht’s euch beiden gut? Sollte er jemals in den USA als Astralmagier aufgetreten sein, hat die Division Nordamerika darüber Aufzeichnungen. Toby, machst du mal eine Anfrage? Am besten, beide Namen und Geburtsdatum. Mal sehen, ob die überhaupt was haben.“

Tim stieß Sebastian an und der wandte sich mit einem unschuldigen Augenaufschlag an Lucien.

„Dürfen wir dann diesmal mit nach Amerika?“

Lucien bekam einen Hustenanfall und sah zu Tobias, der nun die Decke betrachtete.

„Geht’s noch? Wer sagt denn, dass wir nach Amerika fliegen? Wir konzentrieren uns erst einmal auf die Unterlagen, die wir hier noch zur Verfügung haben.“

Tobias nickte und räusperte sich dann.

„So, wie sieht es denn mit der letzten Aufgabenstellung aus? Wenn ich mich richtig erinnere, wollte Torben die Auszüge aus dem Archiv der Organisation besorgen. Wie weit bist du damit gekommen?“

Torben sah etwas unglücklich auf einen kleinen Haufen loser Blätter.

„Während der zwanziger Jahre wurde die NSDAP überwacht wie jede andere Partei auch. Es gab, gemessen an der damaligen Zeit, nicht viele Auffälligkeiten. Das politische Programm war damals noch nicht so relevant und wurde nur am Rande betrachtet. Interessanter war da schon der Aufbau einer Jugendorganisation, die ab 1926 Hitlerjugend hieß. Auch hier nur weiterhin beobachtende Maßnahmen. Ab 1933 wurde das anders. Seit der zwangsweisen Mitgliedschaft in der HJ wurde es für Überwachungspersonal immer schwieriger, geeignete Kandidaten für die Organisation festzustellen und sich ihnen unauffällig zu nähern.“

Luciens Augen funkelten plötzlich.

„Laß mich raten. Unsere Leute sind Mitglieder in SA und HJ geworden, um an den Kandidaten dran zu bleiben.“

Torben seufzte.

„Ja, so ungefähr. Es war wohl ein sehr riskanter Job und vor allem die Astralmagier haben ihn nur kurze Zeit durchgehalten.“

„Was? Wieso denn?“

Sebastian stieß Tim leicht an.

„Was glaubst du, wie schwierig das ist, wenn du um dich herum die ganzen Emotionen wahrnehmen kannst, die bei großen Veranstaltungen auftreten.“

Torben seufzte noch einmal.

„Und nicht nur das. Im April 1934 wurde der Großmeister für Europa vom Generalkapitel abgesetzt. Er hatte allen Ernstes vorgeschlagen, die Deutsche Führung in das Geheimnis der Organisation einzuweihen und die Strukturen dort für eine gründliche Suche und die Rekrutierung aller Begabten zu nutzen. Als Ausgleich dafür hatte er die Aufstellung eines Spezialbataillons für einen eventuellen Kriegseinsatz vorgeschlagen, als Geheimwaffe.“

Vier Gesichtszüge entglitten vollkommen, während Lucien in einen heftigen Husten ausbrach.

„WAS?! Gibt es darüber genaue Unterlagen? Mit wem hat er darüber gesprochen? Warum hat man das nicht schon früher erkannt?“

„Das ist nicht so einfach zu erklären. Der Exekutivrat bestand damals zu einem überwiegenden Anteil aus Mitgliedern aus Deutschland, von denen einige ebenfalls diesem Gedanken nicht abgeneigt waren.“

„Was für ein Schwachsinn.“

Torben warf Sebastian einen strafenden Blick für die Unterbrechung zu.

„Nach den Unterlagen soll der Großmeister damals tatsächlich geglaubt haben, dass mit dieser Aktion mehr Magier zur Verfügung stünden und die Bedrohung durch Nester in ganz Europa grundsätzlich beseitigt werden könnte. Der schwerwiegendste Einwand dagegen kam natürlich vom Magie-Korps, dass die Nazis wohl kaum irgendwelche homosexuellen Soldaten bei sich dulden würden.“

„Was durch die Äußerung dieses Herrn Himmler ja bestätigt wird, wo er dieses Szenario beschworen hatte, in dem Homosexuelle den nationalsozialistischen ‚Männerstaat‘ unterwandern und zerstören könnten. Möchte mal wissen, was der sich als ‚Männerstaat‘ vorgestellt hat.

Lucien sah Torben fragend an.

„Wann ist der abgesetzt worden?“

„Eh, hier. Am 20. April 1934.“

„Ausgerechnet zu Führers Geburtstag“, murmelte Oliver, was ihm böse Blicke von fast allen einbrachte, lediglich Lucien starrte in die Luft.

„Also, 20. April 34. Bad Wiessee war am 30. Juni 34. Soll ich euch was sagen? Ich glaube, ich weiß, warum die den Röhm erschossen haben.“

Jetzt war Lucien plötzlich das Zentrum der Aufmerksamkeit.

„Und zwar, weil sie es tatsächlich geglaubt haben. Ich wette mein gesamtes Jahresgehalt, dass der Großmeister mit Ernst Röhm gesprochen hat und dass der daraufhin zu irgendwem gerannt ist und den Vorschlag unterbreitet hat. Und dann haben die Herren kalte Füße bekommen. Vielleicht haben sie ja auch befürchtet, die Magier würden ihren Staat übernehmen als so eine Art Über-Rasse oder Super-Arier. Als musste Röhm weg und mit ihm alle Mitwisser. Dann danach alle potenziellen Magier, sprich, alle Schwulen. Alle wurden streng überwacht und ins KZ verfrachtet, wenn nur der geringste Verdacht bestand, dass sie irgendwie magisch aktiv sein könnten. Erst zum Ende hin hat wohl jemand Panik gekriegt und versucht, auf den letzten Drücker doch noch eine Geheimwaffe aus dem Boden zu stampfen.“

„Quod esset demonstrandum.“

Diesmal war es Tobias, doch nur Oliver und Tim sahen ihn etwas ratlos an.

„Stimmt, beweisen kann ich es nicht, aber es macht im Moment, mit den Informationen die wir haben, den größten Sinn.“

„Wer ist eigentlich 1934 Großmeister geworden?“

Torben blätterte.

„Einer der Stellvertreter. Der Marschall, stammte aus Großbritannien.“

Sebastian sah erst zu Tim, dann zu Torben.

„Danke für die Info. Was ist ein Marschall?“

„Oh, sorry, Du hattest ja noch keinen Unterricht in Aufbau und Gliederung. Also kurz gesagt, der Exekutivrat besteht aus insgesamt dreizehn Mitgliedern. Der Chef vom Ganzen ist der Großmeister. Er hat drei Stellvertreter, deren Bezeichnungen noch von den mittelalterlichen Ritterorden stammen. Dem Marschall unterstehen die drei Komture für den Einsatz, die Logistik und die Gestaltwandler. Dem Großkomtur die drei Komture für Magie, Religion und Ausbildung. Und dem Tressler unterstehen die drei Komture für Forschung, Wirtschaft und die Tarnorganisationen. Ist eigentlich ganz einfach.“

„Ja, nee, is klar.“

Tim seufzte, nahm ein Blatt und zeichnete mit ein paar Strichen die Organisationsstruktur in drei Ebenen.

„Da. Eins – Drei – Neun. Nur an die Bezeichnungen muss man sich eben gewöhnen.“

„Aha. Und wer wählt jetzt den Großmeister?“

Lucien wedelte mit beiden Händen.

„Ist gut jetzt. Das kann dir Tim auf eurer Bude erklären oder du wartest einfach bis zum Unterricht. Ich möchte jetzt viel lieber wissen, ob noch irgendjemand etwas gefunden hat, was uns hier weiterhilft.“

Lucien seufzte, als sich alle nur ratlos ansahen.

Irgendwo in Baden-Württemberg, Deutschland, Anno Domini 2017

„Noch so ein paar Unterrichtseinheiten und ich haue hier vorzeitig ab.“

Michael knallte sein Tablett auf den Tisch und sah zu Robin.

„Einer ist ja noch zu ertragen“, dann ging der Blick zu Kyan, „oder vielleicht auch zwei. Aber Elf? Vielleicht sollten wir eher mit den Jungs Fußball spielen, als zu versuchen, ihnen Magie, Philosophie und Psychologie nahezubringen?“

Robin und Kyan sahen sich irritiert an, nur Rafael grinste in sich hinein, während sich Michael umständlich setzte.

Er wollte gerade weiter lamentieren, als er einen der Schüler bemerkte, der sich ihrem Tisch näherte.

„Entschuldigung, dürfte ich Sie alle wohl einmal kurz sprechen?“

Michael deutete auf einen der beiden freien Plätze.

„Nehmen Sie ruhig Platz. Ich vermute, es dauert länger.“

„Wahrscheinlich nicht. Ich wollte nur wissen, warum ich eigentlich hier bin.“

Robin nickte. Diese Frage hatte er früher oder später erwartet.

„Das ist nicht so einfach zu erklären. Vordergründig betrachtet ist natürlich ein Delphin nicht gerade universell einsetzbar, aber das sind andere Gestaltwandler auch nicht. Die Wahl ist auf Sie gefallen, weil Ihr psychologisches Profil eine der besten Bewertungen ergeben hat.“

Tristan Ebendorf hob erstaunt seine Augenbrauen.

„Das psychologische Profil? Das versteh ich jetzt nicht ganz.“

„Es haben über dreißig Gestaltwandler für diese Klasse zur Auswahl gestanden. Bei einigen Tiergestalten hat man davon abgesehen, andere Bewerber wurden schon im Vorfeld abgelehnt, weil die Identifikation mit ihrer Tiergestalt bereits zu stark war.“

Tristan nickte.

„Bei Ihnen war das Gruppenverhalten ausschlaggebend. Ich weiß nicht, ob es Ihren Klassenkameraden aufgefallen ist, aber Sie waren beispielsweise der Einzige, der bei allen Vorkommnissen am ersten Tag vollkommen die Ruhe bewahrt hat.“

„Etwa so, wie in dem Sprichwort: kalt wie ein Fisch?“

Robin seufzte,

„Nein, natürlich nicht. Erstens ist ein Delphin kein Fisch. Zweitens zeigt die kleine Geste, die Sie und Herr Lübbert in der Klasse gezeigt haben, dass Sie ein emotionaler Mensch sind.“

„Welche…? Oh, Sie meinen die Tische? Ja, Dominik und ich haben uns gestern Abend noch länger unterhalten und so wurde da, na ja, halt etwas mehr draus. Wussten Sie eigentlich, wie weich so ein Fuchsfell ist?“

Sowohl Robin als auch Kyan verdrehten die Augen, bis Robin sich darüber klar wurde, dass Tristan in seiner Tierform da ja etwas benachteiligt war.

„Guter Hinweis. Ich werde die Hallentechnik anweisen, dass Sie und Herr Lübbert die Schwimmhalle zu jeder Zeit benutzen dürfen. Aber nur mit der Einschränkung, kein Fell im Wasser.“

Tristan lächelte etwas, dann nickte er begeistert.

„Das ist sehr freundlich von Ihnen. Aber meine Frage am Anfang zielte mehr auf den praktischen Aspekt eines Einsatzes.“

„Das habe ich mir auch gedacht, aber erst einmal wollte ich Ihnen den Hintergrund erläutern. Was den praktischen Einsatz betrifft, werden sie höchstwahrscheinlich dem nördlichen deutschen Einsatzbataillon zugeteilt. Das hat eine Kompanie in Rendsburg, also genau zwischen Nord- und Ostsee. Das überlasse ich gerne dem Bataillonskommandeur, wie Sie dort eingesetzt werden. Selbstverständlich können Sie sich auch für ein skandinavisches Bataillon oder eines am Mittelmeer bewerben.“

Tristan lächelte etwas traurig, doch dann sah er von Robin zu Kyan.

„Ich weiß, man soll nicht mit seinem Schicksal hadern, doch ich wäre auch ganz gerne etwas mit einem Fell geworden. Aber wer weiß, wozu es gut ist. Ich danke Ihnen erst einmal.“

Als sich Tristan erhob, sah ihn Kyan noch grinsend an.

„Und dann bestellen Sie bitte Ihrem Fuchs, er braucht nicht die ganze Zeit in großen Kreisen um den Tisch zu schleichen. Ich habe auch als Mensch noch ganz gute Ohren. Er hätte sich auch mit dazu setzen können. Die Magier sind daran gewöhnt, dass Leute immer paarweise auftreten.“

Tristan sah verblüfft zu Kyan, dann glitt sein suchender Blick durch die Cafeteria.

„Ich werde es ihm ausrichten.“

Nach dem Mittagessen wurde der Unterricht wieder in die Übungshalle verlegt. Zu diesem Zweck waren alle wieder im Sportzeug erschienen.

„So, wider allen Erwartens werden wir jetzt erst einmal das machen, wofür die Halle eigentlich gebaut wurde, nämlich Sport. Nach ein paar kleinen Runden zum Aufwärmen werden wir schlicht und einfach Fußball spielen.“

Knapp die Hälfte der jungen Herren machte ein mehr als überraschtes Gesicht, doch Robin ließ sich nicht beirren.

„Also los, zuerst das Aufwärmtraining. Oberleutnant Diberg bitte.“

Schon nach den ersten Runden zeigte sich, welche Schüler sich schon vorher sportlich betätigt hatten. Das nachfolgende Fußballspiel hingegen zeigte, wer sich sportlich fair verhielt oder wer die Sau rausließ. In diesem Fall war es allerdings nicht der Keiler, sondern, wie bereits von Robin befürchtet, ein Wolf.

Nach der Sportstunde war noch eine Doppelstunde Gestaltwandel auf dem Plan. Vorher jedoch gab es noch eine kurze Einweisung.

„Die folgenden Stunden sollen auf eine Interaktion mit einem weiteren oder sogar mehreren Gestaltwandlern vorbereiten. Wir wissen noch nicht genau, wie und wo Sie eingesetzt werden, doch bisher waren, wie bereits erwähnt, nur Wölfe in den Einsatzeinheiten. Die Wahrscheinlichkeit ist also sehr groß, dass Sie zunächst mit einem Wolf zusammenarbeiten müssen. Dabei ist es im Moment zunächst unerheblich, wie diese Zusammenarbeit aussieht. Ich möchte nur, dass Sie sich an die Nähe eines Wolfes gewöhnen. Wie schwierig das dann für den Wolf ist, wird noch zu klären sein müssen.“

Schon ging die erste Hand hoch.

„Ja, bitte, Herr Bekker?“

„Das heißt also, wir wären zunächst für eine Einsatzeinheit nicht kompatibel, falls der Wolf dort sich nicht an einen zweiten Gestaltwandler gewöhnen kann.“

Robin und Kyan verdrehten die Augen.

„Das ist eine Frage des Willens und der Betrachtung. Sehen Sie, ich hatte zu Anfang auch Schwierigkeiten, einen zweiten Gestaltwandler zu akzeptieren, aber das lag mehr an der Einstellung, die man uns beigebracht hatte, als an einem sogenannten naturgegebenen Jagdinstinkt.“

Die Schüler sahen sich untereinander etwas unsicher an. Sie wussten ja nun, wer welche Tiergestalt hatte, nur Tristan grinste breit.

„Na, ist ja zum Glück kein Hai dabei.“

„Du hast das gut.“

„Meine Herren, ich hätte jetzt gerne zwei Freiwillige. Einen aus der Gruppe der Karnivoren, einen anderen aus der Gruppe der Herbivoren.“

Einige Wenige sahen etwas fragend drein, während die meisten nickten.

„Nein, die Herrn Franckh und Vahrenholz hatten wir gestern schon. Dass das bei ihnen funktioniert, davon gehe ich aus. Aber Herr Vahrenholz darf sich schon mal wandeln. Dann dazu Herr Bekker.“

Simon sah etwas erschreckt zu Fabian, der aber beruhigend lächelte.

„Ich werde mir Mühe geben.“

Der Wolf lag kurze Zeit später ruhig auf dem Boden, während der Rehbock zögernd näher kam. Als der Wolf aufstand, zuckte der Bock instinktiv zurück. Mit angstvoll geöffneten Augen verfolgte er die Bewegungen des Raubtiers während seine Flanken zitterten.

„Machen Sie sich bewusst, dass das kein Tier vor Ihnen ist. Sie haben vorhin noch mit ihm gesprochen. Betrachten Sie es einfach als erweitertes Kennenlernen.“

Simon beruhigte sich etwas, während der Wolf langsam näher kam. Auch er war etwas unruhig, doch er schien sich gut im Griff zu haben. Als beide noch etwa einen Meter auseinander waren, senkte der Bock seinen Kopf und streckte dem Wolf sein Gehörn entgegen. Sofort blieb dieser stehen.

„Keine aggressive Haltung bitte. Ich weiß, es ist schwer, aber lassen Sie sich nicht von Ihrem Tier überwältigen. Wenn Sie sich nicht konzentrieren, kann es passieren, dass Sie in der Tierform aufgehen und das möchte ich unter allen Umständen vermeiden.“

Der Rehbock nahm seinen Kopf wieder hoch, sah aber genau auf jede Bewegung des Wolfes. Als die beiden dann fast Schnauze an Schnauze standen, streckte der Wolf plötzlich die Zunge heraus und fuhr dem Rehbock damit über das helle Maul und die dunkle Nase. Der machte einen erschreckten Satz nach hinten.

„Okay, danke. Ich denke, das war es erst einmal für Sie beide.“

Etwas unsicher sah Simon nun in seiner menschlichen Form zu Fabian, der sich ebenfalls gewandelt hatte und ihn angrinste.

„Danke, Simon.“

Damit trat er wieder dicht vor Simon und gab ihm einen kurzen Kuss. Mit einem Lächeln ging Fabian zurück zu Marcel, während Simon ihm verblüfft hinterher sah.

„So, wir haben aber ja nun noch einen Wolf in der Klasse. Herr Kleinert wird der Nächste sein. Wer möchte freiwillig zusammen mit ihm wandeln?“

Robin bedachte Tristan mit einem vernichtenden Blick, als dieser sich meldete.

Thies Kleinert hingegen sah sich höhnisch grinsend um, während die anderen sich unsicher ansahen. Maximilian König zuckte die Schultern.

„Mal sehen, ich bin zwar kein Pflanzenfresser, aber das macht ja wohl nichts.“

Robin nickte und flüsterte mit Michael und Rafael.

„Sehr gut. Erst Herr König bitte.“

Robin wusste inzwischen, dass es der Keiler auf knappe 170 kg brachte, was selbst für einen einzelnen Wolf keine einfache Beute sein würde, falls etwas schief ging.

Der Keiler sah nun erwartungsvoll zu dem graubraunen Wolf, der damit begann, ihn vorsichtig zu umkreisen. Langsam drehte sich Maximilian mit, um den Wolf immer im Auge zu behalten. Nach dem gestrigen Tag traute er Thies nicht über den Weg. Und richtig, der Wolf versuchte immer wieder, hinter den Keiler zu kommen.

„Das reicht jetzt. Abbrechen und wandeln.“

Doch Thies Kleinert hörte schon nicht mehr. Mit einem Satz sprang er auf den Keiler zu, die Fänge aufgerissen, während der sich blitzschnell drehte und mit seinen Hauern eine Abwehrbewegung machte. Getroffen jaulte der Wolf auf. Dann erkannte Robin mit Entsetzen den Ansatz zur nächsten Wandlung.

„Alarm! Emergency Exit!“

Nun geschahen einige Dinge gleichzeitig. Eine Alarmanlage begann nervtötend zu hupen und rote Blinklichter blitzten durch die gesamte Halle. Alle Schüler waren ausreichend eingewiesen worden und folgten dem Befehl sofort, bis auf einen.

Michael reagierte ebenfalls sofort und erschuf eine physische Barriere hinter den sich am Ausgang drängelnden Schülern, während Rafael seinen Panzer aufbaute. Kyan war bei den Schülern, um sie geordnet durch den Ausgang zu begleiten. Maximilian König war zwischen ihnen, immer noch in seiner Tiergestalt.

Der einzige verbliebene Schüler war Fabian Vahrenholz und der sah nun fragend zu Robin. Nach einem prüfenden Blick auf den Werwolf vor ihm, nickte Robin Fabian zu und beide wandelten sich, ebenso wie Thies, in die Halbgestalt.

Thies Kleinert, oder besser, sein Werwolf, sah sich plötzlich mit zwei anderen Werwölfen konfrontiert und versuchte nun, die Lage einzuschätzen. In der Halbform waren fast alle bewussten Gedanken reduziert und alles, was der Werwolf wahrnahm, waren zwei Gegner, die ihn bedrohten. Sofort schnappte er nach einem dieser Gegner, in diesem Fall Robin, und versuchte, dessen Arm zu erwischen. Der zweite Gegner sprang ihn sofort von hinten an und verbiss sich in seinem Nacken. Aufheulend ließ er von dem ersten Gegner ab und schüttelte sich.

Plötzlich dröhnten laute Geräusche durch die Halle.

„ROOOOBIIIIN! PLAAATSSS!“

Robins Werwolf zuckte zusammen. Diese Stimme kannte er. Dies war einer seiner Rudelführer. Zögernd kauerte er sich zusammen. Der Werwolf von Thies Kleinert deutete das als Aufgabe und streckte sich für einen finalen Schlag, als ihn ein gelbes Leuchten umhüllte und immer stärker zu strahlen begann.

Ein tiefes Heulen dröhnte durch die Halle, während der Werwolf sich schlagartig, ohne sichtbare Wandlung, in einen Menschen zurückverwandelte, der nun mit einer Art Schüttelfrost auf dem Boden lag. Das gelbe Leuchten erlosch.

„EEEENNDEEE!“

Robin gehorchte der Stimme und wandelte sich. Auch Fabian, der nun keine Gegner mehr vor sich sah, wandelte sich zurück in seine menschliche Form.

„Verdammt. So ein Idiot!“, zischte Fabian atemlos, während Robin, immer noch irritiert, seinen Kopf schüttelte.

„Es war meine Schuld. Ich habe ihn falsch eingeschätzt.“

Neugierig sah Fabian nun hinüber zu Thies, der immer noch mit einem starken Zittern auf dem Boden lag. Das Heulen des Wolfes war lauten Schmerzensschreien gewichen, die stoßweise aus ihm hervorbrachen.

„Mein Gott, was ist passiert?“

„Ich habe ihn von seiner Anwendung getrennt.“

Fabian sah auf zu Michael, der nun zusammen mit Rafael hinter ihm und Robin stand.

„Ich habe sein Bewusstsein gewaltsam von seinem Mana getrennt und dadurch ist die Wandlung zurück in die menschliche Form zwangsweise durchgeführt worden. Die Magie hat eine Art Rückschlags-Effekt ausgelöst und jede Zelle seines Körpers wurde unkontrolliert innerhalb von Sekundenbruchteilen zurückgeführt. Er wird wohl noch ein paar Stunden diesen Tremor und die Schmerzen haben, bis sich das System neu eingestellt hat.“

Fabian schüttelte fassungslos den Kopf. Dann sah er zu Robin, der mit versteinertem Gesicht ebenfalls auf Thies herabsah.

„Und was war das mit ihm? Ich dachte, ich könnte in der Halbform nichts wahrnehmen, doch ich habe die Worte genauso gehört.“

Michael grinste leicht.

„Es wird dich vielleicht überraschen, aber man kann einer Halbform Befehle erteilen. Dazu bedarf es allerdings zwei Voraussetzungen. Die Befehle müssen antrainiert werden und derjenige, der sie gibt, muss in der Hierarchie des Rudels über dem Wolf stehen.“

Fabian sah Michael erstaunt an.

„Das mit dem Training verstehe ich, aber wieso Rudelhierarchie? Wir gehören zu keinem Rudel mehr.“

„Robin tut es. Und er ist zum Glück nur die Nummer fünf.“

„Ihr… Ihr seid ein Rudel? Mit Menschen und Wölfen?“

„Nicht nur das. Mit Menschen, einem Wolf und einem Luchs.“

Michael wandte sich nun Robin zu, während er Fabian mit offenem Mund stehen ließ.

Zwei Stunden später saßen, Robin, Kyan, Michael und Rafael im Zimmer des Direktors. Beide Direktoren sahen reichlich verärgert aus, was allerdings hauptsächlich an der Anwesenheit von Brigadegeneral Kayser lag. Es war nicht klar, wer ihn informiert hatte, sie waren es jedenfalls nicht.

„Meine Herren, die Fragestellung ist jetzt nicht: Wie konnte das passieren, sondern: Warum konnte das passieren. Der junge Mann war offensichtlich geistig nicht stabil genug für eine so fordernde Ausbildung. Wer hat ihn überhaupt in die Klasse aufgenommen?“

Frank Deisenberg fühlte sich anscheinend angesprochen.

„Das psychologische Profil hat die Rekrutierungsabteilung des Gestaltwandler-Korps erstellt. Nach der Beschreibung wäre er auf jeden Fall geeignet gewesen. Es hat bei ihm, wie eigentlich bei jedem der Schüler, auch eine einschränkende Bemerkung gegeben.“

Herr Deisenberg nahm nun die Personalakte zur Hilfe.

„Tendiert zu leicht aggressivem Verhalten bei subjektiv empfundenen Provokationen. Kein Hinderungsgrund für einen Einsatz in dem kämpferisches Verhalten und unerschrockenes Vorgehen vorausgesetzt wird.“

General Kayser sah den Psychologen überrascht an.

„Wissen Sie eigentlich, was Sie gerade vorgelesen haben? Einen Freifahrtschein für eine rücksichtslose Kampfmaschine. Ein Werwolf ist gefährlich. Nicht nur für die Gegner, sondern auch für die eigenen Leute. Seien Sie froh, dass Herr Wolff diese Spezialausbildung mit den Sprachbefehlen absolviert hat. Sonst würden wahrscheinlich immer noch drei Werwölfe durch Ihre Sporthalle toben.“

Frank Deisenberg sah seinen Partner erschreckt an, doch der nickte wissend.

„Wir haben einen Werwolf schon einmal im Einsatz erlebt. Ich habe nicht erwartet und auch nicht geglaubt, dass sich hier in der Schule einer in die Halbform wandeln würde. Wir werden das gesamte Sicherheitskonzept überarbeiten. Bis dahin ist der Unterricht erst einmal ausgesetzt. Ich hoffe, Herr Lehrke und Herr Diberg können uns dabei helfen.“

Michael und Rafael sahen sich kurz an, dann nickten beide.

„Gut. Oberleutnant Wolff und Leutnant von Södern werden mich zum Stab des Gestaltwandler-Korps begleiten. Wir haben da einen überraschenden Termin in der Rekrutierungsabteilung. Ach ja, bringen Sie auch den anderen Schüler, ich meine, den anderen Wolf mit, diesen Herrn…“

„Vahrenholz, Fabian Vahrenholz. Wenn Sie gestatten, Herr General, möchte ich auch noch Marcel Franckh mitnehmen. Wir können dann nämlich gleich der Psychologischen Abteilung etwas vorführen.“

General Kayser hob seine Augenbrauen, doch als er keine weitere Antwort bekam, nickte er langsam.

„Also gut. Ich vertraue Ihnen in dieser Angelegenheit. Falls Sie noch etwas zu erledigen haben, ich fahre in etwa 30 Minuten.“

Während Michael und Rafael schon mit den Vorgesprächen begannen, stürmten Robin und Kyan los, die beiden Schüler zu holen.

„Was meinst du, wer ist bei wem?“

„Ich würde es zuerst im Wolfslager versuchen.“

„Aha. Und warum?“

Robin seufzte kurz.

„Wenn ich traurig bin oder Probleme habe, tendiere ich dazu, mich in meine Höhle zurückzuziehen.“

Kyan nickte und schon kurze Zeit später klopften sie an Fabians Zimmertür. Ein paar Augenblicke später wurde von Marcel geöffnet, der nichts weiter als seine Boxershorts trug. Auf dem Bett lag Fabian im gleichen Outfit.

„Ich hoffe, wir stören.“

Beide lächelten etwas gezwungen und Marcel ging wieder hinüber zum Bett. Seine weißblonden Haare glänzten in der künstlichen Beleuchtung fast silbern und gaben einen starken Kontrast zu seinem gebräunten Körper.

Kyan schüttelt unwillkürlich den Kopf, als Fabian ebenfalls aufstand. Er war fast zehn Zentimeter kleiner als Marcel und nicht so muskulös. Niemals wäre er auf die Idee gekommen, ihre Tiergestalten in ihnen zu vermuten.

„Zieht euch bitte an. Wir werden Brigadegeneral Kayser zum Stab begleiten.“

Marcel wurde blass und deutete auf Fabian.

„Ist er gefeuert?“

„Nein, ganz im Gegenteil. Ich nehme an, dass es in der Rekrutierungsabteilung und beim psychologischen Dienst in nächster Zeit zu ein paar drastischen Änderungen kommen wird.“

Die Fahrt zum Stab des Gestaltwandler-Korps dauerte knapp zwei Stunden und verlief reichlich schweigsam. Robin war tief in seine Gedanken versunken. Hatte er wirklich nichts falsch gemacht? Nach dem ersten Vorfall mit Thies Kleinert hätte er ihn schon vom Unterricht ausschließen müssen. Warum hatte er es nicht getan? Hatte er etwa Partei ergriffen, weil es ein Werwolf war?

Robin schüttelte unwillkürlich den Kopf. Nein, es war etwas anderes. Er hatte ihm eine zweite Chance geben wollen. Jeder verdient eine zweite Chance. Nur dass es hier leider nicht funktioniert hatte. Was war es, das einige Werwölfe so unberechenbar machte?

Köln, Deutschland, Anno Domini 2017

Auf dem Parkplatz vor der Villa stand der PKW mit dem Timo, Alexander, Sven und Dorian am gestrigen Tag angekommen waren. Dorian hatte sich ein wenig am Motor zu schaffen gemacht und jetzt standen alle, einschließlich Martin und Max um den Wagen herum.

„Das ist doch Schwachsinn. Ich bin Kfz-Mechatroniker. Da werde ich auch den Fehler ganz normal finden.“

Timo schüttelte den Kopf.

„Genau das sollst du ja gerade nicht machen. Ich möchte gerne, dass du fühlst, wo der Fehler ist.“

Martin seufzte ergeben und legte eine Hand auf die Motorhaube.

„Ich spüre gar nix.“

Timo stutzte, dann sah er zu Dorian.

„Schalt mal die Zündung ein. Nicht starten, nur Strom auf alle Systeme.“

Dorian setzte sich hinter den Lenker und schaltete die Zündung ein. Martin legte noch einmal eine Hand auf die Motorhaube. Diesmal sagte er nichts, sondern schloss nur die Augen. Als er sie wieder öffnete, warf er Dorian einen bösen Blick zu.

„Wollt ihr mich verarschen? Da fehlt eine Zündkerze.“

„Aha. Und woher weißt du das, wenn der Motor noch gar nicht läuft?“

Martin fuhr nun sanft, fast zärtlich mit der Hand über die Motorhaube.

„Ich spüre das Fahrzeug. Sein Gesamtsystem. Alle Komponenten da, wo sie sein sollen. Alles ist klar, um zusammen in einer Einheit zu funktionieren. Lediglich an einem Endpunkt ist ein schwarzes Loch. Etwas fehlt, was die Funktion dieser Einheit stört.“

Fast gebannt hatten alle gelauscht und Timo nickte zustimmend.

„Ja, es ist das Zusammenwirken vieler Komponenten zu einem riesigen komplexen Ganzen und wenn etwas dieses Gesamtwerk stört, spüre ich es sofort. Tatsächlich, die Begabung zielt auf das Erkennen von komplexen Zusammenhängen. Bei den Heilern sind es die Körper von Menschen oder Tieren. Eine Art Erkenntnis der gesamten biologischen Abläufe. Bei Martin ist es eine Einsicht in technische Abläufe. Hierbei speziell bei Fahrzeugen. Ich wette, es gibt auch andere Personen mit einer Fähigkeit, die sich zum Beispiel auf Computer oder Energieerzeuger beziehen.“

„Was? Das könnte ja zu technischen Veränderungen führen, die es bisher…“

Die Stimme von Max wurde immer leiser. Nachdenklich sah er hinüber zu Timo.

„Heiler sind die seltensten Magier. Und von einem Technomagier habe ich noch nie etwas gehört.“

Sven grinste breit.

„Technomagier ist gut. Das nehmen wir in den Bericht mit auf. Aber ich vermute, die sind noch nie aufgefallen, weil es so wenige gibt und die meisten werden nur als technische Genies abgehandelt. Das Magie-Korps hat bisher noch nicht aktiv nach ihnen suchen lassen, weil sie schlicht von ihrer Anwesenheit nichts wussten und auch der Gedanke an eine solche Begabung etwas abseits der normalen Wege ist.“

„Also wird jetzt ein langer Bericht an das Magie-Korps gesandt und dann werden sie Martin zu ellenlangen Versuchen in den Stab bestellen.“

Timo schüttelte den Kopf.

„Nein, das wohl nicht. Wir sind angehalten, ihn erst einmal eine längere Zeit zu beobachten. Dann soll ein Team, bestehend aus einem Heiler, einem Astralmagier und einem thaumaturgischen Spezialisten des Magie-Korps einen abschließenden Bericht erstellen und dem Magie-Korps vorlegen. Auf Grund des Berichtes erfolgt dann eine Entscheidung.“

„Aha. Und wie lange soll die Beobachtungsphase dauern? Und dann kommt auch noch ein Team aus einem… Moment mal. Ein thaumaturgischer Spezialist? Das ist nicht zufällig ein gewisser Thomas Mertens?“

Alexander zückte sein Handy.

„Richtig. Thomas Mertens. Warum?“

„Weil der jetzt ebenfalls zu unserer Einheit gehört. Timo und Alexander müssten ihn schon einmal gesehen haben.“

Auf die erstaunten Blicke fasste Max in ein paar kurzen Sätzen zusammen, wie sie zu Thomas gekommen waren und wo er jetzt steckte.

Timo überlegte kurz.

„Also, dieser Thomas ist erst im Januar wieder hier. Genau wie Kevin und Lucas. Dann hätten wir auch einen Astralmagier für das Gutachten. Aber das würde bedeuten, wir müssen gut drei Monate hierbleiben. Wie haben die Deppen vom Magie-Korps sich das denn vorgestellt?“

„Wie, wir müssen bis Januar warten? Hurra, wir haben Urlaub.“

Timo warf Alexander einen säuerlichen Blick zu und schüttelte den Kopf.

„So nicht, mein Lieber. Hast du mal überlegt, wo wir unterkommen sollen, wenn alle wieder zurück sind?“

Max zuckte zusammen und wurde schlagartig an das Memo wegen der Erweiterung der Unterbringungsmöglichkeiten und der Sporteinrichtungen erinnert. Sofort, als sie wieder zurück im Haus waren, eilte Max in die Einsatzzentrale und fragte bei Kevin und Lucas an, ob sie sein Memo bekommen hatten. Die Antwort kam schon eine halbe Stunde später.

Kevin und Lucas hatten die Vorschläge von Max gleich nach deren Erstellung mit einem Anhang mit eigenen Ideen versehen und direkt an die Divisionskommandeure geschickt. Kevin hoffte, dass in nächster Zeit zumindest eine grundsätzliche Entscheidung getroffen werden würde, aber er konnte ja noch einmal nachfragen, da der Platz ab Januar nicht mehr ausreichen würde.

HQ Gestaltwandler-Korps, Deutschland, Anno Domini 2017

Der Stab des Gestaltwandler-Korps befand sich in einem großen Bürokomplex, wobei es dort allerdings in die Kelleretagen ging. Robin und Kyan hatten sich schon beim ersten Besuch gefragt, ob das nun wirklich notwendig war.

Der Platz im Vorzimmer des Kommandeurs war wieder mit einem jungen Mann besetzt, der erschreckt herumfuhr, als der General mit seinem ganzen Gefolge hereinplatzte.

„Jerome, ich will alle Abteilungsleiter und alle Dezernatsleiter in einer Viertelstunde im Konferenzraum haben. Alle.“

Der junge Mann sah zweifelnd hoch.

„Da werden aber nicht alle reinpassen. Der Konferenzraum hat nur zwölf Plätze.“

„Dann eben das Auditorium. Zeit läuft.“

Der junge Mann zuckte zusammen und begann hektisch seine Computertastatur zu bearbeiten.

„Wir gehen schon mal hin.“

Wortlos folgte die kleine Gruppe dem General durch ein Gewirr von Gängen. Das Auditorium war für etwa vierzig Zuhörer ausgelegt und die ersten Reihen begannen sich bald zu füllen. Die meisten der Herren waren in Zivil erschienen und nur zwei Offiziere in Uniform waren darunter.

„Meine Herren, es hat in unserer neu eröffneten Schule einen Zwischenfall gegeben. Einer der Schüler ist in seine Halbform gewechselt.“

Sofort brach eine große Unruhe zwischen den Zuhörern aus, bis ein älterer Mann in Zivil aufstand.

„Herr Kayser. Unserer Meinung nach war ein solcher Zwischenfall unvermeidlich. Werwölfe sind nicht dazu geeignet mit anderen Gestaltwandlern zu interagieren. Ihre Natur und ihre Aufgabe ist der Kampf, bis zum letzten Atemzug. Wir sollten uns auch weiterhin darauf konzentrieren, den Einsatzeinheiten solche ausgebildeten Kämpfer zur Verfügung zu stellen.“

Robin sah durch die Reihen, in denen einige Männer nickten, andere jedoch vehement den Kopf schüttelten. Besonders die beiden Offiziere sahen sich betroffen an.

„Herr Leffers. Die Diskussion über dieses Thema war bereits abgeschlossen. Das Gestaltwandler-Korps besteht eben nicht nur aus Werwölfen. Die Aufgaben der Einsatzeinheiten sind in den letzten Jahren erheblich vielfältiger geworden, als nur Tore zu schließen. Wir brauchen ein neues Konzept und ein Umdenken in diese Richtung. Aber ich werde ihnen jetzt einmal etwas zeigen.“

Die Projektionswand hinter dem Vortragspult erhellte sich und eine Kameraaufzeichnung aus der Sporthalle erschien. Sie zeigte den ganzen Vorgang, von den ersten Anweisungen zur Wandlung, bis hin zu dem Moment, wo Michael den Werwolf von seinem Mana getrennt hatte.

Am Ende sprang Herr Leffers erregt auf.

„Das… das ist unmöglich. Man kann einem Werwolf in seiner Halbform keine Befehle erteilen.“

Robin trat zwei Schritte vor und sah den älteren Mann direkt an. Alle erkannten nun, dass es sich um einen der Werwölfe handelte, die in dem kurzen Ausschnitt gezeigt worden war.

„Doch, man kann. Und zwar unter zwei Voraussetzungen. Die erste ist, dass sich der Wolf in einem Rudel befindet und die zweite ist, dass derjenige, der den Befehl gibt, in der Hierarchie über dem Werwolf steht.“

„Das ist doch Unsinn. Die jungen Männer die hier herkommen, wurden aus ihrem Rudel entfernt. Sie sind einsame Wölfe, denen nur die einsame Jagd bleibt.“

„Wer hat denn behauptet, dass ein Rudel nur aus Wölfen zu bestehen hat? Mein Rudel besteht aus sieben Menschen, einem Wolf und einem Luchs.“

Das nun eintretende Schweigen dauerte eine knappe Sekunde, dann brach eine wahre Flut an Bemerkungen, Zwischenrufen und Unterhaltungen herein.

„Ruhe, meine Herren. Ich muss doch sehr bitten. Ich kenne die Einsatzeinheit, der Oberleutnant Wolff angehört und die sich tatsächlich zu einem Rudel gebunden hat.“

Als der Dienstgrad genannt wurde, grinsten sich die beiden Offiziere im Auditorium an.

„Wie sie vielleicht mitbekommen haben, hat Oberleutnant Wolff gerade erwähnt, dass ein zweiter Gestaltwandler zum Rudel gehört, der kein Wolf ist. Bevor noch irgendwelche Zweifel aufkommen und jemand argumentiert, dass es sich ebenfalls um ein Raubtier handelt, werden wir noch etwas anderes vorführen.“

Brigadegeneral Kayser flüsterte leise mit Marcel und Fabian. Einige der Zuschauer sahen erstaunt zu, denn sie kannten Marcel, der ja im Vorzimmer des Kommandeurs gesessen hatte. Beide jungen Männer entkleideten sich nun und die Aufmerksamkeit nahm zu.

Als erster wandelte sich Fabian und der Wolf legte sich zwischen Robin und Kyan ab. Dann kam Marcel an die Reihe. Er war etwas unsicher, denn er wusste, dass vor ihm fast vierzig Werwölfe saßen, die ihn in ihrer Wolfsform wohl zu gerne gejagt hätten. Die meisten der Zuschauer schnappten dann auch nach Luft, als der Schneehase erschien. Einige schienen sogar leichte Probleme zu haben, eine Wandlung zu unterdrücken.

„Meine Herren, sollte es zu einem Vorfall kommen, werde ich nicht zögern, einigen vertrauensvollen Mitarbeitern die Halbform zu befehlen!“

Sofort beruhigten sich die Zuschauer und sahen fasziniert zu, was auf dem Podium passierte. Der Schneehase hoppelte auf den Wolf zu und erhob sich leicht. Dann streckte er die rechte Pfote aus und gab dem Wolf damit einen leichten Stupser von oben auf die Nase. Der Wolf reagierte, in dem er seine Zunge herausstreckte und dem Hasen damit über dessen Nase fuhr. Etwas verblüfft machte der Hase einen Satz zurück, was der Wolf mit bebenden Flanken genau beobachtete. Nun drehte sich der Hase herum und zeigte dem Wolf seinen Schwanz. Dann legte sich der Hase mit Blick auf das Auditorium ab.

Der Wolf erhob sich lautlos und schlich von hinten an den Hasen heran. Doch dann legte er sich direkt neben den Hasen, so dass ihre Körper sich berührten. Nach ein paar Sekunden unterbrach der General die kleine Show.

„Vielen Dank meine Herren.“

Die beiden Tiergestalten wandelten sich wieder und zogen sich an. Fabian gab Marcel einen langen Kuss.

„Sie alle, besonders aber die Herren, die die Fraktion vom ‚Lonely Wolf‘ vertreten, sollten eines nicht vergessen, nämlich den Grund, warum Werwölfe von ihrem Rudel verstoßen werden. Es ist der gleiche Grund, warum sie sich zu den Einsatzeinheiten der Organisation melden können. Sie sind homosexuell veranlagt und das gilt besonders für alle anderen Gestaltwandler, denn sie sind es ausschließlich. Der ‚Lonely Wolf‘ muss nicht einsam bleiben. Der Grund, warum es in der Vergangenheit hauptsächlich so gewesen ist, war das Zusammenleben der Magier, das keine weitere Person in der Beziehung des Paares duldete. Doch in unserer heutigen Gesellschaft hat das Konzept von Liebe, Partnerschaft und Zusammenleben auch noch andere Formen als die klassische Paarbindung.“

„Für die Aufgabe des Kämpfers ist eine Bindung nur hinderlich.“

„Herr Leffers. Ich weiß nicht, was Sie zu solchen Aussagen bewegt, aber ein Wolf ist ein Rudeltier. Er lebt und jagt im Rudel. Wenn er ausgeschlossen wird, versucht er, sich einem neuen Rudel anzuschließen, doch das haben wir ihnen bisher durch die Strukturen der Einsatzeinheiten untersagt. Das neue Konzept geht dahin, alle Einsatzeinheiten mit einem Gestaltwandler der Kategorie ‚Nicht-Wolf‘ - was für eine dämliche Bezeichnung - zusätzlich zu besetzen. Das wird allerdings nur dort passieren, wo die Wölfe an der Offiziersausbildung teilgenommen haben, beziehungsweise unsere neue Schule durchlaufen haben.“

Herr Leffers wollte wohl noch etwas sagen, wurde jedoch von seinem Nebenmann daran gehindert, der sehr intensiv auf ihn einsprach.

„Ein weiterer Punkt, der mich interessiert, ist, wie dieser unglückliche junge Mann in die Schule aufgenommen werden konnte. Sein psychologisches Profil spricht hier von leicht aggressivem Verhalten bei subjektiv empfundenen Provokationen, die kein Hinderungsgrund für einen Einsatz sind, in denen kämpferisches Verhalten und unerschrockenes Vorgehen vorausgesetzt werden.“

Herr Leffers verschränkte die Arme und der General sah ihn direkt an.

„Jemanden mit diesem Profil würde ich nicht einmal als Hausmeister anstellen. Ein aggressives Verhalten, egal aus welchem Grund, kann für ein funktionierendes soziales Zusammenleben nicht toleriert werden. Denn in erster Linie muss der Wolf mit seiner Einheit zusammen leben. Ein Einsatz dauert nur wenige Stunden und der Aufenthalt in der Halbform manchmal nur wenige Sekunden. Wozu brauche ich da einen jungen Mann, der sich nicht in eine Gruppe integrieren lässt und diese ihn im Gefecht im Zweifelsfall nicht richtig einzuschätzen weiß?“

Bei seinem Blick durch die Reihen bemerkte der General etliche Zuschauer, die zustimmend nickten.

„Dann werde ich folgende Maßnahmen veranlassen: Sämtliche Abteilungsleiter und Dezernatsleiter der Abteilungen Rekrutierungen und psychologischer Dienst sind ab sofort von ihren Dienstposten entbunden. Sie können sich für einen anderen Dienstposten bewerben oder aber die Organisation ganz verlassen. Major Niedermüller?“

„Hier, Herr General.“

„Sie übernehmen ab sofort die Abteilung Rekrutierungen. Alle betreffenden Befehle werden noch schriftlich zugestellt. Vielen Dank, meine Herren, das war’s erst einmal. Ich möchte die abgelösten Herren Abteilungs- und Dezernatsleiter nach dieser Veranstaltung noch einmal persönlich einzeln sprechen.“

Zögernd erhoben sich die Teilnehmer der Versammlung und einer der Offiziere in Uniform kam zögernd nach vorne.

„Herr Niedermüller, Sie wollen zu mir?“

„Ja, Herr General. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich der geeignete Mann für die Rekrutierungsabteilung bin. Vielleicht sollte man dort doch jemanden einsetzen, der kein Wolf ist.“

„Nein, nein. Das ist schon so beabsichtigt. Es werden ja immer noch zum überwiegenden Teil Wölfe rekrutiert und da ist es doch von Vorteil, wenn man sie aus eigener Erfahrung einschätzen kann. Was die psychologische Abteilung betrifft, so wird die Nachbesetzung wohl noch etwas dauern, aber ich wollte Herrn Leffers aus der Verantwortung haben. Ich gebe den beiden Abteilungsleitern Zeit, bis morgen ihren Platz zu räumen. Sie können dann neu durchstarten.“

Mit einem Blick auf Robin und Kyan ergänzte der General dann noch: „Ach so, die beiden Herren hier werden noch ein paar Tage im Stab bleiben. Wenn Sie möchten, können Sie sie gerne zu allen relevanten Themen befragen, denn die beiden haben fast den gesamten Ausbildungsplan unseres ersten Schuljahrs ausgearbeitet.“

Major Niedermüller sah Robin und Kyan erstaunt an, doch dann nickte er langsam.

„Ich würde mich freuen, Sie morgen in meinem neuen Büro begrüßen zu dürfen.“

Irgendwo in Bayern, Deutschland, Anno Domini 2017

Trotz des Protests von Tim und Torben schrieb Lucien einen, wie er ihn betitelte, ersten abschließenden Bericht über ihre Arbeit und die daraus gezogenen Schlüsse.

Zwei Tage später wurde das Team in den Konferenzraum gebeten, wo Professor Heilmann bereits auf sie wartete. Nach dem sie sich alle gesetzt hatten, blätterte Professor Heilmann langsam durch den Ausdruck ihrer gesammelten Daten und dem daraus resultierenden Bericht. Er hatte die Ergebnisse bereits vor zwei Tagen gelesen, doch erst jetzt hatte er Zeit gefunden, das Team in der Schule aufzusuchen.

„Ich bin ehrlich beeindruckt von den Ergebnissen Ihrer kleinen Recherche. Wenn man die Dinge einzeln betrachtet, ergeben sie manchmal nicht viel Sinn, doch wenn man einen Punkt findet, in dem alles zusammenläuft, wird so einiges klarer.“

Er tippte mit einem Finger auf die gesammelten Werke.

„Und im Gegensatz zu den meisten Historikern hatten Sie natürlich den Vorteil, auf unser Archiv zugreifen zu können. Dahingehend sind aber wohl noch nicht alle Fragen geklärt. Gerade die Dinge, die die Großmeister betreffen, sind gesondert unter Verschluss gehalten. Ich werde den Großmeister und die Ethikkommission bitten, die Unterlagen für den entsprechenden Zeitraum freizugeben. Ich kann Ihnen allerdings nicht versprechen, ob das auch genehmigt wird.“

Lucien und Tobias sahen sich staunend an, während die anderen vier nur nickten.

„Dann etwas anderes. Ich habe sehr wohl festgestellt, dass Sie die Spuren dieses Dr. Feldermayr gerne weiterverfolgen möchten. Ihre Anfrage in die USA ist an den dortigen Großmeister weitergeleitet worden, der sich sozusagen ‚auf dem Dienstweg‘ mit unserem in Verbindung gesetzt hat. Es scheint, als ob Sie da in ein Wespennest gestochen hätten. Mein amerikanischer Kollege war jedenfalls ganz aufgeregt und hat etwas von ‚sofortigen Ermittlungen‘ verlauten lassen.“

Diesmal waren es Tim und Tobias, die sich grinsend ansahen. Auch Professor Heilmann bemerkte es und lächelte schwach.

„Ich muss Sie beide leider enttäuschen. Den in ihrem Bericht erwähnten Zusammenhang mit Area 51 gibt es leider nicht. Die Registrierung hatte etwas damit zu tun, dass alle deutschen Wissenschaftler, die nach dem Krieg mehr oder weniger freiwillig in die USA gingen, nach Schwerpunkten ihrer Forschungsgebiete registriert und gesammelt verhört wurden. Es gab damals tatsächlich ein Programm in den USA, das sich mit der Erforschung parapsychologischer Phänomene befasst hat.“

„Also hat Dr. Feldermayr dort gearbeitet?“

„Ich muss Sie wiederum enttäuschen. Dieser Dr. Fielding, oder wie er dann hieß, hat nie am PSI-Programm gearbeitet, denn das wurde von der Organisation in ganz Nordamerika genauestens beobachtet. Nein, er ist etwa ein halbes Jahr nach seiner Registrierung spurlos verschwunden. Und das ist auch der Grund, warum die Division Nordamerika so hektisch geworden ist. Sie hatten ihn auf einer Beobachtungsliste, doch auch dort wurde seine Überwachung erstaunlicherweise eingestellt. Wie es aussieht, haben wir nicht nur hier in Europa zu dieser Zeit ein Problem gehabt.“

„Was sollen wir also jetzt weiter machen?“

„Oh, ich habe gehört, in New York soll es einen wunderschönen riesigen Weihnachtsbaum zur Adventszeit geben. Wie wäre es, wenn Sie sich den während der Weihnachtsferien anschauen würden.“

Es dauerte einen Moment, bis die Aussage des letzten Satzes bei jedem angekommen war, doch dann erschien ein breites Grinsen auf allen Gesichtern. Lediglich Lucien stöhnte gequält auf.

„Max bringt mich um, wenn er mitbekommt, dass wir wieder einen Auslandseinsatz haben.“

„Das ist ihr Analytiker vom Logistik-Corps, richtig?“

Lucien sah den Professor erstaunt an, dann nickte er. Er hatte nicht gewusst, dass dieser sich so genau bei der SMU auskannte.

„Dann würde ich empfehlen, ihn für diesen Einsatz mitzunehmen. Sie werden es dort wahrscheinlich eher mit Verschleierung und Verhüllungen zu tun bekommen, als mit Kampfeinsätzen. Für solche Arten von Ermittlungen ist ein Analytiker immer von Vorteil. Wenn Sie wollen, kann ich die Divisionskommandeure um seinen Einsatz bitten.“

Tobias sah sich prüfend um.

„Was haben wir denn? Einen Heiler, zwei Bannmagier. Eine seltene Zusammenstellung. Wobei zwei Drittel davon noch nicht einmal voll ausgebildet sind.“

Professor Heilmann hob etwas die Augenbrauen, doch dann lächelte er.

„Keine Angst, Herr Kerner. Ich gehe davon aus, dass Sie gar nicht in einen Kampf verwickelt werden. Zumindest hoffe ich das. Die SMU Nordamerika wird sich Ihrer Annehmen und Sie wohl auch ausreichend beschützen können.“

Irgendwo in Baden-Württemberg, Deutschland, Anno Domini 2017

In der Schule der Gestaltwandler herrschte ein wenig Unruhe. Fabian und Marcel waren am gleichen Tag noch zurückgekehrt, doch Robin und Kyan waren dort geblieben. Michael versicherte allen, dass es sich lediglich um einen kurzen Aufenthalt im Stab handeln würde. Der Unterricht war für zwei Tage ausgesetzt worden, doch selbst nach diesen zwei Tagen waren alle etwas unkonzentriert während des Unterrichts. Selbst der normale Sport konnte keinen so richtig begeistern.

In der Woche nach dem Zwischenfall in der Übungshalle gab es in der Gestaltwandlerklasse eine heftige Diskussion. Marcel war im Internet durch Zufall auf eine Todesanzeige gestoßen, die er sofort Fabian zeigte. Der nickte nur traurig.

„Die Ältesten haben entschieden. Er hat ohne plausiblen Grund und ohne Anweisung seine Halbform angenommen. Das kann nicht geduldet werden. Außerdem ist es bei vielen nicht sicher, ob sie das nicht auch wiederholen würden.“

Marcel hing die Anzeige im Klassenraum an eine Wand, wo sich nun die Schüler in einer dichten Gruppe davor drängelten.

Plötzlich und unerwartet verstarb im Alter von nur 18 Jahren unser Sohn

Thies Kleinert

bei einem tragischen Unfall.

„Erstaunlich. Nichts weiter, nur das Alter und der Name. Keinen Daten, keine Adressen, nicht einmal eine Unterschrift. Als ob sie sich alle so weit wie möglich von ihm distanziert hätten.“

„Tragischer Unfall. Ha! Ich hätte nie geglaubt, dass es so etwas heutzutage noch gibt.“

Fabian fuhr herum und funkelte zunächst Maximilian an.

„Ja. So etwas gibt es heutzutage noch. Selbst einige Angehörige der Werwölfe bezweifeln die Richtigkeit einer solchen Maßnahme, aber ich bin fest davon überzeugt, dass wir nicht mehr existieren würden, gäbe es diese strengen Regeln nicht.“

Dann wandte er sich seufzend an Dominik.

„Haben sie auch. Für ein Rudel ist es immer schwer, jemanden aus ihrer Mitte zu verlieren, sei es durch Tod oder wenn jemand fortgeschickt werden muss. In diesem Fall allerdings, hat der Wolf für das Rudel nie existiert.“

Dominik schüttelte sich. Diese Einstellung konnte er nur schwer nachvollziehen. Gerade bei jemandem wie ihm, der aus einer großen Familie kam, war jedes Mitglied, egal was passierte, immer noch willkommen.

„Das ist es also, was dich davon abhält, dich unkontrolliert in deine Halbform zu wandeln.“

Dominik und Fabian fuhren erschreckt herum. Marcel musterte Fabian eindringlich, doch der ließ sich nicht beirren.

„Nein, das ist es nicht. Nicht nur alleine. Es gibt noch einen anderen Grund.“

„Ach. Und der wäre?“

Fabian sah Marcel entschlossen in die Augen.

„Weil ich dich liebe.“

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