zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Dämonenjäger

Teil 6

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Inhaltsverzeichnis

Köln, Deutschland, Anno Domini 2016

Pater Anselm lenkte den Kleinbus auf einen schmalen Waldweg, der mit einem Schild ‚Durchfahrt verboten‘ gekennzeichnet war. Darunter war ein Hinweis: Privatweg. Überwegung nicht gestattet.

Kevin schüttelte den Kopf. Überwegung - was für ein Wort.

Der Weg endete vor einem großen schmiedeeisernen Tor in einer nach links und rechts verlaufenden Backsteinmauer, die von Efeu förmlich überwuchert war.

Ein kurzer Druck auf eine Fernbedienung und das Tor öffnete sich lautlos. Weiter ging die Fahrt, vorbei an ein paar alten Schuppen und um eine kleine Baumgruppe herum. Den folgenden Anblick kommentierte Lucien.

„Au, Mann. Was ist das denn? Bauhaus?“

Die kleine Villa bestand aus einem zweietagigen, fast würfelförmigen Hauptgebäude und einem direkt angrenzenden, flachen Anbau, der die Garagen beinhaltete. Das Ganze hatte eine glatte weiße Fassade. Die meist horizontal liegenden Fenster hatten einen schmalen schwarzen Rahmen.

Pater Anselm hielt auf der Fläche vor dem Garagentor.

„Ja, ich weiß. Es ist nicht gerade eine architektonische Meisterleistung, aber die Lage hat den Ausschlag gegeben. Der umliegende Park ist Privatgelände und komplett umzäunt. Aber kommt erst einmal herein. Ich zeige euch das Haus und dann können wir uns in Ruhe unterhalten. Außerdem habe ich noch eine Überraschung für euch.“

„Hey, geil. Ich liebe Überraschungen.“

Zum wiederholten Male wurde Lucien das Opfer mehrerer Schläge auf seinen Hinterkopf.

„Aua! Was ist denn immer mit euch?“

Als der Pater die Haustür aufschloss, sammelten sich die Jungen in dem etwas engen Flur, von dem aus eine Treppe in den ersten Stock führte.

„Das Logistik-Corps hat uns freundlicherweise einen IT-Spezialisten zur Verfügung gestellt, der sowohl die dienstliche Kommunikation, als auch die elektronische Absicherung übernimmt.“

Der Pater runzelte die Stirn, dann hob er die Stimme.

„Max! Wir sind da!“

Von oben erklang ein Poltern, dann ein unterdrückter Fluch. Geräuschvoll stürmte dann ein junger Mann die Treppe herunter. Auf der zweitletzten Stufe blieb er stehen und sah sich erstaunt um.

„Wow!“, war alles, was er zunächst herausbrachte. Pater Anselm schüttelte lächelnd seinen Kopf.

„Das ist Unteroffizier Harder vom Logistik-Corps, unser IT-Spezialist.“

Kevin sah zu dem jungen Mann hoch. Die Größe war schlecht zu schätzen, da er auf der Treppe stand. Das schwarze T-Shirt und die etwas zerrissene schwarze Jeans waren fast hauteng, so dass eine sehr schlanke Gestalt darunter erkennbar war. Das auffälligste jedoch waren seine Haare. Die dunklen, fast schwarzen Haare waren an den Seiten des Kopfes abrasiert und ließen in der Mitte einen etwa 8 - 10 cm breiten Streifen stehen, der seinerseits nur geschätzte zehn bis zwölf Millimeter hoch war.

Ein klassischer Mohawk, dachte Kevin. Sehr oft fälschlicherweise auch Irokese genannt.

Kevin spürte eine Hand von Pater Anselm auf seiner Schulter.

„Das ist Leutnant Böttcher, unser Teamleiter.“

Unteroffizier Harder zuckte zusammen und versuchte eine Art militärischer Grundstellung, was angesichts der Kleidung und fehlender Schuhe etwas unglücklich aussah.

„Jawohl, also ich…“

Wie der Pater zuvor im Konferenzraum, hob auch Kevin jetzt eine Hand.

„Zwei Sachen. Ich wurde vorhin darüber informiert, dass wir unsere Tarnung aufrechterhalten sollen und dass wir hier als Team arbeiten. Deshalb werden wir das ganze hier so informell wie möglich handhaben. Dein Name ist Max, richtig?“

Zögernd kam Max die restlichen Stufen herunter, ergriff die ausgestreckte Hand und schüttelte sie kurz. Kevin konnte ihm nun direkt in die braunen Augen sehen, also musste er in etwa die gleiche Größe haben.

„Mein Name ist Kevin.“

Zu Kevins Erstaunen errötete Max etwas, als er seinen Vornamen nannte, doch dann drehte er sich zur Seite und deutete auf die Gruppe.

„Und das sind Lucas, Michael, Rafael, Tobias, Lucien und Robin.“

Jeder der Jungen hob bei der Nennung seines Namens kurz eine Hand. Max folgte mit seinen Blicken den jeweiligen Personen, dann sah er etwas gedankenverloren vor sich hin.

„Hm, sieben Mann, das bedeutet, einer von euch ist der… der… äh.“

Schnell drehte sich Kevin zu Pater Anselm um.

„Wie sicher sind wir hier drin?“

„Frag‘ Max, der ist auch verantwortlich für die gebäudetechnische Absicherung.“

Auf seinen fragenden Blick reagierte der junge Unteroffizier sofort.

„Sicherheitsstufe B2. Alle elektronischen und elektrischen Geräte werden durch einen unabhängigen Zentralserver überwacht, vom Tablet bis zur Kaffeemaschine. Die Netzanbindung erfolgt durch einen zweiten Server der Sicherheitsstufe A2. Eine Tarnung der Infrarotsignatur wurde nicht vorgenommen. Optische Verschleierung ist bedingt möglich durch mechanische Rollläden vor den Fenstern und Glastüren. Die akustische Absicherung gegen Lauschangriffe von außen ist gewährleistet durch speziell verbaute Materialien im Mauerwerk und dem Fensterglas. Gegen Lauschangriffe von innen sind spezielle Stör- und Aufspüreinrichtungen installiert und in Betrieb.“

Während Max die Sicherheitskriterien herunterratterte, wurden die Augen des Einsatzteams immer größer. Wie Kevin insgeheim befürchtet hatte, waren sie hier in etwas gestoßen worden, auf dass sie während ihrer Ausbildung nur unzureichend vorbereitet worden waren. Trotzdem wollte er sehen, wie gut der ‚Neue‘ informiert war.

„Sehr schön. Dann können wir ja ungehindert reden. Es stimmt, einer von uns ist ein Werwolf.“

Jetzt grinste Kevin Max ausgelassen an.

„Wer ist es?“

Max sah Kevin erstaunt an, dann wurde er wieder rot.

Mann, der Junge sollte etwas gegen seine Schüchternheit tun, der ist ja schlimmer als Tobias.

Max sah kurz über die versammelte Gruppe, dann schloss er genauso kurz die Augen. Als er sie wieder öffnete, deutete er zögernd auf Robin.

„Das müsste er sein. Robin, nicht wahr?“

Kevin hob fragend die Augenbrauen, während einige der Umstehenden mit leicht geöffnetem Mund dastanden. Lediglich Pater Anselm lachte leise.

„Darf ich fragen, was dich zu dieser Annahme veranlasst hat?“

„Ganz einfach. Das waren zwei Dinge. Erstens, er ist von der Erscheinung her der jüngste der Gruppe. Zweitens war dann da die Vorstellung. Wenn man davon ausgeht, dass immer zuerst der eigene Partner vorgestellt wird, wurde Lucas eliminiert. Dann folgen fast immer erst die Paare und zum Schluss einzelne Personen. Das ließ wieder auf Robin schließen. Ich war mir allerdings mit dem Alter nicht ganz sicher, doch als Tobias und äh… Lucien, richtig? - einen eindeutigen Blick gewechselt hatten, blieb nur Robin übrig.“

Kevin nickte unbewusst, dann drehte er sich um. Kurz betrachtete er seine Truppe, dann wandte er sich an Pater Anselm.

„Sind wir wirklich so einfach zu durchschauen und sind unser Verhalten und unsere Äußerungen wirklich so berechenbar?“

„Nein. Max hatte den Vorteil, dass er mehr Informationen besitzt als ein durchschnittlicher Beobachter. Er wusste, dass ihr in Paaren auftreten würdet und er wusste auch, wer es sein würde, wenn eine ungerade Zahl von Personen eintrifft. Der Rest ist einfache Deduktion. Immerhin ist Max der beste Absolvent des Analytiker-Lehrgangs innerhalb der letzten drei Jahre.“

Diesmal kam das „Wow!“ von Lucien.

Max sah betreten zu Boden und Kevin bedauerte ihn ein wenig. Der Junge brauchte mehr Selbstbewusstsein.

„Also Max, was steht denn als nächstes auf dem Programm?“

„Hm, wir könnten einen kurzen Rundgang durch das Haus machen, da können dann auch gleich die Zimmer verteilt werden.“

Wortlos wies Kevin nach oben und Max strebte wieder die Treppe hinauf, der Rest folgte im Gänsemarsch. Oben im Flur blieb Max stehen und zeigte mit der Hand in die entsprechende Richtung seiner Erklärungen.

„Hier oben befinden sich die Schlafzimmer. Eigentlich sind es Elternschlafzimmer, zwei Kinderzimmer und ein Büro. Ich habe mir erlaubt, nach Rücksprache mit Pater Anselm, das Elternschlafzimmer zu belegen.“

„Ach so?“

Diesmal kam die Bemerkung von Robin.

„Ja, es gab keine andere Lösung um mein gesamtes Equipment aufzubauen. Es nimmt fast das gesamte Ankleidezimmer ein.“

„Ah, okay.“

„Die drei Schlafzimmer sind jeweils mit einem Doppelbett und den entsprechenden Schränken ausgestattet. Allerdings weiß ich jetzt nicht, wo ich Robin unterbringen soll.“

„Keine Angst, der schläft bei uns.“

Max sah Lucas etwas erstaunt an, erwiderte aber nichts.

„Das größte Problem ist das Badezimmer. Es wurde extra umgebaut und hat jetzt zwei Waschplätze, zwei Duschplätze und ein zusätzliches Urinal. Dennoch dürfte es etwas eng werden mit acht Personen hier oben.“

Kevin zögerte etwas, denn er wollte Max nichts Falsches sagen, bevor er nicht das ganze Haus gesehen hatte.

„Gut. Können wir erst unten weitermachen?“

Max nickte und dann führte er das ganze Team wieder die Treppe hinunter.

„Auf der linken Seite, wenn man hereinkommt, befinden sich ein Waschmaschinenraum und der Durchgang zu einem Bürotrakt. Dieser besteht aus einer kleinen Teeküche, dem eigentlichen Büro und einer kleinen Toilette.Geradeaus, an der Treppe vorbei, sind ein Gästezimmer und ein Bad. Dort ist Pater Anselm untergebracht. Auf der rechten, der Südseite, sind Küche, Hauswirtschaftsraum, Esszimmer und Wohnzimmer.“

Kevin nickte und wies dann auf die Treppe.

„So, Leute. Das große Kinderzimmer für Lucas, Robin und mich. Um die anderen beiden könnt ihr euch schlagen. Max, kommst du bitte mit ins Büro?“


Was Kevin mit Max besprochen hatte, blieb unter vier Augen. Danach streifte Kevin eine gute Stunde durch das Haus und sprach kurz mit jedem seiner Teammitglieder, ebenfalls unter vier Augen.

Später am Nachmittag hatten sich alle um den großen Esstisch im Wohnzimmer versammelt. Der große Eichentisch hatte zehn Sitzplätze. An einem Kopfende saß Kevin, rechts von ihm Lucas, links Pater Anselm. Das andere Kopfende war von Max besetzt. Rechts von ihm Robin, der Platz links war als einziger frei.

Kevin räusperte sich.

„Okay, Leute. Als erstes möchte ich mich offiziell bei Max bedanken. Er hat alles sehr professionell vorbereitet und uns, speziell auch mir, eine Menge Arbeit abgenommen.“

Alle hatten Kevin zugehört und nun drehten sich die Köpfe zu Max, der sichtlich über das Lob strahlte. Nach einer kurzen Pause fuhr Kevin fort.

„Sehr schön. Als Leiter unserer noch neuen Truppe möchte ich ein paar kleine militärische Traditionen fortführen, um das Leben hier reibungsloser zu gestalten.“

„Huh?“

„Ja, Lucien, ich sagte militärische Traditionen. Ich kann mich nicht gleichzeitig um die taktischen Aspekte des Einsatzes kümmern und auch noch die Verwaltungsarbeit machen. Deshalb beabsichtige ich einen Stellvertreter für den Innendienst zu ernennen.“

Die Augen der meisten Anwesenden wanderten zu Lucas.

„Falsch vermutet. Lucas muss mir bei der Taktik helfen. Der neue Leiter Innendienst wird Robin.“

„Was?“

„Wieso?“

„Ruhig, Leute. Robin wird bei den kommenden Operationen höchst wahrscheinlich am wenigsten zum Einsatz kommen. Deshalb wird er mehr Zeit haben, sich um die alltäglichen Aufgaben zu kümmern. Auf einige von euch können im Laufe der Zeit auch noch weitere Aufgaben zukommen, aber das wird dann entschieden, wenn es so weit ist. Robin, du hast etwas vorbereitet?“

Robin sah etwas nervös auf einem Zettel vor sich.

„Ja. Also, die baulichen Gegebenheiten sind nicht gerade optimal, aber dies ist auch ein Wohnhaus und keine Kaserne. Die Unterkünfte sind ja bereits verteilt. Im großen Trakt oben haben Rafael und Michael das Kinderzimmer rechts, Kevin, Lucas und ich das große Kinderzimmer in der Mitte und Lucien und Tobias haben das ehemalige Arbeitszimmer links.“

Alle nickten. Sie hatten die Zimmer gesehen und sich teilweise bereits eingerichtet.

„Max hat das ehemalige Elternschlafzimmer, denn er braucht das Ankleidezimmer für die IT-Ausrüstung. Pater Anselm hat sich bereits im Gästezimmer unten einquartiert.“

Man merkte, dass Robin etwas nervös war. Bis jetzt hatte er zur Erinnerung die Dinge aufgezählt, die schon erledigt und bekannt waren.

„Erstes Problem ist das Bad oben. Es existiert nur eines für acht Personen. Wir werden deshalb Nutzungszeiten einrichten. Jeweils zwei Mann eine halbe Stunde morgens, mit rotierenden Zeiten.“

„Was ist mit dir und Max?“

„Wir haben uns darauf geeinigt, eine Schicht gemeinsam zu nutzen.“

Alle Blicke richteten sich auf einmal auf Max.

„Was ist? Ich will auch mal zusammen mit einem Werwolf duschen.“

Erst war kurzes Schweigen, dann hörte man ein leises Kichern und dann lautes Gelächter. Robin hob eine Hand.

„Euch wird das Lachen gleich vergehen. Als nächstes kommt nämlich der Küchendienst…“

Es dauerte über eine halbe Stunde, bis Robin seine Punkte abgearbeitet hatte. Danach schob Kevin einen unscheinbaren Umschlag in die Mitte des Tisches.

„Was ist das?“

„Das, mein lieber Tobias, sind unsere Einsatzbefehle.“


Die Befehle beschrieben in knappen Worten Ziel und Umfang ihres geplanten Einsatzes.

Die kleine Sekte der ‚Gläubigen der kommenden Erlösung‘ existierte nun etwa 60 Jahre seit ihrer Gründung. Ein ehemaliger evangelischer Religionslehrer hatte diese Sekte gegründet und sie dümpelte mit etwa 300 Anhängern die ganze Zeit vor sich hin. Nach dem Tod des Gründers hatte es mehrere Nachfolger gegeben, doch bei keinem von ihnen hatte sich viel verändert. Erst der letzte Anführer der Sekte ließ starke Zweifel an ihrer Harmlosigkeit aufkommen. Seine Predigten handelten seit kurzem von dem eindeutig kommenden Ende der Welt, was bei Sekten allerdings nicht gerade selten war. Er aber sprach von der Erlösung durch strahlende Wesen, die durch ein leuchtendes Tor in diese Welt traten und von einem inneren Zirkel in Empfang genommen würden.

Die Sekte war in ihrer ursprünglichen Form schon von der Abteilung 1 untersucht und als harmlos eingestuft worden. Nach den neuesten Äußerungen wurde entschieden, den erwähnten inneren Zirkel durch die Abteilung 2 untersuchen zu lassen.

„Es könnte sich um das übliche Endzeitszenario einer Sekte handeln, dennoch sollen wir herausfinden, ob die Äußerungen einen realeren Hintergrund haben. Dazu brauchen wir Antworten auf mehrere Fragen. Gibt es genauere Beschreibungen der strahlenden Wesen und ihrer Übertritte durch die strahlenden Tore in diese Welt? Hat der Prediger Kontakte zu weiteren Sekten mit ähnlichen Szenarien? Gibt es in der Sekte eine Hierarchie und wer gehört zum inneren Zirkel? Gibt es Hinweise auf mögliche größere finanzielle Unterstützungen der Sekte? Hat die Sekte, oder eines seiner Mitglieder, Zugang zu Gebäuden und Einrichtungen in denen ein Anker eingerichtet worden sein kann oder wo ein Tor geöffnet werden könnte? Und, last but not least, gibt es Hinweise auf Rituale oder gar Opfer im Zusammenhang mit dieser Sekte.“

Kevin sah sich um und blickte in betroffene, ja fast entsetzte Gesichter.

„Was? Wir paar People sollen alle diese Fragen beantworten? Mein Gott, wo sollen wir denn da anfangen?“

Max räusperte sich kurz und hatte sofort die geballte Aufmerksamkeit.

„Wir haben zunächst die Unterlagen der Abteilung 1 über die gesamte Sekte einschließlich der neuesten Entwicklungen. Dann würde ich eine ganz normale, öffentliche Internetrecherche vorschlagen. Wir sammeln alles, was im Zusammenhang mit dieser Sekte im Internet veröffentlicht wurde. Als zweites kommt eine Schichtrecherche. Hier werden Daten gesammelt, die nicht öffentlich zugänglich sind. Dies sind hauptsächlich Polizeiberichte, Firmendaten von Finanzämtern und aus anderen Datenbeständen wie Katasterämtern, Standesämtern und so weiter.“

„Was? Woher sollen wir denn die Daten bekommen, die werden doch bestimmt nicht freiwillig herausgerückt?“

Lucien wedelte aufgeregt mit seinen Händen.

„Nein, natürlich nicht. Also, die öffentliche Recherche ist relativ einfach, wenn auch zeitaufwändig. Alle gefundenen Daten müssen auf Relevanz geprüft werden. Die nicht öffentliche Recherche ist komplizierter. Die machen wir nicht selbst, sondern schicken eine Anforderung über ein bestimmtes Thema oder einen präzisen Vorgang an Dezernat 4 Abteilung 3, die zentrale Intel-Datenbank. Aber bevor wir eine gezielte Anfrage starten können, brauchen wir eben die öffentlichen Daten. Ich kann die Recherche jederzeit starten, aber dann müssen, wie gesagt die Daten auf Relevanz geprüft werden und da muss der Einsatzleiter entscheiden, wie und durch wen das durchgeführt wird.“

„Mit wie vielen Ergebnissen ist denn zu rechnen? Und in welchem Zeitrahmen?“

„Na, die Suchergebnisse mit den einfachen Stichworten können locker über eine Million betragen, aber die müssen dann natürlich genauer spezifiziert werden. Wenn wir zum Beispiel nur ‚Sekten‘ eingeben, gibt es fast anderthalb Millionen Einträge. Wenn man ‚Endzeitsekten‘ eingibt sind es nur noch knapp 18.000 Treffer.“

Kevin starrte Max entsetzt an, während Lucas sich räusperte.

„Wir wollen ja aber nur eine bestimmte haben.“

„Richtig. Doch dann kommen wir zu Querverbindungen. Zum Beispiel zu einem Beitrag über eine andere Sekte, bei dem unsere Sekte beschrieben oder erwähnt wird, ohne den Namen explizit zu gebrauchen. Deshalb werden wir etliche Recherchen mit einer großen Anzahl von Suchworten machen müssen, die dann gefiltert werden.“

„Was haben wir denn an Ausrüstung dafür zur Verfügung?“

„In jedem der Schlafräume befindet sich ja bereits ein Arbeitsplatz mit Rechner. Bei Bedarf kann ich den Internetzugang über unseren abgesicherten Zentralrechner freischalten. Dort könnte dann jedes Teammitglied einen bestimmten Suchbegriff abarbeiten und die Ergebnisse können auf dem Zentralrechner gespeichert werden. Da kann ich dann auch nach Querverbindungen suchen und die Verknüpfungen durchlaufen lassen.“

Kevin überlegte kurz.

„Gut, das machen wir so. Wir müssen uns dann wohl noch überlegen, welche Suchworte wir verwenden wollen.“

Robin deutete auf die Einsatzbefehle.

„Ist da nicht auch der Bericht der Abteilung 1 drin? Da sind dann ja wohl auch die wichtigsten Daten und Namen verzeichnet. Mit denen können wir ja schon mal anfangen.“

Kevin nickte erfreut, dann sah er hinüber zu Tobias und Lucien, die eine kurze, hektische Diskussion hatten.

„Was gibt’s?“

Tobias sah erst Kevin, dann Max an.

„Ich nehme an, die Recherche lässt sich auch auf andere Sprachen ausdehnen, also nicht nur Deutsch und Englisch.“

Max zuckte nur mit den Schultern.

„Klar. Das Netz ist international. Am einfachsten ist es, vorher einzustellen, in welcher Sprache gesucht werden soll. Dann werden nur Veröffentlichungen in der entsprechenden Sprache eingestellt. Hm, Moment, ist da was bei, was nicht mit lateinischen Buchstaben dargestellt wird?“

Lucas räusperte sich.

„Äh, ja. Japanisch.“

Auf einigen Gesichtern erschienen Fragezeichen, doch Max sah erfreut hoch.

„Tatsächlich, das ist ja interessant. Ich habe auch damit angefangen, aber ich habe nicht sehr viel Zeit zum Lernen.“

„Ach so? Warum hast du denn ausgerechnet mit Japanisch angefangen?“

Max wurde leicht rot, als er die Blicke der anderen auf sich spürte.

„Um Mangas im Original zu lesen. Bei den Übersetzungen geht so viel verloren, da wollte ich einfach nur wissen, wie das im Original heißt.“

Lucas lachte, während Kevin kurz etwas auf seinen Schreibblock gekritzelt hatte.

Tobias und Lucien - Französisch. Tobias und er selber - Spanisch. Lucas noch Dänisch und Japanisch. Englisch hatten ohnehin die meisten.

„Also. Leute. Wir können insgesamt fünf Fremdsprachen abdecken. Ich denke, dass wir in allen Sprachen sämtliche Suchworte durchlaufen lassen oder ist das zu aufwändig?“

Max schüttelte den Kopf.

„Überhaupt nicht. Was wir als erstes brauchen, sind die Suchworte. Dann machen wir eine Übersetzung in die jeweilige Sprache und lassen einfach in jeder Sprache suchen. Die Ergebnisse werden als Link angezeigt. Dann kommt der lustige Teil. Die Suchergebnisse werden dann, einfach gesagt, in eine Datei überführt, wobei doppelte oder mehrfache Ergebnisse gelöscht werden. Am Ende stehen dann alle Suchergebnisse sämtlicher Suchworte zusammen zur Verfügung. Dann müsste jeder einzelne Link aufgerufen und sein Inhalt auf Relevanz überprüft werden.“

Lucien schrieb hektisch auf seinem Block.

„Moment mal. Selbst wenn wir nur 30 Sekunden für jede Sichtung ansetzen, dann sind das bei 1 Million Ergebnissen, äh 8.333 Stunden oder 1.041 Tage. Selbst wenn jeder von uns arbeitet sind das immer noch 148 Tage. Das sind mal locker fünf Monate, wenn wir jeden Tag acht Stunden dransitzen.“

Max nickte.

„Genau. Und dann das Ganze noch einmal in fünf anderen Sprachen.“

Kevin lehnte sich kopfschüttelnd zurück.

„So geht das nicht. Wir müssen sehen, dass wir allgemeine Begriffe vermeiden und dann die Suchworte so eindeutig wie möglich fassen. Tobias, du machst zusammen mit Lucas und Rafael eine Aufstellung von, sagen wir, maximal fünfzig Suchworten, die für unsere Aufgabe relevant sein könnten. Ihr könnt dafür alle Unterlagen nutzen, die wir haben. Ich möchte eine erste Liste übermorgen Abend für die nächste Besprechung haben.“

Lucien ließ ein leises „Hu?“ hören, doch Tobias nickte nur.

„Gut, dann ist die Besprechung für heute beendet. Ich werde noch kurz mit Max über unsere Computer reden, der Rest darf sich mit Robin und seinen Listen für den Arbeitsdienst auseinandersetzen. Noch jemand Fragen?“

Pater Anselm erhob sich und hob dabei die rechte Hand.

„Keine Frage, aber eine Ankündigung. Nicht nur zu Zwecken der Tarnung, auch damit ihr in die normale Gesellschaft integriert bleibt, gibt es verschiedene Aktivitäten, die ihr als Gruppe oder einzeln wahrnehmen könnt und auch sollt. Eine davon, und zwar eine der dienstlich angeordneten, ist der Erwerb einer Fahrerlaubnis.“

Bei dem folgenden Schweigen sickerte erst langsam der Inhalt der Botschaft durch. Lucien wurde plötzlich zappelig.

„Wir kriegen einen Führerschein?“

„Nein, ihr kriegt ihn nicht, ihr müsst dafür lernen. Der Unterricht findet in einer ganz normalen Fahrschule zusammen mit anderen Fahrschülern statt. Ihr solltet eure Tarnung gut genug kennen, um nicht aufzufallen und natürlich liegt es an euch und eurem Lernerfolg, wie lange es bis zur Prüfung dauert.“

Tobias hob zögernd eine Hand.

„Ja, bitte.“

„Dürfen wir auch einen Motorradführerschein machen?“

Lucien warf seinem Partner einen fast entsetzten Blick zu, während der Rest grinste. Michael deutete mit dem Finger auf Lucien.

„Hey, Lucien. Wir können ja mal eine Runde drehen, damit du dich dran gewöhnst.“

Jetzt war Michael der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

„Du hast einen Führerschein?“

„Und ein Motorrad?“

Michael nickte und schüttelte den Kopf.

„Das war eines der Dinge, die ich mir von meinem Nebenjob geleistet habe. Einen Motorradführerschein und eine Maschine. Das heißt also, für ein Auto muss ich genauso lernen wie ihr auch. Und bevor jemand fragt, die Maschine hab‘ ich nicht mehr.“

„Oh, Schade.“

Lucas sah Michael von der Seite an.

„Dann weiß ich ja, wer uns bei der Theorie hilft.“

Lucien wandte sich nun wieder zu Tobias.

„Warum, zum Henker, willst du einen Motorradführerschein machen? Das mit dem Auto ist schon schwierig genug.“

„Motorrad ist gar nicht so schwer. Ich hab mit sechzehn meinen Führerschein für AM, L und T gemacht.“

„Was?! Was ist das denn alles?“

„AM ist für Moped. Aber die beiden anderen Klassen sind hauptsächlich für was anderes. Du kannst dich erinnern, dass ich mal erzählt habe, ich komme vom Land?“

„Äh, jein. Ich glaub‘ da war mal sowas. Aber wozu braucht man auf dem Land einen Mopedführerschein?“

Die Antwort kam von Lucas und Rafael gleichzeitig.

„Treckerfahren!“


Die tägliche Routine hatte sich schon nach kurzer Zeit eingespielt. Wechselweise wurde morgens das Bad belegt und auch der Küchendienst war nicht mehr allzu schwierig.

Der allererste Morgen mit Robin und Max zusammen im Bad begann jedoch mit einer kleinen Überraschung für Max. Max war ein munterer Frühaufsteher, der seine übliche Routine nach dem Besuch der Toilette mit Rasieren begann und dann mit dem Duschen abschloss. Ohne darüber nachzudenken, legte er seine Retroshorts ab und stellte sich dann vor den Spiegel, um sich nass zu rasieren, als Robin das Bad betrat. Unwillkürlich bewunderte Max im Spiegel Robins sportliche Gestalt, die, nur in ein paar Boxershorts gekleidet, ins Bad geschlurft kam.

Robin war genau so groß wie er, doch wohl ein paar Kilo schwerer. Man konnte deutlich den Ansatz zu einem Sixpack erkennen, während bei Max alles glatt und unscheinbar war. Na, er hatte während der Ausbildung auch wenig Zeit gehabt um zu trainieren. Robin hingegen beäugte die schlanke, nackte Gestalt vor dem Waschbecken und kam zu dem Ergebnis, dass sie ihn wohl etwas mehr in die sportlichen Aktivitäten integrieren könnten.

„Morgen, Robin.“

„Mooon…“, gähnte Robin. Früh aufstehen war noch nie sein Ding gewesen.

Im Spiegel konnte Max nun weiter beobachten, wie sich Robin nun auch die Boxershorts abstreifte und unter die Dusche stellte. Um genug Platz für zwei Duschen zu schaffen, hatte man einfach eine offene Duschecke mit zwei Duschköpfen geschaffen.

„Kommst du auch?“

Max sah erstaunt auf. War das jetzt eine direkte Einladung? Ja, dachte er amüsiert, zum Duschen natürlich.

„Lass mich erst mal zu Ende rasieren.“

Als Robin nicht antwortete, sah Max wieder in den Spiegel und bemerkte, dass Robin verschwunden war. Die Dusche lief noch, doch Robin war nicht zu sehen.

Plötzlich ertönte hinter Max ein leises Winseln und er fuhr herum. Direkt hinter ihm saß ein großer, hellgrauer Wolf und sah ihn mit schief gehaltenem Kopf an. Im ersten Moment zuckte Max zurück, doch dann erinnerte er sich, was er über Gestaltwandler gelernt hatte. Langsam ging er in die Hocke und strich Robin über den Kopf. Dann fuhr er weiter über den Hals bis auf den Rücken. Robin legte sich hin und Max streichelte weiter, bis Robin sich auf den Rücken drehte und ihn so aufforderte, den Bauch zu kraulen. Max tat ihm den Gefallen.

Plötzlich verwandelte sich Robin zurück und Max sah fasziniert zu, wie aus dem großen grauen Wolf ein junger Mann wurde. Robin grinste Max nun an, bis dieser merkte, dass er immer noch mit einer Hand Robins Bauch streichelte.

„Du darfst jetzt aufhören und mir in die Dusche folgen.“

Max riss seine Hand zurück wie von einer glühenden Herdplatte. Robin lachte, stand auf und zog Max hinter sich her in Richtung Dusche.

Als sie beide unter der Dusche standen, fuhr Robin Max durch die Haare. Der hochgestylte Streifen schwarzer Haare hatte sich durch das Wasser gelegt und lag nun dicht am Kopf an.

„Schade. Ich fand die gar nicht so schlecht. Lucien soll auch mal sowas getragen haben.“

„Aha? Na, wenn die trocken sind müssen sie wieder gestylt werden, dann stehen sie wieder.“

Robin grinste schon wieder.

„Apropos stehen. Wenn du schon so rumstehst, kannst du mir ja eigentlich auch den Rücken waschen. Über die Vorderseite ließe sich dann auch noch reden.“

Max sah Robin erstaunt an. Dann fing er leicht an zu stottern.

„D-Du meinst… Ich weiß nicht, wir haben ganz klare Vorschriften über den Umgang mit den Magiern. Wir dürfen uns in keiner Weise in ihre persönlichen Beziehungen einmischen.“

Robin seufzte.

„Erstens bin ich kein Magier und zweitens: Sieh dich um. Wir werden uns ein Jahr lang jeden Tag hier begegnen, uns ansehen, möglicherweise die… äh Körperfunktionen des Anderen mitbekommen und auch den morgendlichen Zustand bewundern.“

Damit glitt Robins Blick an Max herab, bis der Blick im wahrsten Sinne des Wortes an Max‘ Körpermitte hängen blieb.

Max lief rot an, was trotz der Dusche gut zu erkennen war. Robin fasste Max sanft um den Hals und zog ihn zu sich.

„Möchtest du?“

„Aber was ist mit den Anderen? Ich dachte, du hast eine Beziehung mit Kevin und Lucas?“

„Ja, habe ich. Was aber nicht heißt, dass man nicht auch jemand anderen mögen kann oder darf. Sieh mal, ich bin, wenn man so will, ein Rudeltier. Michael und Rafael haben damals den Vorschlag gemacht, ein Wolfsrudel zu gründen. Was vielleicht am Anfang als halber Scherz gedacht war, hat sich weiterentwickelt. Ich kann dir bei Gelegenheit ja mal eine Aufzeichnung zeigen über das erweiterte Rudel mit sieben Mann im Gefecht. Du würdest dich wundern.“

Max spürte, wie Robin jetzt mit der Hand auf seinem Rücken langsam tiefer fuhr und dachte über Robins Aussage nach. Schweigend umarmte er Robin.


Die nächsten Tage und Wochen waren mit viel Arbeit gefüllt. Auch ihre kleine Nebenaufgabe erforderte viel Aufmerksamkeit. Die Fragen für den theoretischen Teil ihrer Fahrprüfung gab es zwar inzwischen online, doch das half nicht wirklich bei der Beantwortung. Michael hatte es schon längst aufgegeben, irgendwelche Fragen der anderen zu beantworten, denn er merkte, dass er selbst auch schon viel vergessen hatte, obwohl das gerade mal drei Jahre her war. Pater Anselm passte streng darauf auf, dass auch alle zum theoretischen Unterricht gingen. Max musste einen Terminkalender für alle auf dem Zentralserver einrichten, der mit ihren speziell eingerichteten Handys verlinkt war.

Aus Gründen der Tarnung waren sie auf vier verschiedene Fahrschulen verteilt worden, dabei hatte es zwei Überraschungen gegeben. Die eine war die Fahrerlaubnis für Max, der nicht damit gerechnet hatte, dass er ebenfalls den Führerschein machen durfte und die andere war, dass alle, auch Lucien, sich entschieden hatten, zusätzlich den Motorradführerschein zu machen.

„So ein Mist. Hätte ich bloß nicht damit angefangen.“

Lucien knallte im Flur seinen Helm auf die Ablage und hängte seine schwarze Lederjacke mit den blauen Streifen darunter.

Lucas grinste und legte ebenfalls Helm und Jacke ab. Neugierig sahen ein paar Gesichter aus der Küche und dem Wohnzimmer herüber.

„Was war denn?“

Lucas grinste noch breiter und deutete auf Lucien.

„Unser Held hier, hat sich heute beinahe mit der Maschine hingelegt.“

„Was?!“

Tobias kam aufgeregt aus der Küche.

„Ist dir was passiert?“

Lucien schüttelte nur mit dem Kopf und grummelte

„Nein, nein. Nix passiert.“

Alle sahen jetzt Lucas fragend an.

„Es war an einer Ampel. Lucien war wohl so nervös, dass er vergessen hat, die Füße abzusetzen als die Maschine stand. Konnte gerade noch reagieren, bevor sie tatsächlich das Übergewicht gekriegt hätte.“

Lucien bedachte Lucas mit einem tödlichen Blick, doch Tobias ging zu ihm hin, flüsterte etwas mit ihm und zog ihn dann in Richtung Treppe.

Kevin grinste aus der Küche hinüber zu Lucas.

„Dann komm mal her und mach hier weiter für Tobias. Du bist ja schließlich schuld, dass Lucien jetzt getröstet werden muss.“

Trotz der leichten Schwierigkeiten bei den praktischen Fahrstunden, schafften es alle beim ersten Mal, die Prüfungen zu bestehen. Im Laufe der darauffolgenden Woche wurde ein weiteres Fahrzeug, diesmal ein SUV, angeliefert, so dass sie jetzt auf zwei Fahrzeuge zurückgreifen konnten.

„Oh, seht mal, der hat sogar Vierradantrieb.“

„Ja, Vierradantrieb, ein Untersetzungsgetriebe für Geländefahrten, Differentialsperre und eine verstärkte Federung.“

Max blätterte in den Unterlagen, während sie alle um den neuen silbergrauen SUV herumstanden, der sich äußerlich in nichts von jedem handelsüblichen Modell unterschied.

„Der Motor ist eine 3-Liter-Maschine mit 154 KW. Das sind 210 PS. Höchstgeschwindigkeit 195 km/h.“

Michael sah zu Max hinüber.

„Wieso denn so langsam? Bei der Leistung sollte er doch ein bisschen schneller sein.“

Max runzelte die Stirn und sah noch einmal die Unterlagen durch.

„Ah, hier. Das Ding wiegt über zwei Tonnen, voll beladen. Wenn man die hintere Sitzbank ausbaut, hat man eine ziemlich große Ladefläche. Den kann man auch als Transporter nutzen.“

Kevin nickte nachdenklich.

„Das wird er wohl auch in der ersten Zeit sein. Wir haben im Moment keine große Verwendung dafür. Wenn wir alle gemeinsam fahren wollen, brauchen wir den 8-Sitzer. Deshalb wird er wohl für Einkäufe und Versorgungsfahrten genutzt werden. Den Schlüssel und die Papiere behält erst einmal Max.“

„Auf wen sind denn die Papiere ausgestellt?“

Max zog den Fahrzeugbrief aus den Unterlagen.

„Oh. Herzlichen Glückwunsch. Ein gewisser Herr Böttcher wurde soeben stolzer Besitzer eines neuen Wagens.“


Max war wohl derjenige, der nach den ersten Sichtungen der Suchergebnisse am Meisten zu arbeiten hatte. Alle, auch die als nur am Rande relevant eingestuften Dateien, wurden noch einmal durch eine weitere Suchmaschine mit geänderten Parametern geschickt. Hierbei ging es um den Sprachgebrauch und das Vokabular, um Dateien zu filtern in denen möglicherweise interessante Daten nur vage umschrieben worden waren. Am Ende von drei Monaten harter Arbeit saß Max nun auf etwa 600 Dateien, die alle etwas mit den ‚Gläubigen der kommenden Erlösung‘ oder den dort erwähnten Personen zu tun hatte. Nun war es an der Zeit, die Daten zu strukturieren.

Es gab hauptsächlich drei Kategorien. Dateien mit Angaben zu persönlichen Daten von Mitgliedern der Sekte, dann solche, hauptsächlich älteren Datums, die sich mit der Gründung und dem Leben dort beschäftigten. Die dritte Kategorie war am interessantesten. Hier gab es tatsächlich Information über den ‚Inneren Zirkel‘ und über ‚strahlende Wesen‘, die von dessen Mitgliedern gesehen worden sein sollen. Kevin verteilte die drei Blöcke an jeweils ein Paar, mit der Aufgabe, eine Ausarbeitung darüber vorzulegen.

Lucas scrollte durch die Dateien und grummelte.

„Warum haben wir denn die langweiligste Arbeit bekommen? Die ganzen Daten irgendwelchen Leuten zuzuordnen und dann Kurzbiografien zu erstellen.“

„Ganz einfach. Davon haben wir am meisten und wir sind drei Mann, im Gegensatz zu den anderen beiden Teams.“

Bei der nächsten Besprechung wurden an jeden Teilnehmer dann alle drei Ausarbeitungen ausgehändigt.

„So. Leute. Wir haben gearbeitet so gut wir konnten und das ist das Ergebnis. Wir werden euch jetzt nicht mit den Lebensdaten jedes Einzelnen langweilen, aber immer an den entsprechenden Stellen etwas einschieben, wenn nötig. Wer möchte zur Geschichte vortragen?“

Kevin sah hinüber zu Michael und Rafael. Die beiden sahen sich kurz an, dann seufzte Rafael und stand auf.

„Also gut. Knapp zusammengefasst ergibt sich folgendes Bild. Im Jahre 1961 hat hier in Köln der evangelische Religionslehrer Josef Schmitz die kleine Gemeinschaft der ‚Gläubigen der kommenden Erlösung‘ gegründet.“

Irritiert sah Kevin von Rafael zu Tobias, weil diese sich breit angrinsten.

„Was ist?“

„Ach so. Wer hier aus der Gegend kommt, erkennt den Witz. Schmitz ist in Köln so verbreitet wie woanders Meier, Müller und Schulze zusammen. Und Josef ist wohl der häufigste Vorname aus dieser Zeit. Jupp Schmitz us Kölle ist im Rheinland sprichwörtlich.“

Dann fuhr Rafael mit seinem Vortrag fort.

„Im Gegensatz zur vorherrschenden Lehrmeinung der Kirche, erwarteten die Anhänger der Sekte das Ende der Welt schon in naher Zukunft, weil sich das Böse schon so verbreitet hat, dass die Erlösung demnächst kommen müsse. Dabei gab es tatsächlich ernsthafte Aussagen darüber, dass sich das Böse in langhaarigen Männerfrisuren, Beatmusik und Marihuana manifestiert. Es gibt auch Anlehnungen an einige der bereits existierenden Endzeitgemeinden, doch diese hier war tatsächlich der Meinung, ein festes Datum zu besitzen. Das Ende der Welt sollte am 13.06.1966 stattfinden, interessanter Weise an einem Montag. Das Ende der Welt hat Herr Schmitz übrigens nicht erlebt, er ist bereits 1965 gestorben.“

Lucien lehnte sich zurück.

„Und dann war immer noch nicht Schluss?“

„Nein. Unter seinem Nachfolger, einem Robert Leiner aus Köln, wurde an dem besagten Montag leider festgestellt, dass Herr Schmitz sich verrechnet hatte. Der nächste Weltuntergang wurde auf den 17. Mai 1975 festgelegt.“

„Unglaublich, dass denen das noch jemand abgenommen hat.“

„Ja, es gibt aus 1966 etliche Dokumente, die sich zum überwiegenden Teil lustig machen über diese Glaubensgemeinschaft. Aber abgesehen von dem Endzeitdatum sind sie gute Bürger und gläubige Christen. Wie viele Angehörige solcher kleinen Gemeinschaften legen sie hohen Wert auf eine gesunde Lebensführung und sollen Alkohol, Tabak und andere Rauschmittel meiden. Zudem werden sogar einige der biblischen Speisegebote eingehalten. Ein großer Teil ernährt sich sogar vegetarisch. Aber tatsächlich hat die Anzahl der Mitglieder nach dem ersten Weltuntergangsszenario stark abgenommen. Vorher waren es etwa 500, danach nur noch etwa 200 Personen.“

„Und der zweite Weltuntergang?“

„Der wurde rechtzeitig abgeblasen. Irgendwann Anfang der siebziger Jahre hat sich Herr Leiner sang- und klanglos verabschiedet und seine Berechnungsgrundlagen praktischerweise mitgenommen. Danach war die Gemeinschaft eine Zeitlang ohne Anführer, bis im Jahre 1981 ein Herr Thomas Gerber aus Hückelhoven zum Vorsteher gewählt wurde.“

Lucas suchte in seinen Unterlagen nach einem bestimmten Blatt.

„Thomas Josef Severin Gerber. Geboren am 24. Dezember 1941 in Hückelhoven, Kreis Heinsberg. Schulabschluss mit mittlerer Reife, Lehre als Buchhändler. Kam Mitte der siebziger nach Köln und fand dann Kontakt zu der Gemeinde. Er galt schon von Anfang an als charismatischer Redner und als äußerst bewandert in der Auslegung der Bibel.“

„1941? Dann ist er jetzt…“

„Er wird nächsten Monat 75.“

Kevin sah zu Rafael, der sich wieder gesetzt hatte.

„Der nächste Teil wird wohl interessanter für uns.“

Ohne weitere Vorbereitung stand Tobias auf und trug ohne einen Zettel vor.

„Was wir haben, ist noch viel dünner. Es gibt nur einen einzigen Bericht darüber, dass Herr Gerber angeblich von ‚strahlenden Wesen, die in diese Welt treten‘ gesprochen haben soll. Der Bericht ist aus dem Jahr 1996. Es ist die Mitschrift einer Gesprächsaufzeichnung beim Sektenbeauftragten der evangelischen Landeskirche. Hier hat ein ehemaliges Mitglied der ‚Gläubigen der kommenden Erlösung‘ davon berichtet, dass Herr Gerber eine kleine Gruppe besonders gläubiger Mitglieder in gesonderten Bibelstunden unterrichten würde und ihnen von ‚strahlenden Wesen‘, die keine Engel seien, erzählt habe. Diese Wesen müssten mit besonderer Ehrfurcht in Empfang genommen werden, damit sie die wahren Gläubigen bei dem kommenden Weltuntergang beschützen könnten.“

„Das ist aber nicht besonders ergiebig. Das kann auf alles Mögliche zutreffen, sogar auf Drogen oder andere Hallu’s.“

„Richtig. Der Aufhänger für diesen Zeitungsbericht waren allerdings nicht die ‚strahlenden Wesen‘, sondern die Nachricht, dass der Mann, der beim Sektenbeauftragten geplaudert hatte, zwei Tage später einen tödlichen Unfall erlitten hat. Verkehrsunfall mit Fahrerflucht. Keine Zeugen. Täter konnte nicht ermittelt werden.“

„Kann auch ein Zufall sein.“

„Vielleicht, aber dann haben wir hier einen Bericht von 1-1. Durch diese Aussage beim Sektenbeauftragten aufmerksam geworden, hat Abteilung Eins noch einmal eine Sondierung gestartet. Unter dem Vorwand einer ‚interessierten Mitgliedschaft‘ hat sich ein älteres Ehepaar bei den ‚Gläubigen‘ umgesehen und durch geschickte Gesprächsführung drei Dinge herausgefunden. Seit Mitte der neunziger Jahre mischt jemand hinter den Kulissen mit. Ohne eine bestimmte Aufgabe oder gar für etwas gewählt worden zu sein, gibt es jemanden, mit dem sich Gerber immer öfter abspricht und der anscheinend einen großen Einfluss auf ihn hat. Dieser Mann ist nur unter dem Vornamen Christoph bekannt. Die einfachen Sektenmitglieder bekommen ihn höchstens durch Zufall zu Gesicht. Zum zweiten scheinen die ‚Gläubigen‘ nichts über einen ‚Inneren Kreis‘ zu wissen, doch es ist damals aufgefallen, dass seit kurzem einige junge Männer Mitglieder geworden sind, die nicht, oder nur selten, zu den üblichen Versammlungen kommen. Abteilung Eins hat eine sechs Monate lange Observation durchgeführt, aber es gab keine Anhaltspunkte für verdächtige Aktivitäten.“

„Und wer ist jetzt diese graue Eminenz?“

Lucas nahm einen kleinen Zettel von seinem Stapel und besah ihn missmutig.

„Keine Ahnung. Das ist eines der Rätsel zu dieser Vereinigung. Der Mann wurde anscheinend nur ein paar Mal kurz gesehen, niemand hat mehr als ein paar Worte mit ihm gesprochen. Er war Mitte der neunziger circa 30 Jahre alt, also etwa Jahrgang 65. Damit wäre er heute so um die fünfzig.“

Lucien schüttelte ungläubig den Kopf.

„Das gibt’s doch nicht. Den muss doch jemand wieder mal gesehen oder getroffen haben.“

Tobias stieß Lucien leicht an.

„Vergiss es. Köln hat so um die eine Million Einwohner. Wenn du es geschickt anstellst, kannst du dich verstecken bis du alt und grau bist.“

Dann nahm Tobias einen letzten Zettel vom Tisch auf.

„Es gibt eine kurze Notiz von 1-3, die aber nicht weiter verfolgt wurde, weil ein direkter Zusammenhang nicht hergestellt werden konnte. Kann sich jemand noch an den Einsturz des Stadtarchivs in Köln in 2009 erinnern?“

Rafael sah überrascht auf.

„Klar. Was ist damit?“

„Abgesehen von den tatsächlichen Mängeln, soll sich angeblich noch ein größerer Hohlraum neben der eigentlichen Baugrube aufgetan haben, der dann durch den Rutsch aber wieder verschüttet wurde. Das Interessante daran ist, dass sich das Gebäude mit dem Versammlungssaal und ein paar Büros der Sekte in unmittelbarer Nähe befunden hat.“

In der nun entstandenen Pause klang Kevins Stimme lauter als sonst.

„Du meinst…“

„Ich meine gar nichts. Der Bericht war mehr als vage und ein Zusammenhang ließ sich nicht herstellen. Sollte es tatsächlich der Fall gewesen sein, dass die ihre eigene Höhle für ein Tor gebaut haben, so ist der Plan mit dem Einsturz gescheitert.“

Michael streckte sich und lehnte sich nach hinten.

„Okay und warum sind wir dann überhaupt hier?“

Diesmal war Max schneller mit der Antwort als Tobias.

„Ganz einfach. Wenn ein Objekt oder eine Gemeinschaft einmal überwacht wurde, bekommt die jeweilige Abteilung routinemäßig eine Benachrichtigung, wenn wieder öffentlich darüber berichtet wird. Vor drei Monaten haben die ‚Gläubigen der kommenden Erlösung‘ mitten in der Innenstadt von Köln ein Parkhaus erworben. Laut eigener Aussage als Investitionsobjekt, um die finanzielle Absicherung der Sekte auch in Zukunft zu gewährleisten.“

„Ein Parkhaus? Was will denn eine Sekte mit… oh!“

Lucien brachte die Gedankengänge der meisten Teammitglieder zum Ausdruck. Dann sah er hinüber zu Max.

„Wissen wir mehr über das Parkhaus, außer, dass es jetzt dieser Sekte gehört?“

Max schüttelte zögernd den Kopf.

„Lediglich das, was öffentlich bekannt ist. Ein Parkhaus mit vier unterirdischen und zwei oberirdischen Parkdecks, darüber drei Etagen mit Büros. Die Büros sind alle vermietet. Das Gebäude selbst liegt nicht direkt in der Innenstadt, ist also nicht sehr stark frequentiert. Die Unterlagen des Maklerbüros sagen aus, dass sich der Kaufpreis wohl etwa in zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren erst amortisiert.“

Rafael schüttelte den Kopf.

„Ich dachte, bei gewerblichen Immobilien geht so etwas schneller.“

Max nickte.

„Sollte es wohl. Ich habe keine Ahnung davon, aber ein Gutachten hat den ursprünglich geforderten Kaufpreis als überhöht betrachtet. Sie haben das Ding trotzdem zu dem Preis gekauft.“

„Also ging es nicht um eine Anlage mit schnellen Gewinnen.“

Kevin winkte ab, um die Diskussion zu beenden.

„Leute, das hilft uns im Moment auch nicht weiter. Unsere Aufgabe ist es, bestimmte, an uns gerichtete Fragen zu klären und unserer Führung Informationen zu liefern, auf Grund deren Entscheidungen getroffen werden können. Ihr könnt euch sicher noch an die erste Versammlung mit den Einsatzbefehlen erinnern. Die Antworten auf die dort gestellten Fragen sind immer noch unbefriedigend.“

Kevin griff nach den Einsatzbefehlen.

„Gibt es genauere Beschreibungen der strahlenden Wesen und ihrer Übertritte in diese Welt? Keine Informationen. Hat der Prediger Kontakte zu weiteren Sekten mit ähnlichen Szenarien? Keine Informationen. Gibt es in der Sekte eine Hierarchie und wer gehört zum inneren Zirkel? Keine Informationen. Gibt es Hinweise auf mögliche größere finanzielle Unterstützungen der Sekte? Keine Informationen. Hat die Sekte, oder eines seiner Mitglieder, Zugang zu Gebäuden und Einrichtungen in denen ein Anker eingerichtet worden sein kann oder wo ein Tor geöffnet werden könnte? Dort werden wir als nächstes einhaken.“

Die Gesichter am Tisch waren immer länger geworden, doch die letzte Bemerkung ließ wieder hoffen.

„Betrachten wir doch mal die Tiefgarage als ein Gebäude in dem ein potentielles Tor geöffnet werden könnte. Wo würde das sein?“

Lucien sah Kevin merkwürdig an.

„Ist das eine Fangfrage? Höchst wahrscheinlich im untersten Parkdeck.“

„Genau. Deshalb möchte ich gerne zwei Dinge durchführen. Das erste ist eine vorsichtige Erkundung des untersten Parkdecks. Dazu werden zwei Mann mit unserem neuen Wagen in die Tiefgarage fahren und soweit wie möglich unten parken. Auf dem Weg nach oben sollen sie sich so unauffällig wie möglich umsehen. Ich nehme stark an, es gibt in dem Parkhaus Überwachungskameras. Also keine Stunts.“

„Wer soll fahren?“

Kevin überlegte kurz, dann sah er zu Rafael.

„Du fährst. Lucas wird dich begleiten. Ich möchte eine astrale Überprüfung, ob sich ein Anker oder sogar ein Tor manifestiert hat.“

Dann sah Kevin wieder zu Max.

„Max, können wir die Tiefgarage irgendwie von außen elektronisch überwachen?“

„Hm, da käme wohl eine Webcam in Frage. Damit können wir alles erfassen was rein oder rausfährt. Darf ich fragen, wozu das gut sein soll? Wir könnten dann schon Entfernung und Auflösung vorher festlegen.“

„Ich möchte gerne die Ein- und Ausfahrt haben. Wir suchen nach verdächtigen Fahrzeugen, wie zum Beispiel Fahrzeuge mit Anhängern oder Lieferwagen, deren Ladung unten zum Bauen oder Installieren verwendet werden könnte.

„Da müssten wir eine Webcam ziemlich genau gegenüber anbringen.“

„Wie kriegen wir die installiert?“

„Das ist ein Kompaktset. Kann als alles Mögliche getarnt werden, sogar als Ziegelstein. Nur der Empfänger darf nicht weiter als 500 Meter weg sein.“

„In Ordnung. Dann möchte ich gerne von der zentralen Datenbank wissen, ob es Unterlagen über den Kauf gibt, den Grundbucheintrag und die Finanzierung.“


Anfang November war es schon reichlich frisch in Köln, trotzdem hatten die beiden jungen Männer, die durch eine der schmalen Straßen der Innenstadt zogen, nicht gerade viel an.

Ein schwarzes T-Shirt mit dem Motiv einer Punk-Band und eine etwas zerrissene schwarze Jeans waren fast alles, was der erste am Körper trug. Dazu ein Paar auffällige Stiefel mit verchromten Beschlägen. Das auffälligste waren jedoch die Haare. Die dunklen, schwarzen Haare waren an den Seiten des Kopfes abrasiert und ließen in der Mitte einen etwa 8 - 10 cm breiten Streifen stehen, der aber nur gute zehn Millimeter hoch war.

Der andere junge Mann trug ebenfalls zerrissene schwarzen Jeans, sein schwarzes T-Shirt war mit einem Darth-Vader-Motiv versehen. Um den Hals trug er ein Stachelhalsband und die halblangen kastanienroten Haare verzierte eine hellblaue Strähne.

Jeder der Beiden trug ganz offen eine halbleere Literflasche billigen Rotwein. Leicht schwankend hielten sie vor dem hässlichen Flachbau eines Discounters, direkt gegenüber eines noch hässlicheren Bürogebäudes mit einer Tiefgarage. Die ein- und ausgehenden Kunden des Supermarktes beäugten misstrauisch und auch etwas angewidert die beiden jungen Männer, die leicht frierend ein paar Schlucke zum Aufwärmen nahmen.

„Der Laden hat eine Sicherheitskamera“, flüsterte Lucien.

„Ja, aber die ist nach drinnen gerichtet. Der beste Platz für unsere ist oben auf dem Flachdach“, murmelte Max, ohne allzu auffällig nach oben zu schielen.

„Wie wollen wir das denn anstellen?“

„Wir gar nicht. Für so etwas gibt es Dezernat vier, Abteilung zwei, den Überwachungsdienst.“

„Ach so? Und wieso frier ich mir hier draußen den Arsch ab?“

„Weil wir denen sagen müssen, was wir haben wollen, wo wir es haben wollen und was überwacht werden soll. Dazu müssen wir uns die Gegend ja erst mal selbst ansehen oder?“

Lucien grummelte etwas Unverständliches und nahm dann noch einen Schluck aus der Flasche, die tatsächlich einen billigen Rotwein enthielt. Leicht angewidert verzog er das Gesicht.

Zurück in der Unterkunft zog sich Lucien zuerst wieder um und ging dann hinüber zu Max. Der saß bereits an seinem Rechner und tippte den Auftrag für die Überwachung. Lucien ging zu ihm und sah ihm über die Schulter.

„Sehr hübsch, mon cher, aber eigentlich könnten wir uns doch erst etwas aufwärmen.“

Max war überrascht, als Lucien ihn hochzog und ihm einen Kuss gab. Max wand sich etwas, weil er erst vor kurzem die Geschichte von Lucien und Tobias erfahren hatte. Er wollte nicht an einem, wie auch immer gearteten, Krach zwischen den beiden schuld sein.

„Moment, was wird denn Tobias sagen?“

„Was soll ich wozu sagen?“, erklang eine Stimme hinter Max und bevor er sich umdrehen konnte, fühlte er zwei Arme die ihn von hinten umschlangen und zwei Hände, die sich auf der Vorderseite unter sein T-Shirt arbeiteten. Max erstarrte erst kurz, dann ließ er sich langsam nach hinten gegen Tobias sinken, während Lucien vor ihm die technischen Geheimnisse eines Reißverschlusses erkundete.


„Sechs Wochen und kein vernünftiges Ergebnis.“

Die erste Erkundung von Rafael und Lucas hatte kein brauchbares Ergebnis geliefert. Sie kamen mit dem Wagen bis in das dritte Untergeschoss, dort war dann Schluss. Ein paar Schilder gaben einen Hinweis, dass das vierte Deck leider gesperrt sei. Die Rampe nach unten endete vor einem massiven Sperrgitter mit mehreren Vorhängeschlössern.

Auch astral hatte Lucas nichts gespürt und so hatten sie sich nach einem kurzen Aufenthalt außerhalb des Parkhauses wieder auf den Rückweg gemacht.

„Die werden ja auch nicht mit einem Schild um den Hals in die Tiefgarage fahren: Wir sind auf dem Weg, um Dämonen zu beschwören.“

Kevin bedachte diesmal Robin mit einem vernichtenden Blick.

„Ich weiß, es ist schwer, aber bleibt einmal ernsthaft bei der Sache. Haben wir bis jetzt überhaupt irgendetwas herausgefunden, was den Verdacht erhärtet, dass wir es hier tatsächlich mit einer beabsichtigten Beschwörung zu tun haben?“

Lucien und Tobias fingen an, hektisch miteinander zu tuscheln, bis sie plötzlich abbrachen, weil sie bemerkten, dass alle sie anblickten. Tobias lächelte schwach.

„Sorry, aber wir waren uns nicht ganz einig. Es geht um einen Zeitungsartikel. Hat eigentlich nicht direkt etwas mit den ‚Gläubigen der kommenden Erlösung‘ zu tun, aber dort ist, neben einigen anderen, auch Herr Gerber kurz interviewt worden. Es ging um das Statement, dass Sekten mit Satanismus gleichzusetzen wären und die Jugend vom Pfad der Tugend abbringen würden.“

Tobias grinste, als er die ungläubigen Gesichter rings um sich sah.

„Das war Ende der neunziger, als so ziemlich alles mit dem Stempel des Satanismus versehen wurde, was nicht der landläufigen Auffassung von christlicher Religion entsprach. Allerdings hat Herr Gerber hier eine interessante Aussage gemacht: ‚Die Leute würden ja nicht einmal reagieren, wenn der Satan ihnen auf der Straße begegnet und tatsächlich genauso aussieht, wie sie ihn sich vorgestellt haben‘. Wir haben die Äußerung als metaphorisch abgetan, aber was, wenn er sie tatsächlich wörtlich gemeint hat?“

Kevin sah Tobias fragend an, dann stutzte er.

„Du meinst, ein Gothmar? Dann müsste er aber schon einmal einen gesehen haben.“

Michaels Stimme klang zweifelnd. Die von Kevin hingegen wurde plötzlich stahlhart.

„Oder er kennt jemanden, der tatsächlich schon mal einen gesehen hat. Max, ich brauche dringend von der Zentralen Datenbank die Auskunft, welche Magier seit, hmmm… sagen wir 1970, unsere Organisation freiwillig oder unfreiwillig verlassen haben und mit Vornamen Christoph heißen. Sie sollen auch die abgelehnten Bewerber für die Schulen mit einbeziehen. Dann brauch ich für jeden von denen die Daten der Überwachung.“

Etwas betroffen sahen die Teilnehmer der Runde Kevin an.

„Du glaubst, dieser Christoph ist ein ehemaliger Magier?“

„Ich will es nicht ausschließen. Wir müssen jeglichen Hinweisen, egal welcher Art, nachgehen. Selbst wenn es sich um eine Werbeanzeige in einer Postwurfsendung handelt. Irgendetwas passiert dort im vierten Deck dieses Parkhauses und ich will wissen, was das ist.“

Bei dem Wort ‚Werbeanzeige‘ lachten einige, doch Max machte sich eine kleine Notiz. Bevor die Sitzung beendet wurde, meldete sich Pater Anselm noch einmal zu Wort.

„Ich möchte eine kurze Ankündigung machen. Auch wenn wir hier einer ernsthaften Arbeit nachgehen, sollten wir nicht unser Umfeld vernachlässigen. In zehn Tagen ist Weihnachten und wir können uns ruhig unserer christlichen Traditionen besinnen. Ich möchte vorschlagen, dass wir uns vielleicht einen Baum besorgen und ihn nett herrichten. Ich beabsichtige, am Heiligen Abend in den Dom zu gehen zur Christmette. Ihr seid alle eingeladen, mich zu begleiten.“

Etwas betroffen sahen sich einige der Jungen an, dann blieben alle Blicke auf Tobias hängen, der ja am 24. Geburtstag hatte.

„Was seht ihr mich so an? Ich werde auf jeden Fall zur Messe gehen. Ebenso wie Lucien. Mein Geburtstag ist nicht so wichtig, den können wir nachfeiern. Da ist ein anderer Geburtstag am gleichen Tag viel wichtiger.“

Kevin nickte zustimmend, während Max versuchte, sich möglichst unsichtbar zu machen.

„Was ist denn mit dir? Du gehörst doch auch dazu.“

Max machte ein etwas gequältes Gesicht, bis Pater Anselm zu seiner Rettung kam.

„Du brauchst nicht mitzukommen, wenn du nicht willst. Aber du bist natürlich trotzdem eingeladen.“

Auf die fragenden Blicke der anderen seufzte Max nur und zuckte mit den Schultern.

„Ich gehöre keiner Religionsgemeinschaft an. Ich bin nicht getauft oder so etwas.“


Max hatte das gesamte Team dann doch in den Dom begleitet. Die Geburtstagsfeier für Tobias war einfach auf den nächsten Tag verschoben worden und alle waren müde ins Bett gegangen.

Am Morgen des ersten Weihnachtstages klopfte es hektisch bei Max an der Tür.

„Eh, Penner, komm ‚raus. Es gibt Geschenke.“

Noch vollkommen müde sah Max auf die Uhr und fluchte. 05:30 Uhr. Welcher Depp stand um diese Uhrzeit auf? Der Stimme nach war es Lucien gewesen. Max war zwar ein routinierter Frühaufsteher, aber doch nicht an einem Feiertag! Dennoch rollte er sich verschlafen aus seinem Bett und griff zum erstbesten Kleidungsstück, einem paar gelber Boxershorts mit schwarzen Batman-Symbolen. Dann folgte er den Stimmen, die aus dem Wohnzimmer zu ihm heraufdrangen. Um den Weihnachtsbaum hatten sich inzwischen schon alle versammelt und sortierten eine Anzahl kleinerer Pakete, die bunt verpackt waren.

„Hey, guckt mal. Batman ist da.“

Irritiert sah Max an sich herunter und bemerkte erst jetzt, was er angezogen hatte. Nach einem Rundblick registrierte er ebenso, dass die anderen, abgesehen von Pater Anselm, auch nicht viel mehr anhatten als er selbst. Er wurde gerade von der muskulösen Rückseite von Lucas abgelenkt, als ihm Robin ein kleines Paket in die Hand drückte.

„Fröhliche Weihnachten.“

Erstaunt nahm Max das Paket entgegen und realisierte dann etwas beschämt, dass er nicht daran gedacht hatte, jemandem etwas zu schenken.

Robin schien seine Gedanken zu lesen.

„Es macht nichts, wenn du nichts hast. Niemand ist gezwungen etwas zu geben, aber ich hoffe, es macht dir nichts aus, wenn wir etwas Spezielles für dich ausgesucht haben. Es ist von uns allen.“

Max schüttelte den Kopf und nahm das kleine Paket vorsichtig entgegen, dann entfernte er vorsichtig das Papier. Zum Vorschein kam eine kleine Schachtel und als Max diese öffnete, fand er darin einen einzelnen silbernen Ohrring, eine Creole. Sie war nicht sehr groß im Durchmesser, dafür aber breit und sah massiv aus. Das Material schimmert in allen Regenbogenfarben. Max trug zwar tagsüber keine Ohrringe, doch Lucien hatte bei ihrem Außeneinsatz ein Paar bemerkt und auch zwei Stecker im linken Ohr.

„Oh. Das ist sehr nett von euch. Aber das war doch bestimmt teuer.“

Robin grinste und zog Lucas an einer Hand herbei.

„Wie gesagt, es ist von uns allen und bei Geschenken fragt man nicht nach dem Preis. Der lustige Teil kommt aber erst noch.“

Max sah Robin und dann Lucas etwas verwirrt an. Lucas nahm den Ring aus der Schachtel und legte ihn auf Max’ Handfläche. Langsam begann der Ohrring in einem sanften, orangenen Farbton zu schimmern. Lucas grinste Max an.

„Das ist ein Zauberspeicher. Er beinhaltet einen physischen Schild, das Werk von Michael. Da du nicht magisch begabt bist, kannst du ihn nicht selbst aktivieren, doch er ist mit mir verbunden. Falls es notwendig werden sollte, werde ich vor einem Einsatz den Zauber aktivieren und er wird dich etwa zehn bis fünfzehn Minuten vor jeglichen physischen Angriffen, zum Beispiel einer Messerattacke oder sogar einer Pistolenkugel beschützen.“

„Ein… ein Zauberspeicher? Aber ich dachte, normale Menschen können nichts zaubern.“

Ein lautes Klatschen und ein Schmerz auf seiner Kehrseite ließen Max aufquieken. Robin funkelt Max erbost an.

„So, wir sind also keine normalen Menschen?“

„Was? Doch. Natürlich. Ich meinte doch nur…“

Lucas lächelte weiter auf Max herab.

„Ich weiß, was du gemeint hast, Aber bei dem Ring hast du nicht aufgepasst. Michael hat den Zauber gewirkt und wir haben ihn gemeinsam verankert. Ich werde ihn bei Bedarf aktivieren. Wir gehen mal davon aus, dass wir nicht weit weg sind, solltest du ihn benötigen. Deshalb trotzdem noch einmal fröhliche Weihnachten.“

Damit beugte er sich herunter und gab Max einen Kuss. Einen langen Kuss, der Max plötzlich daran erinnerte, dass er lediglich eine Unterhose trug und diese nun wohl nichts mehr verbergen konnte.

Kevin kam jetzt näher und sah an Max herab. Dann grinste er Lucas breit an.

„Er scheint dich zu mögen.“

Max lief rot an und sah etwas hilflos zu Robin, dann zu Lucien und Tobias. Robin erlöste ihn aus dieser peinlichen Pause.

„Ich weiß, dass du dich auch mit Lucien und Tobias angefreundet hast. Wir sehen uns ja nun jeden Tag und Lucas scheint dich ja auch zu interessieren. Du kommst mit allen gut aus und um ehrlich zu sein, wir mögen dich ganz gerne. Möchtest du ein Mitglied des Rudels werden?“

Max stutzte, dann wurde ihm klar, zu was Robin ihn eingeladen hatte. Max suchte nach Worten, doch er bekam nichts heraus. Lucas klopfte ihm auf die Schulter.

„Wir gehen jetzt wieder nach oben und treffen uns alle bei mir auf dem Zimmer. Robin hat dich eingeladen, es ist sein Rudel. Du kannst gerne dazu kommen, wenn du möchtest.“

Max nickte nur und sah zu, wie die anderen sich langsam über die Treppe wieder nach oben verzogen. Er mochte den niedlichen Werwolf und auch die anderen Mitglieder des Teams, doch er war sich nicht ganz sicher, ob er wirklich zu ihnen gehörte. Dann wurde ihm jedoch klar, dass er tatsächlich dazugehören würde, wenn er nach oben ging.

Dieses Rudel hatte nichts mit Magie zu tun, es war etwas anderes, etwas viel archaischeres und Max erschauerte etwas bei dem Gedanken daran. Robin hatte ihn eingeladen und Lucas hatte das bestätigt. Ihm fehlte jetzt nur noch der Mut, den anderen gegenüber zu treten. Noch einmal zuckte das Bild durch Max‘ Kopf, als er nach unten geblickt hatte und Luciens dunkelroten Haarschopf sah, nachdem er die technischen Geheimnisse des Reißverschlusses gemeistert hatte. Dann der erste Blick auf Robin, als er gewandelt auf dem Boden des Badezimmers lag. Und gerade eben, als er sich mit einer zunächst für ihn peinlichen Erektion von Lucas gelöst hatte, hatte er automatisch zu Boden gesehen, war aber auf halben Weg an der riesigen Beule in Lucas‘ Boxershorts hängen geblieben. Der Anblick hatte ihn nur noch mehr erregt und ihm auch ein wenig Angst gemacht. Was würde ihn dort oben erwarten? So, wie er es sah, warteten dort Zuneigung und bestimmt eine Menge Spaß.

Grinsend machte sich Max auf den Weg nach oben.


Die Weihnachtstage verliefen ziemlich ruhig. Robins Geburtstag wurde am ersten Abend dann gebührend durch ein Festessen gefeiert. Kevin, Lucien und Tobias hatten die Küche belagert und die klassische Ente durch selbstgemachte asiatische Gerichte ersetzt. Alle waren begeistert, auch Max, der allerdings ein kleines Problem mit dem Sitzen hatte. Er hatte sich am Morgen wohl etwas zu sehr seiner Begeisterung für die Mitglieder des Rudels hingegeben.

Am nächsten Morgen war es auch Max, der unangemeldet in das große Zimmer stürmte. Abrupt bremste er, als er merkte, dass er wohl einen sehr unpassenden Moment für sein Eindringen gewählt hatte. Lucas ließ sich resignierend zurücksinken, während Kevin davon ausging, dass Max erstens schon alles gesehen hatte, was es zu sehen gab und zweitens ganz sicher einen triftigen Grund hatte, so hereinzuplatzen.

„Also?“

Max sammelte sich und gab eine kurze Meldung ab.

„Die Zentrale Datenbank hat ihre Ergebnisse geschickt. Es gibt vier Treffer. Sie haben die Akten und die letzten Bilder mitgeschickt.“

„Ha, sehr gut. Bereite alles vor. In zehn… nein, zwanzig Minuten Besprechung im Wohnzimmer für alle.“

Max drehte sich um und verließ den Raum, wobei er im Hintergrund hörte

„Los, hoch mit dir. Duschen und dann nach unten.“

„Ich bin hoch.“

„Nicht schon wieder der alte Gag!“


Kevin und Lucas waren nicht die letzten, diesmal waren es erstaunlicherweise Michael und Rafael. Max war froh, dass er bei den beiden vorher geklopft hatte.

„So, Leute. Max hat die Ergebnisse der Datenbank. Es gibt, soviel ich gehört habe, vier Treffer, die wir einzeln durchgehen werden. Bitte, Max.“

Kevin lehnte sich wieder zurück und betrachtete die Daten, die Max jetzt mit einem Beamer auf die freie Wand im Wohnzimmer warf.

„Wir haben vier in Frage kommende Personen. Der erste ist Christoph Harms, geboren 1964 in Hamburg. Astralmagier. Hat 1983 nach der schulischen Ausbildung gekündigt. Wurde 30 Jahre überwacht, dann wurde die Überwachung gelockert und 2015 ist er ihnen entwischt. Aufenthaltsort unbekannt.“

„Na, toll. Glauben die etwa, nach 30 Jahren kann man nichts mehr anstellen oder hat alles verlernt?

„Der zweite ist Christoph Langlütjen, geboren 1966 in Köln. Bannmagier. Komplette Ausbildung durchlaufen, danach Einsatz in der 2. Kompanie, drittes Bataillon des deutschen Regimentes. Ist 1997 Opfer eines Verkehrsunfalles geworden. Begraben auf dem Kölner Melaten-Friedhof.“

Rafael grunzte missbilligend.

„Sehr praktisch. Hat das jemand nachgeprüft?“

Max zuckte die Schultern und fuhr fort.

„Dritter Kandidat. Christoph Raue-Berger. Geboren 1967 in Neumünster. Nicht ausgebildeter Elementar. Hat sich nach dem Erstkontakt für eine Ausbildung beworben, wurde aber nicht angenommen. Das psychologische Gutachten lautete auf ‚geistig nicht stabil genug‘. Wurde 1984 mit einem Block versehen und 20 Jahre überwacht. Erst nach unserer Anfrage wurde bemerkt, dass er nicht mehr überwacht wird und sein Aufenthaltsort unbekannt ist.“

Lucien saß mit offenem Mund da.

„Wie? Die stellen die Überwachung bei einem unausgebildeten Elementar ein? Sind die bekloppt? Selbst mit einem Block kann der Typ zur wandelnden Zeitbombe werden.“

Kevin hatte ebenfalls nur mit dem Kopf geschüttelt und sich Notizen zu den einzelnen Fällen gemacht.

„Und zum Schluß Christof Schneider, geboren 1968 in Freiburg/Breisgau. Bannmagier. Hat nach über zwanzig Jahren Dienst in einer aktiven Einheit ohne Angabe von Gründen gekündigt, seinen Partner verlassen und ist bereits damals der Überwachung entkommen. Wird seit 2010 bis heute gesucht.“

„Ich fasse es nicht. Pennen die da alle? Das sind doch alles ungeklärte Fälle. Wird den Sachen denn nicht nachgegangen?“

Michael wedelte mit einer Hand und deutete dann auf die Projektion.

„Wenn ich mich recht erinnere, liegt das in der Verantwortung der Personalabteilung.“

Max nickte.

„Jep. Gehört zu G1, der Personalabteilung. Die machen dort eine sogenannte Reservistenüberwachung. Damit sind alle latenten oder ausgebildeten Magier gemeint, die nicht einer aktiven Einheit angehören.“

Kevin machte weiter seine Notizen und unterbrach dann die beiden.

„Egal, da können wir im Moment nichts dran ändern. Wir müssen uns um die vier Personen kümmern, deren Unterlagen wir bekommen haben.“

Lucas hob die Hand, wie in der Schule und Kevin nickte ihm amüsiert zu.

„Also, zu einem kann ich, glaub‘ ich, was beitragen. Raue-Bergers sind alter Landadel aus der Gegend um Neumünster. Also nicht wirklicher Adel, aber so’ne Art Landjunker. Die Familie ist im weiteren Umkreis bekannt. Ich kann mich erinnern, dass es 2010 oder 2011 auf dem Gutshof der Raue-Bergers ein großes Feuer gegeben hat, bei dem wohl mehrere Menschen gestorben und ein Gebäude bis auf die Grundmauern abgebrannt ist.“

„Du meinst, das könnte der unausgebildete Elementar gewesen sein? Ich dachte, den hätten sie mit einem Block versehen.“

Michael sah hinüber zu Lucien, doch der zuckte nur mit den Schultern. Dann sah er zu Kevin.

„Ein Gedankenblock verhindert, dass jemand bestimmte Gedankengänge verfolgt. Es ist ja nicht so, dass einem das Gehirn ausgebrannt wird. Durch bestimmte Reize oder Hinweise kann derjenige seine Fähigkeiten möglicherweise neu entdecken und sie dann wieder anwenden, wenn die Gedankengänge, die dahin führen, andere sind als die, die blockiert wurden. Aber das ist der Führungsebene doch alles schon bekannt.“

Kevin seufzte, schrieb weiter und wandte sich dann an Max.

„Versuch bitte, etwas über den Brand und die darin verwickelten und dabei umgekommenen Personen herauszufinden.“

Max nickte und fing ebenfalls an, sich Notizen zu machen.

„Können wir eigentlich bei dem Typen auf dem Zentralfriedhof eine Exhumierung beantragen?“

Lucien hob seine Hände, als sich alle ihm zuwandten.

„Ist ja gut, war ja nur eine Frage.“

Pater Anselm sah ihn etwas missbilligend an.

„Die Störung der Totenruhe ist eine sehr ernste Angelegenheit. Ohne einen Gerichtsbeschluss werden wir da nichts. Und um den zu bekommen, müssten wir uns wirklich einen sehr triftigen Grund einfallen lassen. Nichts, was wir bis jetzt haben, könnte so etwas rechtfertigen.“

„Außerdem ist das zwanzig Jahre her. Was glaubst du, was von dem übrig ist?“

Diesmal traf der missbilligende Blick von Pater Anselm Robin.

„Gibt es eigentlich aktuelle Fotos von den Leuten. Die Dinger sind ja noch aus der Vorausbildung.“

Rafael betrachtete nachdenklich die letzte angezeigte Datei mit dem Foto eines etwa zwanzigjährigen jungen Mannes.

„Ja, aber nur bei den beiden, die längere Zeit dabei waren. Bei Langlütjen ist das letzte Foto von 1995, bei Raue-Berger von 1984.“

„Wie wär’s mit einer Fotosuche. Ich kann mich erinnern, dass es da ein Programm gibt, in dem die Leute künstlich altern und so dargestellt werden, wie sie heute etwa aussehen.“

Max nickte.

„Ja, age-morphing. Ich kann ja mal versuchen, alle auf den heutigen Stand zu bringen. In verschiedenen Versionen natürlich. Dann lass ich mal wieder eine Suchroutine laufen. Wird ein paar Tage dauern.“

Kevin sah in die Runde.

„Wenn keiner mehr etwas hat, ist die Besprechung erst einmal beendet. Ich werde mich wohl schon mal mit einer Zusammenfassung unserer Erkenntnisse befassen. Ich glaube nicht, dass unseren Chef das besonders belustigen wird.“


Vier Tage später saßen alle wieder um den Esstisch herum und Max begann mit seinem kurzen Vortrag.

„Ich habe tatsächlich mit den gemorphten Bildern einen Treffer erhalten. Es handelt sich um Christof Schneider, also den Bannmagier, der sang- und klanglos Heim und Hof verlassen hat. Er ist in Thailand registriert worden, als er dort eine Geschlechtsumwandlung hat durchführen lassen.“

Ungläubige Blicke trafen Max, während Lucien belustigt aufquiekte.

„Ha. Da hat es aber einer ernst gemeint.“

Kevin schüttelte nur den Kopf.

„Keine Kommentare, bitte. Max, ist die Personalabteilung informiert worden?“

„Ja, hab‘ ich gleich erledigt. Damit bleiben uns also nur noch drei Verdächtige. Ich gebe mal als erstes die Bilder von diesem Christoph Harms an die Wand.“

Auf der Projektionsfläche erschienen acht Bilder von derselben Person in verschiedenen Versionen. Die auffälligsten Unterschiede waren die Haare und ein eventuell vorhandener Bart.

Nach einer Weile schüttelte Robin den Kopf.

„Wie sollen wir jemanden wiedererkennen, den nicht einmal eine Datenrecherche im Internet gefunden hat? Das ist doch sinnlos.“

„Nicht unbedingt. Ihr habt doch alle relevanten Dateien durchgearbeitet. Da kann es sein, dass das Unterbewusstsein noch einmal zuschlägt.“

Robin bedachte Max mit einem indignierten Blick, dann seufzte er.

„Also gut. Der Nächste, bitte.“

Alle lachten, bis die nächsten acht Bilder erschienen.

„Christoph Langlütjen aus Köln. Der mit dem tödlichen Verkehrsunfall.“

Wieder ein langes Starren auf die Wand. Max wollte gerade zum nächsten übergehen, als Rafael ihn aufhielt.

„Moment. Haben wir eigentlich noch die Überwachungsaufnahmen von der Tiefgarage. Max?“

„Äh, ja klar. Warum?“

„Wir haben uns hauptsächlich auf die ein- und ausfahrenden Fahrzeuge und deren Insassen konzentriert. Ich weiß, es gab da immer einen Typen der morgens mit einem Besen ankam und abends Mülltonnen geleert hat. Der sah so ähnlich aus wie das zweite Bild von oben, links.“

Im Hintergrund hörte man Lucien mit Tobias flüstern.

„Wie, der kam mit einem Besen? Geflogen?“

„Nein, zum Kehren, du Knallkopp.“

Max arbeitete bereits an seinem Laptop und nur kurze Zeit später erschien ein zweites Bild neben den Fotos an der Wand. Hier lief eines der Überwachungsvideos und Max betätigte den schnellen Vorlauf, bis ein Mann mit einem Besen in der Hand erschien und den Eingangsbereich fegte. Ein vorbeifahrendes hupendes Auto veranlasste ihn zum Hochsehen und Max hielt das Video an. Das Gesicht war gut zu erkennen und die Jungs um den Tisch verglichen das Aussehen mit den Fotos.

„Mein Gott, wir haben ihn!“


Kevin hatte einen langen Bericht an ihren Abteilungsleiter verfasst und sich dabei gefragt, warum man eigentlich für eine solche Arbeit unbedingt Magier brauchte. Das hätten ein paar IT-Spezialisten genauso gut hinbekommen.

Doch dann wurde ihm klar, dass möglicherweise nur Magier die Gefühle und Gedankengänge anderer Magier nachvollziehen konnten, ganz zu schweigen von einer Einschätzung der Fähigkeiten eines Magiers.

Die Antwort auf den Bericht kam ein paar Tage später, allerdings in anderer Form, als Kevin es erwartet hatte.

Als Max diesmal in das große Zimmer kam, sah es deutlich ruhiger aus, als beim letzten Mal. Kevin saß am Rechner und spielte ein Computerspiel. Lucas saß auf der Couch und las ein Buch, dass er in seiner rechten Hand hielt. Robin lag in seiner Wolfsgestalt ebenfalls auf der Couch und ließ sich von Lucas mit dessen linker Hand das Fell kraulen.

„Kevin, ein Bildgespräch für dich, bei mir drüben an der Zentralkonsole.“

Kevin sah erstaunt hoch, speicherte ab und folgte Max.

Im Ankleidezimmer stand ein großer Schreibtisch, der mit mehreren Monitoren und jeder Menge anderem Equipment gnadenlos vollgestellt war. Auf einem der Monitore mit einer Webcam war ein älterer Mann zu sehen, den Kevin sofort wiedererkannte, obwohl er ihn bisher nur einmal kurz gesehen hatte. Generalmajor Hofstätter war der Kommandeur der Division Westeuropa. Schnell nahm er vor dem Monitor Platz.

„Leutnant Böttcher, Herr General.“

„Herr Böttcher, ich möchte es kurz machen. Ich habe auf dem Dienstweg Ihre Meldung über den entdeckten abtrünnigen Bannmagier erhalten. Der G-2 war völlig richtig der Meinung, dass Ihre Entdeckung mehrere Abteilungen betrifft und hat die Meldung an mich weitergereicht. Zunächst darf ich Ihnen schon einmal sagen, dass es in der Personalabteilung in Kürze ein paar Umstrukturierungen geben wird. Aber das ist nicht der Grund, warum ich sie anrufe. Der Einsatz gegen einen ausgebildeten Bannmagier könnte etwas anders aussehen und schwieriger werden, als unsere normalen Einsätze. Deshalb habe ich mit dem G-2 abgesprochen, dass Sie, wenn Sie alle Informationen zusammen haben und der Verdacht einer Toröffnung oder auch nur beabsichtigten Toröffnung sich bestätigt, mit Ihrer Truppe die Nahaufklärung machen sollen. Sie kennen die Örtlichkeiten und die in Frage kommenden Personen inzwischen am besten. Bei einer Feindberührung, egal welcher Art, können Sie sofort auf das Einsatzbataillon II des deutschen Regiments zurückgreifen. Das Bataillon ist rund um Aachen stationiert und der Kommandeur, Oberstleutnant deBoer, ist bereits informiert. Ich kann Ihnen ebenfalls mitteilen, dass das Oberkommando und der Exekutivrat unserer Organisation zutiefst besorgt sind, dass ein abtrünniger Magier es soweit schaffen konnte. Es wird von Ihnen erwartet, dass Sie diesen Fehler so unauffällig und umfassend wie möglich korrigieren. Haben Sie dazu noch Fragen?“

Kevin war bei der kurzen Rede fast in sich zusammengesackt, doch er hielt sich tapfer. Ob er noch Fragen habe? Jede Menge, wollte er schreien, doch es reichte gerade zu einem „Keine Fragen, Herr General.“

„Sehr gut, dann möchte ich kurz noch mit Herrn Harder sprechen.“

Kevin musterte erstaunt Max, der sich mit roten Ohren vor dem Bildschirm niederließ.

„Hallo, Max. Ich soll dir nur ein paar liebe Grüße von deinem Vater ausrichten.“

„Vielen Dank. Ebenfalls Grüße zurück. Und gib ihm einen Kuss von mir.“

Damit erlosch der Bildschirm und Kevin musterte Max mit durchdringenden Blicken. Das Rot der Ohren erfasste nun das gesamte Gesicht von Max, dann seufzte er ergeben.

„Okay, ich hätte es schon viel früher sagen sollen, aber der Partner von Generalmajor Hofstätter, also der Kampfmagier, ist Generalmajor Harder, mein Adoptivvater.“

Köln, Deutschland, Anno Domini 2017

Sebastian saß auf der großen Treppe, die von der Domplatte hinunter in Richtung der Altstadt führte und beobachtete die Passanten. Mit der linken Hand drückte er ein nicht mehr ganz sauberes Taschentuch auf die Platzwunde an seiner Augenbraue. Aus den Reihen der Vorübergehenden traf ihn mehr als ein merkwürdiger Blick. Seine dicke Winterjacke war auf der linken Seite voller Blut. Das Gesicht war verschrammt und das Taschentuch hatte auch schon eine satte rote Färbung angenommen. Vor sich, zwischen den Füßen, hatte Sebastian seine Schultasche abgestellt. Der Tag war dumm gelaufen, aber so schlimm hatte er es sich nicht vorgestellt.

Mit der Platzwunde konnte er auch nicht so einfach nach Hause gehen. Was heißt nach Hause. Zurück ins Heim. Schwester Bonifatia würde mal wieder einen Riesenaufstand machen.

Dabei hatte alles ganz harmlos angefangen. Biologie, Sexualkunde. Formen der Sexualität.

Während des Unterrichts lief ja alles noch ganz gesittet ab, abgesehen von ein paar Bemerkungen über Schwule und viel Gekicher. In der Pause kam das Thema natürlich wieder auf die Tagesordnung. Robert war der informelle Führer der Klasse. Mit den zwei Bodyguards aus seiner Klasse war er auf dem Schulhof der King. Was man von seinen schulischen Leistungen nicht gerade behaupten konnte.

„Beim Führer sind die Schwulen alle vergast worden. Heute geht das ja leider nicht mehr, aber wer mich anfasst, den bring ich um.“

„Wie kommst du drauf, dass dich einer anfassen wollte?“

Kurz und trocken hatte Tanja das Wesentliche auf den Punkt gebracht. Alles ringsherum lachte. Robert lief rot an.

„Du weißt was ich meine. Ich meine jemanden, der nach dem Sport beim Duschen immer auf die nackten Ärsche und die Schwänze glotzt.“

Jetzt lief Sebastian rot an. Es hatte also doch jemand gemerkt. Doch Tanja ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

„Selbst wenn jemand guckt, na und? Hast du was zu verstecken oder muss man nur sehr genau hinschauen, um was zu entdecken?“

Wieder waren die Lacher auf Tanjas Seite, doch Robert ließ nicht locker.

„Und irgendwann grabscht der mich an. Niemals. Vorher mach ich ihn alle.“

Und noch bevor irgendjemand reagieren konnte, war Robert zwei Schritte vorgetreten und schlug Sebastian mit der Faust ins Gesicht. Alle ringsum erstarrten, doch dann stürzten sich zwei von Sebastians Klassenkameraden auf Robert. Dessen Bodyguards merkten erst jetzt, dass etwas im Gange war und versuchten Robert zu retten. Innerhalb von zwei Minuten war die schönste Keilerei im Gange.

„Hier, ich glaube du musst zum Arzt.“

Tanja reichte dem am Boden liegenden Sebastian ein Taschentuch. Alles war so schnell gegangen, dass er erst jetzt den Schmerz über seinem Auge spürte. Jetzt spürte er auch etwas Warmes an seinem Kopf herunter laufen. Tanja wischte das Blut ab und presste das Taschentuch auf die Wunde.

„Schön festhalten.“

Dann zögerte sie etwas.

„Sag mal, stimmt das, dass du schwul bist?“

Sebastian sah sie entgeistert an. Dann rappelte er sich auf. Sein Blick fiel auf seine Schultasche, die er mit auf den Hof genommen hatte, weil er für die nächsten Stunden den Klassenraum wechseln musste. Schnell griff Sebastian die Tasche und rannte los. Mit der Linken das Taschentuch über das Auge gepresst, in der Rechten die Schultasche und mit Tränen in den Augen lief er los, so schnell er konnte. Tanja rief ihm noch etwas hinterher, aber das hörte er schon gar nicht mehr.


Sebastian saß ziemlich ratlos da. Was sollte er denn jetzt machen? Bestimmt hatte die Schule im Heim angerufen und dann konnte er sich da auch nicht mehr blicken lassen.

Es war inzwischen Mittag geworden und das bisschen Februarsonne wärmte nicht wirklich. Sebastian fror und bekam allmählich Hunger, doch ohne Geld gibt es auch nichts zu Essen. Er beobachtete weiter die Fußgänger. Da fielen ihm zwei junge Männer mit einem Hund auf. Der Hund sah fast so aus wie ein Husky, jedoch mit einem grau-gelben Fell und solch einen großen Husky hatte Sebastian auch noch nie gesehen. Er beobachtete weiter den Hund und stellte fest, dass er ohne Leine lief, aber immer bei den beiden Männern blieb. Die beiden waren wohl so Anfang zwanzig. Der eine schlank und dunkelblond, der andere groß und deutlich breiter mit kurzen roten Haaren. Beide trugen dicke Jacken und schwarze Cargo Pants.

Ganz in Gedanken merkte Sebastian nicht, wie sich von hinten jemand näherte.

„Da ist ja die kleine Schwuchtel!“

Sebastian erstarrte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Robert hier auftauchen würde.

„Na, suchst wohl noch jemanden, der dir sein Ding in den Arsch schiebt.“

Sebastian suchte verzweifelt nach einem Ausweg, aber Roberts beide ewigen Begleiter hatten ihn an das Treppengeländer gedrängt. Bei dem Gerangel wurde gegen seine Schultasche getreten, die am Fuß der Treppe einen Teil ihres Inhaltes über die Stufen verteilte.

„Na, was ist? Redest wohl nicht mehr mit mir? Lässt wohl lieber Taten sprechen?“

Sebastian hatte sich in sein Schicksal ergeben. Er hatte die Augen geschlossen, den Kopf gesenkt und erwartete den ersten Schlag, als hinter ihm eine Stimme ertönte.

„Gibt es ein Problem?“

Sebastian öffnete wieder die Augen und drehte sich um. Hinter ihm standen die beiden jungen Männer mit ihrem Hund. Der kleinere, dunkelblonde stand mit dem Hund kurz vor Robert, während der große, rothaarige das aufgeschlagene Lateinbuch von der Treppe sammelte.

„Quidquid agis, prudenter agas et respice finem“, deklamierte der Rothaarige auf den Treppenstufen.

Sebastian musste wider Willen grinsen, nur Robert war sichtlich verunsichert, blickte hinüber zu dem Rothaarigen und dem Zitat, das er nicht verstanden hatte, dann wieder zurück auf den Blonden.

„Äh, nein. Das hier ist eine Privatsache.“

„Das scheint mir aber nicht so. Den Kommentaren nach zu urteilen, seid ihr nicht gerade einer Meinung, was die sexuellen Präferenzen anbetrifft.“

Sebastian wurde gleichzeitig rot und musste schon wieder grinsen. Die beiden hatten also mitbekommen, was Robert zu ihm gesagt hatte. Das war peinlich, aber nicht zu ändern.

Robert hingegen machte ein ratloses Gesicht.

„Sexuelle- was?“

Der Dunkelblonde hatte ein falsches Lächeln aufgesetzt. Er ging noch näher heran und blieb so dicht vor Robert stehen, dass dieser automatisch zurückwich.

„Sexuelle Präferenzen. Das ist die Vorliebe, mit der man seinen Schwanz in andere Leute steckt. Und mit Verlaub, es geht euch einen Scheißdreck an, wer seinen wo reinsteckt. Wenn das alles war, was ihr heute noch vorhabt, dann dürft ihr jetzt gehen.“

Robert schluckte. Er wollte wohl noch etwas sagen, verstummte aber, als neben ihm der Hund anfing laut zu knurren. Wortlos drehte er sich um und winkte seinen beiden Kumpanen. Zögernd trotteten sie hinter ihm her. Nach etwa fünf Metern drehte sich Robert noch einmal um.

„Wir sehen uns noch, Schwuchtel. Und dann alleine.“

Sebastian schüttelte den Kopf. Dann drehte er sich zu seinen beiden Rettern.

„Ich muss mich dann wohl bedanken. Es wäre aber nicht nötig gewesen.“

Der Rothaarige sah Sebastian erstaunt an.

„Nicht nötig? Hast du schon mal in den Spiegel gesehen. Das sieht jetzt schon nicht gut aus. Was glaubst du, wie du ausgesehen hättest, wenn die mit dir fertig gewesen wären.“

Sebastian erschauderte. Daran wollt er lieber gar nicht denken.

„So, wir werden dich erst mal ein bisschen verarzten. Ich bin übrigens Lucas, das ist Kevin und der da ist Robin.“

Sebastian stellte sich vor, gab Lucas und Kevin die Hand und beugte sich dann auch zu Robin hinunter. Der saß schweifwedelnd neben Kevin und hob die rechte Pfote.

„Der ist ja richtig dressiert. Aber Robin ist schon ein seltsamer Name für einen Hund.“

Robin legte den Kopf schräg und knurrte einmal kurz.

„Er mag es nicht, wenn jemand über seinen Namen meckert. Wir haben uns an ihn gewöhnt. Und außerdem, konntest du dir deinen aussuchen?“

Sebastian sah den Hund noch einmal an. Es schien, als ob dieser ihm zulächeln würde. So ein Unsinn. Hunde können nicht lachen.

„Dann komm mal mit. Das mit deinem Auge kann so nicht bleiben.“

Sebastian folgte den beiden, bis sie ein paar Querstraßen weiter eine Tiefgarage betraten. Mit einem rückversichernden Blick auf die überwachenden Videokameras folgte er ihnen weiter bis ins dritte Parkdeck. Das Auto war ein silbergrauer SUV mit Hamburger Nummernschild. Lucas öffnete die Heckklappe und holte einen großen Erste-Hilfe-Koffer heraus.

„Bist du Arzt?“

Sebastian merkte erst jetzt, dass er die beiden automatisch geduzt hatte. Das hätte wieder einen Anschiss von Schwester Bonifatia gegeben.

„Nein, ich habe nur ziemlich gut bei der Erste-Hilfe-Ausbildung aufgepasst.“

Lucas hatte, bevor er den Koffer öffnete, seine Jacke ausgezogen. Darunter trug er nur ein eng anliegendes gelbes T-Shirt und Sebastian starrte sekundenlang auf die darunter spielenden Muskeln. Kevin sah Lucas kurz an und der stupste Sebastian an.

„Setz dich mal da hin und halt still.“

Sebastian zog seine Jacke aus und setzte sich auf die Ladefläche des Kombi, dann ließ er das kurze Verarzten über sich ergehen. Er zuckte nur einmal kurz, als die Wunde desinfiziert wurde.

„Gut, kann so bleiben. Eigentlich müsste das genäht werden, aber ich glaube nicht, dass du unbedingt ins Krankenhaus möchtest. Gibt jetzt allerdings eine Narbe.“

Sebastian nickte nur. Und was jetzt? Er konnte ja schlecht bei den beiden bleiben. Obwohl, so schlecht sahen die beiden gar nicht aus, besonders Lucas. Solche Muskeln hätte Sebastian auch gerne gehabt. Er hüpfte von der Ladefläche und zog seine Jacke wieder an.

„Sollen wir dich nach Hause bringen?“

Mist. Was sag ich jetzt bloß?

„Nein, danke. Nicht notwendig. Ich finde den Weg auch schon alleine.“

„Auch wenn deine etwas intoleranten Freunde unterwegs auf dich warten?“

Daran hatte Sebastian schon gar nicht mehr gedacht. Richtig, sie wussten, wo er wohnte. Und irgendwann würde er nach Hause gehen müssen.

„Ja, gut. Aber jetzt noch nicht. Ich wollte sowieso noch ein bisschen einkaufen.“

„Wir werden dich gerne begleiten.“

Sebastian seufzte. Dann machte er runde Augen. Lucas hatte gerade den Erste-Hilfe-Koffer im Wagen verstaut, als sich Kevin zu ihm herüberbeugte und in aller Öffentlichkeit einen Kuss auf die Wange gab. Na gut, ein Parkhaus ist nicht gerade die Öffentlichkeit, aber es hätte jeder sehen können, der vorbeigegangen wäre.

„Hast du wieder gut gemacht.“

Waren die beiden etwa auch...? Sebastians Gedanken machten wilde Sprünge, bis Kevin ihm auf die Schulter klopfte.

„Was hältst du davon…“

Plötzlich hob Lucas die Hand und sah sich suchend um, bis sein Blick leicht schräg nach unten fiel.

„Irgendetwas stimmt hier nicht. Kann sein, dass sich hier gerade ein Anker bildet. Da unten.“

Kevin sah ihn nur kurz an, ging zum Heck des Wagens und nahm zwei Sporttaschen heraus. Nach einer kurzen Orientierung blieb sein Blick beim Aufzug hängen. Kevins Gesicht hatte sich deutlich verdüstert, ebenso das von Lucas. Sebastian wunderte sich über die plötzliche Ernsthaftigkeit der beiden. Selbst Robin schien außergewöhnlich wachsam. Im Aufzug studierte Kevin die Knöpfe der einzelnen Etagen. Es gab zwei Knöpfe mit den Zahlen der oberen Parketagen, einen mit einem E für das Erdgeschoss und vier weitere mit K1 bis K4. Sie selbst befanden sich auf K2. Alle Knöpfe waren erleuchtet, bis auf K4. Der Druckknopf war herausgebrochen und die Drähte dahinter waren zu sehen. Kevin sah etwas ratlos in das Gewirr. Sebastian zögerte einen Moment, dann zog er aus seiner Jacke ein Etui heraus und entnahm eine kleine Pinzette. Damit arbeitete er kurz in dem kleinen Loch, bis es leise klickte und der Fahrstuhl sich nach unten in Bewegung setzte

Auf Kevins fragenden Blick zuckte Sebastian fast entschuldigend mit den Schultern.

„Ich bastle gerne. Unter anderem mache ich Modellbau. Dafür brauche ich Pinzetten und anderes kleines Werkzeug.“

Sebastian wurde in seinen Ausführungen unterbrochen, als der Fahrstuhl auf K4 ankam und die Türen sich langsam öffneten. Wie ein Blitz schoss Robin aus der Tür und drehte sich im Kreis, dann blieb er ruhig stehen. Lucas und Kevin folgten langsam. Sebastian kam unschlüssig aus dem Aufzug und hinter ihm schlossen sich wieder die Türen.

Lucas drehte sich langsam im Kreis, fast wie Robin zuvor.

„Hier ist irgendwas. Ein Tor hat sich geöffnet. Gib Alarm. Die sollen auch das Bataillon abrufen. Wir bleiben hier und…“

Da fiel sein Blick auf Sebastian und er fluchte leise.

„Was machen wir mit ihm?“

„Er muss bei uns bleiben. Wir können ihn jetzt nicht alleine nach oben schicken. Wir sichern von hier aus. Robin muss die Nahaufklärung machen, damit uns niemand in den Rücken fällt.“

Kevin zog ein Handy aus der Tasche. Mit kurzen Worten schilderte er die Lage. Sebastian sah ihm staunend zu. Wo war er denn jetzt hineingeraten. Etwas verwirrt sah er zu Lucas, der sich suchend nach einer Sicherheitskamera umsah. Dort, wo in den oberen Etagen jeweils eine angebracht war, ragten hier nur ein paar Kabelenden aus der Betonwand. Richtig große Augen machte er allerdings, als Lucas seine Sporttasche öffnete und einen Stapel schwarzer Sachen herausholte. In wenigen Sekunden hatte er sich vollkommen nackt ausgezogen und zwei Minuten später stand er in einem hautengen Anzug da, an den er jetzt verschiedene Platten anheftete. Der einzige Farbfleck war ein gelber Streifen auf der Brustplatte. Dann fiel Sebastians Blick auf Kevin, der direkt neben Lucas vollkommen nackt in seiner Sporttasche wühlte. Sebastian wurde es jetzt wirklich heiß in seinem dünnen T-Shirt. Außerdem klemmte gerade etwas ganz fürchterlich in seinen Jeans.

„Was wird denn das hier?“

Lucas drehte sich um und sah Sebastian ernst an.

„Das hier ist kein Spiel. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes todernst. Bleib hinter uns. Und wenn etwas Unvorhergesehenes passieren sollte, lauf so schnell du kannst zurück zum Aufzug.“

Sebastian sah Lucas mit offenem Mund an. Der Anzug, den die beiden jetzt trugen, hätte gut in jeden Science-Fiction-Film gepasst.

Kevin war inzwischen etwas voraus gegangen und sah vorsichtig um einen der breiten Pfeiler.

„So ein Mist. Hier ist ein Durchgang. Wir bräuchten mindestens eine ganze Gruppe. Wann ist der Rest hier?“

Lucas eilte zu ihm und Sebastian hinterher. In einer der Ecken der unteren Parketage war die Wand herausgebrochen worden. Betonbrocken lagen über mehrere Meter verstreut auf dem Boden. In der Wand klaffte ein Loch von etwa 2 mal 2 Metern. Hinter dem Durchbruch konnte man einen Gang erkennen, der anscheinend mit Holzbalken abgestützt und seitlich mit Bohlen gesichert war. Im Hintergrund konnte man gemauerte Bögen erkennen.

Kevin peilte vorsichtig durch die Lücke um die Ecke.

„Hinten ist ein stillgelegter U-Bahnschacht oder so etwas Ähnliches. Hoffentlich sind die Jungs rechtzeitig hier. Das sieht so aus, als ob das hier schon einige Zeit existiert.“

„Die brauchen gut eine halbe Stunde. Das Bataillon braucht fast zwei Stunden bis…“

Lucas wurde durch ein schauriges Geheul unterbrochen, das durch den Gang dröhnte. Ein auf- und abschwellen wie bei einer Sirene, nur tiefer.

„So ein Mist, ein Gothmar.“

Mit Erstaunen bemerkte Sebastian wie Kevin sich zu Lucas vorbeugte und ihm einen Kuss gab. Das schien hier ja jetzt alle paar Minuten zu passieren. Lucas hätte er auch mal gerne geküsst. Doch dann drehte sich Kevin zu Sebastian um.

„Was immer jetzt gleich auch passiert. Wenn du es überleben solltest, darfst du niemandem, aber auch wirklich niemandem etwas darüber erzählen. Erstens würden dich sowieso alle für bescheuert halten und zweitens, na ja, wirst ja selber sehen. Und noch was. Egal was du gleich siehst, sei weiterhin nett zu Robin.“

Sebastians Blick suchte automatisch den Hund, der zwei Meter neben ihm stand. Als die Verwandlung begann, konnte Sebastian nicht glauben was er sah, aber innerhalb von fünf Sekunden stand ein riesiges zähnefletschendes Monstrum neben ihm. Er wusste sofort, was es war, konnte es aber trotzdem kaum glauben.

Das Heulen aus dem Gang kam näher.

„Sebastian, glaubst du an den Teufel?“

Sebastian schüttelte wortlos den Kopf. Schwester Bonifatia schoss ihm durch den Kopf und ihre Version, wie man den armen Kindern die ‚wahre Christenlehre‘ beibrachte.

„Solltest du aber besser, denn du wirst gleich einen zu sehen bekommen.“

Sebastian hatte die Worte noch gar nicht ganz verarbeitet, als eine Gestalt am Ende des Ganges erschien und in gebückter Haltung mit schnellen Schritten näher kam. Dieses Wesen war deutlich über zwei Meter groß und mit dichtem dunkelrotem Fell bedeckt. Es lief auf zwei Beinen mit großen Hufen. Zwei Arme endeten in Händen mit langen, offensichtlich scharfen Krallen. Doch der Kopf war das Schlimmste. Ähnlich wie der Kopf einer Ziege hatte er ein vorspringendes Maul, das allerdings hier mit handlangen nadelspitzen Zähnen bestückt war. Auf dem Kopf waren zwei wie bei einem Widder eingerollte Hörner.

Sebastian starrte das Wesen mit offenem Mund an. Lucas fing an, unverständliche Sprüche zu murmeln und Robin grollte im Hintergrund.

Der Gothmar hatte jetzt die Eindringlinge bemerkt und fing an schneller zu laufen. Er stürmte etwas schwerfällig auf den Durchbruch zu. Lucas und Kevin wichen behände beiseite und Sebastian spürte, wie er von Robin nach hinten gedrückt wurde.

Der Gothmar merkte, dass er an seinem Ziel vorbeigeschossen war und drehte sich um. Aus seinen kleinen Augen musterte er Lucas und Kevin. Er schien sich nicht sicher zu sein, wer wohl gefährlicher war und sein Kopf pendelte hin und her. In diesem Moment lösten sich grüne Blitze aus Kevins Fingerspitzen und trafen den Gothmar in den rechten Arm. Er schrie auf und wirbelte herum. Darauf hatte Lucas gewartet. Er streckte den linken Arm aus und eine blaue Linie wanderte hinüber zum Gothmar, um sich dort als fahles blaues Leuchten um seinen Kopf zu legen. Sofort wurden die Bewegungen langsamer und der Gothmar schien verwirrt. Jetzt hatte Kevin ein ruhigeres Ziel und ein weiterer grüner Blitz traf den Kopf des grausigen Wesens. Das blaue Leuchten, das Lucas verursacht hatte, verschwand und der Gothmar schrie wieder auf mit diesem tiefen Ton wie aus den Abgründen der Hölle.

Sebastian sah mit Entsetzen, dass der Gothmar herumwirbelte und um sich schlug wie von Sinnen, aber die Schläge waren völlig ungezielt und zufällig. Anscheinend hatte er Orientierungsschwierigkeiten. Robin stand lauernd neben dem Dämon und lauerte auf eine Gelegenheit um anzugreifen. Und wieder lösten sich grüne Blitze aus Kevins Fingern. Diesmal trafen sie den anderen Arm.

Um den Gothmar in Bewegung zu halten, stürmte jetzt Robin vor und verbiss sich im rechten Unterarm des Wesens. Er wurde durchgeschüttelt wie ein Terrier. Der Gothmar erhob den linken Arm um den Werwolf mit seinen langen Klauen zu bekämpfen, aber da traf ihn ein orangefarbiger Blitz in den linken Arm der daraufhin schlaff herabfiel.

Jetzt zuckte ein letzter grüner Blitz in Richtung des Kopfes. Nach diesem Treffer sank das Wesen langsam in sich zusammen und blieb dann regungslos am Boden liegen. Robin ließ ihn los und hinkte langsam beiseite. An seinem linken Oberschenkel klaffte eine lange Fleischwunde.

Lucas war sofort bei ihm. Sebastian kam nur langsam näher. So ganz traute er dem großen Werwolf nun doch nicht.

„Die Wunde schließt sich gleich von alleine, aber ich muss dir eine Injektion geben.“

Lucas sprach langsam und deutlich mit dem Werwolf, als ob der ihn nicht richtig verstehen könnte.

Der Werwolf nickte und Sebastian wurde erneut mit einer Verwandlung konfrontiert. Jetzt sah er Robin völlig erstaunt an. Er hätte alles Mögliche erwartet, aber nicht einen schlanken dunkelblonden Jungen, höchstens ein oder zwei Jahre älter als er selber, der jetzt splitternackt vor ihm stand.

„Hi, ich bin Robin. Und ich mach‘ sogar Männchen.“

Sebastian lief rot an. Er konnte sich gut an seine Bemerkung über Robins gute Dressur erinnern. Dann war da natürlich auch noch Robins nackte Gestalt, die in Sebastian schon wieder alle möglichen körperlichen Reaktionen auslöste.

„Fertig“, meinte Lucas und zog eine Injektionsnadel aus Robins Kehrseite. Der drehte sich kurz zu Lucas und gab diesem einen Kuss.

„Danke. Aber jetzt muss ich wieder. Bevor noch jemand kommt.“

Sebastian konnte wieder eine Verwandlung zum Wolf erleben. Fast schüchtern beugte er sich vor und streichelte Robin über den Kopf. Der leckte ihm die Hand. Lucas lachte.

„Hey, ihr zwei könnt nachher schmusen. Hier gibt’s noch Arbeit. Ein Gothmar tritt normalerweise nicht alleine auf. Wir müssen auf unser Team warten und dann auf die Kavallerie.“

Sebastian wurde nachdenklich. Er versuchte, das Erlebte einigermaßen zu verarbeiten: Anscheinend hatte er jemanden getroffen, der sich in einen Werwolf verwandeln konnte - Unmöglich. Dann zwei Leute die irgendwelche farbigen Blitze aus ihren Fingern abschossen - Unmöglich. Außerdem schienen die drei auch noch ein eingespieltes Team zu sein und zu guter Letzt waren alle drei auch noch anscheinend schwul. Schon eher möglich, aber trotzdem gab das alles keinen Sinn. Sebastian entschied sich, hier und jetzt zu träumen. Real war das alles nicht. Völlig real hingegen war der leichte Stoß, den Sebastian von der Seite bekam.

„Na, erzähl mal. Warum wolltest du vorhin nicht nach Hause?“

Sebastian wurde kalt überrascht. Daran hatte er überhaupt nicht mehr gedacht. Warum kam denn ausgerechnet jetzt diese Frage. Er überlegte kurz, aber es fiel ihm nicht mehr viel ein.

„Ich habe eigentlich kein richtiges zu Hause. Ich habe nur einen Platz im Heim und das war’s. Keine Eltern, nur ein paar ehrwürdige Schwestern, keine Geschwister, nur eine Horde weiterer unerwünschter Mitbewohner und auch keine Freunde.“

Zum Ende hin war seine Stimme immer leiser geworden. Robin fiepte leise und stieß ihm mit der Schnauze leicht in die Kniekehle. Lucas nickte nur.

„So ungefähr hatte ich mir das vorgestellt. Hört sich fast so ähnlich an wie meine eigene Geschichte, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Aber eine kurze Frage, hast du bei dem Angriff irgendetwas Merkwürdiges gespürt?“

Sebastian sah Lucas verständnislos an.

„Nein, ich habe nur auf dieses Wesen geachtet. Und auf Robin.“

Lucas blickte sich um zu Kevin. Der stand an die Wand gelehnt, war etwas blass im Gesicht und atmete noch etwas schwer.

„Geht’s wieder?“

Kevin nickte.

„Die Fünfer sind etwas anstrengend. Zumindest so viele direkt hintereinander. Was sollte die Frage an Sebastian?“

Lucas schien etwas unentschieden.

„Ich bin mir nicht ganz sicher, aber er hat eine magische Aura.“

Sebastian starrte Lucas entsetzt an. Er hatte genug Rollenspiele gespielt, Fantasyromane gelesen und schlechte Filme gesehen um zu wissen, wovon Lucas sprach.

„Was? Ich? Niemals.“

Lucas lächelte dünn und trat auf Sebastian zu.

„Ich glaub‘ ich weiß es. Robin, komm mal her.“

Schweifwedelnd kam Robin näher und sah zu Lucas auf. Der hielt ihm seine linke Hand hin.

„Beiß mich mal.“

Robin jaulte erstaunt auf und auch Kevin kam jetzt stirnrunzelnd näher.

„Ich weiß, was ich tue. Robin, nur ein bisschen, so dass es gerade blutet.“

Über Kevins Gesicht huschte eine plötzliche Erkenntnis.

„Oh, nein. Nicht wirklich.“

Auch Robin schien es begriffen zu haben, denn ohne zu zögern schnappte er nun nach Lucas‘ linker Hand.

„Aua. Das war etwas mehr als nur ein bisschen.“

Sebastian hatte dem Gespräch gelauscht und es wurde für ihn immer unverständlicher. Warum wollte Lucas unbedingt gebissen werden? Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Lucas ihm die leicht blutende Hand hinhielt.

„Sieh dir die Hand genau an. Versuch einmal, dich speziell auf die Wunden zu konzentrieren.“

Noch heute Morgen hätte Sebastian jeden für komplett bekloppt erklärt, der so etwas mit ihm veranstaltete, doch jetzt betrachtete er zögernd die Hand. Dabei entging ihm das leichte orangefarbige Glühen, das Lucas über ihn gelegt hatte.

Die Hand hatte mehrere kleine Löcher, wo die Zähne des Hundes die Haut durchbohrt hatten. Sebastian betrachtete die Wunde und sein Blick ging tiefer.

Immer tiefer und noch weiter, bis er zu den Blutgefäßen kam, die nicht mehr miteinander verbunden waren, zerrissenes Gewebe, wimmernde Schmerzrezeptoren und tote Nervenbahnen. Dann ein violettes Leuchten, das die Blutgefäße wieder verband, wieder neu strukturierte, die Rezeptoren beruhigte und den Nervenbahnen neue Energie bescherte.

Sebastian spürte das Blut in seinen Ohren rauschen, ihm wurde übel, aber trotzdem öffnete er die Augen, die er instinktiv geschlossen hatte. Er sah Lucas‘ Hand vor sich, genauso neu und unbeschädigt, wie sie war, bevor Robin hineingebissen hatte.

Sebastians Augen weiteten sich vor Erstaunen, dann vor Entsetzen.

„War… war ich das?“, krächzte er, dann wurde es dunkel um ihn.

Kevin funkelt Lucas böse an.

„Du bist ja so charmant. Konntest du ihm das nicht schonender beibringen?“

„Wie denn? Ich hab es doch selber nicht genau gewusst. Erst als er den Heilzauber aktiviert hat, war ich mir sicher.“

„Na, ich bin mal gespannt, wie er damit umgeht.“

„Mich würde es mehr interessieren, wann endlich die Verstärkung eintrifft.“

Wie auf ein Stichwort ertönten am Aufzug Geräusche als er im vierten Deck stehen blieb. Lucas und Kevin hatten Abwehrzauber vorbereitet, als sich die Türen öffneten. Erleichtert lösten die beiden ihre Zauber auf, denn als erste waren Rafael und Tobias erschienen, um den Ausgang zu sichern, dann kamen Michael und Lucien hinterher. Als letzter kam auch Max aus dem Aufzug. Lucas grinste ihn an.

„Na, das Logistik-Korps im Kampfeinsatz?“

Kevin verpasste ihm eine Kopfnuss.

„Er soll Sebastian abholen. Wir müssen sehen, dass er heil hier rauskommt. Dann warten wir auf das Einsatzbataillon. Wie kriegen wir die hier herunter? Durch den Aufzug dauert das etwas bei über 200 Mann.“

„Die Rampe auf die vierte ist mit einem Fallgitter gesichert. Da können die Einsatzfahrzeuge durch. Ist nur ein Vorhängeschloss dran.“

„Okay, sobald die da sind, soll ein Kampfmagier das Schloss beseitigen und dann alle runterführen. Was ist mit der Überwachung und dem Betrieb des Parkhauses?“

„Darum kümmert sich gerade ein Support-Team hier aus der Stadt. Die Überwachung ist leider ausgefallen und es werden nach unseren Truppen keine Fahrzeuge mehr rein können. Die Einfahrt wird mit ‚belegt‘ gekennzeichnet. Was auch immer die da oben machen, wir werden hier unten nicht gestört.“

„Was ist mit den Leuten, die ihre Fahrzeuge hier abgestellt haben?“

„Die können ganz normal ihren Wagen holen und rausfahren.“

„Na gut, hoffentlich funktioniert das. Max, kümmerst du dich bitte um Sebastian? Ich würde vorschlagen, ihr fahrt erst zu uns, dann kann er in Ruhe mit Pater Anselm reden. Der soll dann entscheiden, was weiter mit ihm passiert. Wir rufen an, wenn du uns wieder abholen kannst.“

Dann gab Kevin den neu Eingetroffenen einen kurzen Abriss über die Geschehnisse unten im Parkhaus. Max nickte und beugte sich herunter zu Sebastian, den Lucas in stabiler Seitenlage neben dem Aufzug hingelegt hatte.


Als Sebastian langsam wieder zu sich kam, hörte er Stimmen um sich herum und als er sich aufrichtete, sah er auch deren Besitzer.

Langsam kam die Erinnerung wieder und er schüttelte sich noch einmal ungläubig. Hatte er das alles nur geträumt oder wirklich erlebt?

Die Männer in den merkwürdigen Anzügen hatten sich vermehrt. Jetzt waren es inzwischen sechs und Sebastian ertappte sich bei dem Gedanken, wie die beiden großen Blonden wohl unter dem Anzug aussahen.

Von rechts näherte sich nun jemand, der keinen solchen Anzug trug. Der junge Mann trug lediglich ein schwarzes T-Shirt mit dem Motiv einer Heavy-Metal-Band und eine etwas zerrissene schwarze Jeans. Dazu ein Paar auffällige Stiefel mit verchromten Beschlägen. Das auffälligste waren jedoch die Haare.

Oh, mein Gott, ein Iro, wie geil war das denn! ‘

„So, du bist also Sebastian. Mein Name ist Max und ich soll dich hier herausbegleiten.“

Sebastian sah ihn fragend an.

„Bist du auch so ein… ein…“

„Magier? Nein. Ich bin sozusagen die technische Unterstützung der Truppe. Aber jetzt wird die Luft hier unten dicker, deshalb sollten wir hier verschwinden, bevor es schlimmer wird.“

Sebastian nickte zustimmend, dann hörte man laut und deutlich, wie sein Magen knurrte. Max lachte, dann sah er auf die Uhr.

„Am besten, wir fahren erst noch irgendwo kurz was essen, bevor ich dich nach Hause bringe.“

Sebastian verzog das Gesicht.

„Essen ist ja nicht schlecht, aber nach Hause…“

„Okay, darüber können wir beim Essen reden.“

Sebastian wandte sich um und suchte Lucas und Kevin, doch der erste der ihn fand, war Robin. Sebastian bückte sich und verwuschelte das Fell des Hundes.

„Auf Wiedersehen“, flüsterte er dem Hund ins Ohr, „und du bist echt niedlich, zumindest in zwei Ausführungen.“

Robin fiepte erfreut, so dass sich alle anderen umdrehten. Kevin und Lucas kamen auf Sebastian zu.

„Auf Wiedersehen und viel Glück.“

„Danke, Kleiner.“

Kevin gab Sebastian zu dessen Überraschung einen Kuss, einen seeehr langen Kuss. Als sich Sebastian etwas atemlos von ihm trennte, war Lucas der nächste. Sebastian schmolz förmlich dahin und als er fast dabei war, seinen Mund zu öffnen, spürte er einen leichten Schmerz an seinem Hinterteil. Lucas grinste ihn an.

„So schön das ist, was glaubst du, wie schwierig das ist, mit dem Panzer.“

Damit deutete Lucas nach unten auf seine Körperpanzerung. Sebastian hingegen bemerkte mit roten Ohren, dass seine Jeans die Beule nicht verbergen konnte.

„Jetzt geh mit Max. Er bringt dich sicher hier raus.“

Schnell fuhren sie mit dem Aufzug nach oben, wo Sebastian in dem SUV noch seine Schultasche einsammelte. Er sah Max etwas merkwürdig an, weil dieser sowohl einen Schlüssel für den SUV hatte, als auch einen für einen silbergrauen 8-Sitzer.

„Was ist? Wenn wir alle unterwegs sind, sollten wir auch in ein Auto passen.“

Das Essen fand in einem der allseits bekannten Schnellrestaurants mit einem goldenen M statt.

„Oh, Mann. Ich hab‘ einen tierischen Hunger, aber ich krieg nichts runter.“

„Hier, fang damit an. Schokolade beruhigt“, hatte Max gesagt und Sebastian zunächst einen großen Milchshake hingestellt. Sebastians Hände zitterten immer noch leicht, aber als er angefangen hatte zu essen, merkte er, welch großen Hunger er hatte.

„Also, es gibt da noch eine andere Möglichkeit, als dich gleich an der Drachenhöhle abzuliefern. Du kommst erst einmal mit mir mit und ich werde dir jemanden vorstellen, der dir so ziemlich alle Fragen beantworten kann, die du dir wahrscheinlich in der letzten Stunde gestellt hast.“

Sebastian grinste, als Max das Heim als Drachenhöhle bezeichnete, doch dann wurde er sofort wieder ernst.

„Ja, nee. Schon klar.“

Es war Sebastian herausgerutscht, ohne dass er darüber nachgedacht hatte. Aber wie oft hatte er sich klar gemacht, niemals, aber auch niemals, mit jemandem mitzugehen, den er nicht kannte. Doch diesmal war die Situation eine andere.

„Ich… ich wollte sagen, also…“

Sebastian ließ seinen Kopf hängen und starrte auf die Tischplatte. Max seufzte. Er hatte schon verstanden, in welchem Dilemma Sebastian steckte.

„Ist schon gut. Ich verstehe dich ja, aber wir wollen dir natürlich auch helfen. Es ist nicht deine Schuld, dass du da hineingeraten bist, aber dann hat die ganze Situation wohl so eine Art Eigendynamik entwickelt.“

Sebastian lachte kurz auf.

„Das kann man so sagen. Also in Ordnung, ich komme mit. Aber irgendwie muss ich dann auch das Heim benachrichtigen, sonst bekomme ich wirklich Ärger.“

„Keine Angst, das kriegen wir hin.“

Nach einem kritischen Blick auf die vier leeren Schachteln vor Sebastian sah Max ihn fragend an.

„Na, noch was zu essen?“


In der Tiefgarage war inzwischen eine gewisse operative Hektik ausgebrochen. Fahrzeug um Fahrzeug war nach unten gekommen und wurde von Michael und Lucien in vorbestimmte Halteplätze eingewiesen.

Aus einem der ersten Fahrzeuge waren zwei Männer, so etwa Anfang Dreißig, gesprungen und sahen sich fragend um. Auf der mattschwarzen Brustplatte des einen konnte Kevin vier rote Streifen erkennen, der obere und untere doppelt so breit wie die beiden mittleren. Ein Oberstleutnant; Kevin vermutete den Bataillonskommandeur.

Mit entschlossenen Schritten ging er auf die beiden zu und grüßte militärisch.

„Leutnant Böttcher.“

Der Oberstleutnant mit den violetten Abzeichen erwiderte seinen Gruß.

„Ich bin Patrik deBoer. Bataillonskommandeur des II. Einsatzbataillons. Das ist mein Partner Nils Christiansen. Der Divisionskommandeur hat uns informiert und uns alle relevanten Unterlagen zukommen lassen. Gibt es was Neues?“

Kevin unterrichtete die beiden von den letzten Geschehnissen.

„Und es ist sicher, dass sich ein Tor geöffnet hat?“

Kevin winkte Lucas heran, der nun ebenfalls militärisch grüßte.

„Das ist Leutnant Lanz-Ravensberg, mein Partner. Er kann Auskunft zum Tor geben.“

„Sehr gut. Aber bevor wir weitermachen ein kurzer Kommentar von mir. Ich heiße Patrik und das ist Nils. Punkt. Der ganze militärische Tannenbaum ist im Einsatz etwas hinderlich. So, und jetzt zum Tor.“

Lucas atmete erleichtert auf und schilderte in kurzen Worten seine erste Entdeckung.

„Ein Anker hat sich etabliert. Ich konnte die Verbindung spüren, dann ist er aktiviert worden und kurz darauf muss gleich das Tor entstanden sein. Ich konnte Übergänge spüren, weiß aber nicht genau wie viele, weil wir dann durch den Gothmar abgelenkt waren.“

Der Bataillonskommandeur nickte und sah hinüber, wo die große rote Gestalt auf dem Boden lag.

„Das ist nicht tragisch. Wir sollten den Übergang problemlos schließen können. Was ist mit diesem abtrünnigen Bannmagier?“

Kevin zuckte entschuldigend mit den Schultern.

„Tut mir leid, keine Ahnung. Nach der heutigen Überwachung müsste er im Gebäude sein, aber keine Ahnung, wo. Ich habe die Pläne der Tiefgarage und der angrenzenden Gebäude angefordert. Sie müssten inzwischen eingetroffen sein.“

„Gute Arbeit. Kommt mit rüber zu meinem Einsatzfahrzeug. Dort werde ich euch auch den Kompaniechefs vorstellen.“

Das Einsatzfahrzeug war ein handelsüblicher, silbergrauer Range Rover und dort hatten sich bereits sechs Männer versammelt.

Patrik deBoer deutete kurz der Reihe nach auf jeden einzelnen.

„Thomas Bartuschat und Daniel Scharf, erste Kompanie. Michael Drengler und Klaus Meinke, zweite Kompanie und Gabriel Janukowski und Pieter van Gelder, dritte Kompanie. Und das sind Kevin Böttcher und Lucas von Lanz-Ravensberg, unsere Aufklärer und die Einsatzunterstützung vor Ort.“

Kevin kam sich mit seinem einsamen breiten roten Streifen fast etwas verloren vor, denn die vier Majore der ersten und zweiten Kompanie hatten jeweils drei breite farbige Streifen. Die Chefs der dritten Kompanie waren erst Hauptmann und hatten einen schmalen Streifen in der Mitte zwischen den beiden breiten.

„Also“, wandte sich Patrik deBoer an Kevin, „was ist aktuell bekannt und was sollen wir machen?“

Kevin und Lucas sahen sich kurz an, dann hörte Kevin Lucas in seinen Gedanken.

Warum fragen die uns?“

Weil wir schon länger hier sind und den Hintergrund kennen. Gib mal eine Lageeinweisung.“

Lucas griff in die Außentasche seines Patch-Suits und zog ein kleines Tablet hervor. Nach einem kurzen Blick darauf sah er in die Runde und wurde dienstlich.

„Ich werde Ihnen als erstes einen Lageplan der Tiefgarage und dann den Entwurf eines Tunnels aus dem Jahre 1956 übermitteln. Dieser Tunnel ist nur im Generalverkehrsplan der Stadt Köln erwähnt und wurde angeblich nie gebaut. Die ersten U-Bahnen der KVB fuhren erst ab 1968. Trotzdem gehen wir davon aus, dass dieser Tunnel hier so aussieht wie im Entwurf beschrieben.“

Die sechs Kompaniechefs hatten ebenfalls ihre Tablets gezückt und sahen auf die eingetroffenen Daten.

„Der alte U-Bahn-Tunnel ist etwa acht Meter breit und vier Meter hoch. Er verläuft in einem scharfen Bogen und ist etwa 600 Meter lang. Der Durchbruch, in den dieser Gang hier mündet, befindet sich genau an der Scheitelstelle, das heißt, es geht jeweils 300 Meter links und rechts in einen dunklen Gang, der durch die Biegung schlecht einzusehen ist. Das Tor befindet sich etwa am Ende des Tunnels zur Linken. Auf der rechten Seite war bisher nichts festgestellt worden.“

Dabei sah Lucas zu Major Scharf, der zustimmend nickte.

„Wir schlagen vor, eine astrale Aufklärung zum Abgleich der Grundrisse und zur Erkundung des Tunnels. Dann eine geordnete Suche nach dem verschwundenen Bannmagier, denn wir haben die Information, dass er heute Morgen hier ankam, aber seitdem das Gebäude nicht mehr verlassen hat. Zumindest nicht auf einem normalen Weg.“

Die beiden Bataillonskommandeure sahen sich nachdenklich an, dann schienen sie zu einem Entschluss gekommen zu sein.

„In Ordnung. Zweite Kompanie macht die astrale Aufklärung und macht sich dann bereit zum Eindringen in den Tunnel. Erste Kompanie bleibt Einsatzreserve. Dritte Kompanie wieder umziehen und klar halten für die Durchsuchung des Gebäudes in den öffentlich zugänglichen Teilen.“

Major van Gelder schien Kevins erstaunten Blick bemerkt zu haben, als die zweite Kompanie ausgewählt wurde, den ersten Einsatz zu starten.

„Wir sind die einzige Kompanie mit einem Heiler. Ihr müsstet ihn eigentlich kennen.“

„Timo!“

Der Major lachte.

„Nach dem Einsatz könnt ihr euch ja noch ein bisschen zusammensetzen. Aber jetzt müssen wir los.“

Kevin und Lucas sahen zu, wie die Soldaten der zweiten Kompanie den Tunnel betraten, dann gingen sie langsam zurück zum Aufzug, um den sich ihre restliche Truppe versammelt hatte. Mit ein paar kurzen Sätzen schilderte Kevin die Lage. Tobias schüttelte den Kopf, während er Rafael und Kevin ansah.

„Das ist zu einfach. Ich plane doch nicht jahrelang die Eroberung der Welt und hinterlasse in einem leeren Parkhaus ein Tor, das jeder Astralmagier sofort wahrnehmen kann. Er kennt sich aus, weiß, was wir können. Es muss weitere Absicherungen geben. Etwas, womit eine Einheit, die immer nur Dämonen bekämpft, nicht rechnet.“

Während ihres Gesprächs bemerkte Kevin, wie der tote Gothmar vor dem Durchgang sich auflöste. Das Tor war also schon geschlossen.

Lucien sah Tobias skeptisch an.

„An was hast du gedacht?“

„Keine Ahnung. Eine Bombe vielleicht?“

In Kevin stieg eine Ahnung hoch.

„Was war das noch mal, auf dem letzten Überwachungsvideo? Was hat er da unter dem Arm gehabt?“

Lucas arbeitete hektisch auf seinem Tablet.

„Da- was ist das? Das ist so verschwommen.“

Kevin sah nur einmal hin.

„Ein Hamburger Hafenschlepper. Das ist ein Modellbausatz.“

„Fernzünder. Die Fernsteuerung kann man als Fernzünder verwenden.“

„Scheiße!“

Kevin drehte sich um und sprintete los, als ein leichtes Beben zu spüren war. Entsetzt sah Kevin hinüber zu dem Durchgang aus dem jetzt eine dichte Staubwolke drang. Ein paar der Bohlen an den Seitenwänden hatten Risse bekommen und einer der Balken an der Decke war angebrochen und hing durch.

Mit schnellen Schritten war Kevin beim Einsatzfahrzeug, Lucas folgte ihm nur wenige Sekunden später.

Oberstleutnant deBoer sah Kevin fassungslos an.

„Was war das? Eine Bombe?“

„Anscheinend. Er war auf unser Kommen vorbereitet. Was hat die Aufklärung ergeben?“

„Am Ende des linken Tunnels das Tor. Drei Rallorian, ein Gothmar. Auf dem Weg dahin etliche Betonbrocken. Der rechte Teil endet nicht mit dem alten Tunnel. Dort hat jemand weitergegraben und einen schmaleren Durchgang angelegt, der in ein befestigtes Untergeschoß eines weiteren Gebäudes mündet. Dort befinden sich mehrere nichtmagische Personen, aber die…“

Bei Kevin setzte der Kampfsinn ein. Viele kleine Informationen verdichteten sich und ergaben ein Lagebild mit hoher Wahrscheinlichkeit. Sein Blick wurde starr und er sah niemanden mehr direkt an. Seine Stimme klang etwas monoton, war aber trotzdem laut und deutlich.

„Schnell, es müssen alle raus. Oder die Bannmagier müssen physische Barrieren vorbereiten.“

„Die sind bereits errichtet, nach oben, gegen herabfallende Trümmer.“

„Nein! Nach vorne. Schusswaffen!“

Oberstleutnant deBoer sah nicht zum ersten Mal einen Kampfmagier im Kampfsinnmodus und wusste, was zu tun war.

„All Units - all Units. Emergency Exit - I say again, Emergency Exit.“

Kevin sah die ersten Leute der zweiten Kompanie aus dem Durchgang kommen, als ganz entfernt im Hintergrund des Tunnels das schwache, aber unverwechselbare Geräusch von Maschinenpistolen erklang.

Kevin wirbelte herum und schrie in Richtung Aufzug

„Rafael, Tobias. Bergung von Verwundeten unter physischer Barriere. Los Leute!“

Die vier am Aufzug hatten sowohl die Explosion als auch die Geräusche der Schusswaffen mitbekommen. Michael und Lucien hatten bereits eine physische Barriere vorbereitet und die beiden Paare sprinteten sofort nach Aufforderung los.

Am Einsatzfahrzeug hatte Oberstleutnant Christiansen jetzt das Kommando übernommen.

„Hier Einsatzleitung. Erste Kompanie alle Bannmagier nach vorne. Bergung von Verwundeten unter physischer Barriere. Astralmagier und Elementare errichten Feldlazarett nach Plan Foxtrott. Zweite Kompanie, Frage Statusmeldung. Gibt es noch Gefechtsberührung? Over.“

„Hier zweite Kompanie. Keine - ich wiederhole - keine Gefechtsberührung mehr. Feindliche Ziele wurden eliminiert. Kompanie hat schwere Verluste. Benötigen dringend Unterstützung bei der Bergung der Verwundeten. Over.“

„Hier Einsatzleitung. Hilfe ist unterwegs. Out“

Die beiden Oberstleutnante sahen sich etwas hilflos an, dann drehten sie sich zu Kevin und Lucas.

„Das - das war doch kein Zufall.“

Kevin schüttelte den Kopf.

„Nein. Sie haben uns eine Falle gestellt. Ich könnte wetten, es war nie beabsichtigt, ein Tor zu öffnen. Also, es weitergehend zu nutzen. Dieser Christoph hat versucht, soviel Magier wie möglich ins Jenseits zu befördern. Keine Ahnung warum, aber viel wichtiger ist jetzt, ihn zu finden.“

Patrik deBoer nickte zustimmend, dann sah er hinüber, wo die ersten Leute der zweiten Kompanie zu einem der provisorischen Sanitätsfahrzeug gebracht wurden, die in einigen der Transporter errichtet worden war, in denen sie gekommen waren. Kevin folgte seinem Blick und stutzte. Zwischen den verstaubten Gestalten sah er jemanden, der ihm äußerst bekannt vorkam. Langsam ging er auf den jungen Mann zu.

„Christian.“

Christian Lundquist sah hoch und erkannte Kevin. Schwankend kam er auf ihn zu und umarmte, nein umklammerte ihn. Ein leises Schluchzen ertönte.

„Er ist tot.“

„Was…?“

„Robert ist tot. Sie haben ihn erschossen.“


Die nächsten Minuten im Parkhaus kamen Kevin wie Stunden vor. Christian klammerte sich immer noch an ihn und hörte nicht auf zu weinen. Erleichtert bemerkte Kevin, wie von hinten aus dem Tunnel nun auch Timo und Alexander als letzte nach vorne kamen. Bei beiden war der Patch-Suit von Blut verschmiert und ihre Gesichter sahen müde aus.

Timo erkannte als erster Kevin und über sein Gesicht huschte freudiges Wiedersehen, doch als er Christian bemerkte, schüttelte er bedauernd den Kopf.

Lucas war bei der Einsatzleitung verblieben und bekam nun mit, was passiert war. Major van Gelder war soeben alleine eingetroffen.

„Gabriel hat’s erwischt. Ein Trümmerstück, er ist immer noch bewusstlos. Also: Statusbericht zweite Kompanie. Sieben Tote, siebzehn Verletzte, davon vier schwer.“

Die beiden Bataillonskommandeure sahen kurz betreten zu Boden, dann hatten sie sich genug gesammelt um weiterzumachen.

„Gefechtsbericht.“

„Standardvorgehen, die Kampfmagier vorn, dann Astral, Elementare und Bannmagier hinten. Am Eingang wurde ein Zug zur Sicherung zurückgelassen und die beiden anderen Züge gingen nach links um das Tor zu schließen. Das linke Tunnelstück war mit Trümmerstücken gefüllt, so dass wir teilweise drüber klettern mussten. Das Tor wurde nur von den gemeldeten drei Rallorian und einem Gothmar bewacht und wurde ordnungsgemäß geschlossen. Dann haben wir uns dem anderen Teil des Tunnels zugewandt. Als der alte Teil des Tunnels aufhörte, mussten wir durch den etwas engeren neuen Teil. Die Kampfmagier waren vorne, als wir diesen Keller betraten. Wir wussten aus der Nahaufklärung, dass sich etwa zehn Personen im hinteren Teil aufhielten. Wir sind bei der Lagebeurteilung davon ausgegangen, dass sie versuchen würden, dort ebenfalls ein Tor zu öffnen.“

„Haben sie aber nicht“, murmelte Oberstleutnant Christiansen.

„Nein. Als wir die freie Fläche erreichten, explodierte irgendetwas hinter uns und es regnete jede Menge kleinerer Trümmer aus dem Gang auf uns herab. Vor uns erhoben sich nun mehrere Personen und eröffneten das Feuer aus Maschinenpistolen. Trotz der Verluste durch die Trümmer haben die Kampfmagier reagiert und die Angreifer ausgeschaltet, was vier Mann das Leben gekostet hat. Die anderen drei waren Astralmagier, die von den heruntergefallenen Trümmern erwischt worden sind. Durch die vorgegeben Reihenfolge bei dem Marsch durch die Engstelle waren keine Bannmagier sofort vorne verfügbar.“

Die beiden Bataillonskommandeure schüttelten schweigend ihre Köpfe.

„Gleich darauf kamen die beiden Bannmagier des Aufklärungsteams und haben unsere Bannmagier neu sortiert und eine magische Abstützung des Tunnels organisiert. Die Kompanie konnte vollzählig evakuiert werden. Danach wurden die Barrieren aufgelöst und der größte Teil des schmalen Durchgangs in diesen Keller ist eingestürzt.“

Patrik deBoer ließ seinen Blick über die verstaubten Gestalten im Feldlazarett schweifen.

„Also Lucas, was haben wir?“

Lucas sah mit einem starren Blick hinüber zu Kevin, der immer noch von Christian umklammert wurde. Dann beantwortete er die Frage.

„Es ergibt sich wahrscheinlich folgender Ablauf. Dieser Christoph hat hier ein gut erkennbares Tor hinterlassen, das Grund genug war, eine Abteilung Magier herzuschicken. Was er anscheinend nicht wusste, war, dass es sich um ein ganzes Bataillon gehandelt hat. Das Tor war lediglich der Köder. Er wusste ganz genau, dass Nahaufklärung betrieben würde und wir annehmen würden, dass ein weiteres Tor in Vorbereitung sei. Die Personen waren aber nicht zur Beschwörung da, sondern um uns mit Feuerwaffen zu erledigen.“

„Was war denn das? Ein Racheakt?“

„Ich weiß es nicht. Wir müssen unsere gesamten Unterlagen über den Mann noch einmal durchgehen. Vielleicht findet sich ja auch ein Hinweis, wo er sich jetzt aufhält.“

„Gut. Wir müssen auch sehen, dass wir so schnell wie möglich unauffällig verschwinden. Das Parkhaus sollte weit genug vom Explosionsort weg sein, aber man weiß ja nie. Möglicherweise ist oben schon die Feuerwehr zur Erkundung. Wir werden versuchen, so unauffällig wie möglich, das Gebäude zu verlassen. Ich vermute, der Divisionskommandeur wird in Kürze auf euch zurückkommen.“

Lucas sah noch einmal hinüber zu Kevin und Christian. Zögernd wandte er sich an Major van Gelder.

„Ahemmm, Herr Major, also… Christian, ich meine Leutnant Lundquist. Dürfen wir ihn mitnehmen? Wir kennen ihn gut genug, dass wir ihm vielleicht helfen könnten.“

Der Major warf einen langen Blick auf die beiden Gestalten, dann nickte er langsam.

„Wir werden es schwer genug haben, mit denen, die überlebt haben. Wenn ihr ihm helfen könnt, wäre das ein großer Fortschritt. Ich gebe eine Meldung an die Personalabteilung.“

Da durchzuckte Lucas ein Gedanke und er machte sich eine kurze Notiz. Dann verabschiedete er sich von den drei Offizieren und ging hinüber zu Kevin. Er berührte Kevin nur leicht an der Schulter, der schob dann Christian sanft vor sich her in Richtung Aufzug. Dort hatten sich inzwischen Michael, Rafael, Tobias, Lucien und Robin gesammelt und sich bereits umgezogen. Es wurden nicht viele Worte gewechselt. Lucas und Kevin begannen sich nun auch umzuziehen, ebenso wie dann auch Christian, dem ein Soldat der zweiten Kompanie seine Sachen brachte. Trotz der gedrückten Stimmung warf er neugierige Blicke in die Runde. Lucien winkte ihm kurz zu, dann ging auch er.

Lucas und Kevin befreiten Christian von seiner Panzerung und dem Bodysuit, während Michael mit Max telefonierte. Eine halbe Stunde später waren alle auf dem Weg zurück zur Villa. Es war relativ einfach gewesen, denn die Feuerwehr war dabei, die ganze Straße langsam zu evakuieren und hatte alle Hände voll zu tun, die oberen Büroetagen zu räumen. Ihr Einsatzschwerpunkt lag tatsächlich mehr am Ursprungsort der Explosion als am Parkhaus. Erstaunlicherweise war die Polizei mehr damit beschäftigt, Straßen zu sperren, als die Leute zu kontrollieren. Anscheinend ging man nicht von einer Bombe aus, sondern eher von einem weiteren Einsturz eines Hohlraumes, was es ja eigentlich auch war.

Pater Anselm sah Christian nur kurz an, dann ging er in sein Zimmer und kam kurz darauf mit einem kleinen Fläschchen aus seiner Hausapotheke wieder.

„Fünf Tropfen heute Abend. Morgen sehen wir weiter.“

Kevin und Lucas führten Christian auf ihr Zimmer und sahen sich zunächst unschlüssig um, bis Lucas grinste und begann umzuräumen. Nach mehreren Besuchen auch in Nachbarzimmern sah es in dem Raum aus wie in einer kleinen Höhle. Lucas hatte aus allen verfügbaren Matratzen eine Liegefläche gestaltet, die fast den gesamten Raum einnahm. Die anderen sahen ihm neugierig zu, nur Lucien runzelte die Stirn.

„Und wo soll ich schlafen?“

„Hier.“

„Ach so?“

Tobias lächelte leicht.

„Ich nehme an, wir sollen alle hier schlafen.“

Lucas nickte.

„Völlig richtig.“

Und so kam es, dass zur Nacht acht junge Männer und ein großer Wolf sich auf den Matratzen so gut es ging arrangierten. Christian fiel es nicht auf, doch er war immer in der Nähe von jemandem, an der er sich klammern oder auch ankuscheln konnte. Der große Wolf, der ihn zunächst etwas erschreckt hatte, erwies sich als besonders kuschelig.


Der nächste Morgen brachte Arbeit. Bis auf Pater Anselm, der mit Christian im Büro ein erstes Gespräch hatte, saßen alle um den großen Tisch.

Max knallte die vier Akten auf den Tisch, die sie von der Personalabteilung bekommen hatten.

„Ich wusste es! Ich hatte immer das Gefühl, es fehlt etwas. Ich habe gestern Abend noch die Personalabteilung aufgescheucht. Oder besser, mein Vater hat es gemacht, nachdem ich ihn angerufen habe.“

Kevin sah Max mit gerunzelten Brauen an, während alle anderen, bis auf Lucas, Max nur erstaunt ansahen.

„Ich hoffe für dich, dass es sich gelohnt hat.“

Max bemerkte Kevins frostigen Ton und wurde leicht rot.

„Ja, hat es. Bei allen vier Akten fehlen nämlich die wichtigsten Teile.“

Nun sah auch Kevin Max erstaunt an, während der sich den ersten Hefter griff.

„Christoph Harms, geboren 1964 in Hamburg. Astralmagier. Hat nach der schulischen Ausbildung gekündigt. Wurde 30 Jahre überwacht, dann wurde die Überwachung gelockert und 2015 ist er ihnen entwischt. Aufenthaltsort unbekannt.“

Alle ringsum nickten. Das hatten sie alle bereits gehört. Max überlegte, wie er seine nächsten Sätze formulieren sollte.

„Also, selbst wenn man nicht bleibt, aber die Ausbildung zu Ende macht, hat man da nicht jemanden, mit dem man die Zeit über zusammen war?“

Mindestens drei Leute sahen Lucien an, der aufseufzte.

„Klar. Es geht nicht ohne Beziehung oder Beziehungen, wenn man es so will. Aber da ist immer jemand, mit dem man redet. Oder andere Sachen macht.“

„Darüber findet sich aber nichts in der Akte. Genau wie beim Nächsten.

„Christoph Raue-Berger. Geboren 1967 in Neumünster. Nicht ausgebildeter Elementar. Hat sich nach dem Erstkontakt für eine Ausbildung beworben, wurde aber nicht angenommen. Das psychologische Gutachten lautete auf ‚geistig nicht stabil genug‘. Selbst, wenn man ihm einen Block verpasst hat, schwul blieb er ja doch. Wen hat er gehabt?“

Fast alle sahen sich ratlos an.

„Und dann Christof Schneider, geboren 1968 in Freiburg/Breisgau. Bannmagier. Hat nach über zwanzig Jahren ohne Angabe von Gründen gekündigt, seinen Partner verlassen und ist bereits damals der Überwachung entkommen. Das war dann der Aufhänger für mich. In der Akte befindet sich kein Sterbenswörtchen von seinem Partner. Weder wer er ist, noch was er damals gesagt oder getan hat.“

Bevor noch jemand etwas sagen konnte, hatte Max auch zur letzten Akte gegriffen.

„Christoph Langlütjen, geboren 1966 in Köln. Bannmagier. Komplette Ausbildung durchlaufen, danach Einsatz in der 2./III. Ist 1997 Opfer eines Verkehrsunfalles geworden. Begraben auf dem Kölner Melaten-Friedhof.“

Max sah hoch und fixierte Michael.

„Was würdest du sagen oder tun, wenn Rafael plötzlich Opfer eines Verkehrsunfalles wird?“

Max winkte ab, bevor er eine Antwort bekam.

„Auch hier keine Unterlagen. Bei ihm wollte ich es aber genau wissen, deshalb habe ich die gesamte Akte beantragt. Sie wurde mir verweigert mit der Begründung, es handele sich um ‚persönliche Personalangelegenheiten‘. Da ist mir dann der Kragen geplatzt und ich habe meinen Vater angerufen.“

Kevin unterbrach Luciens neugierige Frage schon im Ansatz.

„Sein Vater ist Generalmajor Harder. Denkt immer daran Leute, auch in den höchsten Dienstgraden sind immer zwei Mann ein Team und gleichzeitig Kommandeur. Man sollte besser beide kennen.“

Lucien klappte seinen Mund zu, ohne etwas gesagt zu haben. Max lächelte ihn an.

„Der Hintergrund ist so einfach wie tragisch. Christoph Langlütjen hat seinen Partner einen Monat vor seinem gut inszenierten Abgang bei einem Einsatz verloren. Es sollte ein Tor geschlossen werden, dass von ein paar nichtmagischen Menschen geöffnet worden war. Die Menschen wurden vom Einsatzleiter ignoriert und als ungefährlich eingestuft. Das hat drei Kampfmagier das Leben gekostet.“

„Und dann hat er zwanzig Jahre gebraucht, bis er das eingefädelt hatte?“

Robin sah Max ungläubig an. Kevin war nachdenklich.

„Wahrscheinlich ist das erst langsam gekommen und dann hat er es so haben wollen, wie es ihm selbst passiert ist. Rache ist etwas Eiskaltes und es braucht Zeit zum Abkühlen.“

Tobias schüttelte sich unwillkürlich.

„Und wo ist er jetzt?“

„Ich glaube, das kann ich euch sagen.“

Alle drehten sich herum zu Pater Anselm, der zusammen mit Christian in der Tür zum Wohnzimmer stand.

„Wo ist sein Partner beerdigt?“

Max blätterte hektisch.

„Hier in Köln. Melaten-Friedhof.“

„Dann los. Christian und Robin bleiben bitte hier.“

Christian wollte widersprechen, aber dann senkte er schuldbewusst den Kopf. Robin hingegen sah Pater Anselm komisch an.

„Warum darf ich nicht auf den Friedhof?“

Pater Anselm musterte Robin erstaunt, dann lächelte er.

„Es hat nichts mit dem Friedhof zu tun. Du kannst auch als Werwolf dort herumlaufen, wie du willst. Nein, ich möchte Christian nicht alleine oben lassen. Er hat vorhin davon erzählt, wie schön es heute Nacht war, mit dem weichen Fell. Ich hatte mir gedacht, du könntest ihm ein wenig Gesellschaft leisten, in der einen oder der anderen Form.“

Robin hoffte, dass Pater Anselm nicht merkte wie er rot geworden war, als der Pater ihn über den Grund seiner Bitte aufgeklärt hatte. Es war ihm peinlich, dass er geglaubt hatte, Pater Anselm würde Werwölfe nicht auf einem Friedhof dulden.


Der Weg bis zum Friedhof war nicht allzu weit und Max stellte den Wagen in der Oskar-Jäger-Straße am Straßenrand ab. Er würde beim Auto bleiben, während die anderen paarweise auf verschiedenen Wegen zum Grab des verstorbenen Kampfmagiers gehen sollten.

Knapp zwanzig Minuten später trafen sich die Sechs vor einem schlichten schwarzen Grabstein mit goldener Schrift.

Manfred Koslowski

19.12.1967

14.07.1997

Weit und breit keine Spur von Christoph Langlütjen. Bis bei Kevin das Handy kurz piepte. Kevin sah auf das Display und wurde blass.

Er ist hier. Mit einer Pistole.

Alle sechs rannten den kurzen Weg zum Auto zurück und stoppten dann auf dem von wenigen Passanten genutzten Gehweg.

Christoph Langlütjen war tatsächlich dort an ihrem Wagen und er hatte eine Pistole. Er hatte die Seitentür des Transporters aufgeschoben und saß auf der vorderen Sitzreihe hinter dem Fahrer, die Waffe direkt auf Max gerichtet, der auf dem Fahrersitz saß.

Lucas gab den anderen ein Zeichen, zurückzubleiben und näherte sich langsam dem Wagen.

„Das ist jetzt nahe genug!“

Die Stimme klang rau und die Hand mit der Pistole zitterte ein wenig. Lucas überlegte, wie er den Mann etwas ablenken konnte.

„Warum das alles? Wegen Manfred?“

Ein kurzes Lachen war die Antwort.

„Schon lange nicht mehr. Am Anfang, ja, da wollte ich Rache. Rache für mein verlorenes Leben, doch dann… Aber was geht es dich an? Du willst deinen Freund hier zurück? Vergiss es!“

Entschlossen hob Christoph Langlütjen die Pistole an und zielte auf den Hinterkopf von Max.

Lucas hatte so etwas geahnt und er war darauf vorbereitet. Einen Sekundenbruchteil bevor der Schuss brach, hüllte Max ein orangefarbiges Leuchten ein, das aus seinem Ohrring hervorgeströmt war. Die Kugel prallte auf die Barriere und pfiff als Querschläger davon.

Als Bannmagier wusste Christoph natürlich genau, was passiert war, doch er hatte den Jungen vor ihm nicht als Bannmagier spüren können und war davon ausgegangen, dass er keine Schutzzauber wirken konnte. Der kurze Moment des Zögerns und Nachdenkens war genug Zeit für Lucas. Er hatte es inzwischen geschafft, einen Zauber vorzubereiten und reagierte sofort. Ein hell strahlender grüner Blitz schlug in den Körper des abtrünnigen Bannmagiers ein. Ohne weitere Reaktion sank dieser auf dem Sitz zusammen.

Lucas sackte in sich zusammen und blieb schwer atmend auf dem Gehsteig liegen. Kevin kam herangerannt, um sich um ihn zu kümmern, während Rafael und Tobias Christoph Langlütjen untersuchten. Lucien und Michael befreiten inzwischen Max von seiner Barriere.

„Lucas! Was ist los? Hast du irgendetwas?“

Lucas schüttelte benommen den Kopf.

„Nein. Schon gut. Das musste etwas schnell gehen und ich habe den Spruch nicht zu Ende strukturieren können. War wohl etwas viel Energie.“

Tobias und Rafael, die gerade aus dem Wagen kletterten, hatten den letzten Satz mitbekommen. Rafael brummte zustimmend.

„Das kannst du laut sagen. Der Typ ist mausetot. Ich würde sagen, Schlaganfall, mitten auf der Straße. Wir konnten ihm leider nicht mehr helfen.“

Kevin und Lucas sahen Rafael fragend an, bis es ihnen dämmerte.

„Ja“, meinte Lucas „ganz plötzlich, direkt neben unserem Wagen. Ruf mal bitte einer den Rettungsdienst.“


Max hatte sich ziemlich schnell von dem Zwischenfall erholt und Pater Anselm hatte sie zwei Tage später alle zu einer ‚Nachbesprechung‘ um den großen Tisch gebeten.

Jeder einzelne von ihnen schilderte den Ablauf des schrecklichen Tages aus seiner ganz persönlichen Sicht.

Christian hatte sich soweit gefangen, dass er ruhig den Schilderungen folgen konnte.

„Zu einem gewissen Teil kann ich die Gefühle dieses Christoph nachvollziehen.“

Christian sah in die Runde, bevor er weitersprach.

„Ihr alle habt einen Partner oder jemandem, der ihm lieb und teuer ist. Was ist, wenn ihm dieser genommen wird? Das kann, glaube ich, keiner von euch jetzt beantworten. Nicht einmal ich. Ich muss mein Leben neu sortieren und ich weiß gewiss, dass es nicht so endet wie bei diesem unseligen Bannmagier.“

Max nickte langsam, dann sah auch er in die Runde.

„Das stimmt. Ich hätte vor diesem Einsatz nie geglaubt, dass es jemanden gibt, den ich vermissen würde. Doch jetzt ist es nicht nur einer, sondern gleich sieben.“

Pater Anselm schob Kevin einen kleinen Umschlag zu, den dieser schnell öffnete. Er entfaltete das einzelne Blatt, las es durch und grinste dann.

„Leute. Der Einsatz ist offiziell beendet. Bis zur endgültigen Klärung aller Vorkommnisse sind wir erst einmal beurlaubt. Chris darf bei uns bleiben, bis eine Entscheidung über seinen weiteren Einsatz getroffen wird. Max ebenfalls. Wir dürfen das Haus hier weiter nutzen, entweder bis zu unserem nächsten Einsatz oder bis wir hier abgelöst werden.“

Robin lehnte sich in seinem Stuhl zurück und grinste.

„Na denn, Leute. Der Küchenplan gilt weiterhin.“


Die nächste Nachricht war etwas anderer Natur. Alle Mitglieder des Einsatzteams und alle Mitglieder des Support-Teams, sprich Max, erhielten einen persönlichen Brief und wurden aufgefordert, einen ausführlichen schriftlichen Bericht über die Vorgänge zu fertigen, die zu dem Einsatz im Parkhaus und den daraus folgenden Aktionen geführt hatten.

Ebenso wurden sie aufgefordert, sich für eventuelle persönliche Rückfragen bereitzuhalten.

„Das ist keine freundliche Aufforderung, das ist ein Befehl. Wenn ich jetzt beim richtigen Militär wäre, würde ich mir Gedanken über eine Kriegsgerichtsverhandlung machen.“

Lucas knallte seine Aufforderung so laut auf den Tisch, dass Lucien zusammenzuckte. Pater Anselm schüttelte den Kopf.

„Nein. Es gibt kein Kriegsgericht oder auch nur so etwas Ähnliches. Es wird lediglich versucht, alles so genau wie möglich zu verfolgen, um aus den Fehlern zu lernen. Es ist also mehr ein Suchen nach Hintergründen und Ereignissen, die sich im Endeffekt summiert haben und zu einem solch tragischen Ergebnis geführt haben.“

Lucas brummte etwas Unverständliches, aber er beruhigte sich schnell. Die bis zu 60 Seiten starke Ausarbeitungen (Kevin) oder auch nur kurze Zusammenfassung von neun Seiten (Robin) wurden eingeschickt und nicht einer bekam eine Aufforderung für eine persönliche Aussage. Das Leben verlief die ersten zwei Wochen tatsächlich so gemächlich wie ein Urlaub sein sollte. Dann kam ein merkwürdiger Anruf, von dem Lucas zunächst nicht wußte, was er genau davon halten sollte.


Lucas und Christian saßen in der Küche und tranken vorsichtig von dem heißen Kaffee, den Pater Anselm aufgebrüht hatte. Erstaunlicherweise war es Lucas, zu dem Christian ein großes Zutrauen gefasst hatte und mit dem er lange Gespräche führte. Ein leises Klingeln unterbrach sie, bis Lucas etwas irritiert sein Handy aus der Hosentasche gefummelt hatte.

„Hi, Lars. Nein, du störst nicht. Was gibt es Neues?“

Lucas lauschte eine ganze Zeit, während er dabei erstaunt die Augenbrauen anhob.

„Ja, okay. Danke für den Anruf. Bis bald.“

„Das war Lars Meinhardt, du erinnerst dich?“

Christian nickte.

„Ja. Der zweite Astralmagier. Bisschen pummelig, aber ganz nett. Wo ist er denn jetzt?“

Lucas lachte.

„Du glaubst es kaum, aber er ist mit Hendrik Simonsen zu Haus Birkenstein gekommen, als Ausbildungsunterstützung.“

„Was? So was gibt’s?“

„Jep. Wie sollen sie den lieben Kleinen denn sonst Magie beibringen. Kannst du dich erinnern, als ihr das erste Mal Fachmagie hattet? Da war immer einer im Hintergrund, der aufgepasst hat, dass nichts passiert.“

Christian grinste verschämt.

„Na, es hat mich aber trotzdem einmal meine Augenbrauen gekostet. Aber das war das erste und letzte Mal.“

„Na, jedenfalls ist in Birkenstein im Moment der Teufel los. Die haben, nachdem wir weg waren, den nächsten Jahrgang gar nicht vollgekriegt. Der Unterricht hat erst wieder vor ein paar Monaten angefangen und nun steht alles auf der Kippe, weil denen die Magier wegbleiben. Es gibt nur Gerüchte, was vorgefallen ist, aber es fehlen tatsächlich drei Magier und die Kampfmagier drehen wohl ein bisschen am Rad, weil keiner übrig bleiben will.“

Christian sah Lucas mit großen Augen an.

„Das ist nicht besonders prickelnd. Was würde denn mit denen passieren, die nachher übrig bleiben?“

„Keine Ahnung, aber Lars will mich auf dem Laufenden halten.“

Max kam die Treppe herunter und trug einen kleinen Stapel Papiere. Das oberste Blatt gab er Lucas.

„Post für euch. Befehl vom Einsatzkommando. Gib ihn Kevin, wenn du nach oben gehst.“

Lucas nahm das Blatt und überflog schnell die wenigen Zeilen. Seine Augenbrauen rutschten dabei immer höher. Christian sah ihn neugierig an.

„Wir kriegen Besuch. Hohen Besuch. Die beiden Herren Divisionskommandeure beabsichtigen, uns hier in unserer Einsatzzentrale mit ihrer Anwesenheit zu beehren.“

„Huh?“

„Nein, ich habe auch keine Ahnung, warum. Aber wir werden ja sehen.“

Lesemodus deaktivieren (?)