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Mein größter Traum

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»Haste mal ein bisschen Kleingeld?« Mit dieser Frage wurde ich aus meinen Gedanken geholt. Ich lief gerade aus der U-Bahnstation in Richtung Wohnung. Ich kam gerade mal wieder von einer meiner spontan Streifzüge durch die Stadt zurück. Hin und wieder laufe gerne planlos durch die Straßen, manchmal auch mit Kamera, um Fotos zu machen. Heute hatte ich Aufnahmen der weihnachtlich geschmückten Innenstadt gemacht. »Ganz schön kalt. Bin froh, wenn ich wieder im Warmen bin.«, dachte ich mir noch so. Und jetzt stand dieser Junge vor mir, der mich um Kleingeld anpumpte.

Jetzt schaute ich mir die Gestalt vor mir etwas genauer an. Er trug verschlissene Kleidung, wohl auch schon ein wenig älter. Unter einer löchrigen Wollmütze lugten einige braune Haarstränchen hevor, darunter sah ich ein hübsches Gesicht mit schönen nussbraunen Augen. Sie wirkten aber etwas matt und traurig. Trotzdem versuchte er zu lächeln. Ich schätzte den Jungen etwa auf 17, also zwei Jahre jünger wie ich.

»Haste mal etwas Kleingeld?« wiederholte der Junge seinen Wunsch. »Äh, ja, kannst was haben.« Ich muss wohl einen ziemlich verwirrten Eindruck auf ihn gemacht haben. Der Junge schaute mir zu, wie ich in meinem Geldbeutel nach Münzen suchte. Da kam mir ein Gedanke, irgendwie begann mich der Junge zu interessieren. In meiner Freizeit schreibe ich nämlich u.a. für ein Internetmagazin, indem auch Personen, die etwas abseits in unserer Gesellschaft sind, vorgestellt werden.

»Höre zu, ich gebe dir gerne etwas Kleingeld. Aber etwas anderes. Wenn du willst, würde ich mich gerne mit dir unterhalten. Ich wohne hier in der Nähe und dort ist es bedeutend wärmer. Keine Angst ich will nichts weiter von dir als mich mit dir unterhalten. Außerdem kannst du auch etwas zu Essen von mir haben.« Der Junge schaute etwas verwirrt, er dachte wohl nach, was er sagen soll.

»Ich bin jetzt überrascht, eigentlich würde ich schon gerne ins Warme, hier ist es doch ziemlich kalt, und Hunger habe ich auch. Aber ich weiß nicht so recht, ich will niemand zur Last fallen.«, antwortete er etwas schüchtern. Dabei schaute er in Richtung Boden.

»Du fällst mir nicht zur Last, sonst hätte ich dir nicht das Angebot gemacht. Also nun komm schon, du siehst wirklich ziemlich verfroren aus.« Jetzt ging mir noch ein Gedanke durch den Kopf, als ihn mir so betrachtete. Ein Freund von mir arbeitet in einem Straßenkinderprojekt mit, sollte er etwa auch? »Lebst du auf der Straße?«

»Nein, eigentlich nicht.« Kleine Tränen flossen über seine Wangen. Oh da habe ich wohl einen wunden Punkt erwischt, besser nicht nachhaken. »Ich wohne bei meiner Familie.«, fügte er an, doch die Tränen wurden mehr und er fing an zu schluchzen. In einem Anflug von Beschützerinstinkt nahm ich ihn in den Arm, ich wusste nicht was ich sonst tun sollte. Ich wollte ja nichts falsch machen. Der Junge klammerte sich jetzt richtig an mich, ja er suchte die Nähe zu mir.

»Alles wird wieder gut.« sagte ich zu ihm, ich weiß eine ziemlich langweilige Standardantwort, aber mehr fiel mir jetzt nicht ein. Ich war noch nie in einer solchen Situation. Ich versuchte das zu tun, was sich richtig anfühlte. Da es mir langsam kalt war und er ziemlich durchgefroren aussah, brachte ich ihn in meine Wohnung. Auf dem Weg dorthin beruhigte er sich wieder.

»Willkommen in meinem Reich.«, sagte ich als ich die Tür aufschloss, »Hier ist die Garderobe, geradeaus durch das Wohnzimmer. Was willst du trinken?« »Eine Cola.«, gab er zur Antwort. Er zögerte noch etwas, zog dann seine Jacke und Mütze aus und ging ins Wohnzimmer, während ich in der Küche Cola und zwei Gläser holte. Als ich in mein Wohnzimmer eintrat, saß der Junge etwas gedankenverloren auf dem Sofa.

Ich setzte mich neben ihn und sah, dass ihm wieder einige kleine Tränen über die Wange liefen. Um ihn zu beruhigen, legte ich meine Arm um ihn. Der Junge wirkte irgendwie zerbrechlich, irgendetwas schien ihn zu bedrücken. Durch meine Nähe schien er sich wieder zu beruhigen. Jetzt stellte fest, dass ich ja noch gar nicht wusste, wie der Junge neben mir eigentlich hieß. Auch ich hatte mich noch nicht vorgestellt. Aber mir war erst einmal wichtig, dass er sich beruhigte.

»Ich heiße Markus und wie heißt du?«, begann ich mit der Vorstellung.

»Simon, ich heiße Simon.«, kam es von dem Jungen zurück.

»Komm trink erst einmal was.« Ich reichte Simon ein Glas Cola, das er schnell austrank. Eigentlich wollte ich ja etwas über das Leben des Jungen erfahren und das Gespräch für das Internetmag verwenden. Doch dies musste erst einmal warten. Jetzt wollte ich herausfinden, was Simon bedrückte. Vielleicht konnte ich ihm ja irgendwie helfen.

»Alles okay?«

»Ja geht schon wieder. Ich komme schon klar.« Simon wollte stark wirken, aber ein Blick in seine Augen zeigte mir, dass dem nicht so war. Sie waren immer noch etwas von den Tränen gerötet und wirkten traurig.

»Das kannst du dem Weihnachtsmann erzählen. So wie du aussiehst, bedrückt dich etwas. Auch wenn wir uns erst kurz kennen, mit mir kannst du über alles reden. Vielleicht kann ich dir helfen.«

»Mir kann keiner helfen!«, fiel mir Simon heftig und laut ins Wort, »Ich bin doch eh nur Dreck, den niemand will.« Langsam brach alles heraus, was er hinter der ruhigen Fassade verbergen wollte. Die Tränen fingen wieder an und er rückte von mir ab und schob meinen Arm von seiner Schulter.

»Sag nie so etwas. Jeder Mensch ist es wert, geliebt und angenommen zu werden. Auch du wirst noch die Richtige finden.« Auch wenn ich schwul war und Simon irgendwie süß war, glaubte ich nicht, dass er auch schwul war. Außerdem brauchte er jetzt jemanden, mit dem er reden kann und für ein Abenteuer im Bett war er mir zu schade. »Sag schon, was bedrückt dich. Es bleibt auch alles unter uns. Hier passiert dir nichts.«, ermunterte ich ihn noch einmal.

»Ich, ich...«, kam es leise von Simon mit Tränen verschmierter Stimme. Als wenn er Halt brauchte, rückte er wieder näher an mich heran. Er lehnte seinen Kopf an meine Schulter. Jetzt sprach er mit fester Stimme weiter. »Ich bin vor drei Tagen von zu Hause abgehauen. Meine Familie vermisst mich bestimmt nicht. Denen bin ich eh nur im Weg. Sie wollten mich schon in ein Heim oder Internat abschieben. Früher war das noch anders, ich war in der Schule gut und somit ihr Lieblingskind. Und dann passierte das vor zwei Wochen ...«

Simon stoppte mit seiner Erzählung, was er jetzt sagen wollte fiel ihm doch schwer. Mit leiser Stimme fuhr er weiter. »... meine Mutter hat mein Tagebuch entdeckt und darin gelesen. Danach ist sie wütend stapfend zu meinem Vater gerannt. Eigentlich hätte ich sauer sein müssen. Was schnüffelt sie mir hinterher. Aber es war zu spät, darin stand etwas über mich, was ganz und gar nicht in ihr spießiges, kleinbürgerliches Weltbild passte.« Wieder eine Pause. »Ich hoffe mal, das du jetzt nicht gleich ausrastet, aber so wie ich dich bisher kennen gelernt habe, glaube ich das nicht. Also ich bin schwul.«

Simon schaute ängstlich in meine Richtung. Doch ich beruhigte ihn, »Nein, ich habe kein Problem damit, ich bin es ja selbst.«

»Wirklich?« Ein Lächeln zog auf Simons Lippen.

»Ja, ich belüge dich nicht. Aber was war mit deinen Eltern? Wie haben sie reagiert?«

Die eben noch positive Stimmung wich wieder einer traurigen. »Meine Eltern haben mich beschimpft, ich wäre eine Missgeburt, ich würde ihren guten Namen beschmutzen. Da ich ihnen ohnehin nur ein Klotz am Bein zu sein schien, war mein Schwul sein nur noch eine weitere Verschärfung ihrer Abneigung gegen mich. Sie verboten mir den Umgang mit den Jungs aus der schwulen Jugendgruppe, die ich heimlich regelmäßig besucht hatte. In einem Internetcafé bin ich auf ihre Adresse gestoßen. Denn mit 16 wurde ich mir langsam bewusst, dass ich mich wohl nie in ein Mädchen verlieben werde. Aber ich wusste auch, dass meine Eltern dies nie akzeptieren würden. Sie äußerten sich immer abfällig über diese Homos, wenn welche im Fernsehen zu sehen waren.

Die Jugendgruppe bot Hilfestellung beim Coming Out an und auch bei schwierigen Verhältnissen im Elternhaus. Ich ging also dorthin, denn ich wusste nicht mehr weiter. Schließlich wollte ich ja auch einmal einen Freund haben. Aber den hätte ich nie zu Hause treffen können. Wir hätten uns heimlich treffen müssen. Die Leute von der Gruppe waren sehr hilfsbereit und versuchten mir zu helfen. Sie meinten, vielleicht sollte ich mal vorsichtig das Thema einstreuen oder einen Elternratgeber kaufen. Doch dazu traute ich mich nicht, ich hatte Angst, sie würden noch ablehnender mir gegenüber werden. Trotzdem war ich den Jungs für ihre Mühen dankbar. Mir gefiel es in der Gruppe so gut, dass ich fast regelmäßig zum Gruppentreff hin ging. Der Kontakt war für mich sehr wichtig. Hier wurde ich so angenommen wie ich bin, nämlich schwul.

Auf einen Freund werde ich wohl noch drei Jahre warten müssen. Nach meiner Ausbildung wollte ich so schnell wie möglich in eine eigene Wohnung ziehen und einen lieben Freund haben. Denn die Heimlichtuerei wollte ich niemanden zumuten. In der Gruppe versuchte ich mich im Hintergrund zu halten. Denn ich wollte auf die Treffen nicht verzichten, der Kontakt mit Gleichgesinnten war mir schon wichtig. Doch ich wollte niemandem Hoffnung machen, dass ich sein Boyfriend werde.

Aber irgendwann schaffte ich das nicht mehr, ich ging auch nicht mehr in die Gruppe. Ich zog mich immer mehr zurück. Ich war oft allein. Auch meinen wenigen Freunden wollte ich mit meinen Problemen nicht zur Last fallen. Wer weiß, ob sie mich überhaupt noch sehen wollen, wenn sie wüssten, was mit mir los ist.»

Das alles erzählte Simon mit einer traurigen Stimme, es hat ihn doch ziemlich mitgenommen. Ich fand das auch ziemlich heftig, was der Arme da durch machen musste. Sein Kopf lehnte immer noch an meiner Schulter. Ich hatte das Gefühl, dass er sich im Verlauf seines Monologs noch enger an mich geschmiegt hatte. Simon war aber noch nicht fertig.

»Meine Eltern waren an jenem Abend richtig wütend, sie werden diese Abartigkeiten in ihrem Haus nie akzeptieren. Entweder ich werde wieder normal oder ich bin nicht mehr ihr Sohn. Ich war so fertig, dass ich einfach auf mein Zimmer ging und mich in den Schlaf heulte. In der Nacht wachte ich auf und mein Leben kam mir so sinnlos vor. Niemandem schien ich noch wichtig zu sein, meinen Eltern war ich egal und die Jungs aus der Gruppe hatte ich auch irgendwie vor den Kopf gestoßen. Glaubte ich jedenfalls.

Die nächsten Tage wurden die Hölle, ich wurde gemieden, Essen musste ich mir selber machen. Ich glaube, am liebsten hätten sie mich gleich raus geworfen. Doch dies hätte wohl dem Ruf der perfekten Familie gestört. Aber sie kamen vor vier Tagen mit einer anderen Idee. Zuckersüß sagte meine Mutter, wir wollen dir doch helfen, deine Abartigkeiten wieder los zu werden und sie hätten schon einen Therapieplatz gefunden. Das war dann zu viel. In der Nacht habe ich ein paar Sachen gepackt und bin abgehauen. Seitdem lebe ich jetzt auf der Straße, keine Ahnung wie es weitergehen soll. Und heute hast du mich mitgenommen.»

»Das ist ja ganz schön heftig.« war zunächst mein einziger Kommentar. Simon war noch in einer nachdenklichen Stimmung, das Erlebte hat ihn doch ziemlich getroffen. Ich goss ihm noch eine Cola ein und lenkte das Gespräch auf ein anderes Thema.

»Was willst du essen? Ich hatte dir doch versprochen, dass du was zum Essen bekommst, wenn du mitkommst. Außerdem habe ich auch langsam Hunger. Wir können uns eine Tiefkühlpizza in den Ofen schieben oder ich koche noch schnell Spaghetti Bolognese.«

»Eine Pizza wäre okay.«, antwortete Simon, »Und danke für alles Martin.«

»Das war doch selbstverständlich, ich habe jemandem zugehört, der es wert ist. Du brauchtest jemanden zum Reden und ich war für dich da. Bevor ich es vergesse. Du sagtest eben, du wüsstest nicht, wie es weitergehen soll. Nun hier kann ich dir helfen. Du kannst selbstverständlich bei mir übernachten und auch die nächste Zeit bleiben. Gemeinsam werden wir eine Lösung finden.«

Jetzt wollte ich aufstehen, doch Simon löste sich nur widerwillig von mir. »Es tut mir leid, aber ich muss in die Küche, die Pizza macht sich nicht von selbst.« Ich nahm die Pizzen aus dem Tiefkühlfach und schob sie in den Ofen. Dann ging ich zurück ins Wohnzimmer. Simon stand am Fenster und schaute hinaus auf die weihnachtlich geschmückte Straße. Er schien zu weinen. Ich trat hinter ihn und legt meine Arme um ihn. Erst erschrak er, doch dann lies er sich fallen.

»Weihnachten ist doch das Fest der Liebe, warum nicht auch in meiner Familie? Ich verstehe das nicht, früher war alles ganz anders. Und jetzt, jetzt wollen sie mich quasi loswerden. Ich habe mir mein Weihnachtsfest anders vorgestellt, im Kreise der Menschen, die mich lieben. Und wo bin ich jetzt? Bei einem Fremden, dem ich gerade mein Leben erzählt habe.«

Etwas Unsicherheit kam wieder bei ihm auf. »Es ist gut, du bist bei mir willkommen, du bist bei einem Freund, der dich so nimmt, wie du bist. Ich mag dich. Ehrlich. So wie ich dich jetzt erlebt habe, bist du ein wunderbarer Mensch.«

Ein Lächeln zog über seine Lippen. »Danke Martin, danke du bist so lieb zu mir. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Du hast mich einfach eingeladen ohne Ahnung, wen du da vor dir hast. Ich hätte mit meinen zerschlissen Klamotten ja auch ein Krimineller sein können, der dich abzieht.«

Im Hintergrund klingelte die Zeitschaltuhr in der Küche, die Pizzen waren jetzt fertig. »Simon, ich wiederhole es nocheinmal, ich habe dich zunächst gebeten, weil du mich interessiert hast. Und ich bereue nicht, dich eingeladen zu haben. Und jetzt komm mit. Sonst wird die Pizza kalt.«

Ich zog ihn hinter mir her in die Küche. Dort setzten wir uns an den kleinen Tisch und aßen schweigend unsere Pizzen. Simon hatte wirklich Hunger, er verschlang regelrecht seine Pizza. Gut ich bin beim Essen ohnehin nicht gerade der Schnellste, da ich es nicht schwer schneller fertig zu sein als ich.

Als wir wieder im Wohnzimmer saßen, klingelte mein Telefon. »Hallo, Martin hier, wer stört?«, antwortete ich, da ich an der Anzeige im Display sah, dass es meine Eltern waren, genauer meine Mutter.

»Martin, wie sieht es morgen Abend aus. Wann kommst du vorbei?« Ja an Heilig Abend wollten wir wieder zusammen feiern meine Brüder und meine Eltern. Nur dieses Jahr war es das erste Mal, dass ich nicht mehr zu Hause wohnte. Ich hatte in einer anderen Stadt mit dem Studieren angefangen. Daher die Frage, wie es morgen aussieht.

»Ich weiß noch nicht genau, wann ich komme. Andere Frage, kann ich noch jemanden mitbringen?«

»Ich denke schon. Sage mir nur rechtzeitig. Hast du endlich einen Freund gefunden? Würde mich für dich freuen. Das wäre dein schönstes Weihnachtsgeschenk. Wo du schon so lange auf der Suche bist.«

»Da hast du wohl recht. Ob es eine Beziehung wird, weiß ich noch nicht, auf jedenfalls eine gute Freundschaft. Aber die Geschichte ist etwas schwieriger und ich möchte sie nicht ohne Simons Erlaubnis erzählen. Ich weiß auch noch nicht, ob er überhaupt mitkommen will. Aber morgen früh weiß ich es und rufe dich noch einmal an. Tschüß bis morgen, schönen Abend noch.«

»Tschüß Martin, bis morgen.«

Simon saß schweigend neben mir, nur als er seinen Namen gehört hatte, schaute er mich kurz an.

»Das war meine Mutter, sie wollte wissen, wann ich morgen komme. Bisher haben wir Heilig Abend immer zusammen in der Familie gefeiert, meine Brüder, meine Eltern und ich. Nur dieses Jahr wohne ich das erste Mal nicht mehr zu Hause. Ach ja, meine Eltern und Brüder wissen, dass ich schwul bin und hatten noch nie ein Problem damit. Da habe ich echt Glück gehabt mit meiner Familie.«

Bei meiner Erzählung liefen Tränen an seinen Wangen herunter. Er lehnte sich wieder an mich, ja er schmiegte sich richtig an mich. Es war sein erstes Weihnachten ohne Eltern. Das schien ihn doch sehr getroffen zu haben. Er wollte sein Weihnachtsfest nicht unbedingt alleine verbringen ohne Menschen, die ihn lieben.

»Sorry, ich wollte dich jetzt nicht herunter ziehen.«, versuchte ich ihn zu beruhigen.

»Ist schon gut, du hast es ja nicht böse gemeint. Außerdem kannst du ja nichts dafür, dass meine Eltern so intolerant sind. Auch wir haben Weihnachten immer so gefeiert, nur bin ich leider ein Einzelkind. Warum kann das dieses Jahr nicht auch so sein? Ich bin doch noch immer der selbe. Lieben sie mich nicht mehr. Ach Martin, irgendwie komme ich mir abgeschoben vor. Keiner will mich haben.«, sagte Simon mit gesenktem Kopf.

»Simon, ich habe schon einmal gesagt, sage so etwas nicht. Ich zum Beispiel mag dich sehr. Und auch wenn wir uns nur kurz kennen, würde ich dich nur ungern wieder verlieren. Ich weiß auch nicht, wie ich es sagen soll. Und mit dem Weihnachtsfest mache ich dir ein Angebot.« lächelte ich Simon an, »Ich habe meine Mutter gefragt, ob ich noch jemand mitbringen kann. Denn ich will dich auf keinen Fall alleine lassen und schon gar nicht an Weihnachten. Das hast du nicht verdient. Du bist intelligent, schön, einfach wunderbar.«

»Ehrlich, das würdest du tun?«, bekam ich als Antwort. Seine Stimme klang auf einmal richtig fröhlich. So habe ich ihn noch nicht erlebt. »Ach Martin, ich weiß nichts, was ich sagen soll. Noch nie war jemand außer den Leuten von der Jugendgruppe so hilfsbereit zu mir. Ich finde es einfach toll, das du mir das anbietest. Ich komme gerne mit.«

Simon strahlte richtig, auch ich war froh, ihn so zu sehen. Ich genoss seine Nähe, wie er so eng an mich gelehnt war. Nur machte ich mir Gedanken, wie es jetzt weitergehen sollte. Einerseits fand ich Simon schon süß und er wäre sicher der Richtige für mich. Aber andererseits wollte ich jetzt nicht die Situation ausnutzen, dass er einfach jemanden zum Reden brauchte. Ich wollte sein Vertrauen nicht missbrauchen. Gut er war schwul und wusste dies auch von mir. Aber zwei Schwule müssen ja nicht gleich im Bett landen. So wie dies bei meinen früheren sogenannten Beziehungen leider der Fall war. Vielleicht war da mein Wunsch nach einem Freund zu stark und hat mich blind für die Realität gemacht.

Hier war das etwas anderes. Irgendwie ging mir Simon nicht aus dem Kopf, er war mir wichtig geworden. Ich konnte mir nicht mehr vorstellen, ohne ihn zu sein. Kurz, ich glaube ich hatte mich in Simon verliebt. Und ich wünschte mir schon länger einen richtigen Freund, nicht solche Kurzbeziehungen, die die Bezeichnung Freundschaft eigentlich nicht verdienten, wie in der Vergangenheit.

»Ist was Martin? Du bist auf einmal so still.«, fragte Simon, als er bemerkte, dass ich in Gedanken versunken war. »Ach ich weiß nicht, ich sagte dir schon, dass ich dich mag. Ich fühle mich in deiner Nähe geborgen. Vielleicht war dies auch mit ein Grund, warum ich dich eingeladen hatte, nicht nur das Interview. Ich bin zwar geoutet und niemand hat mit meinem Schwul sein ein Problem. Aber trotzdem habe ich noch keinen Freund gefunden. Manchmal geht es mir so wie dir, ich fühle mich einsam und frage mich, was ich wohl falsch mache. Ich würde jedenfalls gerne einen lieben Freund haben. Und jetzt sitzt du neben mir und kuschelst dich an mich. Ich glaube ... ich glaube ich habe mich in dich verliebt.«

»Da bin ich jetzt baff, damit hätte ich nicht gerechnet. Ich weiß noch nicht, ob ich dich auch liebe. Bisher hatte mir noch niemand gesagt, dass er mich liebt. Das ist alles Neuland für mich. Andererseits hätte ich auch gerne einen lieben Freund und du bist so liebevoll zu mir. Obwohl du z.B. weißt, dass ich auch schwul bin, hast du noch nicht versucht, mich ins Bett zu bringen. Bisher dachte ich, dass zwei Schwule gleich im Bett landen. Aber so etwas will ich nicht und deshalb bin ich froh, dass du mich einfach nur hältst ohne weiteren Hintergedanken.«

»Aber, aber ich dachte, du du könntest...« jetzt war es an mir, die Laune in den Keller sinken zu lassen.

»Stopp Martin, so habe ich das nicht gesagt. Das ist alles neu für mich und ich weiß ja noch gar nicht, was Liebe ist. Aber ich glaube, ich könnte mir das mit dir schon vorstellen. Lass mir bitte noch etwas Zeit, okay?«, beruhigte Simon mich wieder.

»Ist schon okay, ich will dich nicht drängen. Lass dir Zeit.«

»Danke.«, sagte er und kuschelte sich noch enger an mich. Irgendwann schlief er ein. Er sah richtig süß aus, wie sein Kopf auf mir lag und ruhig atmete. Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen und träumte von Simon und mir.

Nach einiger Zeit wurde ich wieder wach und stellte fest, dass Simon immer noch schlief. Ich trug ihn in meine Bett und deckte ihn zu, ich wollte ihn nicht aufwecken. Dann zog ich Isomatte und Schlafsack aus dem Schrank und legte mich neben dem Bett hin. In der Nacht wurde ich kurz wach und merkte, dass Simon ebenfalls gerade wach lag. Er fragte, ob ich mich neben ihn legen könne, er bräuchte jemand zum Anlehnen. Da konnte ich nicht nein sagen und schlüpfte zu ihm unter die Decke. Wir kuschelten uns aneinander und schliefen ein.

Am nächsten Morgen wurde ich wach und stellte fest, dass mein einer Arm eingeschlafen war. Während ich noch versuchte, meine Gedanken zu ordnen, ich bin halt ein Morgenmuffel, blickte ich zur Seite und sah den Grund für meinen eingeschlafenen Arm. Simon lag auf ihm. Jetzt erinnerte ich mich auch so langsam an das, was am Vorabend passierte.

»Guten Morgen.«, raunte mir Simon ins Ohr als er aufwachte. Er strahlte mich fröhlich an. So könnte ich jeden Morgen aufwachen. Dann geschah etwas, womit ich nicht rechnete, er gab mir einen Kuss. Erst zaghaft, dann immer leidenschaftlicher. Als wir uns lösten, war ich doch einigermaßen verwirrt. Mein Gehirn hatte noch nicht den vollen Betrieb aufgenommen.

»Was ist? Habe ich was falsch gemacht?«, auch Simon schien meine Verwirrung bemerkt zu haben. Das fröhliche Lächeln war wieder einem neutralen Gesichtsausdruck gewischen.

»Ich war etwas verwirrt, gestern sagtest du mir noch, dass du noch nicht wüsstest, ob du mich auch lieben würdest und heute morgen werde ich mit einem Kuss geweckt. Heißt das, du hast dich entschieden?«

»Ja mein Großer, ich liebe dich auch und möchte dich nicht mehr hergeben. Du bist das beste, was mir passieren konnte. Lass mich nie wieder los.«

»Gerne mein Kleiner, du hat mir das schönste Weihnachtsgeschenk gemacht. Dich gebe ich so schnell nicht wieder her.« Und schon wieder küssten wir uns. Langsam kam mein Gehirn auf Touren, mir fiel ein, dass ich meine Mutter noch anrufen wollte, wann ich heute vorbei komme. Außerdem musste ich ihr noch sagen, dass Simon mitkommt, sie also für eine Person mehr vorbereiten muss.

»Simon, auch wenn das jetzt unromantisch klingt, lass uns jetzt aufstehen. Ich muss noch mit meiner Mutter telefonieren wegen heute Abend. Vielleicht können wir ja auch früher kommen. Meine Familie will dich bestimmt kennen lernen. Und heute abend ist da eher wenig Zeit. Denn der Heilig Abend läuft bei uns nach einem bestimmten Ritual ab. Baum schmücken am Nachmittag. Meine Mutter kochte das Essen, wobei ich ihr in den letzten Jahren geholfen hatte. Dann gemeinsames Singen von Weihnachtsliedern, anschließend kommt die Weihnachtsgeschichte, früher von der Mutter vorgesen, später von einer CD. Danach das Essen und ganz zum Schluss die Geschenke.«

»Was erwartet mich bei deiner Familie?«

»Keine Angst, sie werden dich offen aufnehmen. Außerdem freuen sie sich bestimmt, dass ich endlich einen Freund habe. Ich war ja zwischendurch schon manchmal ziemlich mies drauf, weil ich keinen Freund hatte. Sie werden dich als Schwiegersohn oder Schwager in unserer Familie willkommen heißen. Meine Familie ist jetzt auch deine.«

Jetzt stieg ich aus dem Bett und ging zum Bad und verrichtete meine übliche Morgentoilette. Als ich aus dem Bad kam, lag Simon immer noch im Bett. Ich ging auf ihn zu und fing an ihn zu kitzeln. »Wollen doch mal sehen, ob ich dich nicht aus dem Bett bekomme.« Und dann ging es los, ich kitzelte seinen Bauch durch. Er versuchte sich zu wehren, aber er war chancenlos. Nach einem Versöhnungkuss stieg er aus dem Bett und verrichtete ebenfalls seine Morgentoilette.

Ich ging inzwischen zum Telefon und rief meine Mutter an.

»Baum, hier.« meldete sich meine Mutter.

»Guten Morgen, hier ist Markus. Gut geschlafen? Du ich bringe noch Simon mit. Er will mitkommen.«

»Danke, dass du mir das rechtzeitig sagst. Er ist jederzeit willkommen. Seid ihr jetzt zusammen?«

»Ja Mutter und ich bin glücklich. Ich glaube Simon ist das beste, was mir passieren konnte. Er ist einfach wundervoll. Wenn ich ihn sehe ...«

»Ich sehe schon, mein Markus ist verliebt. Dich hat es voll erwischt. Ich freue mich für dich.«

»Ja ich bin total glücklich, dass ich Simon habe. Ihr werdet ihn ja nachher noch kennen lernen. Apropos, können wir schon Vormittags vorbei kommen? Nachmittags bleibt zum kennen lernen nicht mehr so viel Zeit. Der Heilig Abend will auch vorbereitet sein.«

»Okay mach dies, dein Vater, Tom und Peter freuen sich sicher genauso wie ich, deinen Schatz kennenzulernen. Am besten ihr kommt so um 11:00 Uhr vorbei. Bis nachher.«

»Okay bis nachher.«

Noch fürs Protokoll, die eben erwähnten Tom und Peter sind meine beiden jüngeren Brüder, beide hetero, aber auch noch solo. Ob das in der Familie liegt?

Nach dem Gespräch mit meiner Mutter setzte ich mich auf die Wohnzimmercouch und wartete, bis Simon fertig war. Als er herein kam, sah er richtig süß aus. Nur die alten Klamotten passten nicht mehr ganz dazu. Ich werde mal nachher sehen, was ihm passen könnte. An Weihnachten soll er schon etwas besser aussehen.

»Du Simon, wir können schon um 11:00 Uhr bei meinen Eltern vorbei schauen. Und sie freuen sich alle auf dich.«

Simon setzte sich neben mich auf das Sofa und gab mir einen Kuss.

»Danke Martin für alles, ich bin ja so froh, dich getroffen zu haben. Nur eines würde ich gerne noch wissen. Du weißt jetzt schon viel über mich. Aber ich weiß außer deinem Namen und dass du hier eine eigene Wohnung hast, nichts über dich. Martin, wer bist du?«

»Gut, also ich bin Martin und habe in diesem Semester angefangen, Mediendesign zu studieren. Mein Coming Out hatte ich mit 16. Ich merkte schon länger, dass es mit mir und einem Mädel wohl nichts geben würde. Denn Jungs fand ich immer interessanter. Als ich dies meinem besten Freund sagte, nahm er es positiv auf wie auch die übrigen Freunde. Auch in meiner Klasse gabe es bis auf unvermeidbare Ausnahmen keine Probleme. Bei meine Eltern kam das eher durch Zufall heraus. Ich ging nämlich in eine schwule Jungendgruppe, und eines Abends rief einer von denen an und wollte, dass ich beim Offenen Treff hinter der Bar aushelfe. Dummerweise hatte er sich als Chris von der Schwulen Jugendgruppe gemeldet und mein Vater hatte das Gespräch angenommen. Doch wider Erwarten nahmen sie es positiv auf.«

Ich erzählte ihm noch weitere Dinge über mich und hatte einen aufmerksamen Zuhörer. Später sind wir dann zu meinen Eltern gefahren. Dort wurde Simon sofort ins Herz geschlossen. Alle gratulierten uns und freuten sich für uns.

Für mich war dies das schönste Weihnachten seit langem. Ich hatte das tollste Geschenk erhalten einen lieben Freund. Mein größter Wunsch ging endlich in Erfüllung. Auch für Simon ging ein Wunsch in Erfüllung. Er konnte im Kreise von Menschen feiern, die ihn liebten und hatte ebenfalls einen Freund, nämlich mich. Und er wurde hier so akzeptiert, wie er war, nämlich schwul.

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