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Right to the End

Teil 2

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Inhaltsverzeichnis

 

"Aber das geht doch nicht!"

Äh, was wollte die Frau von mir? Ich meine, da kommt man gerade die Treppe runter zum Frühstück, murmelt sein "Guten Morgen" in die Runde und dann so was. Meine Antwort war entsprechend ausführlich.

"Häh?"

Was nun wieder meinen Zwillingsbruder, na ja, sagen wir mal meinen Zwillingsbruder auf Probe, zum Grinsen brachte, irgendwie wusste Justin immer genau, was gerade lief.

"Chris will sagen, dass er sein T-Shirt heute Morgen vorschriftsmäßig an die Decke geworfen hat, und es ist nicht kleben geblieben."

Was? Wer ist tot? T-Shirt?

"Seid ihr alle bescheuert? Gib mal den Kaffee rüber."

Nein, damit war es natürlich nicht vorbei. Eric kämpfte mit einem Grinsen und bei Ben sah's auch nicht besser aus. Rachel guckte mich scharf an.

"Chris, so geht das nicht!"

Justin grinste immer noch.

"Okay, dann spiel ich mal den Übersetzer: Mum meint, dass es sich nicht gehört, ein T-Shirt mehrere Tage zu tragen, und dass man geduscht zum Frühstück kommen sollte."

Ich nickte.

"Ja, unser Butler hat auch so komische Ideen, aber er hat sich dran gewöhnt."

Eigentlich war das als Friedensangebot gemeint, so nach dem Motto 'Können wir nicht später darüber reden', aber da kannte ich Rachel schlecht. Hab ich schon erwähnt, dass sie früher Bürgerrechtsaktivistin war? Ich war wohl ihr neues Betätigungsfeld, Mutterinstinkt und so. Irgendwann muss ich ihr mal erzählen, wie ich schießen gelernt habe.

"Butler? Ich bin doch nicht dein Butler!! Du kannst..."

Ach du liebe Güte! Hatte ich gerade die halbe Menschheit hingemeuchelt oder so was?

"...doch nicht so rumlaufen! Ich mache mir hier Mühe, damit wir schön frühstücken können..."

Na ja, mag sein, dass sie den Kram auf den Tisch gestellt hatte, mehr aber auch nicht.

"...und du respektierst das nicht! Wir sind auch Menschen und wir möchten von dir respektiert werden!"

Klar, ich bin sicher, Ben verbringt jeden Morgen Stunden vor dem Spiegel, damit er so abgerissen aussieht, Justin hat so viel Geschmack wie ein Amboss und Eric gibt hier auch nicht gerade den Modefreak. Hätte ich sagen können. Ich bin ja nicht lebensmüde.

"Ja, Mum."

So viel hatte ich inzwischen gelernt. Und so schlurfte der weltberühmte Chris, Killer-Kid und ausgemusterter Krieger, die Treppe wieder rauf. Duschen und umziehen. Als ich wieder runterkam, waren die Brötchen alle. Scheißleben! Rachel ging mir mächtig auf die Eier. Einmal hätte ich sie fast erschossen. War echt nicht meine Schuld, ich meine, wir waren beim Training, ich machte gerade mein Magazin leer, da zupft sie mir von hinten an den Klamotten rum. Soll ich jetzt vor dem Töten erst mal checken, ob meine Hose richtig sitzt? Ich hasse es, wenn jemand an mir rumgrabbelt! Und dann dauernd diese blöden Sprüche 'Chris, du isst zu wenig! Chris, du rauchst zu viel! Chris, du schläfst zu wenig!' Was kommt als nächstes? Chris, du schießt zu laut? Ich machte erst mal eine kleine Atemübung, um wieder zu Verstand zu kommen. Heute war nämlich der große Tag. Zehn Schuss auf 20 Meter. Ich gegen Michael. Der Verlierer musste die Waffen hinterher putzen. Natürlich war die Vorbereitung alles, die Entfernung wurde mit einem Maßband abgemessen, die Bürsten, Lappen und das Öl schon mal für den Verlierer hingestellt, fehlte eigentlich nur noch der Würstchenstand und das Freibier. Ich bin inzwischen auf Glock umgestiegen, ist wirklich einfacher, aber natürlich Kaliber 45 - manche Dinge ändern sich nie. Und dann holte Michael seine Waffe raus. Okay, Revolver sind auch Waffen, aber das Ding war so ein alter Colt von anno frag mich nicht, Kaliber haarscharf unter Kanonenkugel und ein Gewicht jenseits von Gut und Böse. Ein bisschen Show gehört zum Handwerk.

"Kannst du bitte noch etwas weiter weggehen, ich möchte nicht dabei sein, wenn dir das Ding in der Hand explodiert."

Michael grinste nur.

"Keine Angst, die Kugeln sind von Hand gegossen und ich hab die Patronen selbst geladen. Du hast keine Chance."

"Bete lieber, dass die Kugeln überhaupt bis zur Scheibe kommen. Hast du dran gedacht, den Lauf gerade zu biegen?"

Wie gesagt, ein bisschen Show gehört dazu. Und dann ging’s los. Und war in drei Minuten vorbei. Um Michaels Kanone sauber zu kriegen, hab ich fast 'ne Stunde gebraucht. Wenigstens schaute Eric mal vorbei.

"Siehst du, jetzt bist du schon wie ich, ich kann auch nicht schießen."

Hmpf! Ich kann nicht schießen? Also wirklich! Aber dann sah ich das Funkeln in seinen Augen.

"Klar! Ich weiß nicht mal, wie rum man so ein Teil eigentlich hält. Aber dafür..."

Langsam erhob ich mich zu meiner ehrfurchtgebietenden Größe von 1,72m.

"...bin ich größer als du!"

War nicht wirklich gelogen, auch wenn der Unterschied kaum auffiel. Ich verwandelte mich in eine Art Großer-Bruder-Monster und beschleunigte auf das Tempo eines Regionalexpresses der Deutschen Bahn, ich wollte Eric ja nicht einholen. Nach ein paar Minuten standen wir keuchend und lachend vor einem grinsenden Publikum, ich bin ziemlich sicher, dass sogar Michael mal zwischendurch gelacht hat. Dafür musste er aber auch sofort wieder dienstlich werden.

"Wenn ich euch so anschaue, dann müssen wir unbedingt ein wenig Laufen trainieren."

"Weglaufen? Bist du bescheuert?"

War gar nicht böse gemeint, aber weglaufen verstieß nun wirklich gegen alles, was ich je gelernt hatte. Ein Krieger läuft nicht weg und eine Kugel ist schneller als jeder Läufer, also ist Weglaufen sinnlos. Ein Rückzug mag klug sein, Weglaufen niemals. Michael legte seinen Arm um meine Schultern.

"Lieber Chris, ich sagte Laufen und nicht Weglaufen. Abgesehen davon, auch große Krieger müssen in die Schule und du wirst eine US-Amerikanische Highschool besuchen und..."

Justin nickte lächelnd, er wusste bestimmt schon, was kam - wie immer.

"...da hat Sport eine ganz andere Bedeutung als in Deutschland. Für Football oder Basketball fehlt dir die Übung, aber in der Leichtathletik solltest du mithalten können und deshalb fangen wir morgen mit dem Training an. Übrigens, das gilt für auch für dich, Justin..."

Schlagartig hörte das Lächeln auf.

" ... und natürlich auch für dich, Eric."

Na, super! Bundesjugendspiele! Da hat der Mensch Fahrräder, Autos und sogar Flugzeuge erfunden, um nicht mehr laufen zu müssen, und dann so was! Da fiel mir noch was ein.

"Sag mal, in den Staaten darf ich doch schon Auto fahren, oder?"

War doch eigentlich nur eine harmlose Frage..., dachte ich. Rachel kriegte schon wieder ihren Mutterblick und sogar Ben hatte Falten auf der Stirn und dann brach das Chaos aus.

"Wart mal, so schnell..."

"Ich auch! Wenn Chris..."

"Bist du wahnsinnig! Das kommt gar nicht in..."

Dauerte was, bis wieder Ruhe war. Na ja, Ruhe war eigentlich nur für eine halbe Sekunde, dann legte Rachel wieder los. Schwer zu stoppen, diese Frau.

"Vergiss es! Du fährst nicht!"

"Ich bin 16 Jahre alt und habe 13 Menschen erschossen. Wenn ich alt genug zum Töten bin, dann ja wohl auch zum Autofahren."

Ein Killerargument. Dachte ich. Rachel sah das anders.

"Nur weil diese Wahnsinnigen dich zum Mörder gemacht haben, bedeutet..."

Dann hat sie mein Gesicht gesehen. Und meine rechte Hand. Die lag am Griff der Glock. Ich bin ganz nah rangegangen. Ich war nicht sauer. Ich hab sie gehasst. Mehr als die Typen, die die Filme mit mir gemacht haben. Ich hab sie gehasst wie meine Mutter.

"Du. Bist. Nicht. Meine. Mutter. Ich hatte drei Väter und einen Freund und ich habe sie alle geliebt. Also pass auf, was du sagst!"

"Ich will doch nur..."

Sie hatte es nicht kapiert. Ein paar Meter weiter stand ein Baum. Ich drehte mich um und sah wieder das Gesicht meiner Mutter. Als das Magazin leer war, verschwand das Gesicht. Tut es immer. Ich schaute Rachel in die Augen.

"Das würde ich mit meiner Mutter machen, wenn ich könnte."

Ich dachte an meine Väter und an Daniel und sagte noch mehr, das war ich ihnen schuldig.

"Karl hat mir ein Zuhause gegeben. Er war bestimmt nicht perfekt, aber er hat sein Bestes gegeben. Dahille hat mich gelehrt, ein Krieger zu sein und zu töten, das ist richtig. Aber er hat auch aus einem Jungen, der genau wusste, dass er nur ein Spielzeug von Männern war, einen Menschen gemacht, einen Menschen mit Selbstachtung, der versucht aufrecht zu gehen. Und Walsh hat mir beigebracht, was Lachen ist und dass nicht jede Umarmung was mit Sex zu tun hat. Und Daniel hat mir gezeigt, was Liebe ist. Wenn das Wahnsinnige waren, dann will ich auch wahnsinnig sein, denn es ist die einzige Art, in dieser beschissenen Welt zu leben!"

Da hat Justin mich überrascht. Er legte mir die Hand auf die Schulter.

"Solche Väter hätte ich auch gern gehabt."

Manchmal ist die Wahrheit ganz einfach.

"Ich glaube... ich auch."

Eric. Damals fingen wir an Brüder zu werden.

Ich hatte es mir ja schon gedacht. Bundesjugendspiele. Nur schlimmer. Wir liefen wie die Blöden durch die Botanik, bis Michael ein Einsehen hatte.

"Na gut, Langstreckenläufer werdet ihr im Leben nicht. Aber wir versuchen es mal mit der Kurzstrecke. Der Verlierer läuft noch zwei Runden, der Zweite braucht nur eine Runde zu laufen und der Gewinner gar nicht."

Raue Sitten, aber dafür haben wir uns angestrengt. Ich meine, so richtig, und die zusätzliche Runde, die ich laufen musste, war zu schaffen. Ich glaube, Michael genoss den Anblick von drei völlig fertigen Menschen, jedenfalls lächelte er.

"Gar nicht mal so schlecht. Ehrlich gesagt überraschend gut, wenn ich bedenke, wie ihr euch auf der Langstrecke angestellt habt, und ..."

Na, danke. Das bedeutete ja wohl, dass wir nicht mehr durchs Gemüse hecheln mussten.

"... deshalb werden wir morgen mit dem Kurzstreckentraining anfangen. Wäre doch gelacht, wenn ich euch nicht in die Schulmannschaft bringen könnte!"

War bestimmt als Motivation gedacht, aber so wirklich hat das nicht funktioniert. Bist du schon mal in den ersten Stock gegangen und hast überlegt, zwischendurch ein paar Pausen einzulegen? Genauso fühlten wir uns. Das Abendessen war entsprechend ruhig und ich war froh, als ich wieder auf meinem Balkon saß, Beine hoch und so. Hier kannst du eigentlich abends nur der Sonne beim Untergehen zugucken oder lesen, und den Sonnenuntergang kannte ich schon. Trotzdem hab ich eigentlich nur das Buch festgehalten und so langsam fielen mir die Augen zu und es war so schön still und es tat so gut, einfach nur in Ruhe zu sitzen und...und dann klopfte es. War ja klar. Natürlich hätte ich das "Bitte nicht stören"-Schild raushängen können. Wenn es eins gegeben hätte. Ich kroch zur Tür und hatte eigentlich mit Michael gerechnet, der mir noch 'n Fitnessstudio vorbeibringt, damit mir nicht langweilig wird, aber zum Glück war's nur Justin.

"Hast du Zeit?"

"Klar, komm rein."

Auf dem Weg zum Balkon schielte ich auf das Bett in meinem Schlafzimmer. Nee, nicht wegen Justin. Wäre ja auch zu schön gewesen.

"Willst was trinken? Ich hab 'n Jahresvorrat Mineralwasser, Bier, Cola und Kaffee."

Wir haben hier so was wie einen Lagerraum, jeder nimmt sich, was er braucht.

"Ich nehm’ ein Bier."

War bestimmt ein Fehler, aber ich nahm auch eins.

"Ist so richtig schön hier."

Ja, das war mir auch schon aufgefallen. War klar, dass er über irgendwas reden wollte.

"Mmhh."

"Irgendwann müssen wir nach Thomasville."

Aha, da lag der Hase im Muskat. Ihm ging der Arsch auf Grundeis.

"Ja. Aber ich glaube, wir werden ein ziemlich gutes Team."

Justin holte tief Luft.

"Ich weiß nicht, ob ich gut genug für das Team bin. Wir üben mit Waffen und ich weiß nicht, ob ich das bringe. Es ist ein Unterschied, ob man auf Scheiben oder auf Menschen schießt."

"Stimmt. Scheiben schießen nicht zurück."

Das war einer von Walsh’s Sprüchen. Ich trank einen Schluck, um Zeit zu schinden.

"Ich weiß, was du meinst. So wie ich das sehe, werden wir nur in Notwehr schießen."

Schöner Trost. Ich hatte Justin gerade gesagt, dass wir nicht auf wehrlose Menschen schießen würden, sondern auf Leute, die versuchen, uns umzubringen. Klasse, Chris, mit dem Gedanken kann er bestimmt besser schlafen.

"Weißt du, ich habe Angst, dass ich das nicht schaffe, dass ich versage."

Und wahrscheinlich auch noch, dass wir alle wegen ihm draufgehen und sich die komplette USA in ein Schlachtfeld verwandeln wird. Tja, Kleiner, keiner hat gesagt, dass es einfach wird.

"Hör mal, du wirst schon nicht versagen und ...."

Blubber, blubber. Chris, das kannst du besser.

"... ach, Scheiße! Hör zu, also, ich war mal in Montana, mit Dahille und Walsh."

Er wusste inzwischen, wer die beiden waren.

"Da war so eine einsame Hütte in der die Typen ... na ja, du weißt schon."

Er nickte.

"Es gab keine Chance ungesehen reinzukommen. Und über gut 100m freies Schussfeld zu laufen ist nicht gerade gesundheitsfördernd. Wir hatten zwar schwere Waffen, aber dann wäre der Junge auch draufgegangen. Wir saßen gerade am Waldrand und hatten keine Idee, was wir machen sollten. Und dann hörten wir jemanden schreien. Aus der Hütte. Da haben wir nicht mehr nachgedacht. Es ging ganz automatisch. Und falls sie uns gesehen haben, haben sie jedenfalls nicht geschossen. Wir schon. Als wir drin waren."

Mir dreht sich immer noch der Magen um. Dieser Schrei... es war der letzte. Wir waren zu spät. Wir haben die Typen hinter dem Jungen hergeschickt und uns hinterher endlos gefragt, warum wir nicht eher reingegangen sind.

"Du meinst, wenn es losgeht, dann läuft es von alleine?"

Ich nickte.

"Genau. Du siehst eine Gefahr und hinterher stehst du da mit der Waffe in der Hand und versuchst zu verstehen, was da gerade passiert ist. Deshalb üben wir hier, damit du im Ernstfall alles richtig machst. Übrigens bist du schon ziemlich gut."

Ich machte mir 'ne Kippe an und schmiss ihm die Packung rüber. War eigentlich bedeutungslos, die Dinger lagen haufenweise im Lager. Justin schüttelte den Kopf und nahm sich eine.

"Nicht gut genug. Du bist richtig gut und trotzdem haben sie dich erwischt."

Na ja, ist ziemlich hoffnungslos, wenn man das erste Ziel von vier Leuten ist, aber darum ging's nicht.

"Aber einen hab ich erwischt und damit meinen Freunden geholfen. Leben... Sterben... das ist nicht wichtig. Was du tust, ist wichtig."

Das hatte ich von Dahille gelernt. Das und vieles mehr. Wie viel mehr, das merkte ich erst so langsam.

"Du hast getroffen, als es darauf ankam. Ich weiß nicht, ob ich das schaffe."

Dagegen kenn’ ich nur ein Rezept.

"Komm!"

Ich ging mit ihm in einen anderen Lagerraum. Da, wo die Waffen sind. Justin schoss eine P99, bestimmt nicht schlecht, aber ich bin nun mal Überzeugungstäter.

"Hier, das hier ist jetzt deine."

Ich drückte ihm mein Modell in die Hand. Und dann gingen wir raus, es wurde gerade dunkel, ideal für schwieriges Schießen.

"Justin, gibt es jemanden, den du sehr magst?"

Er nickte.

"Und jemanden, den du hasst?"

"Oh ja!"

"Das da hinten ist keine Scheibe, sondern der Typ, den du hasst. Und er steht zwischen dir und dem Menschen, den du magst. Stell es dir vor."

Tat er. Und plötzlich kam die Waffe hoch und Justin schoss. Als er fertig war, gingen wir zur Scheibe.

"Siehst du?"

Er nickte.

"Ja, größere Löcher!"

"Trottel! Wann hast du das letzte Mal acht Treffer in den Kopf gelandet?"

Und da hat er's kapiert.

"Super! Ich glaub, ich üb’ noch ein bisschen!"

"Ist 'n bisschen witzlos, wenn´s gleich stockduster ist, aber mach ruhig. Ich geh schlafen."

Das Letzte, was ich an dem Tag hörte, waren Schüsse.

Tja, und so vergingen Tage, Wochen und Monate, obwohl, Michael hat mal gesagt, dass es hier so was wie Zeit nicht gibt, aber eigentlich doch, ich hab das nicht verstanden und ist ja auch egal, jedenfalls meinte Michael, dass wir bald soweit wären. War mir ganz Recht, ich meine, so langsam war es auch gut mit der Lauferei, aber da fiel mir noch was ein.

"Sag mal, sollten wir nicht Englisch lernen?"

Michael grinste nur trocken.

"Chris, du sprichst die ganze Zeit Englisch."

"What? You're kiddin' me? We..."

Da hab ich es gemerkt. Okay, machte die Sache leichter, aber trotzdem... gefallen hat's mir nicht. Und dann war der Tag da. Ich hab Michael umarmt, ganz fest.

"Pass auf dich auf!" Er lächelte.

"Dito. Und keine Angst, wir sehen uns wieder. Todsicher."

Er hat eine verdammt merkwürdige Art von Humor. Dann kam der Rückweg oder wie man das nennen soll. Kennst du Stargate? Oder Raumschiff Enterprise? Vergiss es, so war's nicht. Michael machte das Tor zu einem der Schuppen auf und da stand ein völlig versiffter Audi. Kombi. Familienkutsche. Zieht keinen Hering vom Teller. Dazu noch voll beladen. Irgendwie hätte ich ja schon so was Aston-Martin-mäßiges erwartet. Oder einen Ford GT, geiles Teil. Hab ich schon erwähnt, dass ich schnelle Autos mag? Egal, sollte wohl nicht sein, wir quetschten uns zu dritt auf die Rückbank und wollten gerade loszuckeln, als Michael noch einmal winkte und dann das Tor zumachte. Mit uns drin. Ja, und dann war's dunkel, bleibt ja nicht aus. Und dann ein bisschen weniger dunkel und deshalb konnte ich sehen, dass wir auf einem Parkplatz waren. Alleine. Und es war Nacht und weit und breit nur Straße und richtig viel Gegend. Ja, war schon klar, das musste Amerika sein und wenn Michael seinen Job richtig gemacht hatte, dann waren wir nicht allzu weit von diesem Thomasville entfernt. Trotzdem mitten im Nirgendwo und ich dachte sofort an Klapperschlangen, Skorpione, Fledermäuse und riesige Spinnen. Ich bin nun mal Stadtkind und ich mag nichts Krabbelndes. Spinnen schon gar nicht. Zum Glück machte Ben den Motor an, auch so eine lahme Karre sollte schneller sein, als eine Spinne, auch wenn's eine Große ist. Ben drehte sich zu uns:

"So, gleich geht's los. Wenn noch mal jemand aufs Klo muss, dann jetzt. Wenn jemand noch was essen oder trinken will, dann jetzt. Wenn ich fahre, dann fahre ich, also nervt mich nicht!"

Als wenn ich nachts im Nirgendwo aus dem Auto steigen würde!

"Bei der Mühle können wir unterwegs aussteigen, fünf Gänge essen und dich dann locker wieder einholen."

Ich kann meine Klappe nicht halten. Ben grinste nur.

"Hoffen wir doch mal, dass sich alle so leicht täuschen lassen, wie du. Wirf deinen müden Blick mal auf den Tacho."

Tat ich. Tat ich noch mal.

"Häh? Was soll der Quatsch? Jeder kann sich so'n Tacho malen."

"Klar, aber nicht jeder hat 420 Pferdchen unter der Haube!"

Da war ich verloren. Hoffnungslos verliebt. Die Mühle sah aus wie frisch vom Schrott und war richtig schnell. Das Teil musste ich fahren. Koste es, was es wolle. Ich putzte mir unauffällig den Sabber von der Lippe. Ben fuhr los und spielte ein bisschen mit dem Gaspedal, das war nur noch toll und...

"Ist ja gut, kleiner Bruder, an Weihnachten darfst du bestimmt mal vorn sitzen."

Justin natürlich. Und er war tatsächlich der Ältere, deshalb bin ich offiziell 53 Minuten später auf die Welt gekommen. Nicht, dass das wichtig wäre. Auch, wenn Justin das anders sieht. So langsam kam die Sonne und deshalb konnte ich das Ortsschild sehen, nett. "Thomasville. Südwestalabamas Erfolgsgeschichte" Übersetzt hieß das wohl "Kleinkleckerdorf. Die Erfolgsgeschichte südlich von Großkleckersdorf". Ben guckte dauernd auf einen Zettel und schaffte es tatsächlich, bei einem WalMart anzukommen. War nicht besonders schwierig, liegt direkt an der Hauptstraße.

"So, hier können wir einkaufen."

"In ein paar Stunden vielleicht. Guck mal auf die Uhr."

"Oops, da war ich wohl ein wenig zu schnell."

Könnte man sagen. Man könnte es auch Tiefflug nennen. Wenn es hier Geschwindigkeitsbeschränkungen gab, war Ben seinen Führerschein schneller los als Scheiße ins Klo fällt. Moment mal, dann könnte ich ja den Wagen fahren ... gar nicht schlecht.

"Ben, dann lass uns doch zuerst zum Haus fahren und schon mal ein paar Sachen räumen. Wenn alles funktioniert hat, dann ..."

Rachel natürlich, wir anderen sollten Dad und Mum sagen. Seit ich wegen ihr den Baum erschossen hatte, verstanden wir uns besser. Nicht wirklich gut, aber wenigstens konzentrierte sie sich jetzt mehr auf Eric, na ja, den Kleinsten beißen die Hunde.

"... sollten die Möbel in der Garage stehen und wir können mit dem Einrichten anfangen. Und eins sage ich euch, ..."

Äh, morgens um halb sechs? Möbel schleppen? Ja, sonst noch was?

"... die Zimmer werden gemeinsam verteilt!"

Wir drei auf der Rückbank grinsten uns nur an. Die Frau machte sich Sorgen! Als ob uns die Zimmer interessiert hätten. Erst mal mit dieser God’s Army aufräumen und danach... keine Ahnung, Michael hatte was von guten Startchancen gesagt, also, den Audi wollte ich unbedingt haben, über den Rest würden wir uns schon einig werden. Das Haus war... nett. Ich meine, was soll ich sagen, wer Kitsch liebt, ist hier genau richtig. Weißes Holz, große Bäume davor, der nächste Nachbar richtig weit weg und dahinter nur Gegend mit viel Bäumen.

"Ob es hier fließendes Wasser gibt?"

"Weichei! Gebadet wird im Fluss und von da holen wir auch das Wasser."

"Immerhin gibt's Strom."

"Aber sicher nicht immer und mit Internet ist auch Essig"

Na ja, das, was da von den morschen Masten hing, sah aus wie ein besseres Verlängerungskabel. Wenigstens gab es genug zum Heizen, stand ja reichlich rum. Ben, sorry, Dad holte einen Schlüsselbund aus dem Handschuhfach und dann guckten wir uns das Ding von innen an. Eigentlich ganz schön, auch wenn alles mit Kisten und Kartons voll stand. Im ersten Stock gab’s drei schöne, große, helle Zimmer, Elternschlafzimmer und zwei für die Kinder. Eins zu wenig und viel zu nahe bei Mom und Dad. Das hatte doch von außen so ausgesehen, als ob...tatsächlich, da war noch 'ne Treppe. Und ein Zimmer unter dem Dach, klein, aber dafür sogar mit eigenem Bad. Bei der großen Zimmerverteilungskonferenz haben meine Brüder natürlich sofort geschrien, dass sie die großen Räume wollten und ich hab natürlich nichts von dem eigenen Bad gesagt, und so waren wir alle zufrieden. Und dann hat sich Rachel in eine Hausfrau verwandelt. Oh. Mein. Gott. Echt furchterregend. Frei ab 18.

"Jungs, bringt euren Kram hoch in eure Zimmer und richtet euch ein. Die Kisten sind markiert, J für Justin, C für Chris und E für Eric. Von allen anderen Sachen: Finger weg!"

"Ja, Mum."

Irgendwann zwischendurch muss sie Dad zum Einkaufen geschickt haben, denn Stunden später gab es wirklich was zu beißen und 'n Kaffee. Rachel hatte dieses Glitzern in den Augen, wie diese Massenmörder in den Filmen. Bedeutete wahrscheinlich, dass sie in ihrem Element war. Ich wollte keinen Ärger und war deshalb vorsichtig.

"Mom?"

"Mmh."

"Ich wollte mir ein bisschen die Gegend anschauen, okay?"

"Ja, gute Idee. Nimm Justin und Eric mit, dann lauft ihr mir hier nicht vor den Füßen herum. Ben, schau gleich mal nach den Fenstern, da sind einige nicht in Ordnung."

Armes Schwein. Ich wollte mir natürlich nicht die Gegend anschauen, da hätte ich mich auch ans Fenster setzen können. Ich schleifte die beiden in den Schuppen und da war alles, was wir brauchten, Axt, Schaufel und Kettensäge, und dann ging’s los. Stunden später kam Dad.

"Was um alles in der Welt macht ihr da?"

Ich legte die Axt weg und machte mir eine an.

"Freies Schussfeld."

"Wozu dass denn?"

Halloooo? Thomasville? God’s Amy?

"Diese God’s Army-Typen sind ja wohl nicht gerade zimperlich und wenn sie kommen, müssen wir ihnen nicht gleich freundlicherweise eine gute Deckung frei Haus liefern. Die Bäume standen zu nahe am Haus und hinter den Büschen hätte man sich gut verstecken können. Hat Michael uns eigentlich Gewehre mitgegeben?"

"Keine Ahnung, ich hab noch nicht alles ausgepackt."

Michael hatte, die Kisten standen im Schuppen, ganz hinten. Und weil ich von meinem Zimmer aus einen tollen Ausblick hatte, hab ich das Gewehr mit Zielfernrohr genommen. Ist übrigens legal hier. Michael hatte sich echt nicht lumpen lassen. Vollautomatisches Militärteil und ziemlich laut. Woher ich das wusste? Na ja, ich musste ja das Zielfernrohr auf den Waldrand einstellen und das geht nur mit ein paar Probeschüssen. Okay, ja gut, ich hätte den anderen vorher Bescheid sagen sollen. Rachel war gerade dabei, ein ziemlich großes Bild aufzuhängen und jetzt hat die Wand ein Loch. Vom Hammer. Hab ich schon erwähnt, dass Mom ziemlich gut fluchen kann? Würden die hier vernünftige Häuser bauen, wäre das nicht passiert. Und statt der Wände könnte man auch einfach ein paar Wolldecken aufhängen, die sind ungefähr genauso dick. Dann hab ich den Keller gesucht. War ein Fehler.

"Hat irgendwer die Kellertür gesehen?"

Dad grinste.

"Falls ja, will ich sofort wissen, was er geraucht hat. Und was davon haben. Chris, ist dir vielleicht aufgefallen, dass du ein paar Stufen hoch musst, wenn du unser Haus betrittst?"

"Ja, klar. Und?"

"Und wenn du genau hingeschaut hättest, wüsstest du, dass unser Haus auf Stelzen steht, wegen der Schlangen."

"Schl ... Schlangen?"

Irgendwie hatte ich das ganz miese Gefühl, dass Ben mich nicht verarschte.

"Jepp, Schlangen. Keine Angst, Schlangen klettern normalerweise keine Treppen hoch."

"Und wenn doch?"

"Nicht! Schießen! Verstanden? Du würdest zwar wahrscheinlich treffen, aber trotzdem. Halt Abstand und spring ein paar Mal auf den Boden, dann wird sie sich verziehen."

"Und wenn nicht?"

"Dann nimm einen langen Stock und wirf sie weg."

"Und wenn sie wiederkommt?"

"Dann mag sie dich und will nur kuscheln."

"Wie tröstlich."

Ben schüttelte den Kopf.

"Morgen früh zeige ich dir ein paar von den Viechern, ich bin sicher, ein paar werden unter dem Haus übernachten. Ihr solltet euch eigentlich gut verstehen, sie haben große Ähnlichkeit mit dir."

"Was? Ich kriech nicht auf dem Bauch und hinterlass eine Schleimspur und ..."

"Schlangen sind nicht schleimig. Man kann gut mit ihnen auskommen, wenn man sie richtig behandelt, aber wenn man einen Fehler zuviel macht, ist man tot. So wie bei dir. Und sie halten uns Mäuse und Ratten vom Hals."

Eigentlich mag ich Mäuse und gegen Ratten hab ich nichts. Aber Schlangen? Immerhin gab es jetzt einen Ort, an den ich nachts auf keinen Fall gehen würde.


Tja, und dann ging das Lernen los. Noch nicht in der Schule, Michael war schlau genug gewesen, uns in den Sommerferien loszuschicken, aber das ganze andere Zeug. Vor dem ersten Besuch unserer Nachbarn hat Mom mich zur Seite genommen.

"Chris, bevor die Millers kommen, muss ich dir noch ein paar Regeln erklären."

"Messer und Gabel benutzen und nicht aufs Tischtuch kotzen? Werd's versuchen."

Machen Mütter bei solchen Gelegenheiten eigentlich immer so ein Gesicht? Irgendwas zwischen Resignation, Verzweiflung und Ekel? Muss wohl in den weiblichen Genen liegen.

"Nein... Ja... also, natürlich sollst du nicht auf den Tisch kotzen! So ein Abendessen ist ein kleines gesellschaftliches Ereignis. Zieh dir was Hübsches an, rede nur, wenn du gefragt wirst, sei ausgesprochen höflich und vergiss deine Legende nicht!" Ach ja, meine Legende. Weil ich wohl nicht als der 'All-American-Boy' durchgehe, bin ich vor kurzem entführt, zehn Tage gefangen gehalten und dann gegen Lösegeld freigelassen worden. Ich rede nicht gern darüber und wir sind auch deshalb in ein anderes Land gezogen. Die Story ist so was wie ein Jagdschein, ich kann mir fast alles erlauben und Schuld ist die Entführung. Ziemlich cool. Das Abendessen war der Witz schlechthin, nur dass wir nicht lachen durften. Wir hatten uns echt rausgeputzt, gegessen, die Schnauze gehalten und dann kam Justin:

"Verzeihen Sie bitte, Mrs. und Mr. Miller. Mom, dürfen wir uns um das schmutzige Geschirr kümmern?"

"Ach, ihr seid doch die Besten. Natürlich dürft ihr spülen und stellt die Reste bitte in den Kühlschrank."

"Selbstverständlich, Mom."

Mrs. Miller ist eine der Tratschtanten der Stadt. Und wir hatten plötzlich den Ruf, ausgesprochen wohlerzogene Kinder zu sein. Trotz meines ach so schweren Schicksals, das die Familie in geradezu bewunderungswürdiger Weise trug. Als die Millers weg waren, haben wir so lange gelacht, dass die Flasche Scotch dabei draufgegangen ist. Na, wenn die Millers das mitbekommen hätten!

Dann hab ich meine Brüder zur Schule geschleppt. Eric musste zur Middle School, Justin und ich zur High School, liegen aber beide an der gleichen Straße, im Notfall konnte ich zügig bei Eric sein. Wir hatten Glück, der Laden war offen, Summer School für die Genies, die das Schuljahr nicht geschafft hatten und da konnten wir uns das Ding mal anschauen. Klein, neu, hell, übersichtlich, nur von Sicherheit hatten diese Leute noch nie was gehört. Keine Metalldetektoren, die Fenster lassen sich mit einem Schraubenzieher öffnen und die Schlösser könnte ich sogar im Halbschlaf knacken. Und wenn ich das kann, können das andere auch. Nicht gerade der Ort, um sich wohl zu fühlen. Wir checkten ein paar Fluchtwege, Verstecke, Absicherung der Notausgänge und solche Sachen, und waren wieder weg. Tja, und dann fingen wir an, uns bekannt zu machen. Jeden Morgen das gleiche Spiel. Nach dem Frühstück in die Sportklamotten, ab zur Schule und Lauftraining. Nicht unter drei Stunden. Nachmittags lieferte Mom uns auf der Schießbahn außerhalb der Stadt ab. Mit meiner Glock kam ich klar, aber eine SIG550 hatte ich vorher noch nie in der Hand gehabt. Nach ein paar Tagen wusste wirklich jeder in der Stadt, dass wir laufen und schießen konnten und dass wir selten ohne Waffe unterwegs waren. War ja auch Sinn und Zweck der Aktion. Und dann bin ich hinterrücks überfallen worden. Eigentlich war Dad Schuld.

"Chris, im Garten hinten rechts stehen drei Bäume ziemlich dicht zusammen. Also, wenn ich angreifen würde, dann von da."

War natürlich nichts anderes als die Einladung zum Bäume fällen, aber immerhin hatte er mitgedacht.

"Okay, schauen wir mal."

Ich hab die Kettensäge gleich mitgenommen und die unschuldigen Bäume hingemordet, nur hatte ich nicht geahnt, dass einer sich wehren würde. In meinem Glaubensbekenntnis steht das Wort Rache ziemlich weit oben, deshalb konnte ich ihm nicht mal böse sein. Ich hatte ihn gerade umgelegt, er hing nur noch an dem Stumpf, Kleinigkeit, kein Problem. Und dann sprang er auf mich drauf. War nicht das erste Mal, dass es plötzlich dunkel wurde, aber zum ersten Mal standen 'ne Menge Leute um mich rum, als ich die Augen wieder aufmachte. Krankenwagen und dann Emergency Room live und in Farbe, nur hatte ich keine Ahnung, warum eigentlich. Klar tat mir der Kopf weh, bei der Beule kein Wunder, und irgendwas stimmte mit dem Rücken nicht, aber dagegen gibt's Tabletten.

"'Schuldigung, mein Rücken tut ein bisschen weh und 'ne Kopfschmerztablette wäre jetzt echt Klasse, aber sonst bin ich fit."

Der Doc guckte mich an, wie Doc's eben gucken, wenn Patienten was besser wissen wollen als sie selbst.

"Das wird sich noch herausstellen. Jetzt müssen wir dich erst einmal untersuchen."

Joo, klar. Und es hat dem Arsch echt gestunken, dass er nichts gefunden hat. Er hat echt das ganze Programm durchgezogen und sein Gesicht wurde immer länger.

"Nun, du hast den Unfall offenbar gut überstanden. Die Rückenprellung wird sich geben und die Kopfschmerzen auch. Trotzdem würde ich dich gern noch einen Tag hier be..."

"Nein, dafür gibt es keinen Grund. Im Bett liegen kann ich auch zu Hause. Vielen Dank und schönen Tag noch."

Man lässt niemals sein Team im Stich. Niemals. Abgesehen davon hatte der Typ nicht mal 'ne Kopfschmerztablette rausgerückt. Abgesehen davon macht es mich nervös, auf einem Tisch zu liegen und jemand fummelt an mir rum. Abgesehen davon hab ich 'ne Scheißangst vor allem, was mit Medizin zu tun hat. Wenigstens weiß ich, warum das so ist. Ist jetzt aber jetzt egal, der Mist war, dass ich nicht mehr trainieren konnte, wegen dem Rücken. Gehen funktionierte, aber Rennen tat nur noch weh. Und dann hatte Mom ihren großen Auftritt.

"Ich habe heute mit Mrs. Miller gesprochen."

Eine wenig überraschende Mitteilung. Es ist ziemlich unmöglich, in dieser Gegend zu wohnen und nicht täglich mit ihr zu sprechen.

"Sie hat gesagt, der verstorbene Sohn der Tante ihres Cousins mütterlicherseits habe in solchen Fällen auf traditionelle Medizin geschworen."

"Und jetzt ist er tot."

Kommt nicht in Frage, dass so 'n besoffener Medizinmann seine Show mit mir abzieht.

"Nein, ach hör doch mal zu!"

Hab ich ja, sonst wüsste ich doch nicht, dass der Typ tot ist ... Mütter!

"Also, Mrs. Miller sagt, dass es in Fulton jemanden gibt, der sich da auskennt. Morgen fahren wir hin."

Der letzte Satz war so was wie 'n Fallbeil, keine Chance auf Gegenwehr. Ich meine, du kannst es versuchen, aber du kannst auch einen Elefantenweitwurf veranstalten. Ist einfacher, den Quatsch zu ertragen und dann ist gut. Aber das war gar nicht so einfach. Der Typ hatte so was wie eine Arztpraxis und da saß eine Frau.

"Haben Sie einen Termin?"

"Nein, leider nicht, aber ich bin sicher ..."

"Tut mir leid, aber dann kann Mr. Sun Sie nicht behandeln."

Da kannte sie Mom schlecht. Aber die andere Lady war auch kein Weichei. Die beiden haben sich echt so richtig in die Wolle gekriegt.

"Wenn Frauen sich streiten, sollte ein kluger Mann das Weite suchen."

Häh? Oops, da stand jemand neben mir und lächelte mich an.

"Komm, schauen wir mal, ob ich dir helfen kann."

Ein Blitzmerker wie ich hat natürlich sofort gerafft, dass das dies Mr. Sun sein musste. Der, der mich nicht behandeln konnte.

"Äh, Entschuldigung, aber ich habe keinen Termin."

"Es gibt nicht viele Krieger in diesem Teil der Welt."

Da hatte er bei mir gewonnen. Wir gingen in sein Büro oder was das war und als ich mein T-Shirt ausgezogen hatte, da waren die beiden Ladys immer noch zu hören. Inzwischen waren sie bei Tiernamen. Ich grinste.

"Erleben Sie das öfter?"

"Manchmal bin ich mit der Behandlung fertig, bevor der Streit aufhört. Wer ist dein Meister?"

"Er heißt Dahille. Er hat mich sieben Jahre Kenjutsu gelehrt, aber in Deutschland."

Mr. Sun nickte

"Aber nicht alle Narben sind vom Schwertkampf?"

"Nein. Aber sie sind der Grund, warum ich damit angefangen habe."

Er kam ganz nahe, nahm mein Handgelenk und schaute mir in die Augen

"Bist du gekommen, um zu kämpfen?"

"Ja."

"Gegen die Menschen, die dir das angetan haben?"

"Nein. Gegen Menschen, die auch sehr schlimme Dinge tun."

"Komm hierher, wann immer du willst. Es gibt hier nicht viele, die deinen Weg gehen, aber ich werde die Information weitergeben. Vielleicht findet sich jemand bereit, dich zu unterstützen. Und jetzt leg dich auf den Tisch, ich werde dir helfen."

Tat er auch. Er drückte und knetete und presste und dann gab er mir noch einen Beutel mit Medizin mit, so was wie 'n Tee vor dem Schlafengehen. Als ich wieder zu den beiden Frauen ging, hab ich gelernt, was das Wort 'Kalter Krieg' eigentlich bedeutet. War eigentlich merkwürdig, dass beide noch am Leben waren, und ich konnte auch kein Blut entdecken. Egal, mein Rücken tat nicht mehr weh und ich hatte einen... Freund gefunden. Den hatte ich auch bitter nötig, denn am nächsten Tag tauchte Mr. Dryson auf. Sportlehrer oder einfach Coach für alles, was sich an unserer Schule an Sport abspielt. Und natürlich hat er sich sofort den Jüngsten rausgepickt

"Hey Kleiner, wenn du nicht langsam Gas gibst, reiß ich dir den Arsch auf!"

Wir hatten schon von diesem freundlichen Herrn gehört. Er stelle sich in Positur, die Arme verschränkt, damit seine Oberarme gut zur Geltung kamen. Eric kam nicht mal aus dem Laufrhythmus und ich war so richtig stolz auf ihn. Der Rest war mein Job, weil, na ja, ich meine, natürlich hätte Justin ihm den Schädel wegpusten können, aber das wäre vielleicht etwas übertrieben gewesen. Und wir hätten Ärger gekriegt, weil wir Waffen mit aufs Schulgelände gebracht hatten, und das darf man nicht mal in Alabama. Ich bin ganz nah rangegangen, hab ihn meinen Zorn spüren lassen.

"Sprechen Sie mit meinem Bruder?"

Der Trottel ist genauso stehen geblieben, meinte wohl, das wäre eindrucksvoll.

"Ungeziefer wie dich verspeise ich zum Frühstück. Na los, versuch's ruhig!"

So dumm wird man nicht geboren. Dafür muss man lange üben.

"Ernsthaft?"

"Wenn du die Antwort vertragen kannst, dann leg los!"

Ich bin zu meinem Rucksack gegangen, hab ein Maßband rausgeholt und seine Länge gemessen, knapp über sechs Fuß. Er hat bloß unheimlich dämlich geguckt. Und als ich das Maßband wieder weggebracht hab, da hat er dann doch mal gefragt.

"Was soll das?"

Wenn du tötest, ist es einfacher, wenn du dem Typen nicht in die Augen schaust. Es sei denn, du willst, dass er deine Augen sieht. Ich hab ihn so angeschaut, als wäre der Lauf meiner Glock zwischen uns.

"Ich weiß gern vorher, wie groß ich das Loch graben muss."

Ich weiß nicht, ob jemand die Sache mitgekriegt hat, oder ob dieser Dummbeutel selbst davon erzählt hat, jedenfalls hat sich danach die Atmosphäre in dem Dorf verändert. Ne ganze Menge Leute haben uns angelächelt und 'ne ganze Menge Leute haben geguckt, als ob sie uns am liebsten lynchen würden. Wir hatten ja nicht vor undercover zu arbeiten und so wusste jeder, dass es ein paar neue Spieler gab. Und in welcher Ecke sie standen.

Tja, und als wir dann die Schulbücher hatten und die Klamotten, da kam der erste Schultag. War gar nicht so schlimm. Man sagt den Amis ja nach, sie wären oberflächlich, aber das stimmt eigentlich nicht. Eher hoffnungslos unwissend in allen Bereichen, die ihre Landesgrenzen überschreiten. Dafür aber ganz nett. Und weil man nach jeder Stunde mit anderen Leuten zusammen ist, hast du einfach gar keine Chance, jemanden näher kennen zu lernen. Das passiert dann in den ganzen Clubs und natürlich beim Sport. Klar waren wir die Neuen, aber das war überhaupt kein Problem, nach ein paar Tagen waren wir genauso wie die anderen. Bis zu dieser dritten Stunde bei Mrs. Klingberg.

"Wie ihr sicherlich wisst, ruht unsere Gesellschaft auf einigen Grundpfeilern. Welche sind das?"

Natürlich kamen haufenweise Antworten, das ging vom Geist von Alamo über die Gründerväter bis zur Armee und dann sagte jemand 'Familie'

"Ja, natürlich, die Familie ist ein Grundpfeiler unseres Staates!"

"Mrs. Klingberg, ist es eigentlich richtig, dass es so kranke Leute gibt, die sagen, dass Homos auch heiraten sollen dürfen?"

Angeblich gibt es bei den Kennedys das Sprichwort 'Vergib deinen Feinden - aber vergiss niemals ihre Namen'. Ich merke mir ihre Gesichter und Vergebung ist 'ne Scheißidee. Ich hab mich also umgedreht und zu dem Gesicht gab's sogar einen Namen: Scott.

"Also Scott, ich würde nicht sagen, dass Menschen, die sich für Homosexuelle einsetzen, deshalb gleich krank sind. Und überhaupt ist das nicht unser Thema!” Das hatte sie sich so gedacht, natürlich gab er keine Ruhe.

"Aber Homos sind eine Sünde vor Gott und deshalb hat Gott auch die Seuche geschickt, damit sie alle daran krepieren!"

Früher hätte ich ihm einfach eine reingehauen, aber sogar ich lerne manchmal was dazu.

"Lieber Scott, wenn dein Gott mich verflucht hat, dann hat er einen verdammt schlechten Job gemacht, denn mir geht’s so richtig gut, während überall auf der Welt Heteros an AIDS sterben. Scheint nicht sonderlich zielsicher zu sein, dein Gott."

Es war 'ne riesige Show. Scott lief rot an, die anderen redeten immer lauter, Mrs. Klingberg stand da vorn wie ein japsender Fisch. Irgendwie hatte ich mir mein Coming Out anders vorgestellt, aber dafür hatte ich echt Spaß! Na gut, ich meine, was sollte mir denn passieren? Genau deshalb waren wir doch hier. Und wenn das vorbei war, dann konnten die mich alle mal lecken, wo die Sonne nie scheint. 'n paar Tage später kriegte Mom von Mrs. Miller brühwarm die Stimmung in der Stadt geliefert: Ungefähr die Hälfte hielt mich für verflucht, verdammt und den Teufel auf Erden, ein paar Leute meinten, das würde sich wieder rauswachsen und verdammt viele hatten überhaupt kein Problem mit mir. Die erste Hälfte war das Problem. Wir kriegten haufenweise Müll zugeschickt, in dem genau erklärt wurde, warum Schwule in den Feuern der Hölle brennen würden. Nun, immerhin brannten sie. Die Heftchen im Wohnzimmerkamin. Einmal hab ich mir die Klamotten mit Schwefel eingerieben. Na ja, ich mein’, wenn ich schon der Teufel bin, dann will ich auch entsprechend riechen. War ziemlich cool, bis ich am nächsten Tag aufs Klo gegangen bin. In der Schule. Ich war gerade fertig, als da die halbe Footballmannschaft reinkam. Die von Mr. Dryson, und dass der mich nicht mochte, war klar.

"Da ist ja das Stück Scheiße. Will mal jemand reintreten?"

Footballspieler sind nicht notwendigerweise Vollidioten. Diese hier schon. Allerdings verdammt große Vollidioten. Und zu viele. Einer wäre kein Problem gewesen, zwei hätte ich mir auch noch zugetraut, aber das waren acht oder neun.

"Großmäuler sollte man stopfen, bevor sie sich in den eigenen Arsch beißen!"

Hat 'n Moment gedauert, bis sie das kapiert hatten. Ich bin ein Krieger und ich ducke mich nicht. Niemals. Ich hätte viel für mein Schwert gegeben, aber es gab hier bestenfalls eine Klobürste. Hat nicht lange gedauert und hinterher war nicht nur mein Blut am Boden. Klar hatten sie gewonnen, aber es war verdammt viel schwieriger gewesen, als sie gedacht hatten. Ich war schon wieder aufrecht, als Justin kam. Na gut, ich hab aufrecht gesessen, aber das ist ja auch schon was. Ich mein’, jeder kriegt mal was auf die Schnauze, verloren hast du erst, wenn du nicht mehr aufstehst. Und ich stand wieder, wenn auch mit Justins Hilfe.

"Und, geht’s wieder?"

Ich grinste. Jedenfalls hab ich es versucht. Ehrlich.

"Schick die nächsten rein."

"Willst du zum Doc?"

"Glaub nicht. Ich mach mich erst mal sauber."

Na ja, so gut eben ging. Und ich bin auf eigenen Beinen in die Klasse gegangen und hab mich da hingesetzt. Und was von einem Unfall erzählt. Und in der nächsten Pause wussten es alle, echt alle. Zwei von den Weicheiern waren zur Schulschwester gegangen und der Sohn des Teufels war einfach so in die Klasse gegangen, als ob nichts gewesen wäre. Okay, ich hatte was aufs Maul gekriegt, aber letztlich hatte ich gewonnen. Wenn die gewusst hätten, was mir alles wehtat.

"Chris, wie siehst du denn aus?! Mein Gott, Ben, komm schnell!"

Mom. Muss ich noch mehr sagen?

"Lass stecken, ist schon ein paar Stunden her. Mach 'ne Dose mit Suppe warm, erst mal eine rauchen."

Man darf nicht mal Kippen mit in die Schule bringen. Genauso wie Sturmgewehre. Ich hatte das Feuerzeug gerade weggelegt, da kam Dad und hat mich echt überrascht. Er nahm meine Hände und hat sich die Knöchel angeschaut.

"Sieht so aus, als hättest du nicht stillgehalten?"

"Zwei von den Warmduschern waren bei der Schulschwester, ich nicht."

Er zog die Augenbraue hoch.

"Zwei von den Warmduschern? Wie viele waren es denn?"

"Die halbe Footballmannschaft, acht oder neun."

Da hab ich Dad zum ersten Mal so richtig sauer erlebt. Ist ungefähr so, als ob du in die Mündung einer unheimlich wütenden 45er guckst.

"Da wäre ich gern dabei gewesen. Was hältst du von einer Revanche?"

"Du denkst an einen Rachefeldzug?"

"Ich denke daran, ein paar Knochen zu brechen."

"Hab ich schon erledigt, was meinst du, warum die Typen zur Schwester gegangen sind?"

"Und, was sollen wir tun?"

"Du warst doch mal Anwalt."

"Und? Willst du die Typen verklagen?"

"Quatsch! Du hast dich doch mit den Großen angelegt, oder?"

Er nickte.

"Dann kennst du doch bestimmt all die schmutzigen Tricks. Kannst du nicht Dryson fertig machen? Ganz legal und ganz fies?"

Man braucht keine Pistole, um sich zu rächen. Und hier ist die Justiz viel gefährlicher als die Verbrecher. Ein Junkie pustet dich um und klaut die Kohle. Ein Richter schickt dich lebenslänglich hinter Gitter, weil du zur falschen Zeit am falschen Ort warst. Oder weil du arm bist und dir keinen vernünftigen Verteidiger leisten kannst. Oder weil du schwarz bist. Und lebenslänglich heißt hier, dass du hinter Gittern stirbst. Tun ja auch reichlich.

"Ich kann jeden fertig machen und ich hab bei den Besten gelernt. Der Typ wird nicht mal wissen, was ihm passiert bis es vorbei ist."

Und dann grinste er. Und das ist so, als ob du in die Mündung einer unheimlich wütenden 45er guckst, die gerade losgeht.

Nach 'ner Handvoll Tabletten, Mom’s Suppe und einer langen Dusche ging’s wieder so halbwegs - dachte ich, aber mal ganz ehrlich: Ich hab mich gefühlt wie 'n nasser Waschlappen. Wir haben noch 'ne Fahrt zu Mr. Sun drangehängt und der ist richtig ans Arbeiten gekommen, aber dafür ging’s mir danach aber auch tausend Mal besser. Ich weiß nicht, was er mir in den Tee getan hat, aber ich war nur noch müde und glücklich. Das Zeug muss auf dem Schwarzmarkt ein Vermögen wert sein. Am nächsten Tag kam Eric in mein Zimmer und das war selten. Irgendwie haben wir es hier genauso gehalten wie im Wald, Zimmer sind Privatbereiche, da stört man nicht.

"Hi Eric, was ist los?"

Er lächelte.

"Du hast doch mal gesagt, dass du so werden willst wie ich."

"Ja, das wäre schön."

"Na ja ... ich meine, jetzt hast du ja auch mal was aufs Maul gekriegt und ich wollte einfach mal gucken, wie es dir geht."

"Du meinst, dir ist das auch schon passiert?"

"Klar, oft. Das letzte Mal war einmal zu viel und da bin ich gesprungen."

Und da bin ich sauer geworden. Ich meine, mich zu verprügeln ist eine Sache, aber wenn diese Typen auf unseren Kleinen losgegangen wären, dann wäre ich losgezogen, ein paar Rechnungen begleichen. Endgültig. Ich hab Eric ganz fest in den Arm genommen.

"Du irrst dich, Kleiner. Nicht das letzte Mal war einmal zuviel, sondern jedes Mal vorher. Eric, wenn so was noch mal passiert, dann sag mir nur die Namen, ich kümmere mich darum."

Er hat mitgekriegt, dass es die Wahrheit war. Bestimmt hab ich mir das nur eingebildet, aber manchmal schien es fast so, als ob Eric etwas größer geworden wäre und auch mehr lachte... wie gesagt, hab ich mir bestimmt nur eingebildet. Und dann hatte ich noch eine ziemlich gute Idee. Und am nächsten Tag ein längeres Telefonat mit Mr. Sun. Am nächsten Wochenende fuhr Dad mich wieder zu ihm und diesmal war ich ein bisschen aufgeregt. Er begrüßte uns und dann ging’s in seinen Garten, wo zwei Männer auf mich warteten. Kennst du das Gefühl, wenn du nach vielen Stunden wieder eine rauchst? Oder nach einer langen Wanderung wieder Wasser kriegst? Ich hab die beiden gesehen und wusste irgendwie, dass ich hier richtig war.

"Mr. Dean, Mr. Enfold, das ist Chris."

Wir verbeugten uns, wie es Krieger tun. Der Ältere übernahm das Reden.

"Mr. Sun sagte, du benötigst unsere Hilfe?"

"Ja. Ich möchte in meiner Highschool einen Kurs in Kenjutsu anbieten und benötige dafür eine Bestätigung, dass ich die Befähigung habe."

"Das ist sehr ungewöhnlich. Du hast keinerlei Prüfungen abgelegt?"

"Nicht im eigentliche Sinne."

Dahille hielt nichts von den ganzen Graden, die es gibt.

"Dann wollen wir mal sehen, was du kannst. Dir ist klar, dass wir nichts verschenken?"

"Im Kampf gibt es keine Geschenke."

Ein Schwertkampf dauert nur im Film länger als ein paar Sekunden, in der Realität ist nach ein paar Schlägen Schluss. Wir arbeiteten uns langsam vor, von den Grundschlägen über die Kombinationen bis zum freien Kampf mit dem Holzschwert. Irgendwann nickten die beiden sich zu.

"Was wir gesehen haben, reicht für einen Trainerschein. Hast du auch mit dem Katana trainiert?"

Das war keine Frage, sondern eine Einladung und eine Ehre. Bei einem Kampf mit dem echten Schwert geht es immer um Leben und Tod und dieser Mann war bereit, es mit mir zu wagen. Ich verbeugte mich tiefer, als es nötig gewesen wäre. Wir wussten beide, was wir tun, und nach ein paar Sekunden war klar, dass er gewinnen würde und wir lösten uns voneinander. Meine Verbeugung war ein Dankeschön. Für den Kampf und dafür, dass ich noch lebte. Dad war mächtig beeindruckt, so beeindruckt, dass er fast die ganze Fahrt nichts sagte, erst als wir bei uns zu Hause ankamen, hat er den Mund aufgemacht.

"Chris, mach den Führerschein."

Das war viel mehr, als die Erlaubnis, das war sein Versprechen, die Sache bei Mom durchzusetzen, und das hieß schon was. Na ja, manchmal verlierst du und manchmal gewinnst du, und heute war wohl der 'Chris-gewinnt-alles-Tag'. Ich hab Justin und Eric vorgewarnt und wir sind nach dem Abendessen ganz schnell verschwunden und das war wohl besser so, denn es wurde ziemlich laut. Ich wusste aber auch, dass Dad sein Wort nicht zurücknehmen würde, und ich hatte Recht.

Ben (auch bekannt als Dad)

Ich liebe Chris, so wie ein Vater seinen Sohn liebt, aber manchmal könnte ich ihm die Tastatur um die Ohren hauen. Dieser "Ich-bin-ein-Krieger"-Irrsinn geht wirklich zu weit. Natürlich sind wir hier, um 'God’s Army' zu stoppen, aber das werden wir auch schaffen, ohne das Chris als Billy the Kid durch die Stadt zieht und ein Massaker veranstaltet. Abgesehen davon hat mein lieber Sohn bisher bestenfalls die halbe Geschichte erzählt, wenn überhaupt. Natürlich überrascht mich das nicht im Mindesten, ich kenne ihn ja inzwischen, nehmen wir die erste Nacht hier in Thomasville...

Ich lag gerade mit Rachel im Bett und war ziemlich fertig. Nein, nicht von Rachel, sondern von der ganzen Arbeit, so ein Umzug ist nicht von Pappe, jedenfalls war ich kurz vor dem Einschlafen, als Rachel mich anstupste.

"Hast du das auch gehört?"

"Schatz, Bohnen haben bei mir immer diese Wirkung."

Was mir einen blauen Fleck einbrachte.

"Geh mal nachschauen, da ist einer."

"Liebling, da sind drei, Justin, Chris und Eric. Sollte hier wirklich jemand einbrechen, hat Chris ihn erschossen, bevor er die Tür zugemacht hat. Wundert mich sowieso, dass wir noch keine Tretminen im Garten haben. Und jetzt schlaf schön."

Beruhigende Worte... sollte man meinen. Sie hielten ungefähr eine Stunde, dann platze Rachel mitten in meine Tiefschlafphase.

"Ben, wach auf! Da ist was! Los, schau nach!"

Die klassische Filmszene, nur dass ich diesmal auch etwas hörte, und ich wusste nicht, was es war. Ich nahm meine Pistole und schlich los, nun gut, soweit das bei meinem Gewicht und Holzfußböden möglich ist. Auf dem Flur war klar, dass es von oben kam, und da hab ich meine Pistole durchgeladen. Wenn Chris in Schwierigkeiten war, hätte ich nichts gegen ein paar Hundert Soldaten hinter mir gehabt. Vorzugsweise Spezialeinheiten und die halbe Air Force. Ich überlegte kurz, die anderen zu wecken, aber dann hatte ich so ein Bild vor Augen, wie wir als Stoßtrupp in Schlafanzügen Chris' Zimmer stürmen und er gerade tut, was Jungs in seinem Alter ganz gern mal tun... alleine tun, wenn du verstehst. Als ich in seinem Zimmer war, habe ich diese Krieger-Sache verstanden. Die Armee hat mein Studium bezahlt und ich war in einem Krieg, der nicht mein Krieg war. Ich habe Menschen sterben sehen und ich habe gesehen, wie Mütter vor den Leichen ihrer Kinder standen. Ich war dabei, als Freunde neben mir von Minen zerrissen wurden und Kameraden versehentlich von den eigenen Leuten erschossen wurden. Aber nie, niemals, mein Wort darauf, war ich so erschrocken, wie damals in Chris' Zimmer. Niemals habe ich soviel Angst auf dem Gesicht eines Menschen gesehen. Ich habe die Pistole weggelegt und Chris ganz fest gehalten und da ist er aufgewacht.

"Ben?"

"Pscht. Ist schon gut. Du hattest einen schlimmen Traum."

Er zitterte immer noch.

"Tut ... tut mir leid."

"Kein Problem, ich bin jetzt hier. Dir kann nichts passieren."

"Du hast keine Ahnung."

"Kann sein, aber ich weiß, dass man an mir nicht so schnell vorbeikommt. Ich pass auf dich auf."

Ich saß noch lange an seinem Bett und schaute ihm beim Schlafen zu. Und ich habe mich gefragt, wie er wohl früher gewesen ist, bevor der ganze Wahnsinn anfing. Ob er wohl als Zweijähriger auch die Welt erforscht hat und zu seiner Mutter gelaufen ist, wenn er sich wehgetan hatte? Ob er auch auf einem Spielplatz gelacht hat? Ob er auch mit großen Augen seinen ersten Schultag erlebt hat? Manchmal bin ich zu traurig, um zu schlafen.

Ich habe nie eigene Kinder gehabt und es ist nicht ganz leicht, gleich der Vater von drei Jungs zu sein, die so grundverschieden sind. Was Chris mit der Waffe ist, ist Justin mit seinen Sprüchen, immer hellwach, meistens saukomisch und manchmal schneller als es für ihn gut ist... es ist schwer, ihn nicht zu mögen. Eric will gemocht werden, hungert nach jedem guten Wort und ist damit das geborene Opfer. Als ich ihn im Boxclub angemeldet habe, ist er fast zusammengebrochen, aber das Training wird ihm gut tun. Ach so, habe ich erzählt, dass Chris inzwischen auf vier Rädern unterwegs ist? Zwei Tage nach dem... Vorfall an der Schule sind ein paar Kids aus der Schule vorbeigekommen und einer hatte so ein Mörderbrett dabei. Rachel hat ihm eine Schutzausrüstung gekauft, aber als ich das letzte Mal an der Mall vorbeigekommen bin, war Chris ohne unterwegs, so wie alle anderen. Es ist gut, dass Chris sich entwickelt, so ein paar Nachmittage auf dem Skateboard wirken Wunder... obwohl ich mich frage, ob David vielleicht auch eine Rolle spielt. Wenn jemand plötzlich Interesse an Musik entwickelt und seinen Kleidungsstil radikal ändert, dann könnte das ja mit einem bestimmten Menschen zu tun haben. Aber ein Krieger redet über so etwas natürlich nicht. Egal, heute Nacht werden wir ein paar Gesetze brechen.

"Jungs, seid ihr fertig?"

Sie waren. Als Naturliebhaber würden wir die Nacht in der Wildnis verbringen, mit Zelt und Schlafsäcken und Lagerfeuer und allem drum und dran, weit weg von der Zivilisation. Und rund 10km vom Lager einer großen Baufirma, genauer gesagt, vom Sprengstofflager einer großen Baufirma. Und da war noch eine Rechnung mit Mr. Dryson offen. Ich habe nichts gegen eine kleine Keilerei, aber da hatte jemand den falschen Job und das würden wir korrigieren.

"Dad?"

Ich knurrte nur, weil ich gerade mit dem Zelt beschäftigt war. Oder das Zelt mit mir.

"Sollten wir nicht einen Zaun oder so was bauen?"

Chris, wer sonst?

"Ein Bär lässt sich von einem Zaun nicht aufhalten."

Eigentlich wollte ich Chris nur ärgern, aber das war ein Fehlversuch. Ich hatte vergessen, dass er keine Angst vor Bären hat. Warum auch, die fressen ihn ja nur auf. Aber so eine kleine Spinne, die tut so fürchterliche Sachen wie über seinen Schlafsack laufen und davor muss man natürlich tierische Angst haben. Natürlich hat Justin den Dreh doch noch gekriegt.

"Könnte trotzdem eine gute Idee sein, damit unser Kleiner hier ...", gemeint war natürlich Chris, "... nicht in Panik wegläuft, wenn er eine mordlüsterne Ameise sieht."

Chris

Also, jetzt ist gut. Ich mag die Viecher nun mal nicht. Mom hat das Problem nicht und ist im Lager geblieben, wir haben uns dann mal ein bisschen Sprengstoff und Zündkapseln besorgt, na gut, es war ein ziemlicher Haufen HMX und der sollte reichen, Mr. Dryson in Schwierigkeiten zu bringen. Wir haben wohl alles richtig gemacht, denn sonst könnte ich das hier nicht schreiben, aber die Sache hat ganz schön Wellen geschlagen, so richtig mit FBI und ATF und diesen ganzen Leuten. Wenn es um Sprengstoff geht, werden die hier ganz schön nervös, und das war ja auch so gedacht. Ich hatte aber eigentlich ganz andere Sachen im Kopf und wusste nicht so genau, ob ich mit Dad darüber reden konnte. Weil... na ja, das war so eine Sache. Er hat ja schon gesagt, dass es da einen David gibt. Nee, nicht so, wie du es jetzt vielleicht denkst, David ist ein Freund geworden. David ist einfach nur klasse, wenn ich ihn angucke, dann muss ich lächeln und dann vergess’ ich alles... es ist wie in einer anderen Welt. In einer verdammt schönen Welt. Meistens gehen wir nachmittags in den Skatepark, okay, Skatepark klingt 'n bisschen großartig, aber für so'n kleines Kaff war das schon nicht schlecht und natürlich hing da immer das halbe Dorf rum. Wir hatten gerade den neuen Gips von Shane (der heißt wirklich so) bewundert und ich hatte mich in die Büsche verpisst, Kaffee wegbringen und eine rauchen und als ich wiederkam, war da so ein älterer Typ mit 'ner Kamera. Ich hab's nicht so mit den Dingern und bin zu David gegangen.

"Wer is'n das?"

Er lächelte nicht und das ist selten.

"Er heißt Jim und macht 'ne Website für Skater. Manchmal kommt er vorbei und macht Fotos für die Seite... ich mag ihn nicht."

Aus David’s Mund hatte das echt was zu bedeuten, er kommt eigentlich mit jedem klar.

"Warum nicht?"

"Schau's dir an."

Tat ich. Die jüngeren Kids liebten ihn. Und er machte Unmengen an Bildern, fahrend, stehend, liegend, mit und ohne T-Shirt, mit und ohne Helm, in Gruppen und einzeln. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, ich meine, ich lauf hier auch nicht ständig mit T-Shirt rum und es ist doch eigentlich nicht schlecht auf 'ner guten Website aufzutauchen. Trotzdem... und dann lief er mir über den Weg.

"Oh... hi. Was... wer... bist du denn?"

In seinen Augen sah ich, dass er mich erkannte. Und ich erkannte den Blick, so was hab ich oft genug gesehen. Ich seh's immer noch manchmal, wenn ich schlecht träume. Vor so einer Begegnung hab ich schon lange Angst gehabt. Weil ich nicht wusste, was ich machen würde. Ich meine, ich kann ja nicht jeden erschießen, der Filme mit mir gesehen hat. Er streckte die Hand aus und ich nahm sie.

"Ich bin Chris. Ich fang gerade erst an, die anderen sind viel besser als ich."

Sein Gehirn machte Überstunden.

"Trotzdem... warum nicht mal eine Fotostrecke über Anfänger? Es kommen ja nicht nur Profis auf meine Seite."

"Vielleicht ein anderes Mal."

Er hat's kapiert und sich getrollt... aber er hat noch 'ne Menge Fotos gemacht und ich wette, da waren auch ein paar Großaufnahmen von mir mit dabei. Scheiße. Ich war also mal wieder im Internet, diesmal lachend und mit einem anderen Jungen und inzwischen kannte dieser Jim mit Sicherheit meine Adresse und wusste alles, was es zu wissen gab, und damit wussten es auch... interessierte Kreise. Und inzwischen dürfte sich rumgesprochen haben, dass Leute, die Filme mit mir machen wollen, plötzlich unter sehr mysteriösen Umständen den Löffel reichen. Die roten Lämpchen in meinem Kopf hörten gar nicht mehr auf zu blinken. Das hier... ich mein das Leben hier... das ist schon was Besonderes. Wenn ich zum Skaten geh, dann guckt mich keiner blöd an und wir lachen zusammen und erzählen Schwachsinn und hinterher geh ich nach Hause... ich mein’, nach Hause, das hat nicht jeder. Und Schule kann zwar ziemlich nervig sein, aber seit vielen Jahren bin ich mal wieder auf einer. Es ist manchmal so, als wäre ich ein ganz normaler Junge.

Hinweis: Thomasville existiert tatsächlich, hat aber mit dem Thomasville dieser Story nichts zu tun! Das reale Thomasville scheint ein nettes, kleines, aufstrebendes Städtchen zu sein und dort gibt es keine "God’s Army". Ich habe allerdings ein paar Kleinigkeiten wie z. B. das Ortsschild übernommen, um der Geschichte etwas Lokalkolorit zu geben, bitte verwechselt nicht Story und Realität. Die Waffengesetzgebung in Alabama scheint aber - soweit ich das nach einer kurzen Internet-Recherche sagen kann - tatsächlich so wie in dieser Story zu sein... es gibt schon erstaunliche Gegenden in dieser Welt.

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