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Brief an einen Freund

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Brief an einen Freund…

Ich weiß nicht, warum ich diesen Brief schreibe. Vielleicht nur in der Gewissheit, dass Du ihn nie lesen wirst, weil ich Ihn nur für mich schreibe.

Ein kläglicher Versuch, Gedanken, Gefühle zum Ausdruck zu bringen, vor denen ich mich nach außen immer verschließe. Denen ich mich mit einer Mischung aus Angst und Respekt und einer beachtlichen Willensstärke immer verschlossen habe.

Die Mauer, die ich um mich gebaut hatte, war hoch genug, dass man von außen nicht darüber schauen konnte. Im Innern dieses Gemäuers saß ich auf einem Hügel und fand nichts interessanter, als zu beobachten, wie einige wenige Personen aufgrund ihrer Neugier, einer gewissen freundschaftlichen Nähe und einem unglaublichen Gespür für Andere, den Versuch unternahmen, mehr als nur einen flüchtigen Blick hinter diese Mauern werfen zu wollen. Dabei bestimmte ich immer, wie nah sie der Wand kommen und wie weit sie hinein schauen durften.

Dabei hat es niemand so weit gebracht wie Du, nicht einmal ansatzweise.

Ich, das unbekannte Wesen; verständnisvoll, hilfsbereit, nie um einen Spruch verlegen, den Optimismus scheinbar als Dauerbegleiter und doch allein. Es erfüllte mich immer mit einem gewissen Stolz, einer inneren Genugtuung zu sehen, dass es selbst denen nicht gelang, denen ich in schweren Stunden ihres Lebens beigestanden hatte und mir damit versuchten, mit purer zum Ausdruck gebrachter Emotion an der Mauer zu rütteln und abzuwarten, was passiert, ob sie nachgibt oder wenigstens ins Schwanken gerät.

Es ist niemandem gelungen, aber der Versuch hatte eine Faszination für mich. So gelang es mir bisher immer, zum einen das Gefühl für die Sorgen anderer zu haben und ihnen beizustehen, sofern sie es wollten, andererseits aber im Grunde genommen nichts von mir preiszugeben. Aemotional, die Kreation eines Freundes für ein Wort, das diesen Zustand umschreiben sollte, wohl wissend, dass dieses Wort nicht existiert und wahrscheinlich mit der starken Vermutung, dass dem eigentlich nicht so sein kann.

Du hast es als Erster geschafft, über diese Mauer zu klettern. Eingerissen hast Du sie nicht. Ich weiß nicht wieso. Ob ich Dich gehindert habe, Du sie nicht einreißen wolltest. Vielleicht selbst in dem Wissen, wie praktisch so ein Gebilde sein kann. Vielleicht hätte ich Dich gehindert.

Ich weiß bis heute nicht, wo ich den Mut hergenommen hatte. Damals im Urlaub, allein mit Dir in einem Zimmer. Vierzehn Tage weit weg von zu Hause, von allen die uns kennen. Vielleicht, nein gewiss, das Verlangen nach Dir war größer als die Vernunft, die sonst den Weg zeichnet, den ich einschlage, zumindest in zwischenmenschlichen Dingen.

Nichts möchte ich missen. Das plötzliche Verlangen, das mich überkam, Dich einfach nur zu berühren. Die Ungewissheit dabei, wie Du reagieren würdest und ob ich damit nicht alles zerstören würde. Das Verhältnis, das wir zueinander aufgebaut hatten, was bei Dir nicht gerade einfach gewesen ist, weil auch Du zum Teil unnahbar gewesen bist.

Diesen Schauer, der mich durchfuhr, als Du diesen vorsichtigen Versuch der Annäherung nicht abgewährt hast. Das erste Berühren deiner Haut, samtweich, nah, unglaublich warm und Deiner Gänsehaut, wenn ich Dich streichelte. Dein Geruch, einer Mischung aus Duschgel, Bodylotion und dem Schweiß als Zeichen deiner Erregung.

Dem ersten Kuss, ganz vorsichtig und doch intensiv. Zärtlich Deine Wange zu streicheln und Deine Lippen im Mondlicht zu küssen.

Deine Berührungen, die mich wie unter Strom stellten, als Deine Hände, Deine Lippen, Deine Zunge am Bauchnabel vorbei nach unten wanderten. Nicht hastig, eher sehr kontrolliert und verspielt fordern, geradezu darauf ausgerichtet, mich lange warten zu lassen und dann Dinge zu tun, die bis dahin nur in meiner Fantasie existent waren.

Mein Verlangen, es Dir gleich zu tun, Deine Erregung nicht nur wie ein Knistern in der Luft zu spüren, sondern ganz nah, mit den Fingern, den Lippen darüber zu gleiten und die Lust zu fühlen und zu sehen, die Dir das bereitete.

Das Gefühl, sich den ganzen Tag nichts anmerken lassen zu dürfen, um sich um so mehr auf die Nacht zu freuen. Nächte mit Dir. Nächte voller Gespräche, Zärtlichkeiten und gegenseitiger Entdeckung. Nähe. In Deinen Armen zu liegen, Deinem Atem lauschen, Dein Herz schlagen hören. Sich unglaublich geborgen zu fühlen. Pure nackte Haut. Mit Dir einzuschlafen, glücklich und in dem Moment völlig sorgenfrei, an nichts anderes Gedanken verschwendend. Dich aufzuwecken und Dir nachzuschauen, wenn Du wie Gott Dich schuf im Bad verschwunden bist und dabei das Verlangen zu spüren, Dich sofort wieder in meine Arme zu nehmen.

Die vielleicht intensivsten Tage meines Lebens, zumindest bis heute. Für Dich war es das erste Mal. Auch für mich, irgendwie. Irgendwie? Hatte ich Dir nicht gesagt, dass es das erste Mal für mich sei? Ja, hatte ich. Und ich habe Dich belogen und doch die Wahrheit gesagt.

Während Du Dich ganz geöffnet hattest, habe ich Dir nicht erzählt, dass ich schon einmal vor Dir mit einem Mann geschlafen habe. Jahre vorher. Warum ich es Dir nicht gesagt habe? Ich weiß es nicht, ich habe es noch nie jemanden erzählt, zumindest nie im persönlichen Gespräch. Erst Jahre später habe ich es Freunden im Internet erzählt, dieser unglaublich praktischen Erfindung, wo sich Leute Dinge erzählen, die sie sonst nirgends loswerden. Mit dem Wissen, so lange anonym bleiben zu können, wie man möchte.

Mein bis dahin größtes Geheimnis, nie jemandem von Auge zu Auge preisgegeben. Warum jetzt, hier, auf diesem Wege? Vielleicht um Dir zu zeigen, dass ich denke zu wissen, was in Dir vorgeht.

Warum? Ich war damals nur zwei Jahre älter als Du. In einer Mischung aus Vorahnung und Neugier, eigentlich aber ursprünglich nur auf der Suche nach einem guten Gespräch, ein paar wenigen Tagen über den Jahreswechsel hatte ich ihn, Michael besucht. Zwei Jahre vorher hatte ich wöchentlich mit ihm zu tun, aber aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit und seinem Wohnortwechsel hatte ich ihn länger nicht gesehen, ihn durch Zufall im Ort betroffen, als er mal wieder zu Besuch in seiner alten Heimat war und sind irgendwie ins Gespräch gekommen über vergangene Tage.

Er lud mich ein, ihn über Silvester zu besuchen. Michael war einige Jahre älter und ich hatte nie auch nur ansatzweise für möglich gehalten, jemals irgendetwas Sexuelles mit ihm anzufangen, so tief hatte ich mich mit dem Gedanken auch nie beschäftigt. Ich sah in ihm mehr den väterlichen Freund, vielleicht als Ersatz für den Vater, den ich nie hatte. Rat und Verständnis eines Menschen, den ich persönlich sehr schätzte, was ich auch heute noch tue, auch wenn sich unsere Wege seitdem nie wieder kreuzten und der Kontakt völlig abgebrochen ist.

Warum es mit Dir dann trotzdem das erste Mal gewesen sein soll? Nun, für mich war es das. Nicht das ich das mit Michael damals in dem Moment, wo es für mich völlig überraschend passierte, dass er mich nach allen Regeln der Kunst verführte, nicht genossen hätte. Das wäre gelogen. Nein, in dieser Nacht hatte ich Michael nicht einmal bewusst berührt, erkundet. Seine Küsse hatte ich nur ungern erwidert. Dieses unglaublich neue, intensive Gefühl hatte mich wie gelähmt, einerseits fasziniert, andererseits irgendwie schockiert über mich selbst.

Der für mich entscheidende Unterschied war, dass die Sache mit Michael äußerst einseitig war. Weder wollte ich es innerlich, noch war ich dazu fähig, ihm irgendwie die gleichen Zärtlichkeiten und Gefühle wieder zu geben. Bei Dir war das anders, ich konnte gar nicht anders, als Dich zu berühren, sich zusammen, gemeinsam zu entdecken.

Tags darauf war ich völlig verwirrt, irritiert. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf, was ich getan hatte, mit einem Mann geschlafen. Die Frage, ob ich schwul sei. Die Sorge, dass es jemand erfahren könnte, all solche Dinge eben. Ich bin einen Tag später, die Nacht allein verbringend, abgereist und habe ihn nie wieder gesehen. Was nicht schwer war bei einigen hundert Kilometern Distanz. Ich hätte ihn gerne als guten Freund gesehen, aber wie das Klischee in Filmen bedient wird, war die Äußerung dieses Wunsches wohl mehr verletzend als alles andere für Ihn, der sich mehr erhofft, vielleicht auch mehr empfunden hatte.

Was das mit Dir zu tun hat? Ich will Dir nur sagen, dass ich zu glauben weiß, was in Dir vorgeht. Es ist nicht einfach, zu entdecken, dass man anders ist, als der Großteil der Gesellschaft es von einem erwartet. Schwierig, das Erlebte zu verarbeiten, wenn man niemanden hat, mit dem man darüber reden kann, weil man befürchtet, nicht verstanden, abgelehnt zu werden.

Ich kann das heute, wenn auch nur in der Anonymität des Netzes, auch wenn ich den einen oder anderen Gesprächspartner auch persönlich kennen lerne, in einem persönlichen Gespräch würde ich es wohl auch heute noch nicht erzählen.

Für mich erklärt sich dadurch Dein Verhalten nach diesen vierzehn Tagen. Unseren gemeinsamen Tagen. Die Äußerungen von Dir, Dein selbstbewusstes Auftreten, welches Deine Freunde verunsicherte und Deine Ignoranz gegenüber Äußerungen derer, die Dich eigentlich schätzen und die Dich nur auf den Boden zurückholen wollten.

Dieses einerseits noch sehr vertrauten Gespräche im Internet, andererseits aber die Distanz, die sich bei persönlichen Begegnungen darauf hin immer mehr aufbaute. Vielleicht aus Furcht, jemand aus dem Kreise derer, mit denen wir gemeinsam zu tun haben, könnte etwas merken. Mir fallen nur zwei Momente ein, in denen wir uns in den unmittelbaren Wochen danach unbeobachtet und von der Situation her so nahe waren, dass es für uns beide wohl nur eines unmissverständlichen Zeichen des anderen bedurft hätte, dem Verlangen auf die Nähe des anderen nachzugeben, ohne in dem Moment einen Gedanken an die möglichen Folgen zu verschwenden.

Es ist schwer, so zu tun als wenn nichts gewesen sei. Für mich zumindest. Du sprichst genauso wenig darüber wie ich. Wie ein Stillhalteabkommen. Keiner sagt was, keiner erfährt was und alles ist wie früher. Nach außen.

Ich weiß nicht, wie es in Dir aussieht, ich frage Dich nicht danach und ich glaube, Du willst auch nicht gefragt werden. Ich auch nicht. Warum? Ich weiß es nicht…

Es ist schwer, Dich jede Woche zu sehen und dabei zu spüren, wie sehr Du Dich abwendest. Ich glaube, vor diesen Tagen war unser Verhältnis entspannter. Jetzt kaum ein Blick der sich trifft, vielleicht aus Furcht, er könnte zu tief sein, zu tief blickend in den anderen und in sich selbst.

Kein übertrieben freundliches Wort, ein nichtssagendes Händeschütteln zur Begrüßung und Verabschiedung, jede Woche sich neu trennende Wege. Jede Woche die gleiche Freude, Dich einerseits zu sehen, in Deiner Nähe zu sein, andererseits Dir doch wie nie zuvor irgendwie fern zu sein. Unnahbar.Da ist es wieder, dieses Wort aus dem Anfang meines Briefes.

Früher fand ich Unnahbarkeit bis zu einem gewissen Grad interessant, vor allem wenn ich es selber war. Heute ist es fast eine Qual, diese Unnahbarkeit aufrecht zu erhalten. Da ist sie wieder, meine Mauer. Und Deine Mauer auch? So unerwartet, wie es Dir, mir, uns gelungen war, hinter diese Mauer zu gelangen, so schnell hast Du sie wieder verlassen. Nur hast Du sie bei Deiner Flucht nicht abgerissen. Vielmehr habe ich noch eine weitere Reihe Steine gesetzt. Vielleicht in der Hoffnung, das, was Du dagelassen hast, die Erinnerung, nicht herauszulassen. Oder aber, dem nächsten nach Dir das Überwinden noch schwerer zu machen. Die eigene Stärke wieder herzustellen und zu demonstrieren mit dieser Festung. Eigentlich ein Zeichen aus Schwäche. Nur um keine Schwächen zu zeigen.

Du warst sie wert, diese Erfahrungen, vor, während und auch nach diesen Wochen. Nichts kann uns das Erlebte nehmen. Genommen ist mir die Illusion, tiefes Glück empfinden zu können, ohne sich anderen wirklich zu öffnen. Genommen die Möglichkeit, sich hinter meinen Mauern zu verstecken, niemanden an mich heran zu lassen und sich dadurch zwar eine der schönsten Erfahrungen zu berauben, sich im Gegenzug aber große Enttäuschungen zu ersparen. Einsamkeit ist ein hoher Preis, den man zahlt, wenn man sich vor zwischenmenschlichen Enttäuschungen schützen will, indem man erst gar nicht wirkliche Nähe zulässt. Preisverdächtig der Balanceakt, sich und anderen vorzuspielen, glücklich zu sein, alles erreichen zu können, immer gut gelaunt, verständnisvoll, zufrieden zu sein. Keine Hilfe anderer benötigen zu müssen. In der Illusion, alles lässt sich allein meistern und aus jedem Fiasko, selbst umschifft, gestärkt hervorzugehen. Der Preis ist hoch und die Kraft, die man dafür aufwendet. Lohnt sich das?

Ich zweifle manchmal am Sinn dieser Mauer. Das Sitzen auf meinem Hügel und meinen Beobachtungen derer, die wieder einen Blick erhaschen wollen. Irgendwie ist das keine Herausforderung mehr, niemanden herein zu lassen. Sie besteht vielmehr im Gegenteil. Und doch scheint es mir schwerer als jemals zuvor, es zuzulassen. Warum ist Glück nicht endlos, warum mit Unglück verbunden. Ist man bereit für beides?

Du wirst nicht wiederkommen, nicht diese Zeit die wir hatten. Eine viel zu kurze Zeit, die ich vermisse. Eingetauscht gegen ein vielfaches an Zeit, in der ich Dich vermisse, Dir nah bin und doch so fern.

Ich wünsche Dir, dass Du früher oder später das findest, was Du suchst, dass Du es greifst und festhältst, genießt, erlebst und die Erfahrungen daraus Dein Leben bereichern. Das Du lebst!

Eher als ich, intensiver und ehrlicher zu Dir selbst als ich es zu mir war und wohl heute noch bin.

Vielleicht sind diese Wünsch an Dich auch ein Stück an mich selbst gerichtet. Ich weiß es nicht, ich weiß auch nicht, warum ich Dir diesen Brief schreibe. Du wirst Ihn nie bekommen, nicht durch mich und nicht durch eine andere Person. Vielleicht stößt Du durch Zufall eines Tages darauf. Es wird zu spät sein, so wie es auch heute schon zu spät ist. Glaube ich zumindest. Vielleicht erinnerst Du Dich dann an die schönen Momente, so wie ich es tue, mal mehr, mal weniger, aber wohl doch nie vergessend.

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