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... Und dann liebte ich den Weihnachtsmann

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Da war sie wieder, »die schönste Zeit im Jahr«. Überall sanfte Lichter, Leute mit riesigen Einkaufstaschen, an jeder Ecke Weihnachtsangebote, Rabattaktionsplakate und natürlich Tannenbäume. Weihnachten das Fest der Liebe und des Konsums. Das Fest der Liebe aber nur für die, die jemanden haben, der die Liebe auch annehmen will. Und für den Konsum muss man schon das nötige Kleingeld haben.

Für arme Studenten, deren Liebesleben sich auf das Gucken beschränkt, echt zum Kotzen. So auch für mich, damals 25 Jahre alt, mit 17 in den besten Freund verliebt (der mir nach »dem Geständnis« das Leben zur Hölle machte), dann irgendwann Studium, nette und tolerante Leute kennen gelernt, zum Outing entschlossen und dies auch durchgezogen, die eine oder andere Liebschaft gehabt, und seit 3 Monaten wieder Single. Wie sollte ich auch ahnen, dass es für mich das schönste Weihnachten aller Zeiten wurde.

Auf der Suche nach Geschenken durchstreifte ich sämtliche Einkaufspassagen der Umgebung, doch wie immer fielen mir die Entscheidungen schwer, vor allem, weil in den letzten Jahren meine Geschenke besonders beliebt sind und mit Spannung erwartet werden. Am 10. Dezember war es dann soweit, ich hatte alle Geschenke bis auf eines für meine 3jährige Nichte. Was sollte ich also tun? Da fiel mir das Kaufhaus am anderen Ende der Straße ein, mit der wohl größten, besten und zur Weihnachtszeit am schönsten geschmückten Spielzeugabteilung der ganzen Stadt.

Als ich mich so umsah, umkam mich ein ganz wohliges Gefühl, und ich erinnerte mich an meine Kindheit. Ganz unweigerlich und unbewusst stimmte ich beim Angucken der Regale in die aus den Lautsprechern des Kaufhauses hallenden Weihnachtsmelodien ein. Natürlich jeweils die Bassstimmen, bekannt aus meiner langjährigen Tätigkeit im Chor. Das »Adeste fideles« musste mir wohl besonders gelungen sein, denn aus sicherer Entfernung erntete ich Spontanapplaus von einem älteren Ehepaar, das mich wohl schon länger gehört haben musste. Mit einer Verbeugung verabschiedete ich mich, da ich mich meiner Eigenarten nicht mehr schäme.

Nachdem ich die Abteilung also durchkämmt hatte, fiel mir auf, dass ich mich heute wohl für nichts entscheiden konnte. Ich entschloss mich also, am nächsten Tag nochmal mit meiner Nichte vorbeizusehen und mich dann zu entscheiden.

Auf dem Rückweg fiel mir dann etwas auf, was ich bei meiner Ankunft wohl übersehen habe. Ganz nach amerikanischem Vorbild saß auf einem riesigen samtbezogenen Stuhl ein Weihnachtsmann und nahm ein Kind nach dem anderen auf den Schoß, um sich die Wünsche anzuhören. Nette Idee fand ich, vor allem weil der Mann in dem Kostüm wirklich sehr gut passte. Ca. 1,70 groß, so 90 Kilo, Ende 50 Anfang 60, vielleicht noch älter, weißes Haar und der Clou: der weiße Vollbart zwar nicht lang, aber echt.

Das bestärkte mich natürlich, am nächsten Tag noch mal ins Kaufhaus zu gehen, auch um meiner Nichte den Weihnachtsmann zu zeigen. Doch als wir am nächsten Tag ankamen, schaute ich nicht schlecht. Der Weihnachtsmann hatte sich irgendwie verändert. Das Kostüm war noch das gleiche, nur das der Typ darin etwas verloren aussah, vor allem da das Kissen, mit welchem er seine fehlende Leibesfülle ausgleichen wollte, etwas schief saß (später erfuhr ich, dass sein Großvater eigentlich diesen Job machte, jedoch auf der Straße eine Reise gewonnen hatte, bei der er sofort losfliegen musste).

Doch irgendwie störte mich das gar nicht. Das, was ich von seinem Gesicht sehen konnte, verriet mir, dass er so in meinem Alter sein musste. Ich ging also mit meiner Nichte zu ihm, und sie erzählte ihm von Ponys, einem Barbie-Wohnmobil und noch vielen anderen Dingen, mit denen Sie das Portemonnaie meiner Schwester, meines Schwagers und meines Vaters an diesem Weihnachten ausplündern könnte.

Ich sah mir derweilen den Weihnachtsmann etwas näher an. Und ich sah die schönsten Augen, die ich je gesehen hatte. Jedes einzelne Härchen seiner Augenbrauen betrachtete ich ausgiebigst. Unsere Blicke trafen sich nur ganz kurz, und trotzdem hüpfte mein Herz in die Höhe. So ein starkes Gefühl hatte ich schon lange nicht mehr. Als ich ihm meine Nichte vom Schoß nahm, berührte ich wie aus Versehen seine Hand. In diesem Moment sträubten sich meine Haare zu Berge, und mir wurde fast weich in den Knien.

Zuhause angekommen wurde mir bewusst: Das war sie, die berühmt-berüchtigte Liebe auf den ersten Blick. Oder war sie es nicht? War es bloß die Tatsache, dass jemand besonders gut aussah? Ich wusste es nicht. Aber ich wollte es herausfinden. Obwohl ich schon viele Enttäuschungen hinter mir hatte, wusste ich auch, dass das Leben zu kurz ist, um nicht jede Chance zu nutzen, die sich bietet.

Am nächsten Tag lieh ich mir also ein Nachbarskind aus, um ihm den Weihnachtsmann im Kaufhaus zu zeigen, schließlich brauchte ich ein Alibi. Auch meine Nachbarn wunderten sich nicht, denn dass ich Kinder mag habe ich ihnen schon viele Male durch Hilfe in der Not gezeigt. Und wieder war dieses Gefühl da. Alleine die Nähe zu ihm machte mich froh, wühlte mich auf. Doch nie reagierte er, konzentrierte sich ganz auf das, was die Kinder zu ihm sagten, wollte nichts verpassen. Mit Kindern konnte er also auch noch umgehen. Obwohl ich ihn nur im Kostüm gesehen hatte, von ihm nur die Augenpartie kannte, war es mir nun klar. Ich liebte den Weihnachtsmann!

Doch hatte ich überhaupt eine Chance? Hatte er mich überhaupt wahrgenommen? Und wenn, wie groß sind denn die Chancen, einem schwulen Weihnachtsmann zu begegnen? Selbstzweifel kamen auf. Doch ich konnte nicht anders, ich musste einfach wieder ins Kaufhaus. Und wieder. Und wieder. Bis die Nachbarskinder irgendwann aufgebraucht waren und ich kein Alibi mehr hatte.

Da fiel es mir ein. Ich hatte immer noch kein Geschenk für meine Nichte! Ja, ich musste noch mal ins Einkaufszentrum!!! Nun wurde es auch Zeit, es war immerhin schon der 23. Dezember. Ich entschied mich also für eine Spieluhr, und während ich im Regal suchte, guckte ich mir nochmals den Weihnachtsmann an, der noch immer beschäftigt war, Kinder auf den Schoß zu nehmen und sich geduldig ihre Wünsche anzuhören.

Wieder bemerkte ich seine Hände, wie gerne wäre ich in diesem Moment von diesen Händen gestreichelt worden. Ja, ich hatte gerade ein großes Bedürfnis nach Zärtlichkeit, nach einem Kuss, nach einem Blick wenigstens.

In diesem Moment hatte ich eine Hand auf der Schulter, und meine beste Freundin stand vor mir.

»Hi«, sagte sie. »Du guckst ja so, hast noch nie n Weihnachtsmann gesehn?«

»Doch« druckste ich.

»Da hat es wohl jemanden wieder einmal voll erwischt, was?« Ihr Grinsen brachte mich zum Schmunzeln.

»Vor dir kann man aber auch nichts geheim halten«, sagte ich nur und erzählte ihr die ganze Story. Auch davon, dass ich zweifelte, ob er mich überhaupt bemerkt hat.

»Du bist seit zwei Wochen jeden Tag hier und hast ihm mittlerweile 12 verschiedene Kinder auf den Schoß gesetzt, natürlich hat er dich bemerkt.« Das klang einleuchtend. Und irgendwie fühlte ich mich wie ein Perversling, weil ich ihm so nachstellte.

Ich klemmte die Spieldose unter den Arm und wollte mich gerade auf den Weg machen. Ich drehte mich noch mal um, um ihn noch ein letztes Mal anzusehen. Da passierte es. Natürlich musste ich Trottel vom Dienst in die nächste Deko-Weihnachtstanne rauschen. Als ich mich wieder aufgerappelt hatte, standen die Leute natürlich laut prustend um mich herum. Ich sah noch mal zum Weihnachtsmann herüber, um zu sehen, ob er auch lacht. Doch was war das? Seine Augen strahlten, ja aber lachte er? Nein, er lacht mich nicht aus! Oder doch? Lächelt er mich gar an? Wenn nur dieser Rauschebart nicht wäre.

Ich stellte die Tanne wieder auf, machte noch eine Verbeugung den anderen immer noch lachenden Einkaufenden gegenüber und verließ zügigen Schrittes das Kaufhaus.

Sollte das alles gewesen sein? Die Ungewissheit machte mich fast wahnsinnig. »Wäre ich bloß nicht noch mal ins Kaufhaus gegangen«, dachte ich so bei mir, »scheiß Spieluhr!« Aber halt, wo war denn diese scheiß Spieluhr? Die lag natürlich irgendwo neben meiner »Sturztanne« auf dem Boden.

Also musste ich notgedrungen am Heiligen Abend noch mal ins Kaufhaus. Doch diesmal wollte ich dem Weihnachtsmann nicht mehr begegnen. Also machte ich mich erst 10 min vor Ladenschluss auf den Weg, und tatsächlich, die thronähnliche Sitzgelegenheit war leer. Schnell huschte ich in die Spielwarenabteilung, schnappte mir eine Spieluhr und eilte zur Kasse. »Geschafft!«, dachte ich. Doch weit gefehlt, als ich die Nebentür benutzen wollte (die riesigen Kaufhaus-Drehtüren waren inzwischen schon abgeschaltet), stand er plötzlich vor mir, »mein Weihnachtsmann«.

»Da sind Sie ja, der Herr, ich habe Sie schon vermisst, ich wünsche Ihnen ein Frohes Fest«, sagte er, während er langsam die Tür öffnete. Dann zog er den Rauschebart unter das Kinn, so dass ich zum ersten Mal sein Gesicht sehen konnte, und zu den schönsten Augen des Universums gesellte sich plötzlich das schönste Lächeln des selbigen. In diesem Moment war ich einfach nur glücklich und lief nachhause.

Doch dort malte ich mir aus, was passiert wäre, wenn ich ihn zu einem Kaffee eingeladen hätte, wenn ich ihn wenigstens nach seinem Namen gefragt hätte, ihm meine Telefonnummer gegeben hätte.

So war meine Stimmung bei der Bescherung auch sehr gedrückt, besonders als der Ruf »Der Weihnachtsmann ist da!«, durch die Wohnung hallte und mein Onkel mit seinem alten schon fast nicht mehr roten Mantel sämtliche Kinder in der Verwandtschaft erschreckte. So verkrümelte ich mich dann auch gleich nach dem Geschenkeauspacken in mein Zimmer.

Plötzlich klingelte es an der Tür, und nur wenige Augenblicke später stand mein Vater in meinem Zimmer. »Da ist ein Weihnachtsmann für dich«, sagte er halb fragend. Sollte ER es etwa sein? Er kennt mich doch gar nicht, weiß doch gar nicht, wo ich wohne. Ich stürmte die Treppe hinunter, und tatsächlich er war es!

Und dann war mir sofort alles klar. Ich nahm ihn an die Hand, und wir gingen in mein Zimmer.

Er: »Ich habe dich vor zwei Wochen schon bemerkt, da hast du wie im Versehen meine Hand berührt. Das war ein besonderes Gefühl für mich.«

Ich: »Und warum hast du nichts gesagt oder gemacht?«

Er: »Ich dachte mir, so groß sind ja wohl die Chancen nicht, dass ein Schwuler mit Kind ins Kaufhaus kommt.«

Ich: »Auch wahr, aber wie kommt es denn dann, dass du hier bist?«

Er: »Deine Adresse hab ich von einem der Nachbarskinder, und als du dann gestern mit der Tanne gekuschelt hast, und mich danach ansahst, habe ich wieder Mut geschöpft.«

Ich lächelte ihn nur an, überwältigt von seinem süßen Gesicht.

Er: »Und als du dann heute an der Kasse mit deinem Portemonnaie mit dem Regenbogenemblem bezahlt hast, da war ich mir sicher. Bin schon sehr schüchtern, gell.«

Wir sahen uns an und lachten. Dann strich ich über seine Wange, er über meine, unsere Lippen näherten sich, und wir gaben uns einen scheinbar stundenlangen Kuss. Dann kuschelten wir uns aneinander und mir fiel nichts Besseres ein, als »Danke, lieber Weihnachtsmann!« zu sagen, worauf wir wieder beide losprusteten.

Tja, das ist nun mittlerweile fast 14 Jahre her. Seitdem gehen wir jedes Jahr am 10. Dezember in die Spielzeugabteilung des Kaufhauses, ganz schön kitschig, was? Doch uns ist das egal, denn wir mögen uns so, wie wir sind. Immer noch. Und das wird auch so bleiben.

Und seit 11 Jahren gehen wir am Heiligen Abend für das DRK unentgeltlich als Weihnachtsmann verkleidet zu bedürftigen Familien und überbringen von Firmen gespendete Geschenke. Das ist dann wenigstens noch kitschiger!

In diesem Sinne: Frohes Fest!

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