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Auf dem richtigen Ufer

Teil 1

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Vorwort

Nach längerer Zeit konnte ich Teile von dem, was mir durch den Kopf ging, endlich abtippen. Mir hat es unheimlich viel Spaß gemacht, hoffe, dass es Euch genau so gehen wird. An dieser Stelle möchte ich Timmy für seine ausgezeichnete Hilfe besonders danken. Dies bezieht sich nicht nur auf die Korrektur, sondern auch auf die Unterstützung, die er mir immer gegeben hat. Welche auch immer die Gründe sein mögen, warum er hier nicht mehr tätig ist, werde ich und sicherlich viele andere auch, ihn vermissen. Über Feedback freue ich mich natürlich sehr, das weiß aber schon jeder. Auch wenn man das aus dem deutschsprachigen Raum nicht so oft erwarten kann, wie aus dem angelsächsischen. ;-) Liebe Grüße an Euch alle Marcos

Auf dem richtigen Ufer

Es war ein schwüler Sonntagnachmittag. Ein besonders schwüler... einer von denen, wo alles schmilzt... einer von denen, wo man nicht aus dem Haus geht... einer von denen, wo man sich und die Welt verdammt, weil die Wohnung nicht mit einer Klimaanlage ausgestattet ist.

Ich starrte den Vorhang an, und hätte schwören können, Bewegungen gesehen zu haben. Der weiße Stoff bewegte sich tatsächlich... Aber nur in meiner Phantasie... Es war wieder einer dieser faszinierenden Momente, wo mein Unterbewusstsein an die Oberfläche kam. Alle haben diese Momente... Denkt man an etwas Spezifisches und schlägt ein Buch auf, kann das Auge durch den Buchstabendschungel gleitend diese und nur diese Wörter für einen Moment finden. Es scheint so, als ob sie in einem helleren Licht erscheinen würden. Ein Augenblick und ist dieser Moment wieder weg... Der Dschungel kommt zurück, langsam sieht aber das Auge nicht mehr die Wahrheit, all die schwarzen, aneinander gereihten Buchstaben, sondern Wörter... Sätze... Absätze... und automatisch gleitet es links hoch zum Seitenanfang... und es beginnt zu lesen, zu deuten... Ein Hauch Wirklichkeit und ein Leben nach Konventionen und Regeln. Unser Auge weiß so gut, was wir mit dem Buch machen SOLLEN, wie wir wissen, was für einen Platz wir in dieser Gesellschaft haben, und was von uns erwartet wird.

Ein leichter Wind strich die langen, weißen Vorhänge, die im späten Nachmittagslicht fast gelb erschienen. Das Zimmer atmete für einen Moment auf, Schatten und Licht erwachen... Julia stöhnte kurz und drehte sich neben mir um. An solchen Nachmittagen berührten sich unsere Körper nie. Es war ja nie sinnvoll. Und was nicht sinnvoll war, das machte sie ja nie. Und ich auch nicht. Ich beobachtete ihre langen, braunen Haare, ihre Figur unter dem dünnen Samt... Sie war schön. Und sie war mein Alles.

„Kevin! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du nicht so schnell fahren sollst? Und dreh mal die Lüftung runter, ja? Es macht meine Frisur kaputt! Meine Frisur, ja? Dieses Ding, woran ich ewig arbeiten muss, und was du nie im Leben schätzen kannst!“

„Komm Schatz! Ich habe doch gesagt...“, wollte ich sie aus dem ganzen Herzen nochmals loben.

„Dass ich schön bin? Dass ich hübsch bin? Dass ich sexy bin? Wann denn? Vor einer Stunde? Kevin, das ist kein Dauerzustand! Wenn du mich nicht magst, dann sollst du es mir sofort sagen!“

„Aber ich sagte doch, dass du wunderschön bist!“

„Ja, also mit leeren Worten kann ich nicht viel anfangen!“, zischte sie zurück.

„Es sind aber keine leeren Worte! Und du weißt es!“ Mir kamen fast die Tränen.

„Oh ja? Wann hast du mich denn zum letzen Mal in ein Restaurant eingeladen? Oder wann sind wir in die Oper gegangen?“, schrie sie mich an.

„Aber wir tun das jetzt! Und außerdem bin ich ja nicht einmal...“

„Mit deinen Kumpels ausgegangen? Das ist ja unerhört! Sag mal, verlange ich denn zuviel, wenn ich sage, du sollst am Freitagabend zu Hause bleiben?“

„Aber das ist der einzige Abend in der Woche, wo ich mit ihnen...“, versuchte ich nun verzweifelt zu argumentieren.

„Toll! Also bin ich dir nicht einmal so viel Wert, dass du am Freitagabend bei mir bleibst? Nicht einmal so viel?“, schrie sie, als ich parkte. Schweigend stieg ich aus dem Auto aus.

„Überleg dir das gut! Du hast deine Wahl: ich oder deine Kumpels! Nach der Vorführung wirst du mir deine Entscheidung mitteilen! Hast du das gehört?“, schrie mir Julia ins Gesicht, als ich ihr die Tür aufmachte.

„Und noch was... Das ist ja eine Sondervorführung! Das heißt, danach werden wir die Künstler treffen! Also bitte... wenn du schon sowieso mir hinterher rennen musst, tu mir den Gefallen, deinen Mund nicht aufzumachen!?!“, fügte sie noch hinzu.

Ich war doch der Schuldige, und ich bereute bereits all die Stunden, an denen ich nicht zu Hause war, sondern mit meinen Kumpels aus der Kindheit Billard spielte. Gut, es war zwar immer nur eine knappe Stunde, aber immerhin habe ich meine Julia allein gelassen. Ich fühlte mich traurig und schuldig. Schweigend drückte ich noch auf den roten Knopf, seufzte und atmete tief durch. Das orangene Feuer der Blinker leuchtete in zwei Augen auf, die mich aufmerksam beobachteten. Mein Herzschlag wurde heftiger, das Feuer dieser Augen durchbrach in Sekundenbruchteilen sämtliche langsam und hart aufgebauten Mauern, mit denen ich meine Gefühle hüten wollte. Ich fühlte mich nackt und ausgeliefert. Ausgeliefert und nackt vor einem Mann, den ich nie zuvor gesehen hatte. Vor einem Mann, der auf seine Unterlippe beißend die linke Augenbraue hob und faul blinzelte. Mit einem ähnlich faulen Blick schaute er mich ganz genau an, vom Kopf bis zum Zeh. Ich fühlte das Feuer seiner Augen, seines Blickes, auf meiner Haut.

„Sag mal, bist du denn erstarrt? Was ist mit dir los? Wie kannst du mich hier einfach stehen lassen?“, unterbrach eine wohl bekannte Stimme den wohl intensivsten Moment, den ich jemals mit einem Menschen erlebt habe, auf die krasseste Art.

War es Mitleid oder nur Traurigkeit? Das konnte ich nicht wirklich entscheiden, und wollte ich auch nicht. Ich fand es irgendwie wesentlich wichtiger dieser göttlichen Gestalt nachzuschauen, wie er Julia ausweichend, in seinem langen weißen Blazer sich langsam entfernte.

Zornig lehnte Julia meinen Arm ab, als ich es ihr anbot. Mir wurde schlecht. Wie kann ich so sein? Sie ist doch mein Alles! Seit ich keine Familie mehr habe, habe ich gelernt, dass ich nur noch sie habe. Und dass ich nur ihr vertrauen kann. Sie will ja nur das Beste für uns. Für mich...

Die Lichter gingen aus und alle schauten auf die Bühne... Alle außer mir. Klar, wohin denn sonst soll man bei einer Ballettvorführung schauen? Langsam beobachtete ich das Publikum und stellte fest, dass Julia und ich perfekt ins Bild passten: entsprechend gekleidet, ein schönes Paar mit edlen, kulturellen Ansprüchen... Zumindest das war in Ordnung. Ganz vorsichtig schaute ich auf Julia, die ganz zufrieden neben mir saß. Sie fühlte sich gut.

Ich versuchte mich auf die Handlung zu konzentrieren. In der Szene erscheinen der Junge und seine Freunde... Dann die erste große Liebe... Ganz edel gestaltet. Was soll der Junge nun wählen? Man kann ja nur eines der beiden haben... Was wird der Junge wählen? Die Liebe ist egoistisch... Und sie ist so verführerisch... Der Freund und die Freundin erscheinen auf der Bühne. Ein Duell von zwei wichtigen Persönlichkeiten seines Lebens und er steht da, machtlos und ratlos. Sie ist verführerisch schön, er ist kindisch ehrlich. Sie ist seine Zukunft, er seine Vergangenheit. Er verbindet ihn mit der Kindheit, aber wie möchte er nun leben? Weiterhin als ein kleiner Junge oder doch noch lieber als ein Mann?

Mit graziösen Bewegungen versucht der Freund überzeugend zu sein, doch er verliert. Die Liebe siegt, aus dem Jungen wird ein Mann und die Kindheit wird nun zu einem abgeschlossenen Kapitel. Zerstört liegt der Freund am Bühnenrand und schaut aufs Publikum. Und dann auf... auf... mich? Oder bilde ich mir das nur ein? Nein, das sind doch die Augen des Jungen aus dem Parkhaus... Die forschenden Blicke, die in ihrer endlosen Traurigkeit wieder bis zu den Tiefen meiner Seele reichen können. „Und was wählst du?“, stellt er mir die Frage.

Seinem Blick kann ich nicht länger Stand halten. Warum muss ich das jetzt beantworten? Warum muss ich denn wählen? Hunderte von Händen geben meiner Verzweiflung Wort. Mein Herz würde am liebsten so stark schreien, wie diese klatschenden Hände. Julia hat aber Recht. Irgendwann muss man sich schon von der Vergangenheit lösen und sich der Zukunft zuwenden. Und wer meine Zukunft ist, ist wohl mehr als eindeutig.

„Und?“, schaut mich Julia ganz heiter an.

„Hast du schon die Antwort?“, fügt sie mit einem – für meinen jetzigen Zustand – etwas übertriebenen Grinsen hinzu. Wenn sie nur wüsste, wie schwer mir diese Entscheidung fällt.

„Ja. Das habe ich“, presse ich die Wörter kaum hörbar aus.

„Natürlich wähle ich dich“, sagt mein Verstand, aber mein Herz schreit. Zum ersten Mal seit langer Zeit verliert aber mein Verstand...

„...aber...“

„Bitte was?“, reißt Julia dieses kaum hörbare Wort aus ihrem glücklichen und zufriedenen Zustand.

„Was aber? Ohne aber! Die Aufgabe war doch klar, oder? Unfassbar!“, dreht sie mir den Rücken zu und vermischt sich in der Menge.

Mir ist schwindelig, die Welt dreht sich viel zu schnell. In diesem Chaos von Frack, Abendkleid und Krawatte, in diesem Dschungel von Parfüm und in dieser Ausstellung von auf die Gesichter gemalten, künstlichen Lächeln kann ich nicht länger bleiben. Ich muss meine Kraft sammeln und mein altes, gutes und sinnvolles Gleichgewicht wiederherstellen. Wie der Fuchs vor den Jagdhunden, versuche ich verzweifelt ein Versteck zu finden. Am Erschöpfen, mit der letzten Kraft meiner Seele zwinge ich mir ein Lächeln auf und gehe auf die Terrassentür zu. Im Garten ist es kühl, die Nacht ist klar und gut zu mir. Schatten bewegen sich auf einem halbhellen Hintergrund. Ich flüchte in die entfernteste Ecke der Terrasse und lehne mich an das steinerne Geländer. Das Singen der Grillen und die Flammen der Gartenfackeln beleben die Nacht. Hier ist es ruhig. In der Geborgenheit der Nacht können Geheimnisse und Gefühle behütet werden. Der Feuer des Wissens gilt als Wegweiser. Im Gegensatz zur Helligkeit des Saales, wo man den vielen Menschen ausgeliefert ist, kann man hier allein sein. Die Nacht ist einfach...

„Dunkel und geborgen, sicher und persönlich, faszinierend und verlockend...“, erschreckt mich eine Stimme.

„So ist die Nacht für mich...“, beendet er seinen Gedankenzug und lehnt sich neben mir ans Geländer.

„Ich liebe die Nacht. Die Nacht gehört immer dir. Egal ob allein oder mit deinem Geliebten, die Nacht bleibt dir treu. Sie umarmt dich, wenn du allein in deinem Bett liegst, oder verstreut Schlaf auf die Augen deines Geliebten, damit du in Ruhe deine Gefühle analysieren, und deine Entscheidungen treffen kannst. Die Nacht ist dein ewiger bester Freund.“

Ich schaue verwundert auf den Fremden. Seine halblangen blonden Locken bewegen sich leicht im Abendwind. Sein Profil entspricht dem einer griechischen Statue. Seine Stirn und die Nase, einfach perfekt. Interessiert schaut er mich an.

„Oder bist du damit nicht einverstanden?“, fügt er spielerisch hinzu. Ein perfektes Lächeln.

„Wenn man sich auch von diesem Freund trennen muss, dann will ich ihn nicht als Freund!“, sage ich ganz verbittert und bin über meine Ehrlichkeit verwundert.

„Die Welt besteht nicht aus Schwarz und Weiß. Das Leben ist bunt, Kevin. Meide die Extreme!“ Und wieder dieser forschende Blick, doch diesmal so warm und streichelnd.

„Wenn die Welt einmal alle Farbe verloren hat und nur noch Schwarz ist, ist man froh, wenn man ein bisschen Weiß entdeckt. Und dann hält man sich daran auch entsprechend fest“, antworte ich ihm aus der Tiefe meiner Seele.

„Weiß ist viel mehr, als was es scheint. Hab keine Angst das Weiße durch ein Glasprisma zu führen. Du kannst sehr überrascht sein.“ Er setzt sich und lehnt sich mit dem Rücken gegen das Marmorgeländer.

„Die Farben erinnern mich an meine Kindheit. Diese Farben haben zwar irgendwann ein glückliches Weiß gebildet, aber das ist lange her. Darauf folgte das aussichtslose Schwarze. Und dann war alles weg. Dann schien alles die Farbe verloren zu haben. Und das will ich nie wieder erleben. Das könnte ich nie wieder verkraften“, antworte ich und setze mich neben ihn.

Er schaut mich etwas verwundert an, spielt etwas verlegen mit seinem Glas, schüttelt langsam den Sekt.

„Siehst du die Bläschen, Kevin? Siehst du, wie die Luft sich aus der Flüssigkeit befreit? Sie ist viel zu leicht für die Flüssigkeit. Sie ist unterdrückt und will raus. So sind deine Gefühle auch. Sie wollen befreit werden. Lass sie raus! Mach deine Seele nicht schwer! Entlasse alles, was raus will!“

„Ich habe das gemacht. Ich habe mich entschlossen! Ihr hattet Recht! Immer auf die Zukunft konzentriert einmal auf die Vergangenheit zurückzublicken“, sage ich mit zitternder Stimme. Mein gesamter Körper zittert. Verlegen schaue ich ihn kurz an.

„Nein! Soweit bist du noch nicht. Du willst es dir nur nicht zugeben, weil du Angst hast. Du hast Angst vor dir selbst, weil du dich selbst noch nicht kennst.“

„Wie kannst du das beurteilen? Du kennst mich nicht, du weißt nichts über mein Leben!“

„Nur ein paar Bruchstücke... Ein paar Ideen deiner „Freundin“ und ganz viele Gefühle...“

Erstaunt schaue ich ihn mir an.

„Deine Augen spiegeln mehr Gefühle als tausend Wörter wider. Ich weiß nicht, warum du unglücklich bist, ich kann es nicht einmal ahnen, warum du dir das alles mit deiner Freundin gefallen lässt, aber eins weiß ich: du musst aufhören einsam zu leben, und das für dich! Kevin, ich glaube daran, dass man der Schmied seines eigenen Schicksals und Glücks ist. Lebe dein Leben, entdecke die innere Freiheit durch deine Gefühle! Hab keine Angst für einen Moment aufhören zu denken! Hab keine Angst dein Herz zu öffnen und Liebe zu empfangen. Lerne die Liebe zu empfangen und lerne Liebe zu geben. Darin liegt die wahre Kraft deiner Glücklichkeit.“

Ich verschmelze in seinen tiefblauen Augen. Seine Worte wärmen meine Seele und ich fühle mich besonders glücklich. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl verstanden zu werden. Wir sprechen dieselbe Sprache.

„Da bist du ja! Ich habe dich überall gesucht! Hast du denn deine Entscheidung getroffen? Ich will heim!“

Verzweifelt schaue ich auf Julia. Der Junge neben mir bleibt sitzen. Sekunden, kleine Ewigkeiten vergehen und ich bin sprachlos. Mein Herz ist voll und meine Gedanken können meine frei gewordenen Gefühle nicht mehr festhalten. Wie ein Kind, das seine Mutter anfleht, schaue ich in seine Richtung. Er ist die Ruhe selbst. In seinen Augen finde ich die Ruhe und Sicherheit. Am liebsten würde ich in seine schützenden Arme flüchten.

„Hab keine Angst nicht zu denken! Lass deine Gefühle frei! Empfange Liebe, wenn es sie überhaupt gibt, und gib Liebe! Das ist der Schlüssel deiner Glücklichkeit!“, wiederholt er ganz langsam.

Verachtend und gelangweilt schaut sich Julia den Jungen an und blickt in meine Richtung. Wie kann sie nur so herzlos sein? Wie kann sie denn so von ihm reden?

„Ich... Ich habe noch nicht entschieden“, sage ich trotzig, aber ich bereue es sofort.

„Fein! Ich weiß nicht, was du hier getrieben hast mit diesem komischen, nicht einmal talentierten Mann, aber ich gehe jetzt. Ach übrigens, ich übernachte bei Frank, also kannst du dich bis morgen noch aus der zeitweiligen Hirnwäsche erholen.“ Und weg war sie.

Wenige Wolken bedecken den Morgenhimmel. Die Amseln singen, es ist noch ganz früh. Ich sitze auf meiner Terrasse, umarme meine Knie und denke über Julia nach. Ich habe Schuldgefühle, ich hätte sie nie gehen lassen. Sie ist ja mein Alles, mein Leben. Das muss sie sein! Ich kann es nicht anderswie akzeptieren!

„Kühler Morgen“, sagt er mit rauer Morgenstimme hinter mir.

Stille...

„Kevin?“ Er kniet neben mir.

Er atmet tief durch, seufzt fast, und fragt mit der tiefsten Resignation in seiner Stimme:

„Also, war das jetzt... alles?“

„Alex, du weißt doch...“, wollte ich argumentieren.

Sämtliche Argumente schienen mir aber kindisch und unüberlegt neben den Gefühlen, die sich in diesen zwei wunderschönen Augen widerspiegelten. Vorgespielte Langeweile, ein wenig theatralischer Flair, dann aber ein seelenforschender, tiefer Blick... ein paar schnelle Wimpernschläge... Angst und Verzweiflung... endlose Unsicherheit... und Traurigkeit. Meine Lippen trennten sich, meine Kehle erfror aber. Ich starrte ins endlose Blau seiner Augen und kämpfte mit meinen Gefühlen. Seine Unsicherheit wuchs... und ertrank in Tränen. Er schloss seine Augen, und mein Herz zerbrach...

„Ich...“, flüsterte ich. Langsam öffnete er seine Augen und schaute mich endlos traurig an.

„...bist noch nicht soweit. Das hätte ich früher einsehen müssen. Und wahrscheinlich wirst du das nie sein! Ist aber auch besser so... Deine Antwort ist klar und... sinnvoll...“, flüsterte er und wollte gehen.

„Alex! Es... es tut mir so Leid!“, sage ich fast weinend. Immer noch mit dem Rücken zu mir sagt er:

„Warum Kevin? Empfange Liebe und gib Liebe! Das hast du gemacht. Allerdings gibt es da noch etwas. Und das tut etwas mehr weh... Wenn du mal viel Liebe gibst und nicht so viel empfängst, wie du gerne würdest, oder so, wie du es gerne hättest, sei nicht egoistisch und fordere nicht! Versuch nicht Maße zu setzen und den anderen festzunageln. Halte die Liebe nicht fest, zwing den anderen zu nichts. Lass ihm seine Flügel und freu dich auf das, was er dir geschenkt hat. Wie viel und für wie lange... Das überlasse ihm. Und wenn es mal soweit ist, entlasse ihn. Sein Herz gehört nicht dir, nur seine Liebe. Sucht seine Liebe neue Wege, entdeckt er sie, und ist deine Liebe nicht mehr groß genug, sie zu empfangen, dann lass ihn frei. Ich danke dir Kevin...“ Schnell wischt er sein Gesicht und verschwindet hinter den weißen Vorhängen.

Plötzlich wurde es sehr still, und sehr, sehr kalt. Ich spürte den kalten Wind auf meinem Rücken. Die Stadt schwebte im Morgenlicht... War es das Licht oder der Wind? Oder beides? Seine liebevolle und traurige Stimme? Oder doch noch das Funkeln seiner Augen, was ewig in meinem Gedächtnis eingeprägt bleiben wird? Die Sonne hob sich über die Wolkenkratzer, die Stadt erwachte, mein Herz zerbrach. Ich hatte die sinnvolle und richtige Entscheidung getroffen.

Langsam ging ich in die Wohnung rein, schloss die Terrassentür hinter mir und zog mit automatischen Bewegungen die Bettwäsche ab. Der Samt streichelte meinen Arm und ich bekam eine Gänsehaut. Ich schloss meine Augen und roch die Decke... Szenen der letzten Nacht wurden lebendig.

Ich spüre seine Haut, seine Wärme und Nähe...

Das heiße Wasser massierte meinen Rücken, der frische Duft meines Duschgels verlieh mir das Gefühl einer unerwünschten Gewohnheit. Ich rieb meinen Körper mit der schäumenden Lotion ein...

Seine Finger erobern meinen Hals und dann mein Gesicht. Seine dünnen, langen Finger... Ich atme seinen Duft ein, als ich seinen Körper über meinem spüre...

Die Wohnung war nun sauber, die Lichter alle ausgeschaltet. Ich starrte auf die roten Augen der Herdplatte...

Das Kerzenlicht spielt in seinen Augen. Es ist Feuer pur. Seine Ausstrahlung und erotische Energie hält mich fest und fasziniert mich. Ich bin machtlos...

Ich saß an meinem Schreibtisch und versuchte zu arbeiten, aber es ging nicht. Langsam lehnte ich mich gegen das Fenster und beobachtete die Straße. All die Menschen mit ihren Leben, alle ihren Verpflichtungen hinterher rennend, alle mehr oder weniger ausgeglichen und glücklich... Aber zumindest im Klaren damit, was sie mit ihrem Leben anfangen wollen. Warum muss ich denn alleine immer diese Entscheidungen treffen? Warum muss man immer alle wichtigen Entscheidungen allein treffen? Warum muss man immer aus dem gewöhnlichen Rhythmus herausgerissen werden? Warum muss das Leben immer so kompliziert sein? Selbst der Himmel ist traurig... Die Sonne versucht verzweifelt die Wolkenschicht durchzubrechen, es gelingt ihr für einen kurzen Moment und sie streichelt mein Gesicht.

Sein Gesicht kommt näher und näher. Ich spüre seinen Atem und kalte Schauder laufen meinen Rücken hinunter. Mein Körper schreit nach ihm... Meine Existenz wird flüssig und mein Verstand hört auf zu existieren. Seine Lippen berühren meine, ich stöhne leise und spüre zum ersten Mal das rasierte Gesicht eines Mannes auf meinem.

Schwindelig geistere ich durch die Wohnung. Irgendwann stehe ich in Julias Arbeitszimmer, vor dem Schrank mit unseren Reisesouvenirs. Eine fünfjährige Beziehung mit Erinnerungen aus der halben Welt... Julia ist eine gute Person... Nicht zu feurig, nicht viel zu phantasievoll, aber zufällig. Genau! Und deshalb liebe ich sie ja!

Scheu am Anfang, aber dann umso entschiedener, küsst er mich und meine Seele wird frei. Zum ersten Mal in meinem Leben ist der Kuss etwas mehr als ein reiner Austausch von Körperflüssigkeit... Es ist ein Traum.

Es ist stark bewölkt, und ich kann nicht arbeiten. Liege auf der Couch im Wohnzimmer und beobachte durch die Glasdecke, wie die Wolken den Himmel langsam erobern. Wer findet grau hässlich? Diese Wolken weisen mindestens zehn Grautöne auf... Es riecht nach Regen... Ich schließe meine Augen und umarme mich. Mir ist kalt.

Seine Finger wandern zwischen meine, und wir verbinden uns, wenn unsere Körper sich berühren. Sein Körper auf meinem... Sein Herzschlag auf meinem. Das Feuer seiner Augen und sein offener Mund... Seine Hand auf Entdeckungsreise auf meinem Körper... Seine innere Wärme... Die innere Wärme seines Körpers... Sein Körper mit meinem ein eins... Seine Seele mit meinem ein eins... Seine Lust und meine, seine Ekstase und meine... Minuten... unversäumte Ewigkeiten des Lebens... Neugeburt des Körpers und der Seele... Metamorphose meines gesamten Seins...

Müde drehe ich mich auf die Seite und umarme meine Knie. Ich fühle mich so klein und unbedeutend. Ich bin so rein, aber doch noch so schmutzig... Nichts weiteres bin ich, als ein ordentlicher Mensch. Ich bin fremdgegangen, ich habe meine Freundin betrogen... Ich fühle mich machtlos und bin erschöpft...

Sein erschöpfter Körper auf meinem... Konturen seines Gesichtes im Schatten und Licht des Kerzenmeeres... die ruhige und rhythmische Bewegung seiner Brust, als er schläft... Parfum seiner Haut... seine langen Wimpern und ein paar blonde Locken, die sich auf die Stirn verirrt haben... die Unsicherheit der Nacht und die Geborgenheit seiner Anwesenheit... die ersten Sonnenstrahlen im Zimmer... seine leicht gebräunte Haut im Sonnenlicht... sein erster Blick, der das Bett mich suchend durchsucht...

Große Regentropfen fallen auf die Fensterscheibe. Nach kurzem Kampf unterwerfen sie sich ihrem Schicksal und folgen der Schwerkraft. Sie laufen immer schneller und schneller, lassen unregelmäßige Flüsse hinter sich und vereinigen sich mit anderen Tropfen, aus den Flüssen wird ein Strom... Oder laufen sie trotzig und allein, nähern sich ihrem Ende schnell und prallen trotzig auf die Kante...

die Verzweiflung in seinen Augen... seine Tränen, das endlos traurige Blau seiner Augen... seine leise Stimme...

... das laute Geschrei von Julia, das brennende Gefühl einer Ohrfeige auf meinem Gesicht...

Der Regen fällt und ich fahre. Die Scheibenwischer geben mir einen periodischen Einblick in die Wirklichkeit. Unterschiedlich gebrochene Lichtstrahlen erhellen mein Gesicht, als ich durch die Straßen fahre.

Etwas unsicher bleibe ich vor der Tür stehen. Mit einem Lächeln klingele ich. Die Tür geht auf und ein kaputter Alex schließt auf. Er hat geweint, das kann ich sehen. Dennoch versucht er sich zusammenzureißen. Dieser Junge ist phantastisch.

„Wenn du jemanden gefunden hast, der all deine Gefühle verstehen kann, ohne eine einzige Geschichte deines Lebens gehört zu haben, der nicht egoistisch genug ist, dir eine Nacht Liebe und Nähe zu geben, auch wenn er sich dabei selber verletzt, nur um dir zu helfen, der den Sonnenschein in dein Leben bringt, und deinen Verstand und deine Seele anregt, den sollst du festhalten und nie wieder loslassen. Den sollst du fest in deine Arme schließen, seine Stirn küssen und ihm in die Ohren flüstern, wie sehr du ihn liebst. Den sollst du nie wieder loslassen... sondern... ihn bitten, sein Leben mit dir zu verbringen und sein Schicksal mit dem deinen zu vereinigen...“

Alex umarmte mich wild und fest. Wieder spürte ich seinen Herzschlag und das war perfekt. Ich spürte eine unendliche innere Ruhe und Ausgeglichenheit. Diese Ruhe, die man nur sehr selten im Leben spürt, in Momenten, wo man keine Sorgen hat. Ich war glücklich und mir endlich sicher, dass ich zu Hause war... Auf dem richtigen Ufer...

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