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Noah

Kapitel 5

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Informationen

  • Story: Noah
  • Autor: Manou
  • Die Story gehört zu folgenden Genre: Drama

 

Freitag, 7.12.07

Es gibt viele Arten aufzuwachen. Wenn man aber aufwacht, weil einem kalt ist, ist das höchst unangenehm. Zugegeben, es passiert mir selten. Ich friere nicht sonderlich schnell und hab ständig meine Fenster offen. Aber jetzt? Jetzt zieht es wirklich.

Notgedrungen reibe ich mir die Augen und stehe auf. Im nächsten Moment ist mir klar, warum es so kalt ist. Die Balkontür steht sperrangelweit offen. Noah steht draußen, barfuß und nur in Jeans und T-Shirt.

Ich schnappe mir meinen Pulli und ziehe ihn über mein Shirt, trete dann nach draußen. Ein paar Schritte vor Noah halte ich an, bleibe einfach stehen und warte. Sofort spüre ich die Kälte in meinem Gesicht und den Wind, vor dem mich selbst mein dicker Pulli nicht schützen kann. Es fühlt sich an, als würde sich eine Eisschicht auf meiner Haut bilden. Meine Finger werden langsam aber sicher kalt und ich schiebe sie mir unter die Achseln.

Es ist komisch mit den Menschen. Manchen musst du eine Brücke bauen, damit sie zu erzählen anfangen, anderen musst du auf den Kopf zusagen, dass etwas mit ihnen nicht stimmt, bevor sie loslegen. Wieder andere brauchen etwas Druck um ins Reden zu kommen.

Der Nächste kann sofort offen über alles sprechen oder braucht nur ein wenig Bedenkzeit, bevor er anfängt.

Und bei manchen, da muss man einfach ruhig sein, schweigen und das auch auf längere Zeit aushalten können. Manchmal schweigt und wartet man ein paar Minuten oder eine Stunde. Manchmal wartet man tagelang, aber das Ende ist immer gleich. Irgendwann beginnt dein Gegenüber zu reagieren. Vielleicht ist es nur ein Zwinkern oder eine kleine Bewegung, ein Lächeln oder ein Blick in deine Augen. Wenn man Glück hat, beginnt er auch zu erzählen. Man weiß es nie.

Noah dreht sich schließlich zu mir.

„Weißt du, was das beste Mittel gegen Herbst ... oder eher gegen Winterdepressionen ist?“

Ich schüttele zähneklappernd den Kopf.

„Zu wissen, dass man den nächsten Herbst oder Winter definitiv nicht mehr erleben wird.“, sagt er und verschwindet nach drinnen.

Es wird wieder still auf dem Balkon. Noah ist weg und ich ... ich stehe nur da.

Es dauert, bis ich die Kälte verlasse und zitternd die Balkontür schließe. Die Heizung kämpft mit Hitzewellen gegen die stark gesunkene Raumtemperatur an. Ich setze mich vor sie, lehne mich mit dem Rücken dagegen und lasse mich auftauen.

Noah ist in der Küche. Die typischen Geräusche seines allmorgendlichen Pillenrituals sind zu hören. Das Kratzen eines Glases, das über Holz gezogen und aus dem Schrank genommen wird. Dann Wasser, das in die Spüle spritzt, wenn Noah das Glas füllt. Das dumpfe Geräusch, wenn er den Hebel des Wasserhahns schnell herunterdrückt ... dann das Knacken der Pillendose.

Darauf folgt eine kurze Stille, in der Noah seine erste Tablette nimmt. Immer eine vor dem Essen. Warum, weiß ich nicht genau. Irgendetwas hat er mir darüber erklärt, aber ich kriege es nicht mehr richtig zusammen.

Er nimmt seine Tabletten nicht gerne vor anderen, lieber alleine für sich. In aller Ruhe und mit höchster Konzentration. Das Problem mit dem Herunterschlucken hat er längst überwunden, mit den Jahren hat er sich daran gewöhnt. Genauso wie an die Spritzen.

Einmal bin ich dabei gewesen, als er sie genommen hat. Er hat gedacht, er hätte vergessen sie zu nehmen und die dadurch entstandene Anspannung hatte man fast mit der Hand greifen können, so gegenwärtig schien sie zu sein.

Ich frage mich, wie es ihm wohl gehen würde, hätte er seine Medikamente nicht. Würde er überhaupt noch in der Lage sein, all das zu tun, was er jetzt noch tun kann? Wie viel Schmerz wird jetzt betäubt und wie viel lässt sich noch in Zukunft betäuben? Und was passiert, wenn man den Schmerzen irgendwann nicht mehr Herr werden kann?

„Möchtest du was essen?“

Noah steht wieder im Zimmer.

Ich schüttele den Kopf, hieve mich aber hoch und begleite ihn in die Küche. Er isst nur zögernd heute, scheint sich zu zwingen.

Später nehme ich mir meine Tasse und wandere ins Wohnzimmer zurück. Seine restlichen Tabletten stehen an.

Mein Blick streift sein schmales Bücherregal. Eine Lücke klafft dazwischen. Ein Buch scheint zu fehlen. Ich sehe es auf dem kleinen Schrank in unmittelbarer Nähe der Balkontür und hole es mir. Es ist ein Gedichtband und eine der Seiten ist mit einem kleinen Zettel markiert. Ich schlage die Seite auf.

Noch bist du da
Wirf deine Angst
In die Luft
Bald
Ist deine Zeit um
Bald
Wächst der Himmel
Unter dem Gras
Fallen deine Träume
Ins Nirgends

(c) Rose Ausländer**

Ich kenne das Gedicht irgendwoher, es geht eigentlich noch weiter, aber jemand hat die restlichen Zeilen schwarz übermalt.

„Der Rest hat mir nicht gefallen!“, meint Noah, als er das Zimmer betritt und mich mit dem Buch dasitzen sieht. Er lässt sich neben mir auf das Sofa fallen, eine Wärmflasche im Arm. „Da hab ich mir die Freiheit genommen und es gekürzt. Nur Rumgeschnulze!“

„Wie ist das mit der Angst?“, frage ich.

„Die Angst ist überall, wo du bist. Mal stärker, mal schwächer, aber sie ist da. Liest du mir jetzt was vor?“

„Wenn du drei gute Gründe dafür findest, mach ich das!“ Was ein miserabler Konter.

„Ich bin krank, ich hab Bauchweh und ... oh ... ich sterbe bald!“

Seine schlechte Laune scheint verpufft zu sein, er grinst schon wieder, während ich nach dem Laptop greife.

Ich komme nicht wirklich weit. Noah, der wie üblich mit dem Kopf in meinem Schoß gelegen hat, muss sich aufsetzen. Er kriegt kaum Luft vor Lachen und jappst wie verrückt, während ihm Tränen aus den Augen rinnen. Irgendwann muss ich mitlachen, es geht einfach nicht anders.

Zwei Wörter.

Es gibt nur zwei Wörter, bei deren Aussprache ich regelmäßig für Lachanfälle sorge. Es ist egal, wie ich mir die Zunge vorher zurechtlege; wie oft ich sie leise vor mir hersage oder wie langsam ich sie ausspreche. Es funktioniert einfach nicht.

Deshalb und weil Not eben doch erfinderisch macht, habe ich diese Wörter aus meinem Wortschatz gestrichen und durch kurze Sätze ersetzt. Das ist auch überhaupt kein Problem.

Jedenfalls meistens nicht, denn mit ‚Regisseur‘ haben sehr viele ein Problem. Mit ‚Gratin‘ sieht es da schon anders aus. Wahrscheinlich bin ich der einzige Mensch auf der Welt, der sich nicht merken kann, dass das „r“ vor dem „a“ kommt.

Aber dafür habe ich ja meine kleine ausformulierte Beschreibung. Ein Gratin ist einfach „irgendetwas aus dem Ofen - mit Käse überbacken“.

Dumm nur, dass Loki, der Autor von ‚Hürdenlauf‘, das nicht mitbekommen hat.

Irgendwie habe ich es geahnt.

Das dritte Kapitel von Hürdenlauf.

Erst schreibt Loki von Kartoffelschalen, dann von Kartoffelscheiben und dann ... Gratin.*

Beim ersten Mal überhört Noah mein Genuschel noch taktvoll – na ja, vielmehr hat er sich mühsam ein Prusten unterdrückt. Aber dann kommt die Frage: „Wie macht man Kar-tof-fel-gra-tin?“* Tja, ...

Jedenfalls hockt Noah jetzt auf der Couch und schüttelt sich vor Lachen.

Ich bin vorsichtig geworden, lese still ein Stückchen vor und stelle fest, dass Loki sich notgedrungen für Bratkartoffeln entschieden hat. Na ganz toll, vielen Dank auch. Auf die Idee hätte er auch früher kommen können ...

Als das Kapitel fertig ist, grinst Noah.

„So hätte ich mich auch entschieden“, kommentiert er das Ende.

„Was machst du heute noch?“, frage ich ihn, während ich meine Schuhe anziehe. In fünfzehn Minuten habe ich Spätdienst, wenn ich den Weg renne, bin ich pünktlich.

Er deutet auf seine Wärmflasche.

„Noch ’n bisschen ausruhen, mir dann den Hund von oben holen und mit ihm ne Runde laufen, bis seine Ersatzherrchen wieder da sind. Und dann darf ich mir meinen Papierkram vornehmen.“

Wir umarmen uns kurz, bevor ich seine Haustür öffne. Von oben hört man gedämpftes Hundegebell.

Noah zieht die Stirn kraus.

„Ich denke, ich ruhe mich nach dem Gassi gehen aus“, meint er.

„Na dann, Hunde verbessern ja die Flirtchancen.“

„Stimmt, in dem Fall sehen wir uns erst morgen wieder, ich hab ja heute Abend dank dem Hund sicher zu tun!“

Na, jetzt bin ich baff. Noah sieht mich an und lacht.

„Das war nur n joke, ich geh mit Margit und Thomas essen.“

Er stapft die Treppe hoch, ich renne die Treppe zur zweiten Haustür hinunter ... und mache unten wieder kehrt.

„Noah!“, schreie ich nach oben. „Kann ich mir das Buch mit dem Gedicht ausleihen?“

„Klar, nimm, was du kriegen kannst! Und gib es irgendwann zurück.“

„Wie großzügig, Herr Sparrow!“

Ich schnappe mir das Buch aus dem Wohnzimmer und stolpere damit zur Haustür raus.

Noch volle sieben Minuten bis Schichtbeginn. Da kann ich ja unterwegs noch Pause machen.

...

Einige Stunden später liege ich auf dem Fußboden meines Zimmer und blättere durch Noahs Buch. Er hat noch einige andere Gedichte ‚verstümmelt‘, aber nur das eine auch noch kommentiert. Neben den Zeilen, die er übermalt hat, steht ein mit zwei Ausrufezeichen versehenes ‚Dreck‘. Müssen wirklich nicht seine Lieblingszeilen gewesen sein.

Trotzdem würde ich gerne wissen, wie das Gedicht weitergeht. Ich schaue auf die Uhr. Es ist kurz nach Mitternacht. Unentschlossen nehme ich den Telefonhörer in die Hand.

Die Möglichkeit, dass ich Urway aufwecke, liegt weit unter zehn Prozent. Eher ist er noch nicht daheim.

Ich einige mich auf einen Kompromiss, wenn er nach dem vierten Klingeln noch nicht abgenommen hat, lege ich wieder auf. Ich tippe die Nummer ein. Während es in gleichmäßigen Abständen an meinem Ohr tutet, taste ich nach dem Buch, damit ich es wenigstens parat habe, sollte er noch drangehen.

Jemand schnauft mir plötzlich ins Ohr und ich lasse beinahe den Hörer fallen. Dann höre ich eine angestrengt atmende Stimme und meine Intuition sagt mir, dass es eindeutig besser wäre, jetzt wieder aufzulegen.

„Hey Manou!“

„Hey, stör ich?“

„Nein, wir sind gerade fertig!“

Oh Gott! Ich hab es ja geahnt.

„Ehm ... ich bräuchte mal kurz deine Hilfe!“, stottere ich - völlig aus dem Konzept gebracht- in den Hörer.

Ich höre, wie Urway mit jemand anderem spricht. Eine männliche Stimme tönt im Hintergrund. Es ist ein kurzes Gespräch, dann geht eine Tür.

„Ok ... jetzt wieder ... sorry. Du brauchst Hilfe? Bei was?“

„Hab ich ihn jetzt verscheucht?“, frage ich.

„Hä? Achso! Nein, der ist duschen gegangen. Was wolltest du denn jetzt?“

Ich versuche es ihm zu erklären. Er lacht.

„Das ist jetzt aber nicht dein Ernst, dass du mich wegen so was mitten in der Nacht anrufst, oder?“

Ich komme nicht mal zum Überlegen, weil er mir den gesuchten Text schon herunterrattert und ich so schnell wie möglich mitschreiben muss.

„War’s das? Dann würde ich jetzt auch noch schnell unter die Dusche springen!“

„Ihr Männer seid zu beneiden, bei euch geht das immer so schnell“, seufze ich.

„Wer hat gesagt, dass Mister X damit schon fertig ist?“

„Gute Nacht Ur!“, erwidere ich schnell. Der ist noch in der Lage und zählt mir auf, was vorher zwischen den beiden gelaufen ist und was jetzt, seiner Meinung nach, noch laufen soll.

„Träum was Schönes!“

Ich höre die Duschgeräusche schon lauter werden, als ich auflege.

Manchmal wünsche ich mir auch so ein Gedächtnis, wie Ur es hat. Er speichert alles, was er irgendwie für wichtig erachtet sofort ab. Meist in wenigen Minuten und doch kann er es einem noch nach Jahren genau wiedergeben. Ganz egal, ob es Gedichte sind oder Gespräche, Inhalte von Büchern, Adressen oder Telefonnummern, Geburtstage oder einfach Zeilen aus Briefen, die man ihm vor Ewigkeiten geschrieben hat.

Eigentlich ist es recht gefährlich ihm zuviel zu erzählen. Aber eben nur eigentlich, denn in Wirklichkeit wären persönliche Geheimnisse in keinem Schweizer Safe sicherer, als sie es bei Urway sind. Trotzdem ... wenn er in ein paar Jahren mit seinem Studium fertig ist, sollten sich seine Patienten warm anziehen.

Aber momentan gibt es Dinge, die mir etwas wichtiger sind als die Prognosen zukünftiger Patienten.

Ich starre auf das wilde Gekritzel vor mir. Und irgendwie kann ich verstehen, dass Noah die letzten Zeilen nicht mehr so gut gefallen haben, wie der Anfang.

Noch
duftet die Nelke
singt die Drossel
noch darfst du
lieben
Worte
verschenken
noch bist du da
Sei was du bist
Gib was du hast.

(c) Rose Ausländer**

Trotzdem schreibe ich sie ihm noch einmal in sein Buch. Als ich fertig bin, kann man das ‚Dreck‘ darunter kaum noch erkennen.

Mittwoch, 12.12.07

Es ist schon fast Mitternacht.

Die letzten zwei Stunden habe ich damit verbracht, mir Noahs SMS von heute Mittag immer wieder durchzulesen. Ich hab sie erst gegen neun gesehen. Wenn ich arbeite, liegt mein Handy entweder ausgeschaltet in meinem Spind oder ich lasse es gleich daheim.

Noah und ich haben uns seit Freitag nicht mehr gesehen. Die Zeit kommt mir unglaublich lang vor.

Die letzten zwei Tage war ich zuhause. Heute hatte ich Spätdienst, bin erst am Morgen mit dem Zug in Konstanz angekommen und vom Bahnhof gleich zum Arbeiten gegangen.

Noah ging es die letzten Tage nicht so gut. Er hing fast nur über der Schüssel und hat seine Medikamente ständig wieder ausgekotzt. Demnach ist er nur vom Bett ins Bad und wieder ins Bett gekrochen. Margit hat ihm die Leviten gelesen, weil sie ihn am Freitag hat draußen stehen sehen und daraufhin ist Noah der Kragen geplatzt. Mittlerweile haben sie sich aber wieder eingekriegt und Noah geht es auch wieder besser. Das alles hat er irgendwie in drei Textnachrichten gekriegt. Die letzte kam vor zwei Stunden:

„Der letzte Tod hat mich fast umgebracht. Ich warte - auf das neue Sterben.“

Wieder ein Vers von Rose Ausländer.

Was muss es für ein Gefühl sein auf das Sterben zu warten? Zu wissen, dass alles vorbei ist und die Medizin nichts mehr für einen tun kann, außer es dir etwas leichter zu machen.

Etwas Zerstörendes wächst in dir heran und du hast die Gewissheit, dass es keine Möglichkeit mehr gibt, um es aufhalten zu können.

Donnerstag, 13.12.07

„Es ist ein Scheißgefühl! Du willst schreien und toben, sie zwingen, irgendetwas zu tun. Du könntest die Wände hochgehen. Und denjenigen töten, dessen Lachen gerade von draußen hereinschallt. Gleichzeitig ist man wie betäubt. Man merkt gar nicht, was man macht. Man wandert umher und irgendwann kommt man irgendwo raus und fragt sich: ‚Wie bin ich hierher gekommen?‘ Und dein Verstand macht genau das Gleiche, der fragt nach dem ‚Warum?‘. Immer wieder und wieder und findet keine Antwort!“

Noah und ich sitzen am See.

Es ist arschkalt und das Wasser in der Nähe verstärkt den Effekt noch. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Es kommt einem vor, als wären wir die letzten Menschen auf der Erde. Eigentlich hatte ich nicht vorgehabt raus zu gehen. Ich wollte nach der Arbeit bei Noah vorbei, nachschauen wie es ihm geht.

Er hingegen hat mich nicht mal die Jacke ausziehen lassen, hat sich in seinen Mantel gemummelt, ist in Schuhe und Handschuhe geschlüpft und hat mich aus dem Haus gezogen. Fast hätte ich neben ihm herrennen müssen, um Schritt halten zu können.

Erst als wir am See waren, hat er mich wieder angesehen.

„Ich musste einfach raus. Ich hatte das Gefühl die ganze Wohnung wird von Minute zu Minute kleiner! Ständig sind Margit und Thomas reingekommen, dann hat meine Mutter gemeint plötzlich einen auf besorgt machen zu müssen und hat angerufen ... Ich bin halb wahnsinnig geworden. Ich bin 22, ich kann durchaus auf mich selbst aufpassen!“

Er hat mich so flehend angesehen, dass ich einfach nur genickt habe.

Jetzt sitzen wir seit über einer dreiviertel Stunde auf einer Holzbank und zittern vor uns hin.

Ich hab ihn von meinen gestrigen Gedanken erzählt und er hat mir gesagt, wie es ihm damit geht.

Die Ärzte haben ihm Januar gesagt, wenn es gut läuft Februar. Noah ist damit nicht einverstanden.

„Ich hab mich für April entschieden. Der April ist ein guter Monat zum Sterben.“

Ich starre ihn an.

„Na, hallo? Das sind so miese Monate. Da hab ich kein Bock zu, darum hab ich April ausgemacht. April klingt nicht so schlimm und außerdem sind es bis dahin noch gute vier Monate!“

Er sieht auf das Wasser.

„Ich bin nicht bereit aufzugeben, Manou. Nur weil die Ärzte das gesagt haben, muss es nicht so kommen. Ich bezweifele ja nicht, dass ich sterben werde. Das ist eine Tatsache, mit der ich an manchen Tagen besser, an anderen schlechter zurechtkomme. Ich sehe nur, was ich noch alles kann. Ich bin noch so gut wie selbstständig. Und jeden einzelnen Tag, an dem ich noch irgendetwas alleine kann, werde ich auch nützen!“

Er fährt sich mit den Ärmeln über die Augen.

„Darum muss ich raus. Raus, auch wenn es mich umbringt. Irgendwann werde ich gar nicht mehr nach draußen können. Aber jetzt kann ich es noch. Solange mich meine Beine tragen, werde ich auch gehen. Jetzt noch bis an den See oder in die Stadt, irgendwann eben nur noch vor das Haus, dann auf den Balkon. Später vielleicht nur noch vom Schlafzimmer aus ins Bad oder vom Bett auf den Stuhl daneben, aber solange ich mit meinen Beinen laufen kann, werde ich es tun.“

Jetzt laufen ihm die Tränen über die Wangen. Er wischt sie nicht mehr weg. Ich strecke vorsichtig eine Hand nach ihm aus. Er greift nach ihr, hält sie mit seiner fest und ich streiche mit dem Daumen über seinen Handrücken.

Er seufzt tief.

„Wir reden später weiter. Wir sollten ins Warme.“

Wir machen uns auf den Weg. Noahs Gesicht ist immer noch feucht von den Tränen. Ihre Spuren glitzern, wenn die Sonne mit einem ihrer schwachen Strahlen sein Gesicht trifft.

Vor dem Haus treffen wir auf Thomas. Der wirft nur einen Blick auf Noah, lässt ihn dann kommentarlos an sich vorbei. Man spürt förmlich seine Erleichterung darüber, dass er wieder da ist.

„Wo seid ihr gewesen?“, raunt er mir zu.

„Am See!“, sage ich leise.

„Bei diesem Wetter? Warum?“

„Weil er es gebraucht hat.“

...

Ich sitze bei Noah auf der Couch. Er ist im Badezimmer, um sich in der Wanne aufzutauen. So waren auf jeden Fall seine Worte. Ich nutze die Zeit und lege Noahs Gedichtband zurück an seinen Platz. Das Bild von ihm und Linus liegt auf dem Tisch. Jede Woche freut sich Noah wie ein kleines Kind auf dessen Mail aus den Staaten. Er kopiert sie ins Word und stellt die Schrift größer, damit er es lesen kann.

Auf die gleiche Weise antwortet er auch. Es dauert aber oft lange, solche Konzentrationsakte sind für ihn oft schon zu viel. SMS klappen da wesentlich besser, sie sind kürzer und die Tastenkombinationen hat er schon längst im Kopf.

Und zuhören, zuhören geht auch. Auch wenn er am Ende meist nicht mehr alles weiß. Ich fahre den Laptop hoch. Ich hab ihm vorher versprochen weiter vorzulesen.

Ich stelle fest, dass Loki vor wenigen Tagen das 11. Kapitel von Hürdenlauf online gestellt hat. Der Lesestoff wird uns nicht ausgehen und komischerweise beruhigt mich das.

Vorerst widmen wir uns aber dem vierten Kapitel. Noah ist es letzten Endes wieder warm geworden und nun hat er es sich - wie üblich- unter der Decke und mit dem Kopf in meinem Schoß gemütlich gemacht.

Als ich geendet habe, beißt er gedankenverloren auf seiner Lippe herum.

Ich warte eine Weile, dann frage ich ihn:

„Woran denkst du?“

„An Gregor. Bei uns war es auch so warm draußen!“

Ich erinnere mich an die äußerst detailgetreuen Schilderungen seines ersten Mals.

„Du hast mitten im Sommer die Rollläden runtergelassen!“

Er grinst.

„Ich hab eine äußerst romantische Atmosphäre aufbauen wollen und hallo, das hab ich auch geschafft. Er war hin und weg. Und ich ja nachher auch!“

„Du glaubst ja wohl selbst nicht, dass das nur an der Tatsache lag, dass die Rollläden unten waren und seine Bodenlampe dafür an!“

„Doch, daran und an meinen unglaublichen Fähigkeiten ...“

Ich ziehe die Augenbrauen hoch.

„... ja doch ... ist ja gut ... seinen unglaublichen Fähigkeiten eben. Ich hab dir definitiv zuviel erzählt.“


Als Noah aufwacht, ist es stockfinster.

Er setzt sich verwirrt auf, versucht sich zu orientieren und reibt sich die Augen. Dann kommt langsam Stück für Stück die Erinnerung zurück.

Nackt klettert Noah aus dem Bett und läuft Richtung Fenster. Vorsichtig tastet er in der Dunkelheit nach der Rollladenschnur.

Je fester er zieht, desto heller wird es. Die Sonne hält wieder Einzug und offenbart gnadenlos das Chaos, das sich im ganzen Zimmer breitgemacht hat. Von den Sonnenstrahlen im Gesicht wacht Gregor schließlich auf.

Sein Blick fällt zuerst auf die zerwühlte Bettdecke neben sich, dann wandert sein Blick durch den Raum und mit jeder Sekunde werden seine Augen größer.

Zuletzt entdeckt er Noah, der immer noch wie angewurzelt nackt am Fenster steht, die Schnur des Rollladens noch in der Hand.

„Noah!“, sagt er dann langsam. „So schön der Anblick ja auch ist, komm trotzdem wieder ins Bett! Glaub mir, ist besser so.“

Verdutzt sieht Noah ihn an.

„Warum?“

„Weil meine Mutter sonst einen Herzkasper bekommt!“

Blitzartig fährt Noah herum. Draußen vor Gregors Fenster steht dessen Mutter im Garten.

Sie hat sich eine Gartenschürze umgebunden, Handschuhe übergestreift und trägt Clogs an den Füßen. In der einen Hand hält sie eine Heckenschere, in der anderen ein paar anscheinend gerade frisch geschnittene Blumen. Mit eben jenen Blumen winkt sie Noah jetzt auch amüsiert lächelnd zu.

„Oh Gott!“, murmelt Noah tonlos.

„Nein, nur meine Mutter!“, meint Gregor. Er steht auf, schiebt Noah sachte Richtung Bett und zieht dann die Vorhänge zu. Sie kuscheln harmlos und Gregor genießt die Wärme, die von dem jungen Kerl neben ihm ausgeht.

Zärtlich fährt er ihm mit der Hand durch das verstrubbelte Haar, zieht einzelne Haarsträhnen hinter die Ohren und beginnt an den Ohrläppchen zu knabbern.

Noah seufzt.

Gregor wandert von den Ohren zum Nacken und langsam den Rücken runter, seine Lippen hinterlassen eine feine, feuchte Spur auf der Haut. Seine Hände streicheln über Noahs Schulterblätter und die Oberarme, umfassen schließlich Noahs Handgelenke.

Ihre Finger verschränken sich ineinander und eng aneinander gepresst schlafen sie wieder ein.

Die nächsten Tage vergehen wie im Flug. Jede freie Sekunde und die gesamten Wochenenden verbringt Noah bei Gregor. Nachhause zieht es ihn nicht wirklich. Heide, die mittlerweile krampfhaft versucht, Noahs Verhalten als Phase abzutun, hat das Gefühl versagt zu haben. Mit ihren zwei ältesten Kindern kann sie nicht richtig reden, die beiden scheinen ihre Ängste nicht zu verstehen.

‚Er ist schwul, Mama, das macht ihn doch nicht zu einem anderen Menschen!‘, heißt es immer.

Aber welche Mutter sieht ihren Sohn schon gern mit einem anderen Mann Händchen halten?

Vom Küssen ganz zu schweigen. Oft denkt sie daran Bernd anzurufen. Aus Carolin und Ben ist ja auch etwas geworden, beide haben sich völlig normal entwickelt. Warum schlägt Noah dann so völlig aus der Bahn? Sicher ist es ihre Schuld. Sie hätte auf Bernd hören und das Kind abtreiben sollen. Man sieht ja, was dabei herausgekommen ist. Wie konnte sie nur so dumm sein.

In ihrer Verzweiflung und weil sie sich nicht traut Bernd anzurufen, beginnt sie ihm einen Brief zu schreiben. Es wird ein langer Brief, vier Seiten sind es am Ende. Heide fühlt sich gleich viel besser. Gerade will sie den Brief einpacken, als das Telefon klingelt ...

Als Noah am Abend nach einem Umschlag sucht, fällt ihm der Brief in die Hände. Er wirft einen kurzen Blick darauf und will ihn dann schon beiseitelegen, als er Gregors Namen in den Zeilen sieht. Er setzt sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und beginnt zu lesen.

Am Ende schiebt er die Blätter wieder zwischen Heides Unterlagen.

Ihm ist übel.

Die Nacht wird schlimm. Immer wieder wacht er auf. In seinem Kopf dreht sich alles. Nur mit Mühe schafft er es ins Bad. Minutenlang hängt er über der Schüssel. Das Schwindelgefühl will und will nicht verschwinden. Noah klatscht sich kaltes Wasser ins Gesicht, lässt sich kaltes Wasser über die Handgelenke laufen.

Als er nach dem Wasserhahn greifen will, um ihn abzustellen, sind da plötzlich zwei. Sekunden später kniet er wieder vor dem Klo.

Am nächsten Morgen fährt Heide mit ihm zum Arzt. Schon im Juni hatte der bei Noah eine Magenverstimmung diagnostiziert und ihm Medikamente verschrieben, die sehr gut geholfen hatten. Die Symptome waren die gleichen wie dieses Mal.

„Na junger Mann, haben wir einen etwas nervösen Magen?“, fragt der Arzt.

Noah schüttelt stumm den Kopf und sagt auch während der restlichen Untersuchungen kaum ein Wort.

„Machen Sie sich keine Sorgen, die meisten Kids haben in der Pubertät solche Probleme! Man weiß ja auch nicht was sie tun, wenn sie nicht zuhause sind, nicht wahr?“, meint der Arzt abschließend. Heide wird blass, dreht ihren Kopf ruckartig in Noahs Richtung und begutachtet ihn von oben bis unten. Der Arzt verschreibt die gleichen Medikamente und wünscht Noah „Gute Besserung!“ und beiden anschließend „Noch einen schönen Tag!“

Beruhigt fährt Heide nach Hause und achtet in den nächsten Tagen darauf, dass Noah seine Medizin auch nimmt. Doch es wird nicht wirklich besser.

In Noahs Kopf überschlagen sich die Gedanken. Ist seine Mutter wirklich so enttäuscht, wie sie es in dem Brief geschrieben hat? Ist er vielleicht doch nicht normal? Eine Schande für die Familie?

Er kann Heide nicht in die Augen sehen, am liebsten würde er verschwinden. Still und heimlich. Mitten in der Nacht. Wenn nur die Schmerzen nicht wären ...

Caro erschrickt, als sie kurze Zeit später zu Besuch kommt. Noah ist blass, er isst nicht mehr viel und immer öfter greift er nach Tellern, Türgriffen oder Büchern, die nur in seiner Fantasie existieren und dessen reale Gegenstücke meist einige Zentimeter daneben stehen.

Anfang Oktober schafft Noah den Schulweg nur noch mit Pausen, dem Unterricht zu folgen fällt ihm immer schwerer. Immer öfter hat er Termine bei verschiedenen Ärzten. Aber die sagen alle das Gleiche. Noah ist gesund. Die Probleme sind pubertätsbedingt. Der Junge ist ja auch noch im Wachstum. Vielleicht will er ja einfach Aufmerksamkeit.

Eines Tages platzt Heide der Kragen.

„Was auch immer du da tust, hör auf damit!“, schreit sie ihn an. „Ich habe es satt, verstehst du? Satt bis obenhin. Was glaubst du eigentlich, wer du bist. Ich habe weiß Gott besseres zu tun, als dich ständig von einem Arzt zum nächsten zu kutschieren. Und all das nur um zu hören, dass du kerngesund bist und einfach nur Aufmerksamkeit willst.“

„Ich will überhaupt keine Aufmerksamkeit“, stellt Noah klar. „Wieso auch? Ich bin dir doch eh immer scheißegal gewesen. So eine Scheiße aber auch, dass ich auf die Welt kommen musste, was?“

Die Wucht von Heides Ohrfeige lässt Noah taumeln.

„So sprichst du nicht mit mir ... DU nicht! Du hast keine Ahnung, was ich durchmachen musste deinetwegen. Was ich auf mich genommen habe ... was ich aufgegeben habe deinetwegen. Wenn du nicht gewesen wärst, dann ...“

„Dann was, hä? Dann was? Wären du und Bernd noch zusammen? Ein glückliche Familie in einer Friede - Freude - Eierkuchen - Welt? Mutti, Vati und die zwei süßen Kleinen? Tut mir ja leid, dass ich reingeplatzt bin und deine Seifenblase kaputt gemacht habe.“

Heide steht fassungslos und mit Tränen in den Augen da und starrt Noah an, dann überrennt sie der Zorn.

„Ich hätte auf deinen Vater hören sollen, er wusste, dass du uns nur Ärger machen wirst. Er hat es von Anfang an gewusst!“

„Das bin ich für dich also ja? Eine Fehlentscheidung?“

Heide schweigt lange.

„Vielleicht hättest du mich dann doch besser abtreiben sollen!“ Eine nüchterne Feststellung von Noah und doch gleichzeitig ein letzter Hoffnungsschimmer. Wenn sie jetzt ‚Nein‘ sagt …

„Ja, vielleicht schon!“

Noah wird blass. Alle Wut ist auf einmal verschwunden und macht Platz für eine tiefe Traurigkeit.

„Dann geh ich wohl besser!“, sagt er leise, dreht sich um und verschwindet aus der Tür.

„NOAH!“, ruft Heide, als sie unten die Haustür zugehen hört. „Noah, komm zurück“

Sie läuft in den Hausflur.

„Noah!“

Ihre Stimme hallt von den Wänden des Flurs wider. Ein widerwärtiges Echo erfüllt die Stille.

Und Heide sinkt auf den Boden.


„Es war nicht mehr dasselbe seither!“

Ich bin mir nicht sicher, ob Noah jetzt mit sich selber oder mit mir spricht. Vor meinem inneren Auge sehe ich die Szene förmlich vor mir. Soviel Schmerz, mir wird fast schlecht davon.

„Ich bin zu Gregor gegangen und hab stundenlang geheult. Irgendwann bin ich eingepennt und Gregor hat Ben angerufen. Der hat sich dann um alles gekümmert. Wie er es immer gemacht hat. Ben hat sich immer um alles gekümmert ...“


Mittlerweile geht Noah lieber mit Ben oder Caro zum Arzt, denn dann darf Gregor ihn begleiten. Für Gregor hat Anfang September das 13. und damit letzte Schuljahr begonnen. Im Frühjahr stehen seine Abiturprüfungen an, danach will er studieren.

Doch das alles liegt für ihn in weiter Ferne, momentan ist ihm Noah das Wichtigste. Liebevoll wäscht und trocknet er ihm den Rücken und das Gesicht ab, wenn beides von kaltem Schweiß bedeckt ist. Wiegt ihn sanft ihn den Armen, hält ihm die Haare aus dem Gesicht, wenn Noah mal wieder erbricht.

Die Ärzte finden nichts; rein körperlich, erklären sie, ist Noah gesund. Mit jedem Arztbesuch wachsen die Ängste. Vor allem Caro beschleicht ein immer stärker werdendes Gefühl der Unruhe. Sie ist es auch, die mit Noah zu einer weiteren Augenärztin fährt.

Die Ärztin hört sich fassungslos Noahs Krankheitsgeschichte an und beginnt daraufhin schnell mit der Untersuchung. Kurz darauf schickt sie Caro und Noah ins Krankenhaus.

Noah muss eine Computertomographie machen lassen. Die Ärztin murmelte etwas von „Stau“ und „Pupille“.

Im Krankenhaus folgt auf das CT dann noch ein MRT (Magnetresonanztomographie). Die CT - Bilder wären nicht aussagekräftig genug, heißt es.

Caro beschließt, Ben anzurufen und ihm Bescheid zu geben. Heide ist schon länger im Krankenhaus und wartet nun zitternd mit ihren Kinder auf die Auswertung des MRTs. Als Ben schließlich im Krankenhaus ankommt, sieht er in den Augen seiner Mutter und Schwester nackte Angst.

Genau jene überfällt ihn kurze Zeit später auch.

„Wir haben etwas gefunden!“, meint ein Arzt und starrt in drei fassungslose Gesichter. „Wir müssen jetzt schnell handeln!“

„Was haben sie gefunden?“, fragt Caro.

„Wir wissen es noch nicht genau. Aber was wir wissen ist, dass es dort auf keinen Fall hingehört.“

„Was gehört wo nicht hin?“ Heide steht unter Schock.

„Das, was wir gefunden haben, hat in Noahs Kopf nichts zu suchen!“

Noah wird sofort auf die Intensivstation gebracht. Nach einem kurzen Gespräch einigt man sich darauf, dass Ben vorerst bei ihm bleibt. Caro muss Noah versprechen, Gregor anzurufen. Ihre Augen schwimmen vor Tränen, als sie einen letzten Blick auf ihren kleinen Bruder wirft.

Die Ärzte entscheiden sich dafür, Noah eine Drainage zu legen, die dafür sorgen soll, dass die Hirnflüssigkeit abfließen kann und der Überdruck in seinem Kopf nachlässt.

...

Als Gregor am nächsten Abend vom Training nachhause kommt, hört er seine Mutter telefonieren. Himmel, wenn sie bloß nicht die Leitung belegt hat, als Noahs Schwester anrufen wollte. Gestern hat Caro gesagt, sie würde sich heute wieder melden, dann wüssten sie mehr. Noah ist im Krankenhaus. Irgendetwas stimmt nicht, etwas ist in seinem Kopf, was da nicht hingehört und er, Gregor, darf nicht zu ihm. Auf der Intensivstation sind nur enge Familienangehörige erlaubt.

Den ganzen Tag ist Gregor unruhig von einem Zimmer ins nächste gelaufen. In der Schule konnte er sich nicht konzentrieren. Was interessiert ihn denn eine scheiß Deutschlektüre, wenn sein Freund schwer krank ist? Seine Mutter hatte ihn dann zum Sport geschickt, in der Hoffnung es würde ihn ablenken.

„Das hat auch hervorragend funktioniert!“, denkt Gregor bitter. Viermal ist er vom Barren gestürzt, dreimal vom Pferd und bei der Sprungkombination am Boden hat er sich voll auf den Hosenboden gesetzt.

Doch die Blessuren sind alle sofort vergessen, als er ins Esszimmer kommt. Dort sitzt seine Mutter. Sie ist kreidebleich und schaut auf den Hörer in ihrer Hand.

„Mum?“

Gregors Herz rast. Er kann es förmlich bis in den Hals spüren. Seine Hände werden feucht und kalter Schweiß breitet sich auf seinem ganzen Körper aus.

„Mum, was ist?“

Gregor spürt wie seine Knie weich werden. Mit Müh und Not hält er sich am Tischrand fest. Er hört seinen Vater ins Zimmer kommen.

Ein Stuhl drückt sich von hinten gegen seine Kniekehlen und langsam lässt er sich nach hinten fallen.

„Gregor, Noahs Schwester hat gerade angerufen ...“, beginnt seine Mutter zögernd.

Sie spricht nicht weiter und Gregor dreht fast durch vor Angst.

„Was hat sie gesagt? Was verdammt noch mal hat sie denn gesagt?“

Er spürt, wie sich die Hand seines Vaters von hinten in seine Schulter krallt. Dann hört er seine Stimme.

„Noah hat einen Tumor im Kopf. Er hat einen Hirntumor, Gregor!“


Noah schiebt die Decke von sich.

Der Wind rüttelt an den Rollläden. Draußen ist es pechschwarz.

Ich versuche gar nicht erst auf die Uhr zu schauen. Ich weiß, dass ich schon längst im Bett liegen sollte. Morgen habe ich Frühschicht.

„Frühschicht?“, fragt Noah leise.

Ich nicke.

„Quatsche ich dir eigentlich zuviel?“

„Du kannst mir gar nicht genug quatschen ...“, erwidere ich.

„Aber du würdest es mir sagen, wenn es mal zuviel wäre, oder?“

„Versprochen!“

Er lächelt.

„Ein kluger Mann hat mal gesagt: Versprechen werden gehalten oder gar nicht erst gemacht!“

„Hab ich so noch nie gehört, aber klingt toll. Von wem ist das?“

„Von mir.“

Ich muss lachen.

Ich bin schon an der Tür, als mir noch etwas einfällt.

„Ich fahr dieses Wochenende noch mal heim, gleich morgen nach der Arbeit und am Montag kommen dann schon mein bester Freund und sein Mann ...“

„Kein Thema, ich wünsch euch viel Spaß!“, unterbricht Noah mich.

„Ehm ...“ Ich schaue ihn an. „Eigentlich wollte ich fragen, ob du mit zum Bahnhof willst, zum Abholen!“

Prompt stiehlt sich ein feines Lächeln auf sein Gesicht.

„Solange ich raus kann, werde ich auch raus gehen! Und wenn zwei heiße Typen am Bahnhof warten, heilige Scheiße, werde ich sogar raus rennen.“

* Hürdenlauf
Autor: Jonathan Möller
2006-2008
www.nickstories.de - Hürdenlauf (c) Loki

**Gesamtwerk in 16 Bd. [abgeschlossen 1995]
Zuerst in: Mein Atem heißt jetzt
- Noch bist du da-
Autorin: Rose Ausländer
1981
Fischer (Tb.), Frankfurt a. M.

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