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Noah

Kapitel 1

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Informationen

  • Story: Noah
  • Autor: Manou
  • Die Story gehört zu folgenden Genre: Drama

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

"Da suchen wir und suchen... die Geschichte unseres Lebens. Und wenn wir sie haben, fragen wir uns: "Ist sie es wert aufgeschrieben zu werden?" Aber wer weiß das schon? Wer weiß schon, dass man jeden Tag Geschichte schreibt?"

Das waren Noahs Worte im März 2008.

Mittlerweile liegt ein ansehnlicher Stapel Papier vor mir. Noahs Geschichte, gebannt auf Dutzende Seiten. Ich hab ihm versprochen seine Geschichte aufzuschreiben und damit habe ich angefangen. Einige Kapitel sind schon fertig, anderen fehlt noch etwas der Feinschliff, vor dem Ende drücke ich mich noch etwas.

Das, was in der Geschichte passiert, hat sich genauso oder zumindest großteils genauso abgespielt, teilweise Wort für Wort. Zum Einen haben sich manche Szenen einfach zu tief in mein Gedächtnis eingebrannt, um je vergessen werden zu können. Zum Anderen habe ich sehr viel über Noah in meinem Tagebuch geschrieben oder Freunden erzählt, die ein wirklich außergewöhnliches Gedächtnis haben.

Die Personen und Örtlichkeiten, die im Laufe der Geschichte vorkommen, existieren wirklich.

Jetzt hoffe ich, dass ihr eure 'Zeit' mit Noah genießen könnt.

Ich hab es jedenfalls getan.

 

Es war Montag, der 5. November 2007, ein typischer Novembertag – kalt, nass und neblig. Einer von diesen Tagen, die ohne größeren Sinn an einem vorbeiziehen und einem am Ende ein "Chance vertan!" hinterher schreien , bevor sie im ewigen Nichts des Vergessens verschwinden.

Kein Tag, von dem man nach einiger Zeit noch wüsste, was genau man getan hat.

Es war der Montag, an dem ich Noah kennen lernte!

Es war der Tag, der so vieles verändern sollte.

Die Reise beginnt

Montag, 05.11.2007

"Nächste Haltestelle.... Bahnhof", lautlos spreche ich die Worte der körperlosen Frauenstimme mit. Seit knapp zwei Monaten lebe ich in Konstanz am Bodensee und mittlerweile habe ich die Haltestellennamen der Busse im Kopf. Kein Grund, damit anzugeben, aber man kann es ja mal versuchen.

Der Bus hält ruckartig an, die Türen öffnen sich quietschend und ein Schwall nasskalter, unangenehmer Luft strömt hinein – zusammen mit einer stattlichen Anzahl von Menschen. Es wird eng und die Sitzplätze werden heiß umkämpft.

Interessiert betrachte ich meine "Mitfahrer" und komme zu dem Schluss, dass unsere Welt letztendlich doch ein totales Klischee ist.

Da hätten wir die zwei jungen Männer mit langen Haaren, Bärten und Ökoklamotten, dazu je einen übergroßen, zerschlissenen Rucksack – Studenten.

Dann die Oma mit ihrer rollenden Einkaufstasche, bereit sie allen über die Füße zu ziehen, die nicht automatisch zur Seite springen und Platz machen.

Die Herren im Anzug, die mit völlig entnervten Gesichtsausdruck eben jenen ihren Aktenkoffer an die Knie schlagen, die vorher schon mit Oma die Regeln der Höflichkeit durchgekaut haben und dann noch...

"Aldaaaa", die Teenies!

Ich spare mir Erläuterungen, es sind keine nötig, wir alle kennen Teenies. "He Alda, rück ma rüber, Alda!" "Halts Maul Schlampe!" "Fick dich, Alda!"

Ein faszinierender Wortschatz.

Ein dumpfes Geräusch neben mir.

"Gott, ich hasse diese Kinder!"

Ich werfe erstaunt einen Blick auf meinen neuen Nebenmann und klappe erst mal den Mund auf und mein Buch zu. Jeans, Mantel, lila/schwarzes Palituch, blaue Augen und braune Haare, die - bis auf ein paar Strähnen - komplett von einer Mütze verdeckt werden.

Eben jene zieht er sich jetzt vom Kopf und wuschelt seine Haare durch. Ich schätze ihn auf höchstens 23, 2-3 Jahre älter als ich also.

Er sieht auf eine eigene, eigenartige Art und Weise gut aus, doch sein Gesicht ist eingefallen, die Augen liegen tief in den Höhlen, er wirkt müde, fertig...krank.

Früher wird er mal richtig hübsch gewesen sein, was rede ich, er ist es heute noch, nur anders eben.

Er mustert mich ebenfalls, wandert mit den Augen von oben nach unten, dann fällt sein Blick auf das Buch in meiner Hand.

"Was liest du da?", fragt er.

Ich drehe ihm die Vorderseite hin.

Er beugt sich rüber.

"Die Mitte der Welt", entziffert er mühsam. "Geiles Buch!"

Die Türen des Busses schließen sich und der Bus zuckelt los.

"Bist noch nicht allzu weit, hm?"

"Ich wäre weiter, müsste ich nicht manche Sätze zweimal lesen, um sie zu verstehen", erwidere ich trocken.

"Und ich dachte immer, darin liegt der Reiz des Buches", grinst er. "Nee, im Ernst, das Buch ist toll!"

"Ich weiß, ich lese es zum dritten Mal oder so!"

Er grinst wieder. "Hat das was damit zu tun, dass Frauen von schwulem Sex nicht genug kriegen können?"

"Bin ich so leicht zu durchschauen?"

Er lacht und für einen kurzen Moment blitzen seine Augen auf. Dann sieht er nach draußen ins trübe Grau. Unser Bus hält gerade an der Konzilstraße.

"Also, wenn du noch mehr schwule Literatur suchst..."

Ich verdrehe die Augen, als er den Satz beginnt.

"...kann ich dir weiterhelfen."

Es hätte mich ja auch gewundert, wenn ein Hetero "Die Mitte der Welt" gekannt hätte.

"Danke, ich verzichte, kenn ich zur Genüge!", antworte ich schmunzelnd und lüge nicht einmal. Knapp 4 Jahre ist es her, dass ich meinen besten Freund mit männlicher Begleitung im Bett erwischt habe – jaa, so schnell lernt Frau das Anklopfen.

Gut, ich wusste damals schon, dass er mit einem Mann zusammen war, aber WIE man zusammen sein kann, wusste ich erst ab diesem Zeitpunkt so richtig.

Interessiert blickt mein Nachbar mich an. "Lange Geschichte?", fragt er.

"Sehr lang!"

"Ich hab Zeit."

"Ich nicht, ich muss hier raus!"

Nach dem Sternenplatz hat die Frauenstimme gerade den Zähringerplatz angekündigt.

Ich stopfe mein Buch in meine Tasche.

"Lässt du mich raus?", frage ich und will aufstehen.

"Rufst du mich mal an?"

Überrascht blicke ich auf. "Erm, wir kennen uns gar nicht!"

Er streckt mir seine Hand hin, er trägt rotgrau karierte Handschuhe.

"Noah", sagt er.

Völlig perplex schüttele ich seine Hand.

"Manou"

"Dann kennen wir uns ja jetzt!"

Der Bus rollt auf die Halteausbuchtung. Noah zieht erst einen Kugelschreiber aus der Tasche, dann einen Handschuh aus und hält mir Hand und Stift hin.

"Schreib aber groß und deutlich, meine Augen haben stark nachgelassen."

Hastig kritzele ich meine Handynummer auf seinen Handteller. Er lächelt wieder und steht dann auf, um mich vorbeizulassen. Ich haste zur Tür.

"Ich melde mich", schallt es mir hinterher.

Als sich die Türen geschlossen haben, hebe ich kurz die Hand zum Gruß. Der Bus fährt ab, ich warte, bis er aus meinem Blickfeld verschwunden ist, dann mache ich mich auf den Heimweg.

Mittwoch, 07.11.2007

Heute haben wir Mittwoch.

"Cookie- Tag" würde mein bester Freund jetzt sagen, da muss ich spontan dran denken, als ich mit meinen Einkäufen durch den nahgelegenen Kaufland schlendere.

Für einen kurzen Moment gerate ich auch in Versuchung, aber wer hockt sich denn alleine mit einem Becher heißer Milch auf den Boden und knabbert an einem Cookie? Ich bestimmt nicht.

Zum Kekse knabbern und heiße Milch trinken, muss man nämlich mindestens zu zweit sein. Daher landet die Keksschachtel auch wieder im Regal. Aber bei der Milch bin ich gnädig, die brauche ich eh spätestens morgen früh wieder.

Wenig später stehe ich an der Kasse; vor mir eine äußerst genervt wirkende, junge Frau. Sie hat ihr Handy am Ohr, packt mit der freien Hand ihre Einkäufe auf das Band.

"Ich werde jetzt nicht länger mit dir auf diesem Niveau diskutieren, Jan!", zischt sie. "Warte gefälligst bis ich daheim bin!"

Vor Wut förmlich schnaubend klappt sie ihr Telefon zusammen und wirft es in ihre Tasche. Sekunden später fliegen Kartoffeln durch die Luft, deren ehemaliges Zuhause – ein ockerfarbenes Kunstnetz - konnte den Aggressionen seiner baldigen Besitzerin nicht standhalten und wurde wortwörtlich zerfetzt.

Bei dem Gedanken daran, wie es dann erst besagtem Jan ergehen wird, wird mir etwas bang ums Herz und ich bin froh als Madame endlich abrauscht. Ihre Stiefelabsätze knallen auf den gefliesten Boden, stampfen die Rolltreppe empor, dann erst gehen sie im allgemeinen Geräuschpegel unter.

Zuhause angekommen stelle ich fest, dass noch etwas in dem Lärm untergegangen ist: "Ein Anruf in Abwesenheit". Ich habe mein Handy gar nicht klingeln hören, geschweige denn die Vibration gespürt, soviel zum Thema "Frauen spüren mehr (körperlich gesehen)".

Die Nummer sagt mir nichts, aber dann bemerke ich den kleinen gelben Briefumschlag oben rechts am Displayrand. Sieh an...eine SMS.

"Ich melde mich, versprochen ist versprochen...Noah!"

Klingt, als hätte ich danach gebettelt, aber schön, Spielchen spielen kann ich auch! Wir Frauen sind sogar Meister im Spielchen spielen.

"Wow, ich bin überrascht ;) Genieß den restlichen Tag und sonne dich im Glanz deines Erfolges -.-"

Ich speichere die Nummer ab.

Entspannt lasse ich mich auf mein Bett fallen und beobachte die Farbkleckse an meiner Lampe...typisch Schwesternwohnheim...da wurde mal eben schnell- schnell drüber gestrichen, keine Zeit zum Abkleben, keine Zeit für Qualität.

Warum auch, wenn eh nur Zivis oder Fsj' ler die Räumlichkeiten hier nutzen?

Also wer sich diesen Mist ausgedacht hat, zwanzig junge Leute auf eine Etage zu stecken mit vier gemeinschaftlich genutzten Klos, vier Duschen und einer Miniküche und dann auch noch Sauberkeit erwartet, der gehört eingewiesen.

Die meisten sind für das Jahr hier zum ersten Mal von daheim ausgezogen. Keine Mama mehr da, die wäscht, kocht und aufräumt – aber eben auch keine Mama mehr, die aufpasst oder kontrolliert - und was soll ich sagen, man merkt es an allen Ecken und Enden. Vollgekotzte Flurteppiche inklusive.

Ein Handyklingeln reißt mich aus meinen Gedanken über die seltsamen Sauberkeits- und Hygienevorstellungen meiner Mitbewohner und Mitbewohnerinnen.

Ich werfe einen Blick auf das Display – Noah!

"Hm?"

"Hast du Lust dich mit mir in meinem Erfolg zu sonnen?"

"Scheint bei dir etwa die Sonne?"

"Nein...bei dir?"

Ich werfe einen Blick auf das trübe Wetter draußen.

"Ich hab orangefarbene Vorhänge, ich kann mir daher zumindest die Illusion verschaffen."

"Du Glückliche!"

Kurze Zeit später entscheiden wir uns aufs Festnetz umzusteigen. Wir reden knapp eine Stunde über Gott und die Welt, unterbrochen nur von Hustenanfällen seinerseits.

"Hast du dich erkältet?", frage ich.

"Das hab ich öfter in letzter Zeit, ist normal! Also wie sieht's aus? Haste nächste Woche mal Zeit?"

Ich nicke, bis mir auffällt, dass er das gar nicht sehen kann.

"Joa, hab ich, wann geht's denn bei dir?"

"Eigentlich immer, ich hab nichts zu tun, was sich nicht verschieben ließe!"

"Dann Dienstag, sagen wir gegen 15 Uhr, ich muss bis um 14 Uhr arbeiten!"

"Dienstag, 15 Uhr", wiederholt er. "Wo?"

Ich zögere kurz, im Kopf gehe ich meine Lieblingsplätze durch. Es ist ja nun wirklich nicht so, dass ich gleich jeden an meine Konstanzer Lieblingsplätze mitnehme, aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass das mit Noah kein Problem ist.

Trotzdem entscheide ich mich "nur" für das "Aran", ein Café in der Innenstadt, etwas teurer, aber ich liebe die Einrichtung und die Atmosphäre.

Dienstag, 13.11.2007

"Die Einrichtung ist super!"

Noah sieht sich mit großen Augen um, mustert die gewölbten, mit Stuck verzierten Decken, die warmen Farben und das dunkle Holz der Tische. Ebenso die Rollen an der Wand, auf die man sich setzen kann, die hohen Holzhocker und die niedrigen Sessel.

Mitten im Raum stehen Tische voller Bücher, an den Wänden sind Regale mit verschiedenen Kaffee-, Tee- und Marmeladensorten, gleich am Eingang noch einige Ramschstücke.

Alles zum Verkauf ausgestellt, aber man kann sich durchaus ein Buch mit an den Tisch nehmen und darin schmökern oder sich eben wahlweise auch nur die Bilder darin ansehen.

Die Theke ist groß, ebenfalls hölzern, aber dennoch modern. Sie zieht sich durch den ganzen Raum.

Über ihr an der Wand sind Tafeln angebracht; dunkle Holztafeln, auf denen mit Kreide die Angebote und Preise stehen. Die Schrift ist wunderschön und jedes Mal überlege ich, wie jemand mit Kreide so schön schreiben kann.

Besonders auffallend sind die breiten Fensterbänke. Auch die sind gepolstert und für mich der gemütlichste Platz im ganzen Café.

Rein zufällig habe ich mich dort auch niedergelassen um auf Noah zu warten. Es ist voll, aber nicht zu laut; das Geschäft läuft gut.

Ich sehe ihn schon von weitem, wieder in seinen Mantel, die Hände tief in den Taschen vergraben, wieder die gleiche Mütze und das gleiche lila/schwarze Palituch - diesmal bis fast über die Nasenspitze hochgezogen.

Als er schließlich vor mir steht, glänzen seine Augen feucht, die Wangen sind gerötet, zusammen mit seiner Blässe sieht das äußerst gut aus und ich bin nicht die Einzige, der das auffällt.

Noah kümmert das nicht, er fährt sich mit dem linken Mantelärmel über seine Augen.

"Dieser gottverdammte Wind", flucht er. "Ich dachte, mir friert alles ab."

Dann wandert sein Blick durch den Raum. "Die Einrichtung ist super!"

"Alles andere auch!"

Er reibt sich die Hände.

"Willst du was zum Aufwärmen?", frage ich.

"Haben die Tee?"

"Jede Menge."

"Dann Tee."

Drei Stunden später sitzen wir immer noch im "Aran". Noah hat sich auf die Fensterbank gekuschelt, seine Finger umklammern die Teeschale so fest, dass seine Knöchel sich weiß abzeichnen.

Er trinkt in kleinen, aber regelmäßigen Schlucken. Genießt immer noch jeden Tropfen, obwohl es schon die vierte Schale ist.

Noch nie habe ich jemanden mit solchem Genuss Tee trinken sehen.

Er sieht auf. Ein feines Lächeln umspielt seine Mundwinkel. Sein Lächeln ist einzigartig, sein ganzes Gesicht scheint plötzlich zu leuchten und man muss einfach mit lächeln.

"Was ist los?"

"Mir wird langsam wieder warm"

Nachdenklich sehe ich ihn an. Ihm wird langsam wieder warm? Wir sind schon über drei Stunden hier. Er hat lediglich seinen Mantel ausgezogen.

Mir sind seine Pullover aufgefallen, er trägt mehrere; in Schichten übereinander. Seine Jeans schlottert um seine Beine.

Ja, er ist dünn, sehr dünn sogar.

'Abgemagert', schießt es mir durch den Kopf.

Er lehnt den Kopf an die Scheibe, schließt kurz die Augen.

"Warum bist du hier?"

Diese plötzliche Unterbrechung der Stille erschreckt mich fast. Wir haben nicht wirklich viel geredet, eigentlich sogar zum größten Teil nur geschwiegen. Aber es ist ein angenehmes Schweigen, keines was bedrückt.

Ein Schweigen, was sonst nur in besonderen Momenten unter Freunden oder unter Menschen, die sich lieben, entsteht.

Ich genieße dieses Schweigen; merke, dass es mir gut tut.

"Ist das jetzt eine philosophische Frage?"

Er grinst.

"Nein, eine ernstgemeinte. Du kommst nicht von hier oder?"

"Aus Bad Säckingen. Ich mache hier ein Freiwilliges Soziales Jahr in einem Altersheim."

"Bad Säckingen, die Stadt des weltberühmten Trompeters und der Holzbrücke."

"Unglaublich berühmt", erwidere ich ironisch.

"Da war ich schon mal! Mein Ex lebt in Stein!"

[Stein ist die Nachbargemeinde Bad Säckingens in der Schweiz. Die beiden Städte sind durch eine jahrhundertealte Holzbrücke über den Rhein miteinander verbunden.]

"Und wo kommst du her?"

"Ist nicht so wichtig... die Hauptsache ist doch, dass ich jetzt hier bin!"

"Und was hat dich hierher geführt?"

"Mein Leben und Handeln...mein Schicksal...der See. Ich wollte immer hier hin und jetzt bin ich endlich angekommen."

Ich nicke, das kann ich nachvollziehen. Ich wollte auch weg von Zuhause. Schauen wie es ist, alles alleine regeln zu müssen und auf eigenen Füßen zu stehen. Aber auch für mich war der See mitentscheidend, ich liebe das Wasser - egal in welcher Form!

Die nächste Stunde vergeht wie im Flug, wir stellen fest, dass wir viele gleiche Interessen haben: Schwimmen, ASP, die Hosen und Samsas Traum, Bücher und nicht zuletzt: Männer.

Wir haben beide einen enormen Freiheitsdrang und hassen es, eingeengt zu werden, ganz egal, ob in einer Beziehung oder in unseren Gedankengängen. Von Lügen halten wir wenig, Noah noch weniger als ich. Er ist gnadenlos ehrlich.

Meine Arbeit interessiert ihn, er hört fasziniert zu.

Ich muss zugeben, ich hätte auch nie gedacht, dass mir die Arbeit solchen Spaß machen würde. Mittlerweile frage ich mich, wie es ohne Rollstuhlwettfahrten ging...

...und wieso ich gegen 97jährige verliere.

Aber die Bewohner sind da zum Glück sehr offen, es ist alles eine Frage der Technik.

Klar, vermuten wir nicht alle "Pimp my rollstuhl"- battles in den deutschen Altersheimen?

Über sein Leben bevor Noah nach Konstanz gezogen ist, will er noch nicht reden.

"Später!", sagt er.

Irgendwann schaut er auf die Uhr.

"Ich sollte langsam los. Nimmst du wieder den Bus?"

Ich schüttele den Kopf.

"Ich will laufen!"

"Bei der Kälte?"

"Ich liebe die Kälte!"

"Wieder die Zähringerplatz – Richtung?" , er überlegt kurz. "Ich komm mit!"

"Musst du nicht, wenn es dir zu kalt ist…"

"Ich werde es schon überleben, scheiß auf die drei Stunden, die ich zum Wiederauftauen brauche!" Er mummelt sich wieder in seinen Mantel, zieht den Schal fester um den Hals.

Wenig später erreichen wir die Europabrücke. Plötzlich bleibt Noah stehen und sieht hinaus auf den See. Der Wind pfeift uns um die Ohren. Doch Noah scheint die Kälte nicht zu spüren.

Meine Augen beginnen zu tränen, der Wind verwandelt meine Locken in eine Windmähne.

"Fühlst du das?", fragt er.

"Was?"

"Das Leben!"

Ich glaube, ich schaue in diesem Moment nicht gerade sehr intelligent.

"Das Leben...", wiederhole ich.

"Ja, so ein Moment wie jetzt, man hat doch das Gefühl zu fliegen!"

Er stellt sich ganz nahe an das Geländer und breitet die Arme aus. Seine Augen sind geschlossen.

"Kennst du 'Die Möwe Jonathan'?"*, will er wissen.

"Ich liebe dieses Buch!"

"Kennst du den Auszug mit Kirk Maynard?"*

"Die Möwe mit dem gelähmten Flügel?"

"Genau! Er kommt zu Jonathan und will, dass er ihm hilft wieder fliegen zu können.

Und Jonathan sagt ihm, dass er frei ist und sein wahres Selbst entdecken soll, dann könne ihn nichts und niemand mehr aufhalten. Kirk fragt: 'Willst du sagen, dass ich fliegen kann?' Aber Jonathan antwortet: 'Ich sage, du bist frei!' Daraufhin breitet Kirk Maynard seine Flügel aus und steigt empor..." (* Die Möwe Jonathan – Richard Bach)

Er dreht seinen Kopf zu mir, seine Augen strahlen, funkeln wie verdammte Diamanten und seine Wangen sind tiefrot.

"...und während er fliegt, ruft er so laut, dass es den ganzen Schwarm aufweckt: 'Ich kann fliegen! Hört, ich kann fliegen!'"*

Noah schreit die letzten Worte, jubelt sie förmlich und ein unglaublich warmes Gefühl macht sich in mir breit.

Was habe ich da für einen Menschen getroffen?

"Versprich mir eins", sagt er, "stell dich irgendwann auch mal auf eine Brücke und schrei das raus! Ganz egal wo und wann, aber einmal muss man es gemacht haben, um es verstehen zu können."

Ich kann ihm nicht antworten, ich kann nur nicken.

Wir laufen weiter, kommen an die Kreuzung zur Luisenstraße. Ich bleibe stehen.

"Hier muss ich rein!"

Er sieht auf.

Wir sind in den letzten Minuten wieder in dieses tiefe, angenehme Schweigen verfallen.

"Hast du es noch weit?", fragt er. "Ist doch schon dunkel, ich bring dich auch heim!"

"Nur um die Biegung..."

Er geht trotzdem mit und wartet, bis ich meinen Schlüssel hervorgekramt habe. Da stehen wir nun vor dem großen, gelben Schwesternwohnheim. Er starrt auf die vielen Briefkästen, legt den Kopf in den Nacken um bis ganz nach oben schauen zu können.

"Hier wohnst du also", sagt er dann. "Ist es schön?"

"Manchmal mehr, manchmal weniger! Aber man ist immerhin nie einsam!"

Er nickt.

"Das ist wichtig", meint er schließlich. "Nichts Schlimmeres als Einsamkeit!"

Mir scheint, als würde es in seinen Augen glitzern. Sekunden später gehen innen im Flur die Lampen an, erhellen unsere kleine Szenerie.

Ich habe mich nicht getäuscht, seine Augen sind feucht.

Aber das kann auch am Wind liegen.

"Also dann", sage ich, unschlüssig wie ich mich verabschieden soll.

"Sehen wir uns wieder?" Seine Stimme ist rau - voller unterdrückter Gefühle.

"Klar, wie wäre es mit übermorgen? Da hab ich wieder Frühdienst!"

"Dann also wieder um 15 Uhr?"

"Irgendwo wo es warm, und der Tee nicht so teuer ist!"

Da hat er sein Lächeln wieder gefunden. "In dem Fall bei dir oder bei mir?"

"Bei mir, ich hab Rooibostee und einen Wasserkocher"

"Wie beeindruckend..."

"Dann bis übermorgen?"

Er nickt, wir umarmen uns und ich wende mich zum Gehen.

Ich höre ihn tief Luft holen und drehe mich auf der Treppe noch mal um. Er sieht mich an.

"Ich muss dir noch was sagen!"

"Okay", sage ich und stampfe kurz mit dem linken Bein auf, das langsam aber sicher gegen die Kälte protestiert.

Er beißt sich kurz auf die Lippen.

"Ich bin HIV- positiv..."

Ich spüre, wie mich ein Zittern befällt.

"...und ich habe Krebs... austherapiert... ich ... ich werde sterben, Manou"

Meine Knie geben nach und langsam sinke ich auf die kalten, steinigen Stufen der Treppe.

In meinem Kopf dreht sich alles. Gedanken rasen vorbei, prasseln auf mich nieder wie kleine Blitze. Immer wieder höre ich es ihn sagen: 'Ich bin HIV-positiv'

'Krebs'

'austherapiert'

'sterben'

Ich sehe ihn an und weiß, dass er nicht lügt.

Sehe den Schmerz in seinen Augen...Angst....dann Enttäuschung.

Noah wendet sich ab, geht langsam davon.

Ich stehe auf, zwinge mich dazu.

"Noah!", rufe ich ihm nach. "Es bleibt bei übermorgen oder?"

Er bleibt mit dem Rücken zu mir stehen...beginnt ganz langsam zu nicken, dann dreht er sich um.

"Soll ich noch was mitbringen?"

"Kekse...und wo wir gerade beim Mitbringen sind... deine ASP CD wäre auch ganz toll!"


* Die Möwe Jonathan
Originaltitel: Jonathan Livingston Seagull
Autor: Richard Bach
Erscheinungsdatum: 1970
Verlag: Ullstein

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