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Der letzte Krieger der Engel

Teil 2 - Ein junger Krieger (1)

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

1. Geheimnisse

Lukas saß in seinem Bett, hatte die Flügel um seinen Körper geschlungen und sich in die Decke eingerollt. Es war kalt im Zimmer, aber das war nicht verwunderlich, denn schließlich war es Winter. Neben Lukas lag ein Buch, in dem er bis eben noch gelesen hatte - ein Buch über Engel. Er hatte mittlerweile schon einen Großteil der Bücher der Bibliothek durchgelesen und Raphael hatte häufig im Scherz zu ihm gesagt, er solle aufpassen, sonst könnte er noch selbst zum Engel werden. Lukas musste sich dabei jedes Mal das Lachen verkneifen, aber Raphael konnte schließlich nicht wissen, dass Lukas bereits einer war. Es war ein Geheimnis, was weder er noch Benjamin freiwillig preisgeben würden, denn sie wussten, dass, wenn es jemand erfuhr, nicht nur ihr Leben, sondern auch das von Raphael und Tobias in Gefahr war.

Doch zurzeit dachte Lukas nicht daran. Er war damit beschäftigt eine neue Kerze anzuzünden, denn die alte war fast abgebrannt. Auf dem kleinen Tisch standen bereits viele Kerzenstümpfe, Zeugnisse langer durchwachter Nächte, daneben lag ein gelblicher Zettel, der schon ziemlich alt sein musste, denn die Ränder waren eingeknickt und teilweise zerrissen. Als Lukas es endlich geschafft hatte, die Kerze mit seinen zitternden Händen zu entzünden, nahm er den Zettel vom Tisch und las ihn sich durch, obwohl er den Inhalt mittlerweile auswendig kannte. Außerdem hätte er auch ohne den Brief, der angeblich von seinem Vater stammte, rechtzeitig herausgefunden wer, besser gesagt was, er war. Es war schließlich nicht schwer herauszubekommen, dass man ein Engel ist, wenn man seit seinem sechsten Geburtstag ein kleines Kreuz zwischen den Schulterblättern besaß. Vor mehr als zwei Jahren, an seinem zwölften Geburtstag, hatte er schließlich seine Flügel und ein Schwert bekommen. Woher das Schwert kam, wusste er nicht und auch in den Büchern, die er bis jetzt gelesen hatte, hatte er nichts darüber finden können. Schließlich ließ ihn Raphael nicht an die alten Bücher heran, in denen die Geheimnisse der Engel zu finden waren. Er hielt Lukas mit seinen 14 Jahren für zu jung solche Bücher zu lesen und Lukas konnte ihm nicht sagen, dass er durchaus in der Lage war den Inhalt dieser Bücher für sich zu behalten. Bald würde auch Benjamin seinen zwölften Geburtstag feiern und dann würden sie dorthin gehen können, wo sie beide hingehörten - ins Reich der Engel - und Lukas hätte endlich die Möglichkeit seinen Vater kennen zu lernen. Doch eigentlich war ihm das gar nicht so wichtig. Während er sich den Brief in den letzten Jahren immer und immer wieder durchgelesen hatte, war in ihm langsam die Frage hochgekrochen, ob das wirklich ein Brief seines Vaters sein konnte. Die Art in der er geschrieben war, war keinesfalls liebevoll. Es war eher eine herrische Sprache, in der dieser Brief verfasst worden war. Von einem Vater erwartete Lukas mehr als das. In dem Brief stand wer er war, aber das hatte Lukas bereits herausbekommen, bevor er hatte lesen können.

Lukas legte den Brief zur Seite, schälte sich aus der Decke und ging nachdenklich zum Fenster. Seine weiß schimmernden Flügel ließ er verschwinden, denn er wollte nicht riskieren, dass ihn irgendjemand so sah. Er setzte sich auf die Fensterbank und blickte hinaus. Die Nacht war sternklar und der zunehmende Mond verschwand gerade hinter den Bergen, die sich am Horizont erstreckten. Lukas saß in den Nächten, in denen er nicht schlafen konnte, immer am Fenster - oder aber er beobachtete Ben. Manchmal fand er es amüsant Ben beim Schlafen zu zusehen und an anderen Tagen kam er sich wie ein Spion vor. Lukas war ein wenig neidisch auf seinen Freund, denn Ben wachte nachts nie auf.

Als Lukas sich bei diesem Gedanken erwischte, hätte er sich am liebsten selbst geohrfeigt. Nein, er war keineswegs neidisch auf Benjamin, eher glücklich, dass wenigstens er durchschlafen konnte, denn die Probleme und Fragen, mit denen Lukas tagtäglich zu kämpfen hatte, waren schwer. Er musste wesentlich besser als Benjamin aufpassen, keinen Fehler zu machen. Schließlich war es nicht ungefährlich als vollwertiger Engel durch das Dorf zu laufen. Er fühlte sich jeder Zeit beobachtet und rechnete hinter jeder Ecke mit jemandem, der sein Geheimnis kannte. Natürlich wusste er, dass es alles nur Hirngespinste waren, denn wenn er und Ben entdeckt werden würden, dann würde keiner mehr hinter einer Ecke auf sie warten.

Ben drehte sich in seinem Bett um, wachte aber nicht auf. Lukas fröstelte. Er schlich vorsichtig zu seinem Bett zurück und zog sein Hemd über. Dann griff er nach dem Buch und der Kerze auf dem kleinen Schrank und verließ leise das Zimmer.

Als er am Absatz der Treppe angelangt war, sah er einen Lichtschimmer in der Bibliothek. Raphael war also auch noch wach. Lukas zögerte einen Moment. Als er sich das letzte Mal nachts in der Bibliothek aufgehalten hatte, hatte er von Raphael riesigen Ärger bekommen. Doch schließlich gab er sich einen Ruck und ging zur Tür der Bibliothek. Sie war nur angelehnt. Lukas warf einen flüchtigen Blick hinein und stellte fest, dass es gar nicht Raphael war, der sich in der Bibliothek befand. Es war Tobias. Tobias war nur drei Jahre älter als Lukas, aber da er bereits mit der Schule fertig war, durfte er auch nachts in die Bibliothek.

Lukas öffnete die Tür ein wenig mehr, jedoch nur so weit, dass er ohne Probleme in die Bibliothek kam, denn die Tür quietschte immer in den ungünstigsten Momenten.

Tobias sah auf. Er hatte bis jetzt seine Augen in ein Buch gegraben, ein sehr altes Buch wie Lukas fand. Es war aus dem Regal, an das er selbst nicht heran durfte.

»Was machst du denn hier? Warum schläfst du nicht? Wenn Raphael das herausfindet, bekommst du Ärger.«

»Und wenn er merkt, was du für Bücher liest, bekommst du bestimmt noch mehr Ärger.«, bemerkte Lukas mit einem breiten Grinsen

Tobias schlug das Buch zu und sah Lukas eine Weile nachdenklich an.

»Dann wäre es wohl dumm von mir dich zu verraten.« Lukas grinste noch mehr. »Schon gut, schon gut.«, lenkte Tobias ein, schließlich wusste auch er, dass Raphael sehr schnell aus der Haut fahren konnte und wenn er wütend war, dann konnte diese Wut schon mal länger als eine Woche andauern.

Lukas ging zu dem Tisch, an dem Tobias saß und beugte sich über das Buch. »Was ist das?«, fragte er, nachdem er eine Weile versucht hatte, die seltsame Schrift zu entziffern, die auf dem Einband des Buches stand.

»Weiß ich auch nicht. Aber nur das ist so seltsam geschrieben, der Rest ist unsere Sprache.«

Tobias schlug das Buch wieder auf, während Lukas sich in den Sessel neben ihm setzte. Auf den ersten Seiten waren noch einmal diese seltsamen Schriftzeichen zu sehen. Sie erinnerten Lukas an etwas, doch er konnte nicht sagen was es war, denn er wusste, dass er eine solche Schrift noch nie gesehen hatte.

Auf der nächsten Seite, stand dann endlich etwas, das Lukas lesen konnte. Doch er erkannte sofort, dass diese Seite nicht von derselben Hand beschrieben worden war, wie die ersten oder der Einband. Er riss Tobias das Buch aus der Hand, ohne dass dieser auch nur Einwand erheben konnte, blätterte zurück und sah sich die Schriftzeichen noch einmal an.

»Das ist unsere Sprache.«, sagte er nach einer Weile.

»W-Was?« Tobias riss die Augen auf und sah Lukas ungläubig an. »Du scherzt. Du kannst das doch niemals lesen.«

»Doch, es ist die alte Schrift der Engel.«

»Woher willst du das wissen?«

Lukas biss sich auf die Zunge. Er hatte sich so auf die Schrift konzentriert, dass er vollkommen vergessen hatte, dass Tobias nur ein Mensch war.

»Ich habe so etwas schon einmal gesehen. In der Schule. Einer der Schüler hatte ein Buch mit solchen Zeichen mitgebracht. Er hat es verbrannt.«, log Lukas. Er war die glaubhafteste Ausrede, die ihm in diesem Moment einfiel. Tobias sah Lukas noch eine Weile verstört an und nahm ihm dann das Buch wieder aus der Hand.

»Du solltest jetzt wieder schlafen gehen.«, sagte er bitter. »Sonst sag ich Raphael doch noch, dass du hier warst.«

Lukas gehorchte. Er hielt es für besser Tobias jetzt nicht zu widersprechen, denn noch einen Fehler konnte er sich nicht erlauben. Er war schon froh, dass Tobias nicht gefragt hatte, was er mit »unserer Sprache« gemeint hatte. Also stellte Lukas das Buch, in dem er die letzten Nächte gelesen hatte, wieder auf seinen angestammten Platz und verließ mit einem Gähnen die Bibliothek.


Am nächsten Morgen schien Tobias sich nicht mehr an den Vorfall in der Bibliothek zu erinnern, zumindest erwähnte er ihn nicht. Als Lukas und Ben verschlafen die Küche betraten, warf Lukas zuerst Tobias und dann Raphael einen besorgten Blick zu. Doch Tobias hatte sein Wort nicht gebrochen, denn sonst hätte Raphael ihm spätestens jetzt eine Standpauke gehalten.

»Guten Morgen.«, sagte Lukas leise, nachdem er sich versichert hatte, heute keine Moralpredigt von Raphael zu bekommen.

»Seid ihr beiden auch endlich wach geworden?«, sagte Raphael, der ungewohnt gute Laune hatte. Raphael war zwar nicht mürrisch, doch dass er sie so begrüßte, wenn sie mal wieder etwas spät dran waren, hatten Lukas und Ben noch nie erlebt. Raphael, der den fragenden Blick der beiden Jungen sah, musste lachen. »Keine Sorge mir fehlt nichts. Auch bei mir kommt es manchmal vor, dass ich länger schlafe als ich vorhatte.« Ben und Lukas sahen sich noch einmal verwundert an, mussten dann aber doch noch lächeln.

Lukas ging zu dem Wasserkrug, der auf einem kleinen Hocker stand und füllte zwei Becher mit Wasser. Einen stellte er zu Ben, den anderen behielt er selbst.

»Danke.«, sagte Ben. Lukas sah ihn kopfschüttelnd, jedoch mit einem Grinsen im Gesicht, an. Er fand es amüsant, dass Ben sich jedes Mal bei ihm bedankte, wenn er ihm den Becher gab, dabei tat er das schon, seit er imstande gewesen war, den schweren Wasserkrug zu heben. Das Frühstück war nicht reichlich, aber das war es schließlich nie. Besonders jetzt, zum Ende des Winters, wurden die Vorräte knapp. Doch Lukas hatte sich nie darüber Gedanken gemacht. Er war es gewohnt nur wenig zu essen und auch die Dorfbewohner hatten es da nicht besser.

Lukas nahm sich ein Scheibe Brot und begann, in Gedanken versunken, auf dem trockenen Stück herumzukauen. Er musste an letzte Nacht denken. Erst jetzt wurde ihm richtig bewusst, was er eigentlich hätte anrichten können. Raphael hatte ihnen zwar immer wieder erzählt wie er früher selbst mit Kindern von Engeln gespielt hatte, doch Lukas wusste nicht, wie Raphael jetzt reagieren würde, wenn Raphael und Tobias bemerken würden, dass er und Benjamin Engel waren.

»Lukas?«, fragte Raphael, nachdem Lukas eine Weile mit starrem Blick dagesessen hatte. Lukas schreckte auf. Die Scheibe Brot hatte er unbewusst neben den Teller gelegt. Er nahm sie wieder in die Hand und schmierte ein wenig Butter darauf. Raphael schaute ihn noch immer sorgenvoll an. »Geht es dir gut?«

»Mir fehlt nichts.«, antwortete Lukas mit vollem Mund. Ben musste lachen, doch Raphael warf beiden einen mahnenden Blick zu.

»Habt ihr eure Hausarbeiten schon erledigt?«, fragte er streng. Lukas und Ben nickten. In solchen Situationen verstand Raphael keinen Spaß mehr. Vor allem wenn es um die Schule ging, mussten sich Benjamin und Lukas in Acht nehmen Raphael nicht zu reizen. Sie waren nicht so gut wie Raphael es von ihnen erwartete. Doch das lag nicht daran, dass sie faul waren. Ihre Mitschüler zogen immer wieder über sie her, da sie im Kloster lebten und so waren sie im Unterricht häufig unkonzentriert. Anfangs hatte das vor allem Lukas geärgert, doch seit Ben auch zur Schule ging, konnte er es leichter überhören. Doch die Mitschüler waren längst nicht das Schlimmste. Am schrecklichsten waren die Religionsstunden. Einmal die Woche mussten Lukas und Ben zusammen mit den anderen Schülern in die Kirche. Dort wurde den Schülern dann erklärt wie böse die Engel seien. Schon mehrmals hatte Ben angefangen zu weinen, da er die Hetze nicht ertragen konnte. Ein paar Mal waren Lukas glaubwürdige Ausreden eingefallen, sodass er und Ben die Kirche früher verlassen durften. Doch das war leider sehr selten der Fall. Einmal hatte er sogar Raphael gefragt ob sie in den Religionsstunden nicht fehlen durften und Raphael hatte ihm daraufhin nur eine lange Predigt gehalten, dass auch sie an diesen Stunden teilnehmen mussten, schließlich hatte Tobias es auch ausgehalten. Da Lukas Raphael auch nicht erzählen konnte, warum er und Ben diese Stunden nicht ertrugen, mussten sie weiterhin regelmäßig daran teilnehmen.

»Ich werde heute in die Stadt gehen.« Mit diesen Worten riss Raphael Lukas aus den Gedanken.

»Warum?«, fragte Lukas, denn es war sehr ungewöhnlich, dass Raphael den weiten Weg zur Stadt in Kauf nahm.

»Unsere Lebensmittel werden knapp und wenn wir nicht verhungern wollen, muss ich wohl in die Stadt gehen und mal wieder ein bisschen arbeiten. Und ihr beiden werdet noch einmal eure Aufgaben durchgehen. Wenn ich wieder da bin, werde ich sie kontrollieren.«, sagte Raphael an Lukas und Ben gewandt. Er hatte ihnen nicht geglaubt, dass sie wirklich schon alle Hausaufgaben erledigt hatten und diese Zweifel waren auch berechtigt. Lukas hatte seine Schularbeiten noch nicht einmal begonnen, da er Benjamin bei einem Aufsatz über böse Engel hatte helfen müssen. Daher gingen die beiden Jungen, nachdem sie ihr karges Frühstück beendet hatte, wieder hinauf in ihr Zimmer. Lukas wusste zwar, dass Raphael vor Einbruch der Dunkelheit nicht wieder im Kloster sein würde, doch es war besser sofort mit den Aufgaben zu beginnen. Schließlich konnte er sich in der Schule kaum konzentrieren und so fielen ihm auch die Hausaufgaben zunehmend schwerer.

Lukas ging zu seinem Nachttisch und kramte ein altes Buch und ein paar zerknitterte Blätter hervor. Er schob die Kerzenstümpfe zur Seite und legte seine Aufgaben auf den Tisch. Dann schraubte er ein Tintenglas auf, tauchte seine Feder in die schwarze Flüssigkeit und begann langsam die Aufgaben zu lösen, die er auf seinem Blatt zu stehen hatte. Manchmal, wenn er nicht mehr wusste, wie er eine Aufgabe lösen sollte, warf er einen Blick in das alte Buch, das er eigentlich gar nicht besitzen durfte. Er hatte es sich zwei Tage zuvor heimlich aus der Bibliothek geholt, denn Mathematik war das Fach, das er am Wenigsten verstand. Außerdem gab er sich in letzter Zeit nicht mehr viel Mühe bei seinen Schularbeiten, da er wusste, dass er sowieso bald nicht mehr in diese Schule gehen müsste. Zudem würde er in seiner Welt sicherlich keine solchen Aufgaben lösen müssen.

Ben saß, während Lukas über seinen Aufgaben brütete, ebenfalls auf seinem Bett. In seiner Hand hielt er ein Blatt Papier auf dem ein langer Text stand. Ben hatte ihn in den letzten Tagen zusammen mit Lukas geschrieben, denn allein hätte er das nicht geschafft. Es war eine Arbeit für Religionskunde und als die Lehrerin das Thema bekannt gegeben hatte, wäre Ben beinahe im Klassenzimmer zusammengebrochen. So hatten die beiden Jungen in den letzten Tagen versucht einen Text zu der Überschrift »Warum ich Engel hasse.« zu schreiben. Sie hatten mehrmals von vorne beginnen müssen, da Benjamin häufiger in Tränen ausgebrochen und dadurch die Tinte zerlaufen war. Nun war der Text fertig und Ben hoffte, dass er gut genug war, um kein Misstrauen zu erwecken.

Als Lukas seine Aufgaben beendet hatte, sah er zu Ben hinüber und bemerkte, dass dieser wieder begonnen hatte zu weinen. Deshalb stand er auf, ging zu dem Bett seines Freundes und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Warum?«, fragte Ben. Er brauchte nicht mehr zu sagen, denn Lukas wusste auch so, was Ben mit dieser Frage meinte. Er hatte sich schon häufig dieselbe Frage gestellt, doch umso mehr er grübelte, umso weniger verstand er, warum die Menschen die Engel so sehr hassten.

»Ich weiß es auch nicht.«, antwortete er schließlich. »Aber wir können bald weg von hier. Du weißt was in dem Brief meines Vaters steht. Er wird uns kurz nach deinem 12. Geburtstag mitnehmen und dann wird alles besser, glaube mir.« Er nahm vorsichtig das Papier aus Bens Hand und legte es zur Seite.

»Ich will nicht mehr in die Schule. Es wird von Tag zu Tag schlimmer.«

»Ich weiß, mir geht es genauso. Aber Raphael wird das nicht verstehen und du weißt, dass wir ihm nicht die Wahrheit sagen können.« Ben sah Lukas traurig an, doch er wusste, dass Lukas Recht hatte.

»Wir sollten in die Bibliothek gehen.«, sagte Lukas nachdem lange Zeit nichts weiter als das Pfeifen des eisigen Windes zu hören gewesen war. »Dort wird es sicherlich etwas wärmer sein.« Lukas wartete nicht auf eine Antwort, sondern stand auf und räumte seine Sachen weg. Dann öffnete er die Tür und ging die Treppe hinunter. Ben folgte ihm, denn auch er fror erbärmlich. Als Lukas die Bibliothek betrat, merkte er, dass es auch hier nicht viel wärmer war, als in seinem Zimmer. Das Feuer im Kamin war erloschen und Tobias, der sich ebenfalls im Raum befand, machte keine Anstalten, es wieder zu entfachen. Es war schließlich kein Feuerholz in der Nähe.

»Tobias?«, sagte Lukas zögernd. Tobias blickte von seinem Buch auf und sah Lukas und Ben überrascht an. Er hatte anscheinend nicht bemerkt, dass die beiden den Raum betreten hatten.

»Darf ich Feuer machen?«, fragte Lukas. Tobias zuckte gleichgültig mit den Schultern.

»Wenn du Holz holst, kannst du gerne wieder eines entfachen. Da wir aber keine Holzscheite mehr haben, müsstest du Reisig sammeln gehen.«

Da Lukas und Ben im Moment sowieso nichts mehr zu tun hatten, gingen sie in ihr Zimmer und zogen ihre Mäntel an, die mittlerweile schon fast 6 Jahre alt waren und auch dementsprechend aussahen. Aber sie hielten warm und das war das Wichtigste.

2. Der Schneesturm

Lukas und Ben wollten gerade das Zimmer verlassen, als Lukas noch etwas Wichtiges einfiel. Er drehte sich um, ging zu seinem Bett und bückte sich. Er musste eine Weile im Dunkel tasten, ehe er endlich das fand, wonach er suchte. Es war ein Gürtel an dem ein Schwert befestigt war - sein Schwert. Vorsichtig legte er den Schwertgurt an und verdeckte ihn sicherheitshalber mit seinem Mantel. Das Schwert war zwar für das menschliche Auge unsichtbar, doch Lukas wollte kein Risiko eingehen.

»Warum nimmst du dein Schwert mit?«, fragte Ben, als er sah was Lukas tat.

»Es ist sicherer.«, antwortet Lukas. »Außerdem kann ich damit ein wenig Holz klein hacken.«

Sie verließen das Zimmer, schauten noch einmal in der Bibliothek vorbei, in der Tobias, immer noch in sein Buch vertieft, saß und verließen dann das Kloster. Der Himmel war zugezogen und es hatte ein wenig zu schneien begonnen, doch es sah nicht so aus, als würde es einen Schneesturm geben. Es gab in dieser Gegend zwar häufiger Schneestürme, doch meistens waren pechschwarze Wolken Vorboten eines solchen Unwetters.

Lukas und Ben machten sich auf den Weg ins Tal. Das Kloster stand auf einer Anhöhe, von der aus man die ganze Gegend überschauen konnte. Lukas versuchte Raphaels Fußspuren in dem tiefen Schnee ausfindig zu machen, doch es gelang ihm nicht. Anscheinend hatte er das Kloster durch die Hintertür verlassen und den anderen Weg zur Stadt genommen. Die beiden Jungen mussten jedoch den nehmen, der sie dicht an das Dorf führte, denn auf der anderen Seite war kein Wald. Erst hinter der Stadt, die einige Kilometer entfernt lag und bei dem leichten Schneefall kaum zu erkennen war, standen vereinzelt Bäume.

Der Weg, den die beiden Jungen normalerweise nahmen, war verschneit und so konnten sie nur erahnen, wo er eigentlich entlang führte. Nach einer Weile gaben sie auf, nach dem verschneiten Pfad zu suchen und gingen einfach geradeaus weiter. Mehrmals wären sie beinahe in den Schnee gestürzt, denn abseits des Weges lagen vereinzelte, kleinere Felsbrocken herum, die durch den Schnee nicht zu erkennen waren. Nach etwa einer halben Stunde erreichten sie den Waldrand. Der Wald war ziemlich dicht, sodass der Schnee nicht bis zum Boden gefallen, sondern in den Verästelungen der Bäume hängen geblieben war. Daher gab es hier genügend trockenes Holz, dass zum Feuer machen geeignet war. Ben und Lukas gingen ein wenig gemeinsam den Pfad entlang, der im Wald wieder zu erkennen war, und trennten sich schließlich. Sie hatten vereinbart, dass sie sich in einer Stunde wieder an derselben Stelle treffen würden.

Lukas verließ den Pfad nach rechts und drang tiefer in den Wald ein. Da er schon häufig zusammen mit Ben Holz sammeln gewesen war, wusste er genau, welches Holz gut brannte und welches schlecht. Anfangs hatte Raphael ihnen helfen müssen, mittlerweile brachten sie nur noch »gutes« Holz mit nach Hause. Lukas begann nach und nach in paar kleine Zweige aufzusammeln und schließlich einzelne Bäume abzutasten. Obwohl im Wald kein Schnee lag, waren die Bäume und der Boden stellenweise sehr feucht und so dauerte es eine ganze Weile, bis Lukas endlich genügend Holz hatte, um wenigstens ein ordentliches Feuer zu entfachen. Er entschloss sich zum Treffpunkt zurückzukehren. Die Stunde war zwar noch nicht vorbei, doch es hatte nun stärker angefangen zu schneien. Er hoffte, dass dies Ben ebenfalls auffallen würde, denn bei starkem Schneefall war der Weg zum Kloster noch schwieriger zurückzulege als normalerweise. Selbst ohne Holz würden sie mehr als ein halbe Stunde brauchen, bis sie oben auf dem Hügel angelangt waren.

Da der Weg nicht durch Bäume geschützt war, lag hier bereits eine geschlossene Schneedecke. Lukas stellte sich an den Rand des Weges unter eine dicke Fichte und beschloss dort auf Ben zu warten. Da Lukas sich nicht bewegte, wurde ihm schnell kalt. Der Schneefall wurde immer stärker und von Ben war immer noch nichts zu sehen.

Lukas beschlich ein ungutes Gefühl, denn Ben musste mittlerweile selbst im dichtesten Wald gemerkt haben, dass ein Unwetter nahte.

Lukas legte das Holz auf den Boden und legte instinktiv seine Hand an den Schwertgriff. Er überquerte den Weg und schlug die Richtung ein, die Ben genommen hatte. Durch den nassen Boden erkannte Lukas die Fußspuren, die Ben hinterlassen hatte. Er hielt es für besser ihnen zu folgen, auch wenn er dadurch einen längeren Weg zurücklegen müsste. Doch die Chance ihn zu finden war so um einiges größer. Er folgte den Spuren eine Weile, bis plötzlich neue hinzukamen. Lukas stoppte und sein Herz begann zu rasen. Er verfolgte die Spuren mit den Augen und merkte, dass die Personen, zu den sie gehörten, genau Bens Weg eingeschlagen hatten.

Plötzlich hörte Lukas einen lauten Schrei. Er erkannte sofort, dass es Ben war, der schrie. Lukas rannte los. Er brauchte den Spuren nun nicht mehr zu folgen, denn Bens Schreie hörten nicht auf und je näher er kam desto lauter wurden sie. Immer wieder schlugen ihm Zweigen wie Peitschen ins Gesicht, doch das störte Lukas nicht, Ben war in Gefahr und er war der Einzige, der ihn jetzt retten konnte. Als er sich schließlich seinen Weg durch ein dickes Gebüsch gebannt hatte, erkannte er in einer Entfernung von etwa hundert Metern eine Gruppe von Kindern, die sich in einem Kreis aufgestellt hatten. Lukas wusste sofort, dass eines dieser Kinder David sein musste, ein Junge aus seiner Klasse, dessen Vater Priester war. Er war der Schlimmste von allen und der Lauteste, wenn es darum ging in der Kirche zur Hetze der Engel aufzurufen.

Lukas näherte sich der Gruppe immer mehr. Er war nur noch etwa fünfzig Meter entfernt und er erkannte nun, dass eine weitere Person in der Mitte des Kreises lag - Ben. David hatte sich über ihn gebeugt und trat mit seinem Fuß immer wieder auf Bens Rücken.

»Loslassen!«, schrie Lukas, noch während er auf die Gruppe zurannte.

David wandte sich Lukas zu, ließ aber nicht von Ben ab, der immer noch schrie. Lukas' Gesicht war rot angelaufen, teils davon, dass er durch Bens Schreie so schnell hierher gelaufen war, teils vor Wut.

»Lasst ihn sofort los.«, sagte Lukas noch einmal mit tränenerstickter Stimme. Jetzt wo er sah, was David Ben angetan hatte, konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ben lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Sein Mantel lag neben ihm.

»Weinst du um deinen Freund? Mach dir keine Sorgen, er ist nur ein Engel, er ist es nicht wert, dass man um ihn weint.«

»Ich habe gesagt ihr sollt ihn loslassen.« Lukas Stimme bebte und seine Hand näherte sich langsam seinem Schwertgriff.

»Was willst du sonst tun? Den alten Klosternarren holen? Bis dahin ist deiner kleiner Freund doch schon längst tot.«

Bei diesen Worten zog Lukas sein Schwert. David wich zurück und die anderen Jungen, die bis eben noch Ben, festgehalten hatten, sprangen auf und liefen davon.

»Du solltest auch gehen. Sonst werde ich von meiner Waffe Gebrauch machen.« David sah Lukas nochmals mit einem Hass erfüllten Blick an, dann lief er seinen Freunden hinterher, denn er wusste, dass er allein keine Chance gegen Lukas hatte.

Lukas steckte sein Schwert wieder ein und war mit einem Satz bei Ben, der am Boden lag und nur noch ein Wimmern von sich gab. Er drehte ihn vorsichtig auf den Rücken. Ben zitterte am ganzen Körper und über sein Gesicht liefen dicke Tränen. Lukas stellte ihm keine Fragen, denn er sah sofort, dass Ben nicht mehr in der Lage war zu sprechen. Stattdessen fuhr er ihm sanft durch die Haare und flüsterte: »Es wird alles wieder gut, Ben.«

Lukas zog Ben hastig den Mantel wieder über, denn er wusste, dass sie so schnell wie möglich zum Kloster zurück mussten, sonst würden sie erfrieren. Auch wenn er Angst davor hatte nun zum Kloster zurückzukehren, so war das im Moment ihre einzige Zufluchtsstätte. Vorsichtig hob er Ben hoch und begann sich seinen Weg durch den Wald zu erkämpfen. Mittlerweile waren schwarze Wolken aufgezogen aus denen so viel Schnee kam, dass selbst im Wald schon der ganze Boden bedeckt war. Als Lukas endlich den Pfad erreichte, waren erst wenige Minuten vergangen, doch diese waren ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen. Er war bereits vollkommen durchnässt und es fiel ihm von Schritt zu Schritt schwerer Ben zu tragen, doch er wusste, dass er Ben jetzt nicht im Stich lassen durfte. Lukas stapfte weiter durch den bereits mehrere Zentimeter tiefen Schnee. Als er den Waldrand erreichte, bemerkte er, dass er sich beim Verlassen des Klosters mächtig getäuscht hatte. Es war doch ein Schneesturm aufgezogen, der es Lukas nahezu unmöglich machte weiterzugehen. Er sah nur noch wenige Meter weit, dann erkannte er nur noch weiß. Lukas bahnte sich seinen Weg durch das schier undurchdringliche Schneegestöber. Da er den Weg nicht finden konnte, ging er einfach seinem Gefühl nach bergauf. Plötzlich spürte er einen Widerstand an seinem Fuß und bevor er merkte was geschah, lag er mit dem Gesicht im Schnee. Er war über einen Stein gestolpert, doch jetzt fehlte ihm die Kraft aufzustehen. Er versuchte zweimal Ben wieder hochzuheben - jedoch vergeblich. Lukas setzte sich in den Schnee, nahm Ben auf den Schoß und legte seinen eigenen Mantel um ihn. So hatte wenigstens Ben eine Chance dieses Unwetter zu überleben. Immer schneller ergriff die Kälte Besitz von Lukas' Körper. Der Schneefall war zwar inzwischen wieder etwas zurückgegangen, dennoch war jede einzelne Schneeflocke wie ein spitzer Eiszapfen, der in seine Haut stach.

Doch auch Ben ging es nicht besser. Seine Lippen waren bereits blau angelaufen und sein Atem ging nur noch unregelmäßig. David hatte ihn zwar nicht äußerlich verletzt, doch die Schmerzen, die er ihm zugefügt hatte, hatten Ben sehr geschwächt.

Als Lukas kurz davor war vor Kälte und Erschöpfung das Bewusstsein zu verlieren, erkannte er in einiger Entfernung zwei Schatten, die schnell näher kamen. Es waren Raphael und Tobias. Lukas fing kurz einen Blick von Raphael auf, doch seine Gedanken gestatteten es ihm nicht mehr diesen zu deuten. Tobias nahm Ben von seinem Schoß und als Lukas sich schließlich von Raphael in die Luft gehoben fühlte, verließen ihn seine Kräfte.


Als Lukas wieder aufwachte, lag ein kühles Tuch auf seiner Stirn. Sein Gesicht glühte wie Feuer und ebenso sein ganzer Körper. Er hatte Mühe seine Gedanken zu ordnen, denn er hatte das Gefühl, dass sein Kopf jeden Moment zerspringen würde. Er versuchte erst gar nicht seine Augen zu öffnen, denn dadurch wären die Kopfschmerzen nur noch stärker geworden.

Plötzlich spürte er eine Hand auf seiner Stirn, die das Tuch kurz wegnahm. Er hörte, wie jemand das Tuch ins Wasser tauchte und schließlich wieder auf seine Stirn legte.

Nun öffnete Lukas doch langsam die Augen und sah direkt in Raphaels besorgtes Gesicht.

»Wie geht es dir?«, fragte Raphael, als er bemerkte, dass Lukas wach war.

Lukas wollte antworten, doch als den Mund öffnete, kam nichts als ein Krächzen heraus. Sein Hals war staubtrocken.

»Möchtest du etwas trinken?«, fragte Raphael. Lukas nickte vorsichtig. Seine Kopfschmerzen hatten etwas nachgelassen und er wollte nicht riskieren, dass sie wieder so stark werden würden.

Raphael beugte sich nach vorne und nahm einen Krug und einen Becher von Lukas' Schrank. Er füllte etwas Wasser in den Becher und reichte ihn Lukas. Lukas nahm einen Schluck und begann qualvoll zu husten. Das kühle Wasser brannte wie Feuer in seinem Hals.

Raphael nahm ihm den Becher ab und half ihm vorsichtig hoch, damit er wieder besser atmen konnte.

»Du solltest nicht so viel auf einmal trinken.«

»Danke.«, sagte Lukas und begann wieder zu husten. Er nahm noch zwei kleine Schlücke aus dem Becher und schaute dann zu Bens Bett.

Ben wälzte sich hin und her und seine Haare klebten nass an seiner Stirn. Lukas sah, dass Raphael auch ihm ein Tuch auf die Stirn gelegt hatte, das durch das ständige Hin- und Herdrehen jedoch auf den Boden gefallen war.

»Wie geht es ihm?«, fragte Lukas, obwohl ihm der Anblick seines Freundes schon vieles verriet.

»Sei froh, dass du ihn gestern nicht gesehen hast. Das Fieber ist schon ein wenig gesunken, doch er ist immer noch nicht über den Berg.«

»Er scheint große Schmerzen zu haben.«

»Ich weiß.«, sagte Raphael besorgt. »Aber ich kann ihm nicht helfen. Ich weiß nicht was im Wald passiert ist oder wer ihm das angetan hat, aber-«

»David, er wollte ihn umbringen.«, sagte Lukas wütend. Er hatte wieder die Bilder im Kopf, wie Ben auf dem Boden lag und zum ersten Mal in seinem Leben wollte er jemanden richtig verletzen. Raphael schien Lukas' Gedanken zu erraten.

»Du solltest nicht zu voreilig handeln. Du solltest froh sein, dass ihr dieses Unwetter überlebt habt und euch nicht gleich wieder in Lebensgefahr begeben.«

Lukas nickte. Er war froh, dass Raphael keine weiteren Fragen über ihn und Ben stellte, denn er wollte jetzt mit niemanden darüber sprechen. Lukas beobachtete Ben noch eine Weile. Er wurde nicht ruhiger. Raphael stand auf und ging zu Bens Bett. Er hob das Tuch vom Boden auf und tauchte es in eine Schüssel, die auf einem Hocker neben Bens Bett stand.

»Vielleicht sollten wir doch einen Arzt holen.«

Lukas blickte erschrocken zur Tür. Er hatte nicht gemerkt, dass Tobias ins Zimmer gekommen war.

»Es wäre vielleicht wirklich besser.«, sagte Raphael besorgt. Er hatte gerade wieder das nasse Tuch auf Bens Stirn gelegt.

»Das Fieber ist wieder gestiegen.«

»NEIN!«, schrie Lukas. Er konnte nicht glauben, was er soeben gehört hatte. »Ihr könnt keinen Arzt holen.«

»Lukas, Ben geht es sehr schlecht.«

»Und wenn ihr einen Arzt holt, wird es ihm noch schlechter gehen. Er wird herausfinden, wer wir sind und dann...« Lukas konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. Er war zu wütend auf Raphael und Tobias. Er wollte aufspringen, doch Raphael hielt ihn zurück.

»Es bringt nichts jetzt wegzulaufen.«, sagte er besänftigend, doch Lukas war nicht mehr zu halten. Er versuchte sich aus Raphaels Griff zu befreien, doch je mehr er sich wehrte, desto fester wurde der Griff.

»Lass mich los!«, schrie Lukas.

»Nein.«, sagte Raphael leise, aber bestimmt.

»DU SOLLST MICH LOSLASSEN.« Diesmal ließ ihn Raphael los. Doch bevor Lukas aufstehen konnte, erhielt er eine schallende Ohrfeige. Für eine kurze Zeit wurde ihm schwarz vor Augen, dann sah er Raphael mit einem hasserfüllten Blick an.

»Warum hast du das getan?«, fragte er aggressiv. Er hielt seine Hand an die Wange, die langsam anschwoll.

»Es tut mir leid. Ich wollte-«

»Natürlich tut es dir leid. Euch tut doch alles leid, was ihr uns antut.« Lukas sprang auf und rannte zum Fenster unter dem seine Sachen und sein Schwert lagen. Er hob sein Schwert auf und drehte sich zu Raphael und Tobias um.

»Lukas, leg das Schwert weg.« Raphaels Stimme zitterte und Tobias bewegte sich rückwärts zur Tür.

»Warum?«

»Bitte, Lukas, ich weiß, dass du uns nicht verletzen willst.«

»Vielleicht will ich das doch.« Lukas war sich in diesem Moment selbst nicht sicher, was er tun wollte. Eine Hälfte wollte Raphael verletzen, so wie er ihn eben verletzt hatte. Die andere Hälfte wollte zu Boden sinken und heulen.

Während Lukas unschlüssig dastand, kam Raphael auf ihn zu.

»BLEIB STEHEN.«, schrieb Lukas, doch Raphael blieb nicht stehen. Lukas zitterte am ganzen Körper. Doch er zitterte nicht mehr aus Wut, sondern aus Angst. Er hatte Angst, dass er Raphael verletzen würde.

»Lukas, bitte.« Raphael stand jetzt genau vor Lukas, so dass er nur mit dem Schwert zustechen brauchte, um ihn schwer zu verletzen oder gar zu töten. Raphael legte seine Hand auf die Schneide.

»Wenn du mich verletzen willst, dann tu' es. In dem Fall hätte ich es wohl auch verdient.«

Lukas sah lange in Raphaels trauriges Gesicht und ließ schließlich das Schwert zu Boden fallen. Er begann zu weinen. Seine Knie gaben nach und er wäre zusammengebrochen, hätte Raphael ihn nicht aufgefangen. Raphael strich ihm über den Kopf und versuchte ihn zu trösten. Doch die Tränen liefen ihm ununterbrochen übers Gesicht.

»Ich wollte das doch alles nicht.«, schluchzte er, als der Tränenstrom schließlich etwas nachließ.

»Ich weiß. Ich hätte an deiner Stelle wahrscheinlich auch so gehandelt.«

Lukas wollte Raphael widersprechen, er hätte bestimmt nicht so gehandelt. Er hätte zugestochen.

Raphael hob Lukas hoch und trug ihn wieder zu seinem Bett.

»Danke.«, sagte Lukas, der immer noch nicht glauben konnte, was er im Begriff gewesen war zu tun.

»Du solltest noch ein wenig schlafen.« Raphael drehte sich um und wollte das Zimmer verlassen.

»Warte, bitte.«, sagte Lukas leise, denn ihm war es unangenehm Raphael ins Gesicht zu schauen. »Ich habe noch eine Frage.«

»Ja?«

»Wir können nicht hier bleiben, oder?«, fragte Lukas ängstlich. Die Frage hatte ihn schon die ganze Zeit beschäftigt. David und die anderen Jungen hatten herausbekommen, wer er und Ben waren und sie hatten bestimmt nicht ihren Mund gehalten. Immanuel, Davids Vater, hatte bestimmt schon Vorkehrungen für eine anstehende Verbrennung getroffen.

»Immanuel hat mich gestern zu sich bestellt und mir zum Glück die Möglichkeit gegeben mich zu erklären. Ich habe ihn gefragt was das alles soll.«

»Und?«, drängte Lukas.

»Ja, ja, nur Geduld. Er hat mir gesagt, dass er wüsste ich würde zwei Engel bei mir verstecken. Ich habe ihm darauf geantwortet, dass nur ihr und Tobias bei mir gewohnt habt, du und Ben aber nach dem Schneesturm nicht hierher zurückgekommen seid. Immanuel hat mir erklärt, dass ihr die beiden Engel wäret. Ich habe beteuert, dass ich keine Ahnung hatte wer ihr seid und Immanuel hat mir glücklicherweise geglaubt.«

»Aber-«

»Ich habe ihm gesagt, dass ihr beide nicht zum Kloster zurückgekehrt seid. Das heißt, ihr seid entweder tot oder irgendwohin geflohen.«, sagte Raphael mit einem breiten Grinsen.

»Wir können also hier bleiben?«, fragte Lukas hoffnungsvoll.

»Ja, solange ihr euch am Tag nicht draußen sehen lasst, könnt ihr bleiben.« Raphael ging zur Tür und verließ das Zimmer. Lukas bemerkte, dass er die Tür nicht ganz hinter sich schloss und lächelte. Er legte sich wieder hin. Bevor er die Augen schloss, blickte er noch einmal zu Ben, der durch die Streiterei zum Glück nicht aufgewacht war. Er fuhr mit seiner Hand über die angeschwollene Wange. Sie schmerzte ein wenig, doch das hatte er wahrscheinlich verdient. Lukas drehte sich um und schlief kurze Zeit später ein.

***

Lukas saß am nächsten Morgen bereits auf Bens Bett, als Raphael das Zimmer betrat. In seiner Hand hatte er ein Tablett.

»Hast du Hunger?«

Lukas schüttelte den Kopf. Obwohl er seit dem Sturm, der mindestens drei Tage her war, nichts mehr gegessen hatte, wollte er wirklich nichts essen. Der Streit des vergangenen Tages hatte ihm jeden Appetit genommen. Außerdem hätte er den Mund gar nicht so weit aufbekommen, da seine Wange über Nacht noch mehr angeschwollen war.

»Vielleicht später.«, sagte er schließlich, um Raphael zu beruhigen.

Raphael stellte das Tablett auf den Boden und sah Lukas besorgt an.

»Ich sollte wohl etwas zum Kühlen für deine Wange holen.«

»Es geht schon. Ich habe schon schlimmeres erlebt.«, sagte Lukas abwesend und sah Ben an. Seine Wange tat zwar weh, doch das war nicht zu vergleichen mit den Schmerzen, die Ben hatte aushalten müssen. Schließlich hatte mit mehr als nur einer geschwollenen Wange zu kämpfen. David hatte Bens Seele berührt und diese Qualen konnten nicht durch ein kühles Tuch gelindert werden.

Lukas strich seinem Freund durch die Haare. Sie waren wieder trocken, da das Fieber über Nacht gesunken war.

»Er braucht doch keinen Arzt mehr, oder?«

»Nein, er wird sich erholen. Und außerdem hast du recht, dass ein Arzt die Situation nur verschlimmern würde.«

Plötzlich drehte sich Ben um. Lukas zuckte zusammen, da er glaubte, dass Ben wieder so unruhig werden würde, wie in der vergangenen Nacht. Doch er blieb mit dem Gesicht zu Lukas liegen und öffnete schließlich langsam die Augen.

Lukas lächelte ihn an. Er war froh, dass Ben aufgewacht war.

Ben sah Lukas eine Weile mit einem ausdruckslosen Blick an. Dann lächelte auch er ein wenig. Doch Lukas sah ihm an, dass er lieber geweint hätte.

»Willst du etwas trinken?«, fragte er schließlich.

Ben nickte. Lukas drehte sich um, um den Krug und einen Becher vom Boden zu nehmen, doch Raphael hatte das schon für ihn erledigt. Er gab Lukas den gefüllten Becher in die Hand und nahm das Tablett wieder hoch.

»Ich lasse euch beide lieber ein wenig allein. Wenn ihr etwas braucht, müsst ihr mich nur rufen.«

Lukas nickte dankbar und drehte sich dann wieder zu Ben um. Er half ihm vorsichtig auf und gab ihm ein paar Schlucke aus dem Becher. Lukas war sehr vorsichtig, denn er wollte nicht, dass Ben genauso Husten musste wie er am Tag zuvor. Dann stellte er das Glas beiseite.

»Es tut so weh.«, sagte Ben, als er sich wieder hinlegen wollte. Lukas sagte nichts, denn er konnte nur erahnen, was Ben die letzten Tage durchgemacht hatte. Er strich Ben tröstend über den Kopf. Seine Gedanken wanderten währenddessen zu David und seinen Freunden. Er sah sie wieder vor sich, wie sie neben Ben standen und ihn quälten. Doch diesmal war etwas anders. Er konnte sich nicht bewegen. Bens Schreie wurden immer lauter, doch plötzlich verstummten sie. David drehte sich zu Lukas, sah ihn mit einem hämischen Grinsen an und zeigte schließlich auf Ben, der regungslos am Boden lag. Dann geschah etwas was Lukas den Atem stocken ließ - Bens Körper begann sich aufzulösen.

»NEIIIN.«, schrie Lukas und fand sich plötzlich wieder in seinem Zimmer wieder. Er schaute zitternd zu Ben, der ihn mit weit aufgerissenen Augen ansah.

»Was hast du?«, fragte er leise. »Du machst mir Angst.«

Lukas verstand seine Frage zuerst nicht. Er war zu verwirrt, denn das was er soeben gesehen hatte, war zu schrecklich gewesen. Langsam kam er wieder zur Besinnung.

»I-, Ich habe dich sterben sehen.«, stotterte er und eine Träne lief über sein Gesicht.

»Denk bitte nicht an so etwas. Das macht mir Angst.«, sagte Ben und schmiegte sich noch fester an seine Decke.

Lukas starrte eine Weile zum Fenster raus um sich zu beruhigen. Er betrachtete die Wolken, die am Fenster vorbeizogen. Sie sehen genauso aus wie vor dem Schneesturm, dachte Lukas. Als er bemerkte, dass er wieder dabei war an David zu denken, schüttelte er diese Gedanken schnell ab und drehte sich wieder zu Ben. Dieser hatte sich mittlerweile auf den Bauch gedreht.

»Könntest du mir einen Gefallen tun?«, fragte er leise.

»Natürlich.«

Ben hob den Kopf ein wenig und sah Lukas direkt in die Augen. Aber es war nicht mehr der Blick, mit dem er ihn noch vor wenigen Minuten angesehen hatte. Denn in seinen Augen konnte Ben nicht mehr Schmerzen erkennen, sondern Zweifel. Lukas bemerkte, dass Ben Angst davor hatte, ihn um diesen Gefallen zu bitte

»Was soll ich tun?«, fragte Lukas, nachdem er gemerkt hatte, dass Ben von allein nichts mehr sagen würde.

»Kannst du deine Hand auf meinen Rücken legen?«

Lukas zuckte zusammen. Er hatte es nie für möglich gehalten, dass Ben ihn je um so etwas bitten würde. Schon gar nicht nachdem was David ihm Wald angetan hatte.

»Bist du ... bist du dir sicher?«, fragte Lukas zögerlich, denn er wollte Ben unter keinen Umständen noch mehr Schmerzen zufügen.

Ben nickte und vergrub sein Gesicht in seinem Kissen.

Lukas zögerte immer noch. Er wusste nicht, ob er Ben seinen Wunsch erfüllen konnte, denn er hatte selber Angst davor Bens Rücken zu berühren. Doch schließlich schlug er die Decke zurück. Er betrachte den Rücken seines Freundes eine Weile ohne sich zu bewegen. Nichts deutete auf eine Verletzung in, die Ben so große Schmerzen bereiten konnte. Er hatte nur einen blauen Fleck nahe den Schulterblättern. Doch Lukas wusste, dass es nicht äußerliche Verletzungen waren, die einem Engel solche Schmerzen zufügen konnten und auch David schien das gewusst zu haben. Denn er hatte seinen Fuß genau auf das Kreuz auf Bens Rücken gesetzt. Dadurch hatte er seine Seele berührt und ihn den ganzen Hass spüren lassen, den er für alle existierenden Engel verspürte. Und genau das war es wovor Lukas Angst hatte. Er war sich nicht sicher ob ihre Freundschaft stark genug war, um Ben nicht noch mehr zu verletzen. Ich werde ihn nicht verletzen, dachte Lukas und verdrängte damit alle Zweifel aus seinem Kopf. Vorsichtig legte er seine Hand auf Bens Rücken und tastete sich langsam nach oben. Als er schließlich das kleine Kreuz berührte, zuckte Ben zusammen und auch Lukas lief im ersten Moment ein Schauer über den Rücken, denn er konnte plötzlich Bens Erinnerungen spüren.

»Geht es dir gut?«, fragte Lukas, bevor er sich auf die Gefühle konzentrieren konnte, die von seiner Hand aus seinen ganzen Körper durchströmten.

Ben drehte den Kopf zur Seite und nickte. Dann schloss er die Augen.

Auch Lukas machte seine Augen zu. Es war ein seltsames Gefühl, Ben durch diese Berührung so nahe zu sein, wie er ihm nie hatte sein wollen. Sie waren Freunde, aber mehr auch nicht.

Lukas fühlte sich unwohl bei dem Gedanken, selbst Bens geheimsten Gefühle und Erinnerungen zu erfahren. Aber er stellte bald fest, dass es kaum etwas gab, das Ben vor im verborgen hatte. Sie hatten tatsächlich fast keine Geheimnisse voreinander. Doch eine Erinnerung verblüffte Lukas. Auch Ben konnte manchmal nicht schlafen und hin und wieder beobachtete er in diesen Nächten Lukas. Lukas lächelte. Er war also doch kein Spion, wenn er Ben beim Schlafen zusah.

Langsam verblassten Bens Erinnerungen in Lukas' Kopf. Stattdessen sah Lukas seltsame Dinge, die bestimmt nicht in Bens Vergangenheit geschehen waren.

»Ben?«, fragte er leise. Ben antwortete nicht. Er war eingeschlafen und die Bilder, die Lukas vor seinem Auge sah, waren seine Träume. Lukas nahm die Hand vom Rücken seines Freundes und deckte ihn wieder zu. Er wollte nicht auch noch Bens Träume ausspionieren.

Er stand leise auf, ging langsam zum Fenster und setzte sich auf die Fensterbank. Die letzten Wolken hatten sich verzogen und nichts deutete mehr daraufhin, dass vor wenigen Tagen ein Schneesturm getobt hatte. Nicht einmal ein Windhauch strich über die geschlossene Schneedecke.

Lukas schaute nach oben und sagte: »Danke.« Er wusste nicht bei wem er sich bedankt hatte, doch irgendwo musste jemand sein, der ihn und Ben beschützt hatte.

3. Viel zu lernen

In den nächsten Tagen verbesserte sich Bens Zustand immer mehr. Lukas saß die ganze Zeit an seinem Bett und er verließ es nur, wenn er selbst ein wenig schlafen musste.

Nach fünf Tagen, in denen weder Ben noch Lukas das Zimmer verlassen hatten, war Ben wieder so weit zu Kräften gekommen, dass er durchs Zimmer laufen konnte. Auch die Schmerzen waren kaum noch zu spüren. Da beide in den letzten Tagen viel geschlafen hatten, war es nicht verwunderlich, dass sie an diesem Abend in ihren Betten lagen und nicht einschlafen konnten.

»Ben, bist du wach?«, fragte Lukas, nachdem er sich eine ganze Weile schlaflos hin- und hergewälzt hatte.

»Ja.«, antwortete Ben, doch seine Stimme klang verschlafen.

Lukas setzte sich auf und zündete eine Kerze an. Dann stand er auf und zog seinen Schlafanzug aus und schlüpfte in die Sachen, die Raphael wenige Stunden zuvor gewaschen und sauber auf seinen Stuhl gelegt hatte.

»Was hast du vor?«, fragte Ben. Seine Stimme zitterte.

»Keine Angst.«, sagte Lukas »Ich gehe nur in die Bibliothek. Da kann ich wenigstens etwas Sinnvolles machen. Kommst du mit?«

Benjamin nickte und zog sich ebenfalls um.

Dann verließen beide das Zimmer und schlichen zur Bibliothek. Lukas wusste nicht, ob Raphael oder Tobias noch wach waren. Doch er war sich sicher, dass Raphael ihn jetzt nicht mehr daran hindern würde nachts zu lesen.

In der Bibliothek war es stockdunkel. Raphael und Tobias schliefen also bereits. Lukas zündete die Öllampe an der Wand und die große Kerze, die auf dem Tisch stand, an und löschte schließlich seine.

Dann ging er zu dem großen Bücherregal und griff sich wahllos eines der Bücher heraus, in die er vorher nicht hatte hineinsehen dürfen. Als er sich umdrehte und Bens verdutztes Gesicht sah, grinste er.

»Wir müssen doch schließlich wissen, was uns erwartet, wenn wir nach Hause kommen.«

Lukas setzte sich an den Tisch und schlug das Buch auf. Es war eines der älteren Bücher, die Raphael besaß und eindeutig von Engeln verfasst. Auf der ersten Seite erkannte er wieder die seltsame Schrift, die auch in dem Buch zu lesen gewesen war, welches Tobias in der Nacht vor dem Schneesturm gelesen hatte.

»Was ist das?«, fragte Benjamin, dem die Schrift anscheinend fremd vorkam. Lukas wunderte sich über diese Frage, schließlich hatte er sofort erkannt, dass die Seite in Henochisch, der Sprache der Engel geschrieben war.

»Es ist unsere alte Sprache.«, sagte er schließlich.

Lukas begann in dem Buch zu blättern. Er stellte schnell fest, dass es ein Buch über die Kunst des Schwertkampfes war. Lukas las jede Seite mit äußerster Sorgfalt und einige überflog er sogar ein zweites Mal. Benjamin, der anfangs ebenfalls mit in das Buch geschaut hatte, stand nach einer Weile auf und holte sich ein anderes Buch.

»Findest du es nicht interessant?«, fragte Lukas.

Benjamin schüttelte mit dem Kopf.

»Wenn ich daran denken muss, dass Schwerter zum Kämpfen und Töten da sind, wird mir schlecht.«, sagte Benjamin und verzog dabei das Gesicht. «Findest du das etwa schön?«

»Ich finde es spannend.«, antwortete Lukas, der Bens Meinung nicht verstehen konnte. Schließlich war in dem Buch nicht einmal etwas vom Töten zu lesen.

»Seit wann streitet ihr euch denn wegen solchen Dingen?«, fragte plötzlich Raphael aus dem Nichts. Ben und Lukas blickten erschrocken zur Tür, denn keiner von beiden hatte bemerkt, dass Raphael in die Bibliothek gekommen war.

»Wir streiten doch gar nicht.«, sagte Ben und nahm damit Lukas die Worte aus dem Mund.

»Es hätte aber ein Streit werden können.« Raphael setzte sich in den letzten freien Sessel und schaute neugierig in beide Bücher. Ben hatte sich ein Buch über die Sprache der Engel herausgesucht. Doch auch damit schien er nicht zufrieden zu sein.

»Gibt es auch Bücher übers Fliegen?«, fragte er Raphael.

Raphael nickte. Er nahm Ben das andere Buch aus der Hand und ging zielstrebig zum Bücherschrank. Er griff ohne lange zu suchen nach einem sehr alten Buch und brachte es Ben.

»Wie findest du dich in dem Durcheinander zurecht?«, fragte Lukas, der Raphaels Treiben aufmerksam beobachtet hatte.

»Für dich scheint es ein Durcheinander zu sein. Ich habe aber schließlich jedes dieser Bücher gelesen, da sollte ich schon wissen wo sie stehen.«

»Du hast alle Bücher gelesen?«, fragten Ben und Lukas fast gleichzeitig.

»In einige habe ich nur kurz hinein geschaut, andere habe ich ausgelesen.«

Dann war es eine Zeit lang still. Lukas schaute sich neugierig in der Bibliothek um und versuchte sich vorzustellen wie viele Bücher hier wohl stehen mochten. Es waren sicherlich mehr als 2000. Wenn Raphael all diese Bücher wirklich gelesen hatte, musste er sehr viel über Engel wissen, mehr als er ihnen bereits preisgegeben hatte.

»Raphael?«, fragte Lukas schließlich. »Wir müssen doch trotzdem etwas lernen, auch wenn wir nicht mehr zur Schule gehen. Ich meine, wir sind Engel und wissen fast gar nichts über unser Volk.«

»Ihr wollt, dass ich euer Lehrer werde?«, fragte er erst an Lukas und schließlich an Ben gewandt. Beide nickten.

»Dann solltet ihr jetzt aber ins Bett gehen. Ich kann ein sehr strenger Lehrer sein.«

Lukas biss sich auf die Zunge. Er bereute es augenblicklich, dass er Raphael in diesem Moment gefragt hatte. Schließlich hatte er noch ein wenig in dem Buch lesen wollen.

Raphael sah Lukas' enttäuschten Gesichtsausdruck und lächelte.

»Ich habe gesagt, dass ihr ins Bett gehen sollt, vom Schlafen war nicht die Rede.«, sagte er und drückte Lukas das Buch in die Hand. »Das gehört schließlich auch zum Unterricht.«

»Danke.«, sagte Lukas freudestrahlend. Er griff nach seiner Kerze und zündete sie an. Dann rief er Raphael noch »Gute Nacht« hinterher und rannte auf sein Zimmer. Ben folgte ihm. Auch er hatte ein Buch in der Hand.


Am nächsten Morgen wachten Ben und Lukas sehr früh auf, obwohl beide noch bis spät in die Nacht gelesen hatten. Sie waren nie gern zur Schule gegangen, doch der Unterricht bei Raphael würde ein ganz anderer sein. Daher standen beide auch sofort auf, zogen sich um und gingen schnurstracks in die Küche.

Raphael war bereits wach und hatte anscheinend auch schon gefrühstückt. Von Tobias war keine Spur.

Lukas und Ben setzten sich an den Tisch und aßen so viel wie sie nur konnten. Raphael sagte nichts und lächelte nur. Er konnte ihnen nicht böse sein, dass sie an diesem Morgen so viel in sich hineinstopften. Schließlich hatten sie die letzten Tage kaum etwas zu sich genommen. Als die beiden aufstanden und das Geschirr wegräumen wollten, winkte Raphael ab.

»Lasst das nur stehen.«, sagte er. »Tobias wird es nachher schon wegräumen.«

»Wo ist er?«, fragte Lukas, dem diese Frage schon die ganze Zeit auf den Lippen gelegen hatte.

»Ich hab ihn in die Stadt geschickt. Ich kann schließlich nicht alles auf einmal machen.«

Lukas und Ben grinsten sich an. Zum Glück mussten sie bei dieser Kälte nicht bis zur Stadt laufen um dort für einen Tag Arbeit zu finden.

»Für euch wird der Tag schon noch hart genug.«, sagte Raphael, dem die spottenden Gesichter von Ben und Lukas natürlich nicht verborgen geblieben waren. »Schließlich müsst ihr doch wissen, was euch in wenigen Monaten erwartet.«

»Woher weißt du...?«, begann Lukas, doch er sprach den Satz nicht zu Ende, sondern sah Raphael kopfschüttelnd an. »Du hast den Brief gelesen. Warum?« Lukas brach in Tränen aus. Er konnte nicht glauben, dass Raphael sein Vertrauen so missbraucht hatte.

»Lukas, bitte. Ich weiß, ich hätte es dir gleich sagen sollen.«, sagte Raphael beschämt.

»Warum?«, wiederholte Lukas seine Frage.

»Als ich herausgefunden habe, was ihr seid, da musst ich den Brief einfach lesen. Ich musste wissen, was für einen Grund dein Vater gehabt hat, als er euch hierher gebracht hat. Es tut mir wirklich Leid. Bitte, Lukas, du musst mir glauben.«

»Gar nichts muss ich.«, sagte er trotzig und warf sich in den nächsten Sessel. »Du hättest mich fragen können, als ich wieder aufgewacht bin. Dann hätte ich dir den Brief auch gegeben. Aber so...« Lukas sagte nichts mehr, sondern starrte stur vor sich hin. Raphael stand schuldbewusst vor ihm und brachte keinen Ton mehr hervor. Es tat ihm leid, dass er Lukas erneut so verletzt hatte, doch jetzt konnte er es auch nicht mehr ändern.

»Ich dachte du wolltest uns unterrichten.«, platzte es nach einer Weile aus Lukas heraus. »Ich habe keine Lust den hier ganzen Tag sinnlos rumzusitzen.«

»Lukas, bitte.«, flehte Ben, der die ganze Zeit einfach nur ruhig dagestanden hatte, noch bevor Raphael auf Lukas‘ Worte eingehen konnte. »Nimm‘ seine Entschuldigung doch endlich an.«

Lukas sprang auf.

»Jetzt stellst du dich auch noch auf seine Seite.«, schrie er wütend. »Ein toller Freund bist du.« Dann schubste er Raphael unsanft zur Seite und rannte auf sein Zimmer.

***

Zwei Stunden später lag Lukas auf seinem Bett und starrte aus dem Fenster. Er hatte mittlerweile bereut, dass er Raphael abermals so angeschrien hatte. Doch das Schlimmste war, dass er seine Wut auch an Ben ausgelassen hatte. Nachdem sie sich letzte Nacht fast gestritten hatten, war es nun endlich so weit gewesen. Lukas hatte nie zuvor ein böses Wort zu Ben gesagt, nicht einmal daran gedacht hatte er. Und nun hatten sie sich das erste Mal gestritten.

Lukas drehte sich auf den Rücken. Er wusste, warum sich alles geändert hatte. Seitdem David, Jakob und Ruth Ben angegriffen hatten, hatte sich zu viel geändert. Es war alles zu schnell gegangen. Ben hatte etwas erlebt, was Lukas sich nicht einmal vorstellen mochte und Raphael hatte sicherlich der Schlag getroffen, nachdem er herausgefunden hatte, dass Ben und Lukas Engel waren. Nur für Lukas hatte sich nichts geändert. Er hatte versucht zu verstehen, was in diesen Tagen in Ben, Raphael und Tobias vorgehen mochte, doch er konnte es nicht.

Nun fühlte er zum ersten Mal etwas wie Heimweh. Er sehnte sich nach einem Ort, den er nicht einmal kannte, doch die letzten Tage hatten ihm endgültig klar gemacht, dass er und Ben nicht in diese Welt gehörten, auch wenn sie hier aufgewachsen waren.

Schließlich überwand Lukas seinen Stolz und stand auf. Schließlich brachte es nichts den ganzen Tag auf seinem Bett zu liegen. Er musste sich beschäftigen, sonst würde er noch den ganzen Tag über die Geschehnisse der letzten Zeit grübeln und diese bereiteten ihm mittlerweile Kopfschmerzen. Daher hielt er es für besser sich abzulenken.

Er schlich leise die Treppe runter und ging mit zögerlichen Schritten auf die Bibliothek zu. Er hatte keine Ahnung, wie Raphael reagieren würde, wenn er jetzt einfach in die Bibliothek kam. Trotz seiner Zweifel öffnete er schließlich die Tür. Da sie wie immer ein leichtes Knarren von sich gab, drehten sich Raphael und Ben sofort zu ihm um. Lukas stand verlegen in der Tür und wartete darauf, dass Raphael ihn anschrie und ihn für sein Verhalten tadelte. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen lächelte er nur freundlich.

»Willst du dich zu uns setzen? Ich erzähle Ben gerade etwas über die Geschichte eures Volkes.«

»Ich---ich...«, stammelte Lukas. Er war mehr als verwundert über Raphaels Verhalten.

»Du musst nichts sagen, Lukas. Es reicht wenn du dich zu uns setzt.«

Lukas staunte, dass Raphael keine Andeutungen mehr über Lukas Auftreten vor zwei Stunden machte. Doch er musste mit Raphael darüber sprechen.

»Es tut mir leid, wie ich mich vorhin verhalten habe. Ich verspreche dir, dass es nie wieder vorkommt.«, sagte Lukas kleinlaut.

Raphael stand auf und ging einige Schritte auf Lukas zu.

»Nein, Lukas, du musst dich für gar nichts entschuldigen. Es ist meine Schuld, dass es soweit gekommen ist. Du hast recht, ich hätte den Brief nicht lesen sollen, zumindest nicht ohne deine Zustimmung.«

»Aber die hattest du doch.«, sagte Lukas und ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht.

»Wie meinst du das?«

»In der Nacht als Mein Vater Ben hierher gebracht hat, hast du mir den Brief gegeben, weißt du das noch? Da habe ich dir auch erlaubt den Brief zu lesen.«

Raphael schüttelte verdattert den Kopf.

»Daran kannst du dich noch erinnern? Du bist verrückt, Lukas.«

»Nein.«, antwortete Lukas frech. »Ich bin ein Engel.«

Lukas blickte schelmisch zu Ben. Auch dieser konnte sich bei Lukas‘ Bemerkung ein Grinsen nicht verkneifen.

»So, nun sollten wir aber weiter arbeiten. Schließlich habe auch ich nicht den ganzen Tag Zeit.«, sagte Raphael schließlich, doch das drückte Lukas‘ Stimmung nicht ein bisschen. Er war froh nun endlich etwas über die Geschichte seines Volkes zu erfahren.

Sie saßen den fast ganzen restlichen Tag in der Bibliothek und blätterten die vergilbten Bücher durch. Lukas und Ben stellten Raphael währenddessen immer wieder Fragen, wenn die Bücher ihnen nicht genug Wissen preisgaben und Raphael beantwortete ihre Fragen geduldig.

»Woher weißt du das alles?«, fragte Lukas nach einigen Stunden, in denen er viel mehr über sein Volk erfahren hatte, als er sich in den letzten Jahren hatte selbst beibringen können.

»Weil ich es früher selbst erleben durfte.«

»Du weißt also noch wie es war, als Menschen und Engel friedlich zusammenlebten?«, fragte Ben erstaunt. »Ich dachte, dass wäre schon viele hundert Jahre her.« Lukas nickte beipflichtend, denn Ben hatte genau seine Gedanken in Worte gefasst.

»Ja, Ben, als ich noch ein Kind war, habe ich oft hier auf dem Hügel mit Engeln gespielt, die so alt waren wir ihr. Damals habe ich mir gewünscht auch ein Engel zu sein, aber heute bin ich froh, dass ich keiner bin. Ich glaube, dass einige von meinen früheren Freunden bereits tot sind und somit doch früher gestorben sind als ich, obwohl sie doch eigentlich viel älter werden sollten.«

»Warum hast du uns nie davon erzählt?«, unterbrach Lukas Raphael traurig. »Das hätten wir doch auch so erfahren können.«

»Wisst ihr, diese Zeit kommt mir so weit weg vor.«, antwortete Raphael leise. »Manchmal glaube ich, dass es schon viel länger her wäre. Dabei sind es erst vierzig Jahre. Die Zeit spielt einem manchmal Streiche, müsst ihr wissen. Vor allem wenn man schreckliche Dinge erlebt. Ihr werdet in eurem Leben noch häufig Erfahrungen machen, die ihr am liebsten verdrängen würdet und ich möchte eben diese Zeit verdrängen, da sie mir noch immer so viele Schmerzen zufügt, weil ich genau weiß, dass ich viele von ihnen nie wieder sehen kann.«

»Es tut mir Leid. Ich wusste nicht, dass dich das alles so sehr verletzt.«

»Es muss dir nicht Leid tun, Lukas. Es ist gut nach so langer Zeit mal mit jemandem darüber reden zu können. Ihr habt hoffentlich etwas aus dem gelernt, was ich euch erzählt habe, auch aus der letzten Geschichte, schließlich möchte ich diesen Tag nicht mit euch verschwendet haben.« Auf Raphaels Gesicht erschien wieder ein Lächeln, doch Lukas sah, dass er damit nur seine Traurigkeit überspielen wollte. Dennoch erwiderte er das Lächeln, schließlich hatte er schon selbst die Erfahrung gemacht, wie gut das tun konnte.

»Natürlich haben wir das.«, sagte er und nahm damit Ben die Worte aus dem Mund.

»So, und damit ihr nicht den restlichen Tag faul in einer Ecke sitzt, bekommt ihr jetzt noch eine Hausaufgabe. Ich werde euch morgen einige von den Fragen stellen, die ihr mir heute gestellt habt, damit ich sicher gehen kann, dass ihr mir auch wirklich zugehört habt. Wenn ihr nicht mehr alles wisst, müsst ihr halt sehen, dass ihr die Antworten noch einmal irgendwo auftreiben könnt.«

Lukas lachte leise in sich hinein und er war sich sicher, dass es nicht nur ihm so ging. Er hatte jedes einzelne von Raphaels Worten aufgesogen und fest in seinem Gedächtnis verankert. Selbst in vielen Jahren, könnte er sie noch wortwörtlich wiedergeben. Viele der Dinge, die Raphael ihnen heute erzählt hatte, hatten ihn erstaunt. Einige hatten ihn jedoch auch nachdenklich und traurig gemacht. Raphael hatte erzählt, dass es auch im Reich der Engel nicht immer friedlich zuging und dass auch dort in Gerichtsverhandlungen über die Schicksale von Angeklagten entschieden wurde. Lukas hatte geglaubt, dass alle Engel friedlich miteinander auskommen würden, doch während Raphael erzählt hatte, war ihm bewusst geworden, was für ein Narr er doch gewesen war. Selbst vor Fehlurteilen war man in dieser Welt nicht sicher und so kam es manchmal vor, dass ein Engel verbannt wurde, ohne dass es auch nur einen Grund dafür gab. Dieser Engel musste dann das Reich für alle Zeit verlassen. Im ersten Moment war das Lukas überaus grausam vorgekommen, doch je länger er darüber nachgedacht hatte umso sinniger erschien ihm diese Bestrafung. Es war besser, als jemanden zum Tode zu verurteilen, doch auch dieses Urteil wurde manchmal gesprochen. Lukas war froh gewesen, als Raphael erzählt hatte, dass es auch für zu unrecht Verurteilte noch eine Hoffnung gab. ‚Das Reich der Verstoßenen‘ hatte Raphael es genannt. Er hatte ihnen erzählt, dass es einen Ort gab, an denen zu unrecht verurteilte Engel in Frieden leben konnten, denn Matthäus, so hieß der Herrscher dieses Reiches, war mächtiger als der Herrscher der eigentlichen Heimat der Engel. Lukas fragte sich, warum er und Ben nicht schon lange dort waren. Anscheinend hatte sein Vater tatsächlich vor ihn und Ben wieder mitzunehmen. Denn wirklich sicher war Lukas sich bis zu diesem Tag nicht gewesen und diese Unsicherheit würde auch noch bis zu dem Tag, an dem sie ihre Heimat endlich kennen lernen würden, anhalten.

Doch es gab noch etwas anderes, was Lukas sehr nachdenklich gemacht hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es tatsächlich einmal eine Zeit gegeben hatte, in der Menschen und Engel zusammengelebt haben. Raphael hatte gesagt, dass es sogar Engel gegeben hatte, deren Mutter oder Vater ein Mensch gewesen war. Diese waren natürlich die ersten gewesen, die dem blinden Hass der Menschen zu Opfer gefallen waren. Lukas stellte sich vor, wie es wäre, wenn diese friedlichen Zeiten noch nicht vorbei wären und er versuchte sich eine Zukunft ohne den Hass der Menschen vorzustellen. Doch es gelang ihm nicht, nicht nachdem was David Ben angetan hatte. Denn dadurch hatte er bemerkt, wie tief ihr Hass wirklich saß.

Schließlich riss sich Lukas von diesen Gedanken los. Er musste endlich aufhören tagsüber zu träumen. Selbst Ben schaute ihn schon verwundert an, doch er schien zu wissen, was Lukas soeben gedacht hatte und auch er schien keinen Sinn darin zu sehen, die Antworten auf ihre Fragen noch einmal nachzuschlagen.

»Hast du noch etwas für uns zu tun, Raphael?«, fragte Lukas schließlich, denn er wollte Raphael nicht den ganzen Tag zu Last fallen und vom Lesen hatte er erst einmal genug.

»Seid ihr sicher, dass ihr nicht noch einmal etwas nachlesen wollt?«

»Ganz sicher.«, antworten Lukas und Ben prompt.

»Gut, ihr müsst es ja wissen.«, sagte Raphael mit einem Gesichtsausdruck, der erkennen ließ, dass er mit nichts anderem gerechnet hatte. »Noch könnt ihr ein bisschen Faullenzen, wenn Tobias zurück ist, werde ich schon etwas für euch finden.«

»Na dann wird das wohl nichts mehr mit dem Faullenzen.«, sagte Tobias hinter ihnen in einem ziemlich spöttischen Ton. Er war, ohne dass sie es bemerkt hatten, in die Bibliothek gekommen und stand nun grinsend in der Tür.

»Wie lange bist du schon hier?«, fragte Raphael erstaunt.

»Ich glaube seit etwas mehr als einer Stunde. Aber keine Sorge, ich hab mich in der Zeit nützlich gemacht und euch nicht die ganze Zeit belauscht.«

Lukas konnte sich ein Lachen kaum noch verkneifen. Tobias‘ Tonfall und Raphaels Gesichtsausdruck wollten einfach nicht zusammen passen, denn Raphael sah aus als wenn er ein Gespenst gesehen hätte.

»Ich hoffe, du hast auch wirklich alles auf recht schaffende Weise besorgt und nichts von dem, was du kaufen solltest, geklaut.«, seine Stimme klang vorwurfsvoll.

»Kein Sorge, ich habe alles mitgebracht, sogar mehr als du wolltest und es ist sogar noch etwas Geld übrig, dann musst du dir das nächste Mal keine Arbeit suchen.«

»Wie hast du das gemacht?«, fragte Lukas und schaltete sich in das Gespräch ein. Er wusste natürlich, warum Raphael so seltsam schaute. Er selbst war immer erst weit nach Sonnenuntergang wiedergekommen und hatte gerade so alles besorgen können.

»Ich hatte etwas Glück.«

»Etwas?«, Raphaels Stimme überschlug sich. »Ich weiß ja nicht, was du alles gekauft hast und wie viel Geld noch übrig ist, aber kannst du mir vielleicht endlich sagen, was du in der Stadt gemacht hast?«

»Nun reg‘ dich nicht auf. Ich erzähl es dir ja schon.«, versuchte Tobias Raphael zu besänftigen. »Also, als ich in die Stadt kam, bin ich natürlich gleich ins Handwerkerviertel gegangen, um das nötige Geld zu verdienen. Und gerade als ich beim Schuster anklopfte, kam ein Mann aus dem Geschäft gestürmt und rannte mich fast um. Ich konnte mich zum Glück auf den Beinen halten, aber er hatte nicht so fiel Glück und verlor sein Gleichgewicht. Gleich darauf kam auch der Schuster raus und half dem Mann hoch, zumindest dachte ich, dass er ihm helfen will. Aber dann sah ich, dass der Mann auch einen Geldbeutel fallengelassen hatte und da war mir klar, warum er so schnell weg wollte.«

»Du hast einen Dieb gefangen?«, platze es aus Lukas heraus.

Tobias errötete.

»Und nicht nur irgendeinen. Der Richter meinte, er würde schon seit Wochen sein Unwesen treiben und die Handwerker und Händler bestehlen. Daher war auch ziemlich viel Geld auf seine Ergreifung ausgesetzt.

»Wie viel?«, fragte Raphael.

»Da ich und der Schuster ihn gemeinsam erwischt haben, gab es 500 Taler für jeden.« Tobias strahlte bei diesen Worten.

»500 Taler? Ist das dein Ernst? Das würde ja bedeuten, dass wir auch für den nächsten Winter erst mal keine Sorgen mehr machen brauchen.« Tobias nickte.

»Und ich dachte mir, dass wir deswegen heute mal etwas mehr essen können.«

»Natürlich.«, antwortete Raphael knapp. »Ich hoffe du hast auch wirklich etwas Anständiges mitgebracht.« Dann wandte er sich Lukas und Ben zu.

»So, ich glaube, jetzt habt ihr etwas zu tun. Ihr könnt uns dabei helfen, das Essen zuzubereiten.«

Lukas und Ben strahlten, unter diesen Umständen arbeiteten sie gerne. Sie fragten sich beide, was Tobias alles gekauft hatte, denn das letzte Mal, dass sie mehr als Brot und Käse gegessen hatten, lag bereits mehr als ein halbes Jahr zurück.


Das Abendessen war wirklich reichlich. Tobias hatte Schinken, Kartoffeln, Käse, Brot, getrocknete Rosinen und Gewürze und sogar Traubensaft und Wein mitgebracht. Lukas konnte sich nicht erinnern, dass jemals etwas anderes als Wasser auf dem Tisch gestanden hatte. Deswegen machte es ihm auch nichts aus, nicht von dem Wein kosten zu dürfen. Er freute sich endlich mal wieder richtig satt zu werden, denn auch wenn er nie etwas zu Raphael gesagt hatte, wirklich satt war er im Winter sonst nie. Bei der Menge, die Tobias gekauft hatte, würden sich auch noch die nächsten Tage so reichlich essen können, doch Lukas wusste, dass bereits am nächsten Tag, wieder weniger auf den Tisch stehen würde, aber er war sich sicher, dass es ihn dennoch satt machen würde. Normalerweise kauft Raphael für 10 Taler Nahrungsmittel in der Stadt oder baute im Sommer selbst Getreide und ein paar Kartoffeln an und das reichte auch zum Leben. Diesmal hatte Tobias 50 Taler ausgegeben und sie konnten es sich endlich einmal richtig gut gehen lassen.

Lukas fragte sich, wie es ihm und Ben wohl in ihrer »Heimat« ergehen würde, denn eine Frage hatte Raphael ihm an diesem Nachmittag nicht beantworten können. Wer war Lukas Vater wirklich? Raphael hatte ihm zwar erzählen können wie er aussah und, dass es auch im Reich der Engel die gleichen Arbeiten zu verrichten gab wie bei den Menschen, doch mehr wusste auch er nicht. Lukas hatte keine Ahnung, ob sein Vater Bauer, Soldat oder doch etwas ganz anderes war. Vielleicht würde es ihnen zuhause noch schlechter gehen als hier. Doch Lukas tröstete sich mit dem Gedanken, dass dann zumindest Tobias und Raphael mehr zu essen hätten. Schließlich hatten er und Ben den beiden lange genug viel Ärger und Mühe bereitet. Und jetzt brauchte er sich darüber keine Gedanken zu machen. An diesem Abend hatte er genug zu essen und Lukas ließ es sich schmecken. Er genoss das Gefühl endlich mal wieder einen vollen Magen zu haben.

Als Ben und Lukas einige Stunden später in ihrem Zimmer waren, kam Lukas dieser Tag wie ein Traum vor. Er hatte so viel über seine Heimat erfahren und so gut gegessen, dass es eigentlich nur ein Traum sein konnte. Auch Ben ging es nicht anders. Sie hatten sich lange darüber unterhalten und Lukas hatte gemerkt, dass die Zeit an diesem Tag tatsächlich anders vergangen war – genau wie Raphael gesagt hatte. Der Tag war viel zu schnell vorbei gewesen und auch wenn Lukas sich sicher war, dass der folgende Tag ähnlich ablaufen würde, würde dieser immer ein besonderer bleiben. Selbst wenn er und Ben eigentlich Gefangene im Kloster waren oder vielleicht gerade deswegen. In diesem Moment wurde Lukas bewusst, warum ihm dieser Tag so viel bedeutet hatte. Es war nicht das Wissen, was er von Raphael erhalten hatte und auch nicht das gute Essen, sondern einfach nur die Gewissheit, dass es doch noch Menschen gaben, denen Engel etwas bedeuteten.

4. Ein schwerer Kampf

Die nächsten Tage verliefen ähnlich. Lukas und Ben verbrachten den größten Teil ihrer Zeit mit Raphael in der Bibliothek und hörten ihm zu, wie er über die Sprache der Engel und ihre Kriegerlegenden erzählte. Lukas fand das alles sehr interessant, doch er bemerkt schnell, dass es für Ben häufig eher langweilig war. Doch Ben gab sich Mühe, das Raphael nicht offen zu zeigen und er hatte auch lange versucht es vor Lukas geheim zu halten. Nach drei Tagen wurde es jedoch zu offensichtlich und Lukas beschloss mit ihm darüber zu reden. Er wollte nicht, dass Ben seine Tage sinnlos vergeudete, nur um Lukas einen Gefallen zu tun.

Als Ben die Bibliothek verließ, um in sein Zimmer zu gehen, blieb Lukas noch etwas sitzen und verschlang die letzten Seiten eines Buches, das wie immer vom Schwertkampf handelte. Schließlich schlug er das Buch zu und ging ebenfalls aus der Bibliothek. Er hoffte nun etwas Zeit zu finden um mit Ben zu reden.

Als Lukas leise die Tür öffnete, saß Ben auf der Fensterbank und starrte gedankenverloren nach draußen. Lukas ahnte wie er sich in diesem Moment fühlte. Auch er wollte raus aus diesen Mauern, draußen herumtollen und einfach ein bisschen Freiheit genießen. Lukas fühlte sich wie ein kleines Kind, aber er wusste, dass er dieses Kind-Sein nicht ausleben konnte, so wie er es noch nie hatte ausleben können. Denn es war einfach zu gefährlich, nicht nur für ihn und Ben, sondern auch für Raphael und Tobias. Und keinen von ihnen wollte er in Gefahr bringen. Gerade deswegen musste er jetzt mit Ben reden. Er hatte sich in den letzten Tagen immer mehr von ihm abgewandt und aus dem Ausdruck seiner Augen, mit dem er jetzt aus dem Fenster blickte, konnte Lukas erahnen, dass Ben dieses Leben nicht mehr wollte. Er wollte nicht nur raus aus dem Kloster, sondern auch aus dieser Welt. Wie, das schien ihm egal zu sein.

Lukas hatte keine Ahnung warum er das wusste, doch er wusste es eben. Er und Ben hatten so viel Zeit miteinander verbracht und ihre Ängste, Sorgen und alle anderen Gefühle nie voreinander versteckt, so dass Lukas jetzt genau spüren konnte, wie es seinem Freund ging.

»Ben.«, fing Lukas leise an, denn Ben schien ihn noch nicht bemerkt zu haben, »Was ist los mit dir?«

»Nichts!«, murmelte Ben ohne Lukas anzuschauen. »Und außerdem, seit wann interessierst du dich eigentlich für mich. Für dich gibt es doch nur noch diese Bücher übers Kämpfen.«

Lukas war verblüfft, wie Ben mit ihm redete. Es schien als wären sie nicht befreundet, sondern eher verfeindet.

»Aber Kämpfen gehört doch zu unserem Leben, oder nicht?«, versuchte Lukas Ben zu besänftigen. Irgendwie musste er ihm doch erklären können, warum ihn diese Bücher so faszinierten.

»Wenn du töten willst, dann mach das, ich will das aber nicht.« Noch immer sah Ben stur aus dem Fenster.

»Glaubst du wirklich, dass ich diese Bücher nur lese, um herauszufinden wie ich zum Mörder werden kann?«, fragte Lukas fassungslos. Er hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit.

Ben antwortete nicht. Lukas ging zum Fenster und sah Ben herausfordernd an.

»Antworte mir!«, sagte Lukas in einem Ton, mit dem er nie mit Ben hatte reden wollen. Doch in diesem Moment platzte es einfach aus ihm heraus.

»Du hättest doch auch nicht gezögert David umzubringen, oder?«, schrie Ben.

»Ich wusste, dass er Angst haben würde. Ich hätte es nie gewagt Hand an sein Leben zu legen.«

Lukas legte seine Hand auf Bens Schulter um ihn zu beruhigen. Doch dieser schlug sie sofort wieder runter.

»Lass mich in Ruhe und behandle mich nicht immer wie ein Kleinkind. Auch wenn ich noch keine Flügel habe, kann ich sehr wohl auf mich selbst aufpassen.«, schrie Ben wütend. Dann sprang er auf, packte ein Buch, das er sich aus der Bibliothek mitgenommen hatte und rannte aus dem Zimmer.

Lukas sah ihm verzweifelt hinterher. Er war nach oben gekommen, um mit Ben zu reden und sich bei ihm dafür zu entschuldigen, dass er sich die letzten Tag nur um seine Bücher gekümmert hatte. Und nun hatte es in einem Streit geendet. Jetzt hatten sie sich innerhalb von nur wenigen Tagen bereits zweimal gestritten und Ben war nun so wütend, dass er nicht einmal mehr mit Lukas reden wollte.

Da er Ben nicht noch mehr verletzen wollte, entschloss Lukas erst am Abend oder nächsten Morgen mit ihm zu reden und ihm solange aus dem Weg zu gehen.

***

Am folgenden Abend war es schließlich Lukas, der schweigend auf der Fensterbank saß und mit traurigen Augen nach draußen blickte. Er seufzte und wandte seinen Blick auf Ben, der mit dem Gesicht zur Wand schlief. Als er eine Stunde zuvor ins Zimmer gekommen war, hatte er Lukas nicht eines Blickes gewürdigt, sondern hatte sich umgezogen und war sofort ins Bett gegangen. Lukas konnte nicht glauben, dass Ben wirklich so wütend auf ihn war, doch jetzt konnte er es nicht mehr ändern. Irgendwie würde er sich schon bei Ben entschuldigen und ihm alles erklären können, nur eben jetzt noch nicht.

Schließlich hielt es Lukas nicht mehr länger im Zimmer aus. Er kramte seine dicken Sachen zusammen und zog sich an. Dann griff er sein Schwert, das jetzt nicht mehr versteckt unter seinem Bett lag, sondern direkt davor, und verließ leise den Raum. Denn er wollte Ben nicht wecken. Wenn er ihn mit dem Schwert in der Hand sehen würde, würde Ben nur erneut wütend werden. Lukas schlich die Treppe hinunter, warf einen Blick zu Bibliothek, in der noch Licht brannte, und setzte seinen Weg durch den Flur fort. Bis jetzt hatte er sich nicht besonders große Mühe geben müssen leise zu sein, doch die Eingangstür zu öffnen, ohne dass sie knarrte, war schon schwieriger. Lukas entriegelte die Tür vorsichtig und als er die eiserne Türklinke herunterdrücken wollte, hörte er hinter sich ein Geräusch. Lukas drehte sich abrupt um und sah, dass Raphael aus der Bibliothek gekommen war und nun kopfschüttelnd hinter ihm stand.

»Wo willst du hin?«, fragte er in einem Ton, den Lukas nicht deuten konnte. Lukas hielt es für besser gleich die Wahrheit zu sagen, denn alles andere hätte Raphael sowieso bemerkt.

»Ich will üben, ich will endlich einmal selber mein Schwert führen und nicht nur immer darüber lesen. Jetzt ist es dunkel, da kann mich doch keiner sehen.«

Lukas sah Raphael erwartungsvoll an, um zu sehen wie er reagieren würde. Er hatte sich schon damit abgefunden, dass sein Vorhaben gescheitert war und wollte zum Rückweg ansetzen, doch Raphael hielt ihn zurück.

»Du hast Recht, ich kann euch nicht den ganzen Tag wie Gefangene halten. Aber ich komme mit nach draußen, denn irgendjemand muss ja auf dich aufpassen. Warte kurz auf mich.«, sagte Raphael und verschwand nach oben.

Lukas war erstaunt über Raphaels Reaktion, denn damit hatte er als aller letztes gerechnet, doch ehe er sich weiter Gedanken darüber machen konnte, war Raphael bereits mit einem dicken Mantel wieder da und öffnete nun seinerseits die Tür. Sie gingen um das Kloster herum und Raphael lehnte sich schließlich an der Rückseite an die Mauer.

»Hier ist die Gefahr gesehen zu werden noch geringer.«, stellte er fest. »Aber mach ja nicht zu viel Lärm, die anderen beiden wollen sicherlich schlafen.«

Lukas nickte. Er entfernte sich ein paar Schritte von Raphael, dann zog er sein Schwert. Die Klinge funkelte im Licht des Mondes und Lukas stellte fest, wie hell es durch diesen eigentlich war. Normalerweise konnte er nachts nur Konturen erkennen, doch nun sah er Raphael ganz klar vor sich, obwohl dieser keine Kerze mit nach draußen gebracht hatte.

Lukas drehte das Schwert ein paar Mal in seiner Hand und stellte schnell fest, dass es wie für ihn geschaffen war. Er glaubte nicht, dass irgendein anderer mit dieser Klinge würde kämpfen können, schließlich war es sein Schwert. Es viel ihm unglaublich leicht einige Bewegungen, die er aus den Bücher kannte, nachzumachen, selbst Drehungen, die er für unglaublich schwer gehalten hatte, fielen ihm sehr leicht. Aus dem Augenwinkel konnte er erkenne, dass Raphael ihm erstaunt zusah und sich gar nicht mehr auf das konzentrierte, was er eigentlich vorgehabt hatte zu tun, nämlich darauf zu achten, dass auch wirklich niemand in der Nähe war. Lukas amüsierte das, doch er ließ sich nicht lange davon beirren, sondern versuchte weiter die Bewegungen durchzuführen, die er eigentlich nur aus Büchern kannte und die ihm doch so vertraut vorkamen. Irgendwann fand er es langweilig nur auf dem Boden das Schwert zu führen. Daher zog er seinen Mantel aus und gab ihn Raphael, der ihn zwar mahnend ansah, aber nichts weiter sagte.

Lukas fand es nicht einmal kalt ohne seinen Mantel, doch das lag wahrscheinlich daran, dass ihm durch die Übungen bereits sehr warm geworden war. Er breitete seine Flügel aus und hob ab. Er flog ein paar Mal im Kreis, aber war stets darauf bedacht, nicht über das Dach des Klosters hinaus zu fliegen, damit er nicht Gefahr lief gesehen zu werden. Während er die Freiheit in der Luft genoss und immer wieder verschiedenste Vorstöße und Ausweichtechniken mit seinem Schwert versuchte, bemerkte er nicht, dass am Boden zwei weitere Gestalten aufgetaucht werden. Erst das wütende Rufen von Ben ließ ihn aufmerksam werden.

»Du willst nicht töten aber übst schon einmal das Kämpfen. Wieso lügst du mich andauernd an.«, schrie er nach oben.

Lukas brach seine Übungen ab und schwebte langsam zu Boden. Sein Blick war genau wie der von Raphael und auch Tobias, der mit nach draußen gekommen war, fassungslos auf Ben gerichtet. Ehe Lukas irgendetwas zu seiner Verteidigung sagen konnte, ergriff Raphael das Wort.

»Wozu hat denn Lukas sonst ein Schwert, wenn er damit nicht kämpfen darf. Das heißt doch nicht, dass er auch töten will.«

»Aber genau das ist es doch was er will. Er hat David auch schon mit dem Schwert bedroht.«

»Aber ich habe dir doch schon gesagt, warum ich das getan habe. Ich wollte dir doch nur helfen, Ben.«, sagte Lukas verzweifelt. »Wieso bist du plötzlich so wütend? Es tut mir leid, wenn wir in den letzten Tagen zu wenig miteinander gesprochen habe, aber ich wollte doch nun mal etwas mehr über unsere Welt erfahren und dazu gehört doch das Kämpfen. Wieso willst du das nicht verstehen?«

»Ich werde nie ein Schwert anfassen, sobald ich meines habe, werde ich es irgendwo verstecken.«

»Aber warum?«

»Weil ich niemanden verletzen will. Du weißt nicht wie das ist, verletzt zu werden, du hast nicht erlebt, was ich erlebt habe, du hast diese Schmerzen nicht gespürt, die mir ohne eine Waffe zugefügt wurden. Was für Schmerzen müssen das erst sein, wenn sie mit einer Waffe zugefügt werden.« Als Lukas diese Worte hörte, fühlte er sich in der Zeit um einige Jahre vorausgesetzt. Diese Worte hätten vielleicht zu Raphael gepasst, nicht aber zu Ben. Schließlich war er erst elf Jahre alt. Ben hatte Recht, er war kein Kind mehr, schon gar nicht nachdem, was in den letzten Tagen passiert war. Doch das konnte nicht bedeuten, dass nun auch ihre Freundschaft vorbei war. Lukas musste einen Weg finden, wie er Ben davon überzeugen konnte, dass er nicht kämpfen wollte, um zu töten.

»Aber, Ben, genau um das zu verhindern, dass dich jemand verletzt, muss ich doch kämpfen oder du musst dich selbst verteidigen, wenn du es kannst.«

»Nein, ich will das nicht.«, schrie Ben und verschwand um die Ecke. Lukas biss sich auf die Zunge. Das waren anscheinend die falschen Worte gewesen, um ihn zu überzeugen. Lange konnte er das jedoch nicht bereuen, denn nur Sekundenbruchteile später, hörte er plötzlich einen gellenden Schrei und Benjamin kam wieder um die Ecke gestolpert. Lukas und die anderen sahen sofort, dass panische Angst in seinem Gesicht zu sehen war.

»Was ist...?«, setzte Lukas an, doch die Frage, die er stellen wollte, beantwortete sich von allein. Denn plötzlich tauchte eine dunkle Gestalt aus der Richtung auf, aus der Ben so eben gekommen war. Beinahe hätte auch Lukas einen Schrei ausgestoßen, doch dazu war er schon wieder zu erschrocken. Er erkannte schnell, dass es sich um einen Engel handelte, denn er hatte zwar seine Flügel nicht ausgebreitet, doch der Schwertgurt um seine Hüften reichte aus, um ihn als Engel zu verraten. Doch im Gegensatz zu den Engelen in den Büchern und den Geschichten, die Raphael erzählt hatte, trug dieser Engel keine weißen Sachen sondern dunkle. Lukas schauderte und plötzlich tauchte zwei Wörter in seinem Kopf auf: Alon und Torad. Er erinnerte sich daran, dass Raphael etwas von einem schwarzen Engel erzählt hatte, der in einem Gebiet namens Torad lebte und seit Jahren Angst und Schrecken, sowohl unter Engeln als auch unter Menschen, verbreitete. Lukas bekam Angst, furchtbare Angst, denn er war sich sicher, dass dieser Engel nicht gekommen war, um zu reden. Mutig trat Lukas einen Schritt nach vorne um Ben, Raphael und Tobias zu schützen, denn ein Ausweg schien für sie unmöglich. Der Engel wäre auf jeden Fall schnell genug gewesen, um mindestens einen von ihnen zu erwischen. Daher gab es nur eine Chance. Lukas musste jetzt kämpfen, ob er wollte oder nicht. Er musste Ben jetzt zeigen, dass er das, was er vor wenigen Minuten gesagt hatte, ernst meinte. Doch er wusste nicht, ob er bereit dazu war, denn er zitterte am ganzen Körper, nicht vor Kälte sondern vor Angst.

»Wer bist du?«, fragte er und versuchte dabei so gelassen wie möglich zu wirken. Doch das gelang ihm selbstverständlich nicht. Auf dem Gesicht des Engels erschien ein Grinsen, keine freundliches, das konnte Lukas selbst im fahlen Mondschein erkennen.

»Du willst wissen wer ich bin? Kannst du dir das nicht denken? Ich bin einer von Alons Dienern, mein Name ist Adonija. Und um dir weitere Fragen zu ersparen, kann ich dir auch gleich sagen, warum ich hier bin. Entweder nehme ich dich mit oder ich töte dich. Noch hast du die Wahl, im Kampf wirst du sie wohl nicht mehr haben.«

Durch Lukas‘ Kopf raste ein Strom von Gedanken, den er kaum bewältigen konnte. Er spürte wie Ben, Raphael und Tobias hinter ihm immer enger zusammenrückten. Auch sie hatten Angst, doch sie würden wohl niemals zulassen, dass Lukas von Adonija mitgenommen würde. Schon daher hatte Lukas keine Wahl. Er musste kämpfen, auch wenn er davon eigentlich keine Ahnung hatte.

Dennoch wollte er etwas Zeit schinden. Es würde seine Chancen zwar nicht verbessern, aber er hoffte in den nächsten Minuten zumindest ein wenig ruhiger werden zu können. Denn momentan wusste er nicht einmal, wie er sein Schwert überhaupt halten sollte.

»Ich gehe nicht davon aus, dass du meine Freunde am Leben lassen wirst, wenn ich freiwillig mitkomme.«

»Lukas!«, schrie Ben hinter ihm verzweifelt, doch Lukas wagte es nicht sich umzudrehen. Stattdessen blickte er in das Gesicht des schwarzen Engels, auf dem wieder ein böses Grinsen erschien.

»Richtig geraten. Sie haben mich gesehen, also müssen sie sterben, egal ob du gegen mich kämpfst oder nicht.«

»Und was glaubst du werde ich tun?«, fragte Lukas und ballte seine Hand noch fester um das Schwert.

»Soll das jetzt ein Ratespiel werden?«, murrte Adonija. »Aber ich weiß, dass du die drei Witzfiguren hinter dir nicht freiwillig im Stich lässt, auch wenn ich nicht weiß, was das für einen Sinn haben soll. Also lass‘ uns kämpfen.«

»Halt!«, rief Lukas. »Eines noch: Du greifst keinen der drei an, während wir kämpfen.«

»In Ordnung!«, lachte Adonija. »Aber nur, wenn sie sich nicht von der Stelle rühren, sonst sind sie tot.«

Lukas zuckte zusammen. Er hatte geahnt, dass Alon grausam war, aber das er fähig sein würde die Grausamkeit auch auf seine Gefolgsleute zu übertragen, daran hatte er nicht im Traum zu denken gewagt.

»Und jetzt haben wir genug geredet, lass‘ es uns endlich hinter uns bringen.«, schrie Adonija und zog sein Schwert. Lukas umklammerte seines noch fester und stieß sich vom Boden ab, denn in der Luft hatte er sich vorhin wohler gefühlt, als am Boden. Lukas stellte fest, dass er plötzlich ganz ruhig war, doch darüber konnte er sich nicht lange Gedanken machen. Schließlich hatte Adonija den Kampf eröffnet und nun wollte er auch keine Sekunde länger warten.

Der erste Angriff kam und Lukas wusste, wie er ihn zu parieren hatte. Doch obwohl seine Technik perfekt war, konnte er der Wucht des Schlages nichts entgegensetzen und wurde einige Meter durch die Luft gewirbelt. Erst kurz vor dem Erdboden konnte er sich wieder fangen.

»Sieh es ein, du hast keine Chance gegen mich. Ich gebe dir noch eine letzte Chance. Gib auf und ich verschone dein Leben.«, sagte Adonija und landete einige Meter entfernt von Lukas.

»Niemals!«, sagte Lukas. »Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich meine Freunde im Stich lasse.«

»Dann stirb!«

Adonija ging langsam auf Lukas zu, der jedoch keine Anstalten machte sich zu bewegen. Er wollte vor Adonija keine Schwäche zeigen. Wenn er schon sterben sollte, dann nicht, weil er Angst gehabt hatte. Langsam hob Lukas sein Schwert und sah Adonija tief in die kalten Augen.

»Noch ist dieser Kampf nicht vorbei, noch hast du nicht gewonnen.« Lukas kam es seltsam vor, dass diese Worte seinen Mund verließen. Nur wenige Minuten zuvor hatte er es nicht für möglich gehalten, doch genau das war es, was er dachte. Er wusste jetzt, dass er nur gewinnen konnte, wenn er auch selbst daran glaubte.

Diesmal stieg Lukas jedoch nicht in die Luft, um sich auf den nächsten Angriff von Adonija vorzubereiten, denn dort, konnte er diesem überhaupt nichts entgegensetzen. Daher blieb er auf dem Boden, denn so lief er wenigstens nicht Gefahr, wieder einige Meter tief zu fallen.

Wieder sah Lukas das Aufblitzen in Adonijas Augen, das einen Angriff andeutete und wieder wurde er von der Wucht und Präzision des Schlages nach hinten gedrängt. Lukas stemmte seine Füße in den Boden und versuchte Halt zu finden, doch das gefrorene Erdreich gestattete es ihm nicht.

Schließlich riss der schwarze Engel sein Schwert ohne Vorwarnung nach oben. Doch zum Glück war Lukas darauf eingestellt gewesen und fiel nicht, wie Adonija es erwartet hatte, nach vorne, sondern fand nun endlich festen Halt.

Wieder trafen sich die Blicke der beiden und Lukas erkannte, dass Adonija nun auf einen Angriff von ihm wartete. Doch dazu war Lukas nicht bereit. Verteidigen konnte er sich, aber wie er angreifen sollte, wusste er nicht. Adonija sah Lukas Zweifel und setzte erneut zum Schlag an, doch diesmal war Lukas schneller. Er duckte sich weg und während Adonija an ihm vorbei raste, streifte er seine Flügel. Zum Glück spürte er nichts, denn das, was er gespürt hätte, wäre sicherlich purer Hass gewesen. Doch Adonija hatte nicht so viel Glück. Er schrie vor Wut und Schmerz auf und sah Lukas nun noch finsterer an als zuvor. Lukas konnte den Hass nun förmlich in der Luft spüren.

»Das wirst du mir büßen.«

Wieder prasselte ein Hieb nach dem anderen auf Lukas ein, noch härter als zuvor, doch längst nicht mehr so präzise. Adonija war wütend und mit Wut konnte er anscheinend nicht umgehen. Lukas versuchte den Schlägen standzuhalten und dennoch wich er immer weiter zurück. Trotzdem hatte er die Lage nun einigermaßen unter Kontrolle, denn immerhin rutschte er nicht unkontrolliert über den gefrorenen Boden.

Die Schwerter der beiden schlugen immer wieder laut gegeneinander und während sich Lukas vorhin noch darüber Gedanken gemacht hatte, dass man ihn vom Dorf aus womöglich hören oder sehen könnte, plagten ihn nun ganz andere Dinge. Adonija schien noch kein bisschen seiner Kraft eingebüßt zu haben, doch Lukas war nicht trainiert. Er hatte nie zuvor gekämpft und langsam wurden seine Arme und Beine immer schwächer und auch die Kälte machte sich langsam bemerkbar, denn sein Mantel lag immer noch bei Raphael. Adonija hingegen schien weder die Kälte noch die Zeit etwas auszumachen. Er war hoch konzentriert und setzte nun jeden Schlag wieder sehr präzise. Lukas spürte, dass er ihn langsam an den Abhang trieb, auf dem er unmöglich noch Halt finden würde. Wenn er ihn dort haben würde, gäbe es kein Zurück mehr, das wäre sein Ende, doch Lukas hatte kaum noch Kraft Adonija irgendetwas entgegenzusetzen und so trieb er ihn Meter für Meter nach hinten. Doch irgendetwas musste er tun. Noch einmal brachte Lukas seine ganze Kraft auf und schaffte es so, den nächsten Schlag von Adonija abzuwehren ohne noch weiter nach hinten gedrängt zu werden. Nun musste er versuchen, sein Chance zu nutzen. Er versuchte die Hiebe so präzise wie möglich zu setzen und mit so viel Kraft wie er noch aufbringen konnte. Doch im Gegensatz zu Adonija war er schwach und das merkte er schnell. Denn Adonija hatte keine Mühe, Lukas Hieben etwas entgegenzusetzen, sondern schien die Zeit wohl eher zum Ausruhen zu nutzen, während Lukas immer schwächer wurde.

Irgendwann war jedoch Adonijas Geduld zu Ende und er sorgte schnell dafür Lukas zu zeigen, dass er der Stärkere war. Noch schneller als zuvor prasselten die Hiebe nun auf Lukas ein und Adonija trieb ihn mit einer Geschwindigkeit rückwärts, die ihn kaum noch den Boden unter den Füßen fühlen ließ. Doch plötzlich spürte Lukas einen kleinen Hubbel unter sich und ehe er sich darauf einstellen konnte, hatte er schon keinen Boden mehr unter den Füßen. Adonija schrie triumphierend auf. Lukas streckte verzweifelt das Schwert nach vorne, um den finalen Schlag doch noch abwehren zu können und plötzlich spürte er wie ein starker Ruck durch seinen ganz Körper ging, noch ehe er den Boden berührte. Sein ganzer Körper schmerzte.

Adonijas Schwert fiel krachend zu Boden. Als Lukas aufblicke, erkannte er, dass sein durch den Mond erhelltes Schwert in Adonijas Bauch steckte. Adonija taumelte orientierungslos nach hinten und versuchte verzweifelt das Schwert aus seinem Körper zu ziehen. Schließlich fiel auch dieses krachend zu Boden, doch nicht weil sich Adonija davon befreit hatte, sondern weil er einfach verschwunden war.

Lukas saß zitternd am Boden. Nun endlich spürte er wie kalt es wirklich war und von Sekunde zu Sekunde schien es kälter zu werden. Starr blickte er auf die Stelle, an der Adonija soeben noch gestanden hatte und langsam kamen die ersten Gedanken in Lukas Kopf zurück. Er hatte den Angreifer getötet. Doch freuen konnte er sich darüber nicht, denn nun hatte sich das bewahrheitet, was Ben ihm vorgeworfen hatte. Er hatte einen Engel getötet und in seinem tiefsten Inneren spürte er, dass es nicht der letzte sein würde.

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