zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Wie ein roher Diamant

Teil 2 - Lapislazuli

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Lapislazuli

Mein kotzender Mitbewohner trug sogar einen Namen.

Jan, Jan Schönfeldt.

Er war einer dieser Zeitgenossen, die von Mama und Papa Zucker in der Arsch geblasen bekamen, und in ihrem Leben niemals auch nur das Wort ‚Arbeit' in den Mund nahmen, geschweige den einer solchen nachgehen würden.

Er war so unbeständig wie ein potenter Kater, demnach versuchte er ebenso viele begattungswillige Männchen zu besteigen, als hinge sein Leben davon ab.

Seine Partnerschaften wechselte fast stündlich. Jeden Morgen konnte man damit rechnen, einem neuem Gesicht zu begegnen, das nach Alkohol stinkend und mit blutunterlaufenen Augen aus seinem Zimmer kam, sich dabei in kleinster Weise in diesen Punkten von Jans Gesicht unterschied. Außer das Jan meistens dazu noch kotzte. Er hatte wohl einen empfindlichen Magen.

Ich tippte eher auf Magengeschwüre.

Vincent trug demnach ebenso täglich einen besorgten Gesichtausdruck zur Schau, wenn er denn mal zu Hause war. Seit meinem bisher dreimonatigem Aufenthalt in dieser merkwürdigen WG, hatte ich herausgefunden das er sich als Fotograf einen Namen gemacht hatte und so für weltweite Shootings gebucht wurde. Manchmal blieb er tagelang unterwegs.

Ich sah es Steffen an. Er sagte nichts, aber ich konnte es ihm eindeutig anmerken. Er litt sehr unter der häufigen Trennung von Vincent. Sein eigener Beruf hinderte ihn daran, mitzureisen. So kam es häufig vor, das Steffen und ich uns die einsamen Abende zusammen vertrieben. Ob mit einem Film oder mit Essen gehen. Wir verstanden uns gut, ich wusste warum er mir von Anfang an so sympathisch gewesen war.

Während der Lift mich nach oben brachte, lehnte ich mit der Schulter neben der Tür und betrachtete Berlin nachdenklich. Diese Stadt konfrontierte mich mit jeder Sorte Mensch, besonders mit jenen, bei denen ich nicht wusste wie ich mich ihnen gegenüber verhalten sollte. Jan war einer dieser Menschen.

Ich betrat mein Zimmer, ließ den Rucksack fallen und seufzte auf.

Ich konnte Jan nicht ausstehen. Mit seiner Sunny-Boy-Erscheinung rief er allergische Reaktionen meinerseits hervor.

Es war nicht mal sein Aussehen. Er sah verdammt gut aus.

Ich mochte die kurzen blonden Haare, die er jeden tag zu kleinen kunstvollen Stacheln nach oben gelte. Die eisblauen Augen (insofern sie keinen glasigen Schleier hatten, der sie überzog) und das süße Kinnbärtchen. Die Piercings, rechte Augenbraue und Unterlippe, und das Tribal auf seinem Oberarm rundete das Bild ab. Er war einen Augenschmaus, das war kein Thema; nur leider wusste er das auch.

Aber Jan hatte eine Art; wahrscheinlich, eigentlich ziemlich wahrscheinlich, beruhte die Antipathie auf beiden Seiten; die es mir unmöglich machte, länger als zehn Minuten mit ihm in einem Raum zu bleiben, ohne den innerlichen Wunsch zu verspüren, ihm eine Flasche über den Schädel zu ziehen.

Wann immer Jan eine Chance sah mich zu piesacken, tat er das auch, und das mit vollster Genugtuung. Marquise de Sade hätte mit Sicherheit noch Inspirationen in Jans sadistisches Phantasien gefunden.

Er machte anzügliche Bemerkungen oder schikanierte mich manchmal regelrecht. Am Arbeitsplatz würde man so etwas Mobbing nennen.

Mir fiel der alberne Spruch meiner Mutter ein: Wenn Jungs ein Mädchen mögen, ärgern sie es.

War es das? War ich für Jan ein Mädchen?

Wobei ich mich schwerlich mit der Vorstellung anfreunden konnte, mich mit BH, geflochtenen Rattenschwänzen und PMS-Problemen zu sehen.

Ich ließ mich rücklings auf mein Bett fallen und starrte die Decke an, als wäre sie das Orakel von Delphi.

Ein dumpfer Schlag jenseits meiner Wand, riss mich aus meinen Gedanken. Ich ließ meinen Kopf zur Seite kippen aus der das Geräusch gekommen war. Was hätte ich dafür getan einen Röntgenblick zu besitzen. So hätte ich mich nicht erheben müssen, um nachzusehen was es war. Denn so faul und träge wie ich gerade war, war jede Bewegung überflüssig und mit einer Menge Willenskraft zu bewerkstelligen. Aber meine Neugierde pelzte mich hoch.

Ein erneuter dumpfer Schlag ertönte und führte mich geradewegs zu Jans Zimmer. Etwas unsicher stand ich vor seiner Tür, trat von einem Fuß auf den andern, sah mich nervös um, als ob mich jemand dabei beobachten könnte. Außer mir und dem Schluckspecht war ja keiner da.

Ich legte lauschend ein Ohr an das Türblatt. Bei meinem Glück erwischte ich Jan mit einem Typen, der ihn gerade ans Bett fesselte, züchtigte und dabei schmutzige Sachen sagte.

Mein Magen nahm mir diese allzu bildliche Vorstellung meiner Großhirnrinde ziemlich übel.

Nach dem zweiten dumpfen Schlag blieb Ruhe. Ich wollte mich zurückziehen, doch irgendetwas in mir zwang mich zu klopfen. Nach einer ausbleibenden Reaktion, abermaligem Klopfen und erneut fehlender Antwort; die auch ein unwilliges Brummen beinhaltete, die mich freundlich aber bestimmend des Platzes verwies; öffnete ich einfach.

Mir stockte der Atem, nur um einen Moment später mit den Worten: "Heilige Scheiße!" förmlich ausgespuckt zu werden.

Besagter Mitbewohner lag bewusstlos auf dem Boden, halb unter seiner Bettdecke begraben. Scheinbar war er, bei dem Versuch aufzustehen, eines besseren belehrt worden.

Augenscheinlich hatte er sich an seiner Decke festgekrallt, nachdem seine Beine ihm den Dienst versagt hatten (erstes ‚Bumm!') und der Rest seines Oberkörpers ihm nur wenig später gefolgt war (zweites ‚Bumm!').

Ich kniete mich neben ihn, und rollte Jan auf den Rücken. Mit leichten Klapsen auf seine Wangen versuchte ich Reaktion zu bekommen. Seine Lider flatterten und zwei Augen, die glasig und gerötet waren, sahen mich an. Im selben Moment wusste ich aber auch, das Jan mich dennoch nicht wahrnahm. Ich streckte mich so lang ich konnte, ohne Jan großartig herumzuschieben und zog schließlich das Telefon an der Strippe von seinem Nachttisch zu mir.

Jans Pupillen waren stark erweitert, aber reagierten nicht, weder auf Licht noch auf Schatten.

Ich wählte den Notruf, und gleichzeitig suchte ich in meinem Handy, welches mir JETZT in den Sinn kam, Steffens Nummer.


Das Telefonklingeln riss mich aus meinen Gedanken. Es wunderte mich nicht das Tom nebst Frau und Kindern absagten, nicht kommen konnten. Schnee, ein funktionierender Winterdienst und Sommerreifen passten einfach nicht zusammen. Er versprach morgen zu kommen.

"Kein Problem, ich richte es ihm aus.", versicherte ich ihm und legte auf, nachdem Tom sich abermals entschuldigt und ich mich verabschiedet hatte. "Kann nur sein das er morgen gar nicht mehr lebt...", wisperte ich verbittert und schloss meine Hand so fest um den Hörer, das meine Knöchel weiß hervortraten.

Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Konnte ich es ihm zum Vorwurf machen? Ich wusste wie schwer es ihm fiel, vorbeizukommen.

"Ich kann es nicht ertragen, ihn so dahinsiechen zu sehen.", hatte Tom mir einmal gesagt, nachdem der Tumor weitere Tochtergeschwüre gebildet hatte und nun begann sein Gehirn lahm zulegen, und es immer häufiger zu Aussetzern oder gar Anfällen kam.

Einmal war er auf dem Heimweg vom Supermarkt plötzlich auf der Straße zusammengebrochen und hatte einen Krampfanfall bekommen. Mir war vor Angst fast das Herz stehen geblieben, als er zuckend aus dem Asphalt lag und ich hilflos mit ansehen musste, wie sein Körper sich gegen ihn stellte.

Manchmal, wenn ich ihn ansehe, denke ich daran zurück. Diese Bilder haben sich in meinen Kopf gebrannt und lassen mich einfach nicht mehr los. Sie suchen mich heim. Sie sind meine bösen Geister die mich quälen und mürbe machen wollen.

An diesem Tag haben wir erfahren, das sich bereits Metastasen in seinem Kopf befanden und Bereiche beeinflussten, die unter anderem für die Motorik zuständig waren. Es war auch dieser Tag, an dem er sich für den Tod entschied. Seine Augen hatten diesen resignierten Blick gehabt, so leer und doch voller Entschlossenheit, als er mich angesehen hatte und mir mitteilte, das er eine weitere Chemo nicht in Erwägung zog.

Ich hatte versucht ihn umzustimmen. Aber hatte ich ein Recht dazu, ihm reinzureden? Ihm abzusprechen selbst zu entscheiden, wie er sterben wollte? Meine Pflicht bestand nur darin, ihm beizustehen. Und das tat ich, auch wenn es mir jeden weiteren Tag ein Stück meiner Seele raubte.

Es war nun mal nicht leicht den Tod direkt vor Augen zu haben, zu sehen wie jemand den man liebte sich Tag für Tag quälte nur um sich dessen sicher zu sein, das es ja doch keine Hoffnung gab. Jeden Morgen schlug ich die Augen auf und betete inständig, das er in der Nacht nicht von mir gegangen war.

Ich ging zurück zu Vincent und Steffen.

"Das war Tom. Sie können nicht kommen. Das totale Schneechaos.", meinte ich und setzte mich wieder. Man könnte denken Schnee und Winter waren Dinge, die die Menschen jedes Jahr aufs Neue überraschten, wie noch nie zuvor etwas da gewesenes.


Nachdem Jan im Krankenhaus versorgt worden, und wieder ansprechbar war, wurde ich Zeuge wie Steffen ihn runderneuerte. Allerdings fühlte ich mich ziemlich deplaziert. Ich stand zwischen Jans Bett und Steffen. Meine Augen klebten gebannt an Steffens Lippen, der nicht einmal Luft holte zwischen den einzelnen Tiraden.

Es war das erste Mal, das ich Steffen in Berufsbekleidung sah. Er war direkt nach meinem Anruf, vom Revier ins Krankenhaus gekommen. Grün stand ihm hervorragend. Ich fragte mich gerade, ob das einer der Punkte war, worauf Vincent bei ihm abfuhr. ‚Legt mir die Handschellen an, Herr Wachtmeister, ich war ungezogen.'

Ich spürte wie meine Ohren rot anliefen und förmlich glühten. Ich schlug beschämt die Augen nieder. Einerseits war es mir peinlich so etwas zu denken, nicht das es nicht erregend war, Steffen und Handschellen in einem Atemzug zu nennen; mich persönlich störte nur Vincent dabei, aber andererseits war Jan kurz davor gewesen, von unten dem Gras beim wachsen zuzusehen. Kein geeigneter Moment um vor lauter Tagträumerei einen Ständer zu bekommen.

Ich gab mir im Geiste zwei Ohrfeigen um mich wieder auf die Gegenwart in diesem Zimmer zu konzentrieren.

Wahrscheinlich war ich wirklich zu naiv. Ich hatte die ganze Zeit gedacht, Jan würde sich im Dauersuff durchs Leben schleppen. Aber das er es mit Dauersuff und Drogen tat, überraschte mich wirklich.

Langsam regelte ich die Lautstärke der Akustik nach oben, so dass ich keinen plötzlichen Hörsturz bekam, von Steffens tiefer Stimme die wie der Zorn der Walküren über Jan hereinbrach.

"Mein Gott Jan, wenn Vincent das erfährt, kriegt er einen Herzinfarkt. Ich hoffe für dich das du das Zeug nicht auch noch selber verklingelst!" Jan ließ es bisher schweigsam, aber genervt über sich ergehen, er kam auch nicht wirklich gegen diesen ununterbrochnen Redefluss an.

"Geh mir nicht auf die Eier...", ein erster zaghafter Versuch, des Angeklagten, das Plädoyer des Staatsanwaltes zu unterbrechen.

"Verdammt! Fang endlich mal an zu denken. Was glaubst du eigentlich was du tust?"

"Mein Leben genießen! Außerdem haben die mir das Zeug in den Drink gemixt!", antwortet Jan patzig. Dass das nur minimal der Wahrheit entsprach, wussten wir alle drei wohl ganz genau.

Steffens Nasenflügel blähten sich gefährlich. "Hör mir mal gut zu. Wenn du dich nicht bald zusammenreißt, bring ich dich in den Knast!"

"Soll das eine Drohung sein?" Jan starrte Steffen an, wie eine Viper die jeden Moment zubeißen würde.

Steffen zeigte sich unbeeindruckt. Er beugte sich wagemutig vor, immun gegen das Gift und starrte zurück. "Nein, ein Versprechen!"

Beide starrten sich an, das man meinte die Spannung zwischen beiden würde sich als Blitze entladen. Schließlich war es Jan der sich abwandte und nun die Taktik des Ignorierens zu verfolgen.

Steffen schnaufte. "Du bleibst die nächsten drei Tage zur Beobachtung hier." Damit war für ihn das Gespräch beendet und er verließ wütend das Zimmer.

Ich stand noch immer an meinem Fleck wie angewurzelt, so als würde ich von Grund her zu diesem Zimmer dazugehören, und versuchte mich zu einer Reaktion vorzuarbeiten.

Allerdings kam mir Jan zuvor. "Und was willst du noch hier?", verspritzte die Viper ihr unverbrauchtes Gift.

Ich zuckte überrascht zusammen und wollte mich schon rein aus Reflex entschuldigen, als sich mir mein Trotz in den Weg schob. Stattdessen zog ich die Brauen zusammen. "Hör mal, was kann ich denn dafür, wenn du kollabierend aus dem Bett fällst!?", brummte ich ihn an.

Jan schnaufte und wandte den Blick ab. Er spielte andächtig mit der Kanüle in seinem Handrücken, zupfte an dem Pflaster.

Nachdem zwanzig Sekunden quälendes Schweigen in der Luft lagen, ergriff ich das Wort. "Ich bring dir ein paar Sachen wenn du willst, für die drei Tage. Tschau...", legte ich kurz und bündig fest.

Ich setzte mich, etwas steif, in Bewegung, hatte aber ein zustimmendes Kopfnicken erhalten.

Gerade als ich die Tür öffnete um hinauszugehen, hörte ich das leise „Danke.“ hinter mir. Ich drehte mich nicht um, nickte nur kurz und schloss, tief Luft holend, die Tür hinter mir.

Mein Blick glitt zu Steffen, der im Gang auf mich wartete und mich dann nach Hause fuhr.

Seit diesem Tag änderte sich die Art der Beziehung zwischen mir und Jan. Er wurde zu einem Stalker. Jan erledigte meinen Wirtschaftsdienst, meist ganz zufällig wenn ich gerade dabei war und er ganz höflich fragte, ob er mir helfen solle. Er ging für mich mit einkaufen und holte mich von der Uni ab. Als er mir das erste Mal auf dem Campus aufgelauert hatte, war ich einfach nur geschockt gewesen, beim zweiten mal wurde es schon nervend, beim dritten war es mir egal und beim vierten explodierte ich.

"Sag mal, was bezweckst du eigentlich damit, mir ständig aufzulauern?", fragte ich knurrend und zog den Träger meines Rucksacks fester zu mir, während ich zur S-Bahnstation stampfte.

Jan wirkte merklich amüsiert. "Ich wollte dich nur nach Hause begleiten."

"Aha."

"Nervt es dich so sehr?" Er versuchte gar nicht mit mir Schritt zu halten, sondern spazierte gemütlich hinter mir her.

Ich blieb stehen und wandte mich um. Ich fragte mich, woher Jan so genau meinen Stundenplan kannte, wann welche Vorlesung zu Ende war. Ich traute ihm vieles zu, aber das er in meinem Zimmer herumschnüffelte nicht...zumindest gab es bisher keine Anzeichen dafür. Und vor allem warum zum Teufel sollte er das auch tun?

"Es nervt mich, dass ich nicht weiß, was du von mir willst! Die ganze Zeit hast du mich nur getriezt, und jetzt plötzlich bist du so...freundlich."

Ich sprach das Wort sehr vorsichtig aus. Denn freundlich war keineswegs das passende Wort um sein momentanes Verhalten zu erklären. Da traf Psychoterror eher zu.

Ich meinte Verlegenheit bei ihm ausmachen zu können, es konnte sich aber auch nur um eine verzweifelte Halluzination meinerseits gehandelt haben, um mich daran zu klammern, das Jan doch irgendwie menschlich war, mit diesem Perlweiß-Lächeln auf den Lippen.

"Ich...wollte mich nur bei dir bedanken...irgendwie." Er zuckte die Schultern und stopfte die Hände in seine Jackentasche. Ein kühler Novemberwind wehte mir um die Nase und ließ sie rot werden, ich zog die Schultern hoch, da ich heut morgen meinen Schal vergessen hatte und es nun empfindlich in meine Jacke zog. Der Wind schlängelte sich durch sämtliche Kleidungsschichten, bis auf nackte Haut, wo sich sofort eine Gänsehaut errichtete, die mir bis in die Fußzehen kroch. Ich vermeinte, sogar einen eisige Luftzirkulation in meiner Unterhose ausmachen zu können.

"Bedanken...und wofür?", fragte ich ehrlich irritiert.

"Naja...wegen der Sache im Krankenhaus." Jan wirkte ebenfalls irritiert und schraubte die Brauen hoch. "Du erinnerst dich doch noch daran, oder nicht?"

Ich schlug mir mit der Hand vor die Stirn. "Achso, das meinst du...war doch kein Problem.", winkte ich ab und hoffte das sich damit Jans Verfolgungswahn erledigt hatte.

Leider wurde ich bitter enttäuscht. Bereits am nächsten Tag, stand er wieder am Tor und grinste mich an. Ich stöhnte auf und wurde neugierig von einer Mitstudentin gemustert. "Alles okay, Alexander?", fragte Katja und sah von unten zu mir auf. Sie maß mir gerade mal bis zur Schulter. Sie war zwar klein aber auch quirlig und aufgedreht. Damit glich sie ihre fehlende Körperlänge aus und wurde definitiv nicht übersehen, wobei überhört bei ihr eher zutraf.

Ich nickte schwerfällig. "Ja, alles okay..." Meine Augen wurden zu schmalen Schlitzen, als ich in Jans Richtung blickte. Er winkte mir lächelnd, als wäre es das normalste der Welt, das er mich terrorisierte.

Ich lag mit meiner Vermutung wohl sehr richtig. Stufe Zwei seines perfiden Planes, mich in den Wahnsinn zu treiben, war in Kraft getreten. Nachdem ich das Abi hinter mir hatte, hatte ich gehofft die Jahre der Erniedrigung, in der das Wort ‚Perfektes Opfer' auf meiner Stirn tätowiert gewesen war, seien vorbei. Doch es war nur eine Lüge gewesen. Mit einer größeren Stadt, einem neuen Ziel, war ein ebenso größerer und weitaus sadistischerer Peiniger in mein Leben getreten, der mir für weitere vier Jahre das Leben zur Hölle machen würde.

"Huh, wer ist denn das?" Ich hörte das aufkommende Kieksen in ihrer Stimme, als sie die Wurzel meines persönlichen Übels entdeckt hatte und rollte die Augen. Gut, sollte Katja Jan ruhig anbaggern, sie würde sich ja sowieso die Zähne ausbeißen.

"Einer meiner Mitbewohner.", erklärte ich kurz und sah sie nur noch von hinten, als sie schon voraus eilte und begann ihm ein Gespräch ans Knie zu basteln.

Meine Genugtuung wich irgendwie Verärgerung, als Jan mehr geschmeichelt als genervt aussah, und dann sogar noch damit begann, mit ihr zu flirten. Ich beobachtete die beiden ein Weile, bis mir vor Zorn fast der Rauch aus den Ohren trat und drehte mich auf dem Absatz um zur S-Bahn zu gehen. Was sollte das? Jan war gekommen um mich abzuholen. MICH! Und wie kam er dazu mit einem Mädchen zu flirten, wo er für Frauen nicht mal eine Bohne übrig hatte und mich nicht mal eines Blickes zu würdigen!? Ich ballte die Fäuste. In diesem Moment kam ich nicht mal auf die Idee zu hinterfragen, weshalb ich plötzlich so wütend war. Oder eher: eifersüchtig.

Es war der absurdeste Gedanke den ich jemals hatte. Nur gut das ich zu wütend war um daran zu denken, sonst hätte ich auf dem Bahnsteig laut aufgelacht.

"Warum bist du so plötzlich abgehauen?", fragte Jan etwas atemlos an meinem Ohr, als er hinter mich trat.

Ich kochte vor Wut, so dass ich nicht einmal erschrocken war, dass er so plötzlich wie ein Pilz aus dem Boden schoss. Oder hatte einfach nicht bemerkt das er mir gefolgt war.

"Weil ich meine S-Bahn noch erwischen wollte!", antwortete ich patzig, und gab mir im Geiste hundert Ohrfeigen. Jetzt goss ich auch noch Öl ins Feuer und lieferte Jan weiteres Kanonenfutter.

Auf seinen verwirrten Gesichtsausdruck schlich sich ein breites Grinsen, ich hörte es förmlich heraus. "Du stehst auf mich!"

"Tu ich nicht!", antwortete ich mit Nachdruck, ohne ihn überhaupt einmal angesehen zu haben. Ich befürchtete ihn mit dem Kopf gegen das Haltestellenschild zu schlagen, sollte mich das Colgate-Grinsen noch einmal versuchen zu blenden.

"Mir fehlen die Glatze und die grünen Augen, hm?"

Ich errötete prompt. Doch diesmal nicht vor Wut, sondern vor Verlegenheit. Wie kam es nur, das Jan eine Schwachstelle nach der anderen bei mir fand, um genüsslich darin herumzubohren; während ich an ihm abrutschte, wie ein Dreckklumpen auf einem Lotusblatt. Mir blieb wie immer nur die Defensive.

"Was quatscht du da zusammen?", brummte ich und hoffte das er es nur vermutete, und nicht wirklich wusste.

"Kleiner, ich bin nicht blind ja...ich seh’ doch wie deine Hormone aufjaulen bei Steffens Anblick."

Hörte ich da gerade so etwas wie Schadenfreude heraus?

"Du hast doch nen Knall..."

"Jaja, ich weiß was ich weiß..." Jan prallte plötzlich gegen mich, als sich hinter ihm eine Gruppe Schulkinder vorbeidrängelte. Mich umnebelte eine Wolke ‚Wild Wind' und ich schloss die Augen halb, während ich diesen Duft tief einsog. Ich mochte dieses Parfüm.

Ich wurde grausam aus meiner Träumerei gerissen, als sich Jans Finger an Stellen befand, wo sie eindeutig nicht hingehörten.

Mir kroch wider Willen ein angenehmer Schauer über den Rücken, dass sich mir die Nackenhaare stellten, als seine Fingerspitzen über meine Halsbeuge strichen. Dieser Schauer wurde jäh unterbrochen, da seine andere Hand sich in verbotenes Gebiet vortastete und die Nähte meiner Arschtaschen untersuchte. Einen Tritt gegen das Schienbein war die Quittung.

"Nimm deine Pfoten weg, oder sie sind weg!", knurrte ich und trat einen Schritt zur Seite. Ich sah ihn wieder an, und dieser kleine Sieg war wie Balsam für meine Seele.

Jan rieb sich das schmerzende Schienbein; ich hatte auch fest genug zugetreten; und brummte leise.

Wir legte zwar den Weg zu unserer Wohnung gemeinsam zurück, aber Jan schwieg beharrlich. Scheinbar hatte ich sein Ego angekratzt, und meine Genugtuung wich einem schlechtem Gewissen. Immer wieder warf ich ihm verstohlene Blicke aus dem Augenwinkel zu und knetet meinen Rucksackträger. Nachdenklich saugte ich an der Innenseite meiner Wange und blickte starr auf den Asphalt. Sollte ich mich entschuldigen? Warum eigentlich? Schließlich war er mir unerlaubt und ziemlich aufdringlich an die Wäsche gegangen.

Ein weiterer Blick auf Jan.

Er lief, die Hände in den Jackentaschen vergraben, stumm neben mir her und sah irgendwie geknickt aus. Ich seufzte auf und öffnete den Mund um etwas zu sagen, als Jan plötzlich abbog und mich einfach allein ließ. Überrascht blieb ich stehen und starrte ihm mit noch immer offenem Mund nach. Was sollte denn das jetzt?

Mein schlechtes Gewissen wurde wieder von Ärger verdrängt, und ich ballte erneut die Fäuste.

"Eingebildeter Idiot!", schnaubte ich und stampfte die letzten hundert Meter, wie ein wütender Stier, nach Hause.

Wie immer war ich allein, und knallte meine Zimmertür mit aller Kraft zu, warf mich im selben Atemzug mich auf mein Bett. Ich prügelte auf mein Kissen ein, in dem ich; einem Erstickungsversuch gleich; mein Gesicht hineinpresste und aus Leibeskräften schrie: "Ich hasse ihn!"

Lesemodus deaktivieren (?)