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Meines Bruders Hüter

Teil 1 - Spiegelbild

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Schon seit einer Viertelstunde stand Kane vor der Wohnungstür seines Bruders. Er hatte es gerade mal geschafft, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Aber er konnte sich einfach nicht dazu durchringen, die Tür zu öffnen.

Wovor er genau Angst hatte, wusste er selbst nicht.

Er spürte die neugierigen und auch misstrauischen Blicke im Rücken. Schon als er die Treppe heraufgekommen war, hatte ihn eine alte Frau skeptisch gemustert und dann ihre Tür verriegelt. Er hatte die Kette hören können, wie sie ins Schloss glitt.

Wenn er nicht provozieren wollte, dass die paranoide Nachbarn die Polizei rief, sollte er jetzt den Schlüssel drehen.

Die Sonne blendete ihn, als er eintrat. Sie stand tief am Horizont und spiegelte sich in einem Fenster des gegenüberliegenden Hauses.

Kane ging ein paar Schritte und sah sich um. Alles wirkte so, als würde Abel jeden Moment zurückkommen.

Aber das würde er nicht tun.

Kane hatte es mit eigenen Augen gesehen. Er würde das Bild wohl nie mehr aus dem Kopf bekommen. In der Laufbahn seiner Karriere bei der Polizei hatte er schon mehrere Leichen auf dem Tisch der Gerichtsmedizin gesehen. Aber nie war ein Familienmitglied darunter gewesen.

Bis heute.

Abels Wohnung war chaotisch. Nicht so wie seine. Kane mochte klare Strukturen. Keinen unnötigen Schnickschnack und Staubfänger.

Doch hier befanden sich auf jeder Ablage Unmengen Kram. Sogar die Pizzaschachtel vom Vorabend lag noch auf dem Couchtisch.

Kane musste lächeln.

Er dachte an die Zeit zurück, als er noch auf ihn aufpassen musste. Nach dem frühen Tod der Eltern waren sie zwar bei der Schwester der Mutter aufgewachsen, doch hatte Kane sich um seinen kleinen Bruder gekümmert.

Mit den Fingerspitzen strich er über den Einband des Romans, der angelesen auf dem Beistelltischchen lag, das neben dem Sofa stand.

'Maskerade'

Kane setzte sich auf die Couch, griff nach dem Bändchen des Lesezeichens, das unterhalb des Buches heraushing, und öffnete den Roman.

'Kapitel 7 – Offenbarung'

Interessiert bemerkte Kane, dass es einige unterstrichene Stellen auf der Seite gab und kleine Bemerkungen am Rand. Abkürzungen, die für ihn keinen Sinn ergaben.

Abel hatte sich schon immer für die musischen Künste interessiert. Literatur, Musik, Kunst.

Alles Dinge, mit denen Kane gar nichts anfangen konnte. Er las gern die kleinen Comics in der Morgenzeitung und hörte im Radio die Charts auf dem Oldiesender. Alles andere war für ihn unverdauliche Kost.

Wahrscheinlich auch ein Grund, warum er bei der Polizei gelandet war und sein Bruder ein Kunststudium begonnen hatte.

Sie waren in ihrem Wesen grundverschieden gewesen. Im Aussehen kamen beide nach dem Vater. Nur die Augen, die hatte Abel von ihrer Mutter gehabt. Grasgrün und leicht schräg gestellt.

Inzwischen war nur noch Kane übrig.

Das Geräusch des Türschlosses riss ihn aus seinen Gedanken.

Kane erhob sich, das Buch auf der Couch abgelegt und seine Hand legte sich auf seine Waffe, um sie im Zweifelsfall sofort ziehen zu können.

Der Fremde blieb im Türrahmen stehen, als wäre er vor eine Wand gelaufen.

"Was tun Sie hier?", fragte er scharf.

Kane richtete sich zu voller Größe auf. "Richtige Frage, falsche Person", antwortete er. "Wer sind Sie?"

Der Eindringling betätigte den Lichtschalter neben der Tür und nach dem Bruchteil einer Sekunde erhellte sich der Vorraum der Wohnung.

Hochgewachsen, mit kurzen braunen Haaren und moccafarbenen Augen stand ein junger Mann vor Kane, der ihn skeptisch musterte.

"Oh", sagte er schließlich und kam langsam näher.

"Das ist keine Antwort auf meine Frage", merkte Kane gereizt an.

"Du musst Kane sein", stellte sein Gegenüber fest. "Ich bin David, Abels Freund." Er streckte Kane die Hand hin und lächelte freundlich.

Kane kniff misstrauisch die Augen zusammen, doch schlug dann ein.

"Ich kenne dich von Fotos. Abel hat sehr viel von dir erzählt", gab David bereitwillig Auskunft.

Im Licht und von Nahem betrachtet waren Davids Augen leicht gerötet. Sogar eine getrocknete Tränenspur war noch an seiner linken Schläfe zu sehen, die über seine Wange führte.

Kane zog seine Hand recht schnell zurück und nickte.

"Ja, ich bin wegen der Identifizierung hier, ... und dem Rest." Er fuhr sich aufgelöst mit einer Hand durch das Haar. Etwas ratlos sah er sich in der Wohnung um. Es war lange her, dass er das letzte Mal hier gewesen war.

Genaugenommen drei Jahre.

Abel hatte immer ihn besucht. Cincinnati hatte ihm nicht das geboten, was er wollte. Deshalb war Abel weggegangen.

Hätte er es nur nie zugelassen.

"Kann ich helfen?", fragte David nach und brachte sich damit wieder in Erinnerung. Kane hatte ihn schon wieder vergessen.

Er überlegte einen Moment. "Ja", murmelte er dann. Die Beerdigung musste geplant werden.

"Soll ich einen Kaffee machen?", fragte David und musterte Kane besorgt. Kane wirkte nach außen hin ruhig, doch er war blass und in seinen Augen spiegelte sich die Hilflosigkeit, die er fühlte. Er sah sich plötzlich einer unüberwindbaren Aufgabe gegenüber.

"Ein Bier wäre mir lieber", meinte Kane allerdings und setzte sich wieder. David lächelte nur und ging in die Küche. Wie selbstverständlich bediente er sich in den Schränken und bald schon hing der aromatische Duft von frisch gebrühtem Kaffee in der Luft.

Kane beobachtete David, der mit traumwandlerischer Sicherheit ein Tablett herrichtete. Jeder Griff saß, wusste genau, wohin er fassen musste.

"Ihr ward anscheinend sehr gut befreundet", merkte Kane schließlich an, als David zur Couch zurückkam und ihm eine Tasse überreichte.

"Wir haben uns am College kennengelernt. Wir waren im selben Kurs", erzählte David bereitwillig und versenkte zwei Stück Würfelzucker in seiner Tasse.

"Er hat dich nie erwähnt." Kane konnte nicht aus seiner Haut. Er fand die Situation gerade merkwürdig.

"So? Wahrscheinlich gab es nichts über mich zu erzählen." David lächelte erneut. Nichtssagend.

Kane wollte es ihm am liebsten aus dem Gesicht prügeln. Eine unerklärliche Wut überkam ihn und er stellte die Tasse ab, bevor er sich den heißen Kaffee über die Hand schüttete.

"Was wolltest du hier?"

David schien sich von dem regelrechten Verhör nicht beeindrucken zu lassen.

"Ich wusste nicht, ob man dich schon erreicht hat, und wollte nach deiner Nummer suchen." Kane konnte nicht feststellen, ob David log oder nicht. Dafür hatte dieser seine Mimik viel zu sehr im Griff.

Nicht wie Abel. Sein kleiner Bruder hatte immer alles in seinem Gesicht offen zur Schau getragen. Als würden seine Gedanken in Leuchtschrift, einem Banner gleich, über seine Stirn laufen. Abel war nie gut im Verheimlichen von Dingen gewesen. Eine Tatsache, die er gehasst hatte, da Kane sie oft genug ausgenutzt hatte, um empfindlich nachzubohren.

"Wo wohnst du zurzeit?" David rührte in gleichbleibender Geschwindigkeit in seiner Tasse und bedachte Kane mit einem offenen Blick.

"Eine kleine Pension, ganz in der Nähe."

David stellte die Tasse ohne einen Schluck getrunken zu haben wieder zurück.

"Abel wird in Cincinnati beerdigt", meinte Kane plötzlich, mit dem Gefühl, sich erklären zu müssen.

David nickte jedoch nur. "Dachte ich mir schon. Er hat mir von dem Familiengrab erzählt." Nach einer kleinen Pause, in der er Kane mitfühlend gemusterte hatte, sagte er: "Das muss sehr hart für dich sein."

Kane hob die Schultern. "Jetzt bin nur noch ich übrig. Die Chancen auf die Fortführung des Clans stehen denkbar ungünstig", scherzte er. Wenn Kane eines besaß, dann eine Menge Galgenhumor.

David lächelte wieder.

Kane wusste nicht recht, wie er den Mann vor sich einschätzen sollte. Er musste etwa dasselbe Alter besitzen, wie sein Bruder und war damit fast acht Jahre jünger, als er selbst. Und doch strahlte David eine Souveränität aus, die ihn älter wirken ließ.

Kein Wunder, dass Abel mit ihm befreundet gewesen war. Obwohl Kane ihn fast schon unheimlich fand, ging von David eine Ruhe aus, die er gerade sehr gut gebrauchen konnte.

"Wenn du nichts dagegen hast, würde ich die Trauerkarten verschicken. Ich nehme an, du wirst kaum einen von Abels Freunden kennen."

Kane schwieg. Mit einem einzigen Satz hatte David ihn erneut in den Abgrund gestürzt, aus dem er gerade mühsam herausgeklettert war.

Eine winzige Bemerkung, die mehr Wahrheit enthielt, als ihm lieb war.

Ein Blick auf die gegenüberliegende Wand reichte aus, um festzustellen, dass Kane seinen Bruder kaum gekannt hatte. Nicht so gut, wie er es vielleicht hätte tun sollen.

Ein Ölgemälde auf Leinwand hing direkt über dem Fernseher. Es war in verschiedenen Blautönen gezeichnet. Man konnte die beiden verschlungenen Körper nur erahnen.

David folgte Kanes Blick, der wie festgefroren schien. "Eines von Abels Werken", erklärte er.

"Abel hat gemalt?", fragte Kane verblüfft.

"Oh ja. Er hat sogar ein eigenes Atelier."

Kane verschlug es die Sprache. "Wo?"

David lächelte wieder. Er erhob sich und zog eine Schublade aus der Kommode im Flur. Dort holte er einen Schlüsselbund hervor. "Komm mit, ich zeige es dir."

Kane wollte erst ablehnen, aber die Neugier war stärker. Immer mehr drängte sich ihm die Frage auf: Wer war sein Bruder wirklich gewesen?

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