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Der verlorene Sohn

Teil 8 - Luca

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Endlich ist es geschafft, ich habe die Geschichte, die schon so viele Jahre in meinem Kopf herumgespukt hat, beendet. Es fühlt sich gut und befreiend an, mit diesem Teil meiner Vergangenheit jetzt endlich abschließen zu können und nach vorne zu blicken. Erstmal möchte ich mich natürlich, mal wieder:-), für die lange Wartezeit entschuldigen, aber es war mir wichtig, dass der letzte Teil auch wirklich gut wird. So jetzt genug geschwafelt: Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen und bitte euch auch diesmal, mich mit eurer Kritik nicht zu verschonen:-)

Gruß LucaG

 

15 Minuten später war ich am vereinbarten Treffpunkt am See angekommen. Hmh, von den anderen noch keine Spur, aber ich war auch etwas zu früh dran, die würden schon noch kommen, sagte ich mir. Ich hoffte nur, dass sich Finn und die anderen an unsere Vereinbarung gehalten haben und meinen Eltern auch wirklich nichts über dieses Treffen erzählt hatten. Zu groß war meine Angst - speziell meinem Vater - quasi ohne Schutz und Rückzugsmöglichkeit zu begegnen. Ich konnte mich auf meine Freunde immer verlassen - aber war das wirklich immer noch der Fall? Ich hoffte es inständig. Nach anstrengenden Minuten des Grübelns sah ich die 3 dann auch schon mit ihren Fahrrädern auf mich zufahren. Von meinen Eltern war zum Glück nicht zu sehen, also schienen meine Freunde Wort gehalten zu haben. Jetzt wurde ich doch ein bisschen aufgeregt, denn ich war gespannt wie meine Freunde, also Finn und Lea, Rahel wusste ja bereits Bescheid, auf mein Geständnis reagieren würden. Aber egal wie auch immer sie reagieren würden, ich war entschlossen von nun an mit offenen Karten zu spielen. Finn, Rahel und Lea stellten ihre Fahrräder ab und kamen auf mich zu gelaufen.

Als erste erreichte mich Rahel, die mich auch gleich herzlich umarmte und mir dann noch ins Ohr flüsterte:

“Schön dich zu sehen Luca. He das wird schon, ich bin ja auch noch da.”

Ich nickte ihr dankbar zu.

Lea war die nächste die mich in ihre Arme schloss.

“Da bist du ja endlich, wir haben uns schon solche Sorgen gemacht. Geht es dir gut?”

“Ja Lea, mir geht es gut.”

Als letzter war Finn an der Reihe, er zögerte kurz und für einen Moment standen wir beide uns schweigend gegenüber, ehe er mich stürmisch umarmte.

“Man Alter, was ist denn bloß passiert. Seit Tagen versuche ich dich schon erfolglos zu erreichen, selbst deine Eltern haben keine Ahnung wo du steckst. Ich habe mir echt schon Sorgen gemacht.”

“Ja ich weiß, dass tut mir auch echt leid, dass ich mich nicht bei euch gemeldet habe, aber es ist soviel passiert die letzten Tage. Ich habe einfach Zeit zum Nachdenken gebraucht, verstehst du?”

“Nein, ich verstehe gar nichts. Was zum Teufel ist denn bloß passiert?”

“He, ich erzähle euch ja alles, deswegen habe ich euch doch hierhin bestellt. Meine Mutter war vor ein paar Tagen der Meinung, dass es an der Zeit wäre, Daniels Sachen wegzuräumen, ich wollte ihr meine Hilfe anbieten, aber sie bestand darauf es alleine zu machen, sie meinte es würde ihr bestimmt in der Trauerverarbeitung helfen. Sie wollte gleich loslegen, nachdem ich zur Schule gegangen bin. Als ich dann von der Schule nach Hause kam, fand ich sie weinend auf den Fußboden in Daniels Zimmer vor, umgeben von seinen Sachen. Sie meinte, dass sie es einfach nicht schaffe, Daniels Sachen in den Keller zu räumen, also bot ich ihr nochmals an diese Aufgabe an ihrer Stelle zu übernehmen.”

Ich ließ bei meiner Erzählung bewusst Rahel weg, damit sie nicht vor unseren Freunden in Erklärungsnöte kommen würde, wieso sie die ganze Zeit denn nichts gesagt hätte, obwohl sie doch genau wusste was mit mir los ist.

“Naja, als ich Daniels Sachen dann so durchging, fiel mir eine alte Kinderzeichnung von ihm in die Hände, die uns beide zeigte wie wir uns an den Händen hielten und unseren Eltern gegenüber standen, als die uns wieder einmal ausschimpften. Ich musste daran denken, dass wir immer wie Pech und Schwefel vor unseren Eltern zusammengehalten hatten und mir fiel etwas ein, was ich bereits total vergessen hatte: Daniel und ich hatten als Kinder immer ein Geheimversteck unter einer losen Holzdiele unter Daniels Bett. Dort versteckten wir lauter Dinge, die wir vor unseren Eltern geheim halten wollten, wie z.B. CD’s, Zeitschriften, Süßigkeiten und so ein Kram. Ich machte mich also an der alten Holzdiele zu schaffen und fand tatsächlich wonach ich schon so lange verzweifelt gesucht hatte - Daniels Tagebuch.”

“Das ist ja krass und was steht drin”, wollte Finn wissen.

Also gab ich den dreien eine Zusammenfassung der wichtigsten Stellen im Tagebuch. Als ich meinen Bericht beendet hatte, sah ich in 2 fassungslose Gesichter, Rahel war ja bereits im Bilde.

“Scheiße, du willst also sagen, dass Daniel und Max eine Homobeziehung hatten und sogar zusammen nach Berlin abhauen wollten”, meinte Finn entsetzt.

“Ja genau so war es, aber ihre Eltern haben sie gezwungen, die Beziehung zu beenden und dadurch wurde Daniel so unglücklich, dass er letzten Endes keinen anderen Ausweg sah und sich das Leben nahm.”

“Oh man Luca, das ist ja schrecklich. Das tut mir so leid für dich”, sagte Rahel.

“Ihr versteht hoffentlich, dass ich keine Minute länger bei meinen Eltern bleiben konnte, da ich sie hauptsächlich für Daniels Tod verantwortlich mache.”

“Apropos Max, was ist eigentlich mit ihm? Als ich seine Eltern nach ihm gefragt habe, waren sie so komisch und wollten nicht wirklich mit der Sprache herausrücken”, wollte Finn auf einmal wissen.

“Ich habe ihm Daniels Tagebuch zu lesen gegeben. Er hat es nicht gut verkraftet und sich die Schuld an seinem Tod gegeben. Er stellte sich gestern Abend auf die Gleise unter der Brücke am Hauptbahnhof und wollte sich vom Zug überrollen lassen. Ich konnte zum Glück in letzter Sekunde das Schlimmste verhindern. Er ist jetzt in einer psychiatrischen Klinik, da er nach Ansicht der Ärzte noch immer suizidgefährdet ist.”

“Oh mein Gott, das ist ja furchtbar. Geht es ihm gut?”

“Ja Rahel, körperlich hat er außer ein paar Schürfwunden nichts davon getragen, aber seelisch sieht es leider anders aus.”

“Scheiße! Was geht den plötzlich hier ab, erst Daniel und dann wollte sich auch noch Max umbringen”, entfuhr es Finn.

“Ja so ist es leider.”

“Ok, dass du weg von deinen Eltern wolltest, kann ich ja noch verstehen, aber wieso bist du dann nicht zu mir gekommen, ich wäre doch für dich da gewesen und überhaupt wo wohnst du jetzt eigentlich?”

“Das ist nicht so einfach Finn. Es gibt da noch eine Sache, von der ich euch noch nichts erzählt habe.”

“Dann spuck’s endlich aus, heute schockt mich gar nichts mehr”, meinte Finn.

“Bei der Sache geht es um Jonas. Er ist doch damals auf dem Kongress plötzlich überstürzt abgereist, erinnert ihr euch?”

“Ja, weil seine Mutter einen Autounfall hatte”, sagte Lea.

“Das war eine Lüge. Seine Mutter hatte nie einen Autounfall. Jonas hatte doch an diesem Tag mitbekommen, wie sich Finn abfällig über diese beiden schwulen Jugendlichen geäußert hatte, die uns auf dem Weg zum Campingplatz entgegen kamen und daraufhin erklärten wir ihm die Einstellung der Bibel zu Homosexualität.”

“Ja, ich erinnere mich”, meinte Lea.

Ich setzte meine Erzählung fort:

“Ich bemerkte daraufhin, dass ihn etwas bedrückte und sprach ihn später in unserem Zelt darauf an. Er meinte aber nur, dass er Finns Reaktion nicht so toll gefunden habe, aber dass ansonsten nichts wäre. Als wir dann später noch zum See wollten, blieb er zurück, da er noch mit seinen Eltern telefonieren wollte, er versprach aber nachzukommen. Naja, wie ihr wisst, habe ich mich dann auf die Suche nach ihm gemacht und ihn letztendlich am Bahnhof auch gefunden. Dort gestand er mir selbst schwul zu sein und ließ mich - wie ihr euch vorstellen könnt - völlig überfordert zurück und stieg in seinen Zug. Ich konnte euch damals einfach nicht die Wahrheit sagen und habe daher zur dieser Notlüge gegriffen. Ich hoffe ihr verzeiht mir?”

“Was, Jonas auch? Sind denn jetzt auf einmal alle schwul, oder was?”

“Oh Finn, das ist doch jetzt ein völlig überflüssiger Kommentar”, meinte Lea plötzlich scharf.

“Ja sorry, dass ich mit damit ein wenig überfordert bin, ist doch wohl verständlich?”

“Ja das schon, aber spare dir doch trotzdem solch blöde Kommentare.”

“Okay, ist ja schon gut.”

“Wenn ihr zwei dann fertig seid, würde ich gerne weiter erzählen”, meinte ich etwas ungeduldig.

“Ja sorry Luca, bitte fahre fort” sagte Lea kleinlaut.

“Naja mit der Zeit tat mir meine blöde Reaktion auf Jonas Outing leid und ich merkte, dass ich ihn irgendwie vermisste und trotzdem mit ihm befreundet bleiben wollte. Er kam ja dann auch zum neuen Schuljahr in meine Klasse, also versuchte ich mich bei ihm zu entschuldigen, aber er zeigte mir weiter die kalte Schulter. Und dann kam die Klassenfahrt nach Verona und danach war alles anders.”

“Inwiefern anders, was ist dort denn passiert? Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen”, drängelte Finn.

“Um es kurz zu machen: Wir haben uns dort ineinander verliebt und wurden ein Paar.”

“Waaaas, willst du uns jetzt verarschen? Du jetzt auch noch? Ist denn plötzlich hier jeder verrückt geworden?”

“Finn, jetzt lass Luca doch erst einmal ausreden”, kam mir Rahel zu Hilfe, wofür ich sie dankbar anlächelte.

“Hör mal: Dein Freund gesteht uns so nebenbei schwul zu sein, eine Beziehung zu Jonas zu haben und dich lässt das völlig kalt?”

“Nein Finn, dass lässt mich nicht völlig kalt, aber dennoch sollten wir Luca die Chance geben, uns die ganze Geschichte zu erzählen.”

“Oh mein Gott, du hast es bereits gewusst, sonst würdest du jetzt nicht so ruhig bleiben”, meinte Lea plötzlich. Seit wann weißt du es?”

“Also gut ja, ich habe es gewusst. Luca war nicht alleine, als er das Tagebuch gefunden hat, ich war bei ihm. Wir haben es gemeinsam gelesen und danach hat er mir alles gestanden.”

“Und du lässt uns, deine angeblich besten Freunde, die ganzen letzten Tage fast umkommen vor Sorge um Luca und sagst kein Wort?”

“Man Lea, ich hatte es Luca versprochen, okay. Er wollte es euch selber sagen.”

“Jetzt hört auf, auf Rahel herumzuhacken. Sie kann nun wirklich nichts dafür, ganz im Gegenteil, sie ist einfach nur eine richtig gute Freundin. Ich würde gerne weiter erzählen, wenn ihr mich lasst.”

“Also gut, dann erzähl weiter”, sagte Lea.

“Naja, ich war super glücklich mit Jonas, hatte aber natürlich auch ein schlechtes Gewissen. Zum einen Rahel gegenüber und zum anderen wusste ich ja auch, dass diese Beziehung von der Bibel verurteilt wird. Nach einigem auf und ab ließ ich aber dann schließlich mein Herz entscheiden und das gehörte nun mal Jonas. Also beschloss ich mich von Rahel zu trennen und ihr alles zu erzählen. Dann kam aber Daniels plötzlicher Suizid dazwischen und wieder war alles anders. Da ich befürchtete, dass ich Daniel im Paradies nicht wiedersehen würde, wenn ich diese Beziehung aufrecht erhalte, trennte ich mich schweren Herzens von Jonas und beschloss wieder ein gottgefälliges Leben zu führen. Das ging dann solange mehr oder weniger gut, bis ich Daniels Tagebuch fand, was erneut mit einem Schlag alles veränderte. Ich wollte nicht den gleichen Fehler wie Daniel und Max begehen und beschloss ab sofort auf mein Herz zu hören. Ich bin dann, nachdem ich von zu Hause abgehauen bin, bei der Familie einer Schulfreundin untergekommen und sie unterstützen mich in allem. Naja und seit gestern bin ich auch endlich wieder mit Jonas zusammen.”

“He gratuliere dir”, sagte Rahel und umarmte mich herzlich.

“Sag mal, schnappst du jetzt völlig über, dein Freund hat dich die ganze Zeit mit einen anderen Typen beschissen und dir fällt nichts Besseres ein, als ihn dafür auch noch zu beglückwünschen”, schrie Finn plötzlich.

“Ich wünsche mir, dass er glücklich ist und mit mir war er es nun mal nicht, so einfach ist das”, schrie Rahel zurück.

“Aber dir muss doch klar sein, dass Luca sich auf einen totalen Irrweg befindet und diese vermeintliche Liebe geradewegs in die Vernichtung führt”, mischte sich Lea ein.

“Du musst mich nicht belehren, ich weiß genauso gut wie du, was in der Bibel steht, aber ich glaube auch, dass man nicht alles so wortwörtlich nehmen kann. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Gott so grausam ist und von einem Menschen verlangt, seine Sexualität zu verleugnen und unglücklich zu werden.”

“Du weißt doch genauso gut wie ich, dass das nun mal die Unvollkommenheit mit sich bringt. Ich bestreite ja gar nicht, dass Luca wirklich so empfindet, aber doch nur weil wir noch unvollkommen sind. Es ist nun mal leider seine Prüfung dagegen anzukämpfen. Wenn wir erst einmal im Paradies sind und die Vollkommenheit erreicht haben, dann hat er diese widernatürlichen Gefühle auch nicht mehr. Das wisst ihr doch! Du musst dagegen ankämpfen Luca, wir helfen dir auch dabei.”

“Ich will gar nicht dagegen ankämpfen. Habt ihr mir eben nicht zugehört, reicht es nicht was mit Daniel und Max geschehen ist? Sind nicht schon genug Menschen wegen unseren altertümlichen Bibelauslegungen unglücklich geworden? Ich glaube einfach nicht mehr daran, dass Gott so etwas grausames von uns erwartet.”

“Du weißt aber schon, dass du mit dieser Entscheidung dein ewiges Leben im Paradies verspielst und Daniel nie wiedersehen wirst”, entgegnete Lea.

“Nein, das weiß ich nicht. Ich lebe lieber ein glückliches Leben, als ewig zu leben und unglücklich zu sein. Wer sagt uns überhaupt, dass es das Paradies wirklich in dieser Form gibt?”

“Du weißt aber schon, dass du gerade alles mit Füßen trittst, was wir ein Leben lang gelernt haben? Es kann doch nicht sein, dass du auf einmal deinen Glauben verloren hast?”

“Doch Lea, so ist es. Ich weiß gerade nicht mehr woran ich glaube, alles was ich weiß ist, dass ich mit Jonas zusammen glücklich werden will, egal was das für Konsequenzen für mich haben mag.”

“Und was ist mit uns? Bedeuten wir dir auf einmal nichts mehr oder wieso wirfst du jetzt alles weg”, fragte Finn mit hörbar belegter Stimme.

Ich zwang Finn mich anzusehen.

“Doch Finn, ihr bedeutet mir alles. Wir sind schon unser ganzes Leben lang befreundet. Könnt ihr mich nicht wenigstens ein bisschen verstehen?”

Finn brach jetzt völlig in Tränen aus und schrie mich an:

“Nein, ich kann nicht verstehen, dass du für diesen Typen dein ganzes Leben wegwirfst und plötzlich auf uns alle scheißt.”

“Das stimmt doch gar nicht, ich würde super gerne weiter mit euch befreundet sein, aber ich liebe Jonas nun mal. Was soll ich denn machen?”

“Du musst jetzt und hier eine Entscheidung treffen: Er oder wir, beides kannst du nicht haben.”

“Hör auf damit Finn.”

“Ich will jetzt verdammt nochmal eine Antwort von dir: Er oder wir?”

“Also gut, wenn du mich zwingst mich zu entscheiden, dann entscheide ich mich für Jonas.”

“Gut, dann haben wir uns wohl nichts mehr zu sagen.”

“Jetzt sei nicht so Finn.”

Finn drehte mir den Rücken zu und war im Begriff zu gehen, ich wollte ihn zurückhalten und packte ihn an der Schulter. Daraufhin drehte er sich um und schubste mich so heftig, dass ich das Gleichgewicht verlor und auf den Hosenboden landete.

“Du hast alles kaputt gemacht”, sagte Finn mit tränenerstickter Stimme bevor er sich auf den Weg zu seinen Fahrrad machte.

“Jetzt warte doch Finn”, schrie Lea und lief ihm hinterher.

Beide fuhren dann, ohne zu uns zurückzublicken davon.

Rahel half mir anschließend hoch. Ich hatte Tränen der Enttäuschung in meinen Augen. Ich wusste ja, dass dieses Treffen schwierig werden würde, aber das es in so einen Fiasko endet, hatte ich mir selbst in meinen schlimmsten Befürchtungen nicht vorgestellt.

“Fuck, das ist ja mal richtig scheiße gelaufen. Ich hatte gehofft, dass sie mich zumindest ein bisschen verstehen können”, sagte ich zu Rahel.

“Luca, ich denke sie brauchen erst einmal ein bisschen Zeit um das zu verdauen. Wir sind schon alle unser ganzes Leben lang miteinander befreundet, das wird sich schon wieder einrenken.”

“Ich bin da nicht so optimistisch wie du. Du hast sie doch gehört, sie werden meine Homosexualität niemals akzeptieren, aber sie haben mir ja freundlicherweise angeboten, mir bei der Bekämpfung dieser Schwäche zu helfen”, sagte ich mit hörbaren Sarkasmus in der Stimme.

“Luca, das ist hart, aber du darfst sie dafür nicht verurteilen. Sie haben nur wiedergegeben, was ihnen ein Leben lang eingetrichtert wurde. Du weißt doch wie das bei uns läuft: Wir haben unsere Bibelauslegungen stoisch zu akzeptieren, kritische Nachfragen oder gar Zweifel sind unerwünscht und einem wird sofort unterstellt, schwach im Glauben geworden zu sein.”

“Ja, du hast ja Recht. Ich kann sie sogar ein bisschen verstehen, ich hätte früher wahrscheinlich genauso reagiert. Wieso verurteilst du mich eigentlich nicht und du hättest wirklich allen Grund dazu?”

“Naja Luca, ich hatte schon immer meinen eigenen Kopf und habe auch früher schon als Kind nicht alles akzeptiert, was meine Eltern mir über die Bibel erklärt haben und sie mit meinen kritischen Nachfragen mehr als einmal zur Verzweiflung gebracht. Als ich aber mit der Zeit merkte, dass es unerwünscht ist, seinen eigenen Verstand zu gebrauchen und Dinge kritisch zu hinterfragen, habe ich damit aufgehört und mir fortan meinen Teil zu den Dingen nur noch gedacht. Ich bin überzeugt davon, dass man die Bibel nicht Wort für Wort auslegen kann und manche Dinge dort einfach nur sinnbildlich für etwas stehen. Aber wem in der Versammlung soll ich denn so etwas erzählen? Die würden mich sofort an den Pranger stellen und mich als Ungläubige darstellen, also habe ich meinen Mund gehalten, selbst euch gegenüber.”

“Wow, ich wusste ja gar nicht, dass du so denkst und so eine klare Sichtweise auf die Dinge hast. Weißt du Rahel, du bist echt was ganz Besonderes und jeder Junge könnte sich glücklich schätzen, dich als seine Freundin zu haben.”

“Ja, nur du leider nicht.”

“Es tut mir leid. Ich kann es nun mal nicht ändern, aber du bedeutest mir trotzdem total viel.”

“Ach Luca, du musst dich nicht für etwas entschuldigen, wofür du absolut nichts kannst.”

“Du wirst schon noch den Richtigen finden, davon bin ich überzeugt.”

“Ja, ich hoffe es.”

“Sorry, ich wollte dich eigentlich aus der ganzen Sache raushalten, deswegen hatte ich ja auch erzählt, dass ich das Tagebuch alleine gefunden habe, aber sie sind trotzdem dahinter gekommen, dass du schon vorher etwas wusstest. Hoffentlich bekommst du jetzt keinen Ärger wegen mir.”

“Ach Quatsch, die kriegen sich schon wieder ein. Ich kenne die beiden schon mein ganzes Leben und weiß, wie ich mit ihnen umzugehen habe.”

“Ok, ich hoffe du hast Recht.”

“Ich rede nochmal in Ruhe mit ihnen. Wenn sie genau darüber nachdenken, müssen sie einfach erkennen, dass sie dir Unrecht tun.”

“Das ist lieb von dir, aber vielleicht lässt du es lieber, nicht dass sie am Ende noch mit deinen Eltern reden.”

“Ach, ich weiß schon was ich tue, lass das mal meine Sorge sein.”

“Ok, wie du meinst. Hast du noch ein bisschen Zeit, wollen wir noch ein bisschen hier abhängen und quatschen?”

“Sonst gerne, aber ich werde von meinen Eltern zu Hause zum Familienstudium erwartet und als brave Tochter darf ich den wöchentlichen Bibelunterricht von meinen Eltern natürlich nicht versäumen.”

“Klingt schrecklich. Wünsche dir aber trotzdem viel Spaß.”

“Pah, den werde ich definitiv nicht haben”, lachte sie.

“Wollen wir noch zusammen in die Stadt zurückfahren?”

“Nichts lieber als das.”

Also nahmen wir unsere Fahrräder und fuhren gemeinsam in unsere Kleinstadt zurück, bis wir uns schließlich trennen mussten und in entgegengesetzte Richtungen davon fuhren. Als ich den Vorgarten von Jonas Elternhaus erreichte, lief dieser mir auch schon aufgelöst entgegen.

“He, du wolltest dich doch melden, sobald du mit deinen Freunden gesprochen hättest. Ich habe ein Dutzend mal versucht dich anzurufen, aber es ging immer die Mailbox ran. Ich habe mir echt voll Sorgen gemacht. Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist”, sprach’s und nahm mich stürmisch in die Arme und küsste mich.

Nach einer gefühlten Ewigkeit lösten wir uns voneinander und ich kam endlich zu Wort:

“Ja sorry, das hatte ich total vergessen und mein Handy war dummerweise auf lautlos gestellt. Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen um mich machst, tut mir echt leid.”

“Ist schon gut. Jetzt bist du ja da und das ist alles was für mich zählt”, sprach’s nur um mich abermals leidenschaftlich zu küssen.

“An so eine Begrüßung könnte ich mich schon gewöhnen”, sagte ich mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen.

“Das könnte dir so passen, eigentlich müsste ich sauer auf dich sein, weil du mir so einen Schrecken eingejagt hast.”

“Und bist du es?”

“Nein, ich kann dir einfach nicht lange böse sein, dafür bist du einfach zu süß.”

“Selber süß”, sagte ich, zog ihn zu mir und küsste ihn liebevoll.

“Und wie ist es mit deinen Freunden gelaufen? Echt, so schlimm?”, fragte er nach einem Blick in mein gequältes Gesicht.

Also erzählte ich ihm was vorgefallen war.

“Scheiße, das tut mir echt leid für dich. Ich habe irgendwie ein schlechtes Gewissen, weil dich deine Freunde wegen mir verstoßen haben.”

“Quatsch, musst du nicht haben. Du kannst nichts dafür, dass sie so engstirnig sind.”

“Naja, wenigstens hält Rahel noch zu dir und vielleicht kann sie ja wirklich bei den anderen etwas bewirken.”

“Ja, Rahel ist echt toll. Sie würde mich niemals im Stich lassen, aber ich glaube nicht, dass sie bei den anderen etwas bewirken wird, sie haben ihre festgefahrenen Ansichten und die werden sie nicht ändern.”

“Das weißt du doch gar nicht, vielleicht hat sie ja doch Erfolg.”

“Ja mal sehen und jetzt lass uns bitte das Thema wechseln, ist nicht böse gemeint, ok.”

“Ja klar, kein Problem. Marie und noch ein paar andere aus unserer Klasse wollten heute Abend ins Kino, hast du Lust mitzukommen? Ich geh aber nur, wenn du auch gehst.”

“Hmh, warum eigentlich nicht? Ein bisschen Ablenkung wird mir bestimmt gut tun. Was läuft denn?”

“Keine Ahnung, irgend so eine romantische Komödie, die Marie und Lisa unbedingt sehen wollen.”

Ich verzog angewidert mein Gesicht.

“Ja ich weiß, ist auch nicht unbedingt mein Geschmack. Aber Marie hat die besten Plätze ganz hinten ergattert und so ein Kinobesuch mit dir stelle ich mir eigentlich ganz sexy vor, wenn das Licht erst mal ausgegangen ist”, lachte er.

“Du kleines Schweinchen. Ich weiß ja nicht, was du so für gewöhnlich im Kino treibst, aber ich habe mir dort bisher immer nur die Filme angesehen.”

“Ja genau, du bist ein völliges Unschuldslamm und ich bin der böse Wolf”, sagte er grinsend.

“Du hast es erfasst, so ist es.”

“Hmh, gestern Nacht, als du über mich hergefallen bist, warst du aber gar nicht so unschuldig.”

“Dafür kann ich nichts, das waren meine Hormone”, erwiderte ich lachend.

“Du biegst dir auch alles so zurecht, wie du es brauchst. Los komm mit in mein Zimmer, ich will dir meine Briefmarkensammlung zeigen.”

“Ich wusste ja gar nicht, dass du Briefmarken sammelst?”

Daraufhin verdrehte Jonas schelmisch die Augen.

“Tu ich ja auch nicht du Dummerchen und jetzt komm mit”, sagte er lachend und zog mich mit in sein Zimmer.

Befriedigt und erleichtert machten wir uns am Abend dann für den Kinobesuch zurecht. Ein bisschen Ablenkung würde mir sicher gut tun, also freute ich mich sogar darauf. Marie, Lisa und noch ein paar andere aus der Klasse wollten auch kommen, also würde der Abend bestimmt lustig werden. Nur auf Marcel konnte ich echt verzichten, denn ich war mir sicher, dass er sich immer noch Chancen bei Jonas ausrechnete und nur darauf wartete, wieder einen Keil zwischen uns zu treiben, aber ich werde ihm schon zeigen zu wem Jonas gehört. Ich brachte noch gekonnt die letzten Haarsträhnen mit etwas Haargel in Form - ja so konnte ich mich sehen lassen.

“Luca, bist du fertig, wir müssen langsam los, der Film fängt bald an”, hörte ich Jonas Stimme aus dem Zimmer.

“Ja, bin soweit, wir können los.”

Als ich das Badezimmer verließ, sah ich Jonas grinsend auf dem Bett sitzen. Er hatte eine enganliegende Jeans und ein schwarzes Hemd an - er sah einfach zum Anbeißen aus.

“Wow, wenn man mit dir fortgehen will, muss man echt eine Menge Zeit vorher einplanen.”

“Gut Ding will eben Weile haben und das Ergebnis hat sich doch gelohnt, oder?”

“Also für mich ist da kein großer Unterschied zwischen jetzt und vorher”, sagte Jonas frech.

“He, das nimmst du zurück. Ich habe mir voll viel Mühe mit meinem Styling gegeben und ich sehe jetzt voll eindeutig besser aus als vorher, mit meinen Strubelhaaren.”

“Also ich mag deine Strubbelhaare, du siehst irgendwie süßer aus wenn nicht alles immer so akkurat gestylt ist.”

“Echt findest du?”

“Klar komm mal her.”

Er ging mir mit seinen Fingern durch die Haare und verstrubbelte mir meine so mühsam gestylte Frisur.

“He was machst du? Bist du verrückt. Geh weg von meinen Haaren.”

“Jetzt lass mich doch mal machen, du Angsthase. So fertig, jetzt kannst du dich im Spiegel betrachten.”

Ich blickte ängstlich in den Spiegel, musste aber wider Erwarten feststellen, dass das Ergebnis gar nicht so schlecht aussah - gewöhnungsbedürftig, aber irgendwie gut.

“Und wie findest du es”, fragte mich Jonas erwartungsvoll.

“Hmh, gar nicht mal so schlecht.”

“Ja, damit siehst du viel wilder und draufgängerischer aus als sonst, richtig scharf.”

“Das heißt vorher habe ich dir nicht gefallen?”

“Doch, klar, war halt nur ein bisschen brav und so brav bist du jetzt nicht mehr.”

Ich ging ein Schritt auf ihn zu, küsste ihn und legte mich auf ihn.

“Du siehst übrigens richtig scharf aus. Am liebsten würde ich dir deine Klamotten, auf der Stelle vom Leib reißen.”

Jonas grinste mich an.

“Du bist ja ein kleiner Nimmersatt geworden, ein richtiger Triebtäter, ich kriege langsam Angst vor dir.”

Erschrocken ging ich von ihm runter.

“Echt jetzt?”

“Nein Quatsch, ich zieh dich doch nur auf, wenn es nach mir geht, könntest du gar nicht versaut genug sein.”

“Ok, dann runter mit den Klamotten.”

“He, Mum wartet schon unten auf uns, um uns ins Kino zu fahren. Du wirst dich noch bis heute Nacht gedulden müssen.”

“Was so lange?”

Jetzt musste Jonas wieder grinsen.

“Ja so lange, aber wir können im Kino ein bisschen fummeln, ok. Haben wir einen Deal?”

“Ok, Deal.”

Kurze Zeit später setzte uns Jonas Mutter vor dem Kino ab und wünschte uns viel Spaß, bevor sie wieder nach Hause fuhr. Aus der Ferne konnte ich bereits Marie, Lisa und noch ein paar weitere Mitschüler ausmachen, von Marcel war nichts zu sehen. Vielleicht hatte er ja eingesehen, dass er keine Chance bei Jonas mehr hat und er jetzt mit mir zusammen ist? Doch meine Hoffnung wurde jäh enttäuscht, als ich ihn um die Ecke biegen sah. Naja was soll’s, er würde sich mit der Zeit schon an den Gedanken gewöhnen und wenn nicht - sein Pech. Die Begrüßung von Marie, Lisa und den anderen fiel sehr herzlich aus, selbst Marcel konnte sich dazu durchringen mir die Hand zu schütteln. Jonas hatte nicht übertrieben, Marie hatte uns die besten Plätze ganz hinten in der Mitte besorgt. Naja, vom Film selber habe ich dann nicht allzu viel mitbekommen, irgendeine fade romantische Komödie halt - das kommt davon, wenn man Frauen einen Film aussuchen lässt. Jonas und ich hatten, sobald das Licht aus war, nur noch Augen füreinander und konnten einfach die Hände nicht voneinander lassen. Nach dem Film löste sich dann der Großteil unserer Gruppe auf, bis nur noch Marie, Lisa, Jonas, ich und richtig geraten - Marcel übrig waren. Lisas Bruder legte heute in einem angesagten Club in unserer Stadt auf, indem heute “Rosa Nacht” war, und da uns Lisa von ihrem Bruder vorsorglich auf die Gästeliste hatte schreiben lassen, musste sie uns auch gar nicht lange überzeugen sie zu begleiten. Am Eingang standen auch bereits viele, meist männliche Partygänger in der Schlange, um in die Disko zu gelangen. Da außer Lisa keiner von uns je in einem vergleichbaren Etablissement gewesen war und wir noch alle minderjährig waren, waren wir doch ein wenig aufgeregt. Lisa übernahm zum Glück das Kommando und führte uns selbstbewusst an der Schlange vorbei, schnurstracks auf den bulligen, grimmig dreinblickenden Türsteher zu. Lisa nannte ihren Namen und erklärte, dass wir auf der Gästeliste stünden. Mit hochgezogenen Augenbrauen blätterte der riesige Typ in seiner Liste, bis sich sein Gesicht schließlich aufhellte, als er fand wonach er suchte. Schließlich bat er uns fast schon freundlich herein, ohne unsere Ausweise zu verlangen.

“Ich habe euch doch gesagt, dass wir problemlos hereinkommen werden, wenn uns mein Bruder auf die Gästeliste setzt”, meinte Lisa triumphierend.

Wir anderen waren alle hellauf begeistert, da es noch keiner von uns jemals in diesen Club geschafft hatte und dementsprechend waren wir natürlich in bester Stimmung. Wir gaben unsere Jacken an der Garderobe ab und begaben uns gleich an die Bar. Der Laden war bereits gut gefüllt und die ersten feierwütigen - vornehmlich Jungen - steuerten bereits die Tanzfläche an. Es war schon ein komischer Anblick für mich zu sehen, wie Jungen eng aneinander geschlungen tanzten. Einige küssten sich sogar ungeniert und niemand schien sich daran zu stören. Ich war eindeutig noch zu nüchtern, um mich auf den Dancefloor zu trauen, daher genehmigte ich mir erst mal mit meinen Freunden eine Runde Drinks an der Bar. Nachdem ich meinen zweiten Gin Tonic vernichtet hatte und immer noch keine Anstalten machte, mich Richtung Tanzparkett zu bewegen, übernahm Marie das Kommando und zerrte mich gegen meinen Willen auf die Tanzfläche. Lisa tat mit Jonas dasselbe, so dass wir uns bald zu viert in der partywütigen Meute wiederfanden. Nur Marcel nippte weiter stoisch an seinen Drink und beobachtete uns von der Bar aus. Nach einigen erfolglosen Versuchen der Mädels, Marcel zu überreden sich uns anzuschließen, gaben sie es schließlich auf, aber auch zu viert hatten wir echt eine tolle Zeit. Anfangs war ich noch etwas schüchtern, aber Maries gute Laune steckte einfach an, so dass ich mit der Zeit immer lockerer wurde. Später tauschten wir die Partner, so dass Marie mit Lisa und ich mit Jonas tanzte. Zuerst war es noch etwas seltsam für mich mit einem Jungen zu tanzen, aber als ich sah, dass um uns herum fast ausschließlich männliche Pärchen miteinander am herumhopsen waren, entspannte ich mich langsam. Jonas tanzte super gut und sah dazu noch verdammt sexy dabei aus, daher hatte ich plötzlich das starke Verlangen ihn zu küssen, was ich dann auch tat. Was ganz süß und schüchtern begann, endete in einer wilden Knutscherei. Wir vergaßen für diesen Moment alle um uns herum und hatten nur noch Augen füreinander. Erst als Marie mich an der Schulter antippte, kam ich wieder in das hier und jetzt zurück.

“Nehmt euch doch ein Zimmer, das kann ja niemand mit ansehen wie ihr euch auf der Tanzfläche abschleckt”, sagte sie lachend.

“Und, eifersüchtig?”

“Um ehrlich zu sein, schon ein bisschen. Ich hätte auch gerne mal wieder jemanden, aber der lässt noch auf sich warten.”

“Ach Marie, da würde ich mir keine Sorgen machen. Du siehst super aus und bist dazu noch ein ganz toller Mensch. Du wirst den Richtigen schon noch finden.”

“Danke, du bist süß. Wollen wir mal eine Pause machen und noch was an der Bar trinken?”

“Klar, ich habe schon eine ganz trockene Kehle von der ganzen Tanzerei.”

“Und wahrscheinlich auch ganz trockene Lippen von der ganzen Knutscherei”, neckte sie mich.

“Ja das auch”, gab ich grinsend zurück.

Jonas und Lisa schlossen sich uns an, so dass wir uns zu viert in Richtung Theke begaben, um noch einen Drink zu uns zu nehmen.

“Hat einer von euch Marcel gesehen”, fragte Lisa plötzlich.

“Ne, jetzt da du es sagst, eben stand er doch noch an der Bar”, meinte Marie.

“Ach ist doch egal, vielleicht ist er ja nach Hause gegangen. Er ist doch eh voll die Spaßbremse heute.”

“Jetzt sei doch nicht so Luca, er muss das mit uns beiden halt erst noch verdauen, immerhin hat er sich Hoffnungen bei mir gemacht”, erwiderte Jonas.

“Ja schon gut, aber bei allem Verständnis, könnte er das mal langsam akzeptieren, dass du jetzt mit mir zusammen bist.”

“Ich glaube so langsam scheint er sich wirklich damit abzufinden. Schaut mal auf die Tanzfläche”, meinte Marie auf einmal.

Dort bot sich uns ein gänzlich unerwarteter Anblick: Marcel tanzte sehr innig mit einem zugegeben gut aussehenden Jungen und was sie dort taten, hatte mehr mit Sex als mit tanzen zu tun.

“Marcel scheint ja doch ziemlich schnell über dich hinweg zu sein, so wie er gerade mit diesem Typen zugange ist”, sagte Lisa lachend.

“Hmh, ja scheint so. Aber ist doch gut, ich freue mich für ihn, wenn er jemand anderen findet.”

“Ach, seid ihr denn alle blind. Der zieht doch hier nur eine Show ab. Der Typ ist ihm doch scheißegal, er versucht doch nur Jonas eifersüchtig zu machen”, meinte ich angefressen.

“Das glaube ich nicht und selbst wenn, wird er damit keinen Erfolg haben, da mein Herz schon vergeben ist. Aber ich finde es echt süß, dass du so eifersüchtig bist.”

“Ich und eifersüchtig. Ist doch Quatsch.”

“Wem willst du hier was vormachen? Du bist so was von eifersüchtig”, mischte sich jetzt auch Marie ein.

“Ach, haltet doch alle die Klappe”, meinte ich lachend und nahm meinen Schatz in die Arme.

Ich beschloss danach Marcel einfach zu ignorieren und mir von ihm nicht meine gute Laune verderben zu lassen. Also begaben wir uns alle wieder auf den Dancefloor, um so richtig abzufeiern. Anfangs sah Marcel mit seiner neuen Eroberung auch immer wieder zu uns herüber, aber als er merkte, dass Jonas das überhaupt nicht kratzt, gab er dann auch bald auf und ließ den Typen mit dem er eben noch wild rumgemacht hatte, einfach wie einen begossenen Pudel stehen und verschwand. Naja, wir ließen uns auf jeden Fall unsere Partystimmung nicht verderben und tanzten unbeschwert weiter. Irgendwann meinte Jonas, dass er mal kurz für kleine Jungs müsste und da sich meine Blase noch nicht bemerkbar machte, ließ ich ihn alleine gehen. In der Zwischenzeit tanzte ich mit den Mädels weiter und wir hatten einen Riesenspaß. Nachdem schon ein paar Songs vorüber waren und Jonas immer noch nicht wieder aufgetaucht war, machte ich mir langsam Sorgen und wollte mal nachschauen, wo er denn solange bleibt. Ich erwartete schon Jonas in einer riesigen Schlange vor den Toiletten wiederzufinden, doch als ich dort ankam stand niemand an und jetzt wurde ich erst Recht unruhig. Als ich die Toilettentür öffnete, bot sich mir ein unfassbarer Anblick: Jonas und Marcel küssten sich und es sah nicht so aus, als wäre Jonas dazu gezwungen oder von Marcel überrumpelt worden. Jonas stand mit dem Rücken zu mir und konnte mich daher nicht sehen, aber Marcel hatte mich sehr wohl gesehen und grinste mich auch noch frech an. Das war zuviel für mich - ich musste dort einfach nur noch raus. Wie in Trance quetschte ich mich rücksichtslos durch das Partyvolk, ich musste einfach an die frische Luft, ich hatte das Gefühl nicht mehr atmen zu können. Als ich an der Bar vorbei ging, kam mir plötzlich Marie entgegen.

“He da bist du ja. Wo hast du denn Jonas gelassen? He was ist los, du siehst aus als hättest du ein Gespenst gesehen?”

“Jonas und Marcel haben sich geküsst. Ich habe sie in flagranti in der Toilette erwischt. Ich muss hier weg, können wir bitte gehen?”

“Was, das glaube ich einfach nicht, dafür muss es bestimmt eine Erklärung geben. Vielleicht hat Marcel Jonas ja mit dem Kuss überrumpelt und er wollte es eigentlich gar nicht.”

“Nein, es sah nicht danach aus, als ob er sich groß dagegen gewehrt hätte - ganz im Gegenteil ihm schien es sogar zu gefallen.”

“Das glaube ich einfach nicht. Jonas würde dich nie so hintergehen. Dafür muss es eine Erklärung geben, bitte rede doch erst mal mit ihm.”

“Ich weiß, was ich gesehen habe. Ich gehe jetzt, entweder kommst du mit oder du bleibst hier.”

“Ich lasse dich natürlich in diesen Zustand nicht alleine nach Hause gehen. Ich sag nur schnell Lisa Bescheid und hole unsere Jacken. Warte vor der Tür auf mich und wage dich ja nicht abzuhauen.”

“Ja ok, aber beeil dich bitte.”

Ich kämpfte mich in Richtung Ausgang durch, was aufgrund der Menschenmassen, die in den Club drängten, kein einfaches Unterfangen war. Ich war unendlich erleichtert als ich es dann tatsächlich ins Freie geschafft hatte. Es war Ende März und immer noch richtig kalt draußen. Ich hatte nicht mehr als Jeans und T-Shirt an, aber ich nahm die Kälte gar nicht war. Die frische Luft tat mir sogar gut.

Ich hatte das Gefühl endlich wieder atmen zu können. Ich konnte es immer noch nicht fassen, was ich da gesehen hatte. Wie konnte Jonas mir das nur antun? Wir waren doch eben noch so glücklich gewesen und er hatte mir doch geschworen, dass er für Marcel keine Gefühle mehr hatte. Ich wusste einfach nicht mehr weiter, am liebsten hätte ich einfach nur noch losgeflennt. Verdammt, wo blieb denn nur Marie? Kaum hatte ich den Gedanken zu Ende gedacht, kam sie auch schon mit unseren Jacken bewaffnet aus der Tür gestürmt.

“Luca, bist du wahnsinnig. Es ist eiskalt hier draußen, du holst dir den Tod. Hier ist deine Jacke. Anziehen - sofort!”

Widerwillig streifte ich mir meine Jacke über, damit Marie Ruhe gab.

“Wir rufen uns ein Taxi. Mama hat mir extra Taxigeld mitgegeben, damit sie mich nicht mitten in der Nacht abholen muss.”

“Ok, mir ist alles Recht. Ich will hier einfach nur weg.”

Wir setzten uns in das nächstbeste Taxi und fuhren zu den Baumanns. Schon auf der Fahrt war es um meine Selbstbeherrschung geschehen und die Tränen begannen zu laufen. Ich fühlte mich hundeelend, so musste es sich anfühlen, wenn einem das Herz gebrochen wird, dachte ich mir. Marie nahm mich in den Arm und versuchte ihr Möglichstes um mich zu trösten, ich wollte mich aber einfach nicht beruhigen und der Restalkohol tat sein Übriges. Bei Marie zu Hause angekommen, bot sie mir noch ein Gespräch an, aber ich wollte und konnte nicht mehr reden. Ich wollte mich einfach unter meine Decke verkriechen und nie wieder unter ihr hervorkommen. Da Marie mich in diesen Zustand nicht alleine lassen wollte, wie sie sagte, teilten wir uns in dieser Nacht das Bett und es tat mir gut, dass sie bei mir war. Jonas hat in dieser Nacht noch pausenlos versucht mich telefonisch zu erreichen, bis ich die Faxen dicke hatte und mein Handy einfach ausschaltete.

Am nächsten Tag wurde ich von einen stumpfen Schmerz in meinem Kopf geweckt. Man hatte ich einen Schädel dranhängen, ich hatte es gestern wohl doch mit dem Alkohol etwas zu gut gemeint. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war und es war mir auch egal. Jetzt fielen mir sämtliche Ereignisse des gestrigen Abends wieder ein und der Film wie Jonas und Marcel sich küssten, lief vor meinem geistigen Auge immer wieder ab. Auf einmal wurde mir ganz schlecht und ich hatte das Gefühl mich übergeben zu müssen. Panisch rannte ich in Richtung Badezimmer und übergab mich dort geräuschvoll. In diesem Moment kam ausgerechnet auch noch Marie ins Zimmer und rief nach mir. Als ich kurze Zeit später das Bad verließ, saß sie auf der Bettkante und sah mich besorgt an.

“Wie geht es dir Schatz?”

“Ziemlich beschissen würde ich sagen. Hast du vielleicht eine Aspirin für mich?”

“Klar hab schon eine mit, dachte mir, dass du sie gebrauchen könntest.”

Sie überreichte mir besagte Schmerztablette und ich spülte sie mit einem kräftigen Schluck Wasser hinunter.

“Danke, du bist meine Lebensretterin.”

“Nicht dafür. Ich soll dich von Mama fragen, ob du zum Essen kommen möchtest?”

“Danke, das ist lieb, aber ich glaube, dass ich im Moment eh nichts herunter bekomme.”

“Ach kom schon Luca, versuch wenigstens ein bisschen was zu essen, dann wird es dir besser gehen, glaube mir.”

“Also gut. Ich geh noch schnell duschen und dann komme ich.”

“Ist gut, lass dir Zeit.”

Ich nahm mir frische Sachen mit ins Badezimmer und stellte mich unter die Dusche. Das warme Wasser tat mir gut, aber in meinem Kopf spielten sich wieder und wieder die grässlichen Szenen der vergangenen Nacht ab. Ich konnte einfach nicht begreifen, wieso Jonas das getan hatte. Es war doch alles gerade so perfekt zwischen uns. Oder hatte ich mir das nur eingebildet? Vielleicht hatte Jonas ja nur auf eine passende Gelegenheit gewartet um mir heimzuzahlen, dass ihm so weh getan hatte? Hatte er mir nie wirklich verziehen und wollte sich einfach nur an mir rächen? Wollte er, dass ich die gleichen seelischen Schmerzen erlitt, die ich ihm zugefügt hatte? Wenn ja, hatte er sein Ziel definitiv erreicht, ich fühlte mich, als hätte man mir mein Herz rausgerissen. Andererseits konnte ich mir einfach nicht vorstellen, dass Jonas zu so etwas in der Lage wäre - nein so eiskalt könnte er niemals sein. Vielleicht hatte er einfach zu viel getrunken und Marcel hatte dann diesen Zustand ausgenutzt? Immerhin versuchte er mich letzten Abend noch - zig Mal anzurufen. Vielleicht um sich zu entschuldigen oder wollte er mich nur verhöhnen, dass ich so naiv war zu glauben, das er mir mein Verhalten von damals vergeben hätte? Nein, das konnte nicht sein. Ich wusste einfach nicht mehr was ich denken sollte. Vor lauter Überforderung brach ich schon wieder in Tränen aus und konnte gar nicht mehr aufhören zu schluchzen. Ich ließ das Wasser laufen, kauerte mich auf den Boden der Dusche und ließ meinen Tränen freien Lauf. Nach einer gefühlten Ewigkeit raffte ich mich auf und schaffte es endlich aus der Dusche. Ein Blick in den Spiegel zeigte mir, dass ich ebenso beschissen aussah, wie ich mich fühlte. Meine Augen waren geschwollen und ich sah furchtbar blass, ja fast krank aus. Ich versuchte mich wenigstens halbwegs in einen ansehnlichen Zustand zu bringen, was mir aber nur bedingt gelang. Irgendwann gab ich resignierend auf und schlurfte in Richtung Esszimmer. Dort erwartete mich ein reichlich gedeckter Frühstückstisch, obwohl es bereits Mittag war. Ruth und Marie saßen bereits am Tisch und unterhielten sich leise.

“Morgen”, nuschelte ich.

“Morgen Luca, komm setz dich doch. Ich habe für euch das perfekte Katerfrühstück gemacht: Es gibt Rührei, Speck, Rollmops und natürlich jede Menge extra starken Kaffee.”

“Danke Ruth, du bist echt lieb. Wo sind denn Mark und Dirk?”

“Mark hat heute ein Fußballspiel und Dirk begleitet ihn.”

Obwohl ich nicht wirklich Appetit hatte, aß ich eine Kleinigkeit, schon um Ruth nicht zu enttäuschen. Danach ging es mir tatsächlich etwas besser.

“Marie hat mir erzählt was gestern Abend passiert ist. Magst du darüber reden?”

Ich warf Marie einen vorwurfsvollen Blick zu.

“Tut mir leid, aber sie hat solange nachgebohrt, bis ich es ihr erzählt habe. Ich weiß nicht, wie sie das macht, aber sie ist echt gut darin”, meinte Marie entschuldigend.

“Jahrelange Übung mein Schatz, du und Mark machen mir nichts mehr vor”, meinte Ruth lächelnd.

“Also Luca, magst du darüber reden?”

“Nein eigentlich nicht.”

“Komm schon Luca, mach nicht den Fehler und friss alles in dich hinein, reden hilft und manchmal braucht man auch die Meinung einer neutralen Person, die nicht emotional so involviert ist, um klarer zu sehen.”

“Also gut. Ich weiß nicht, was Marie dir bereits erzählt hat, aber der Abend lief eigentlich super, wir hatten eine Menge Spaß, haben zusammen getanzt und es war echt richtig befreiend, dass wir uns in diesem Club nicht verstecken mussten. Wir konnten uns küssen, wenn uns danach war, zusammen tanzen, schmusen, eben alles was Pärchen halt so miteinander machen, ohne irgendwelche ablehnende oder feindliche Reaktionen befürchten zu müssen. Ich hatte aber von Anfang an ein schlechtes Gefühl, weil Marcel aus unserer Klasse auch da war, denn er macht überhaupt keinen Hehl daraus, dass er auf Jonas steht und deshalb bin ich ihm natürlich ein Dorn im Auge. Als Jonas und ich getrennt waren, hat er sich auch gleich an ihn rangezeckt und den großen Tröster gespielt. In der Zeit hatten sie wohl auch was miteinander, aber Jonas beteuert, dass er nie mit ihm geschlafen hat. Jedenfalls hat er sich wohl mächtig in Jonas verknallt und war natürlich maßlos enttäuscht, als er wieder mit mir zusammengekommen ist. Gestern im Club hat er dann eine große Show abgezogen und vor unseren Augen mit irgendeinem Typen rumgemacht. Doch es war offensichtlich, dass er nur versuchte Jonas eifersüchtig zu machen. Als er bemerkte, dass Jonas von dieser Nummer gänzlich unbeeindruckt blieb, ließ er den Typen einfach auf der Tanzfläche stehen und verzog sich - wie ich dachte - nach Hause. Ich war erleichtert, dass der blöde Typ endlich weg war und konnte mich endlich richtig entspannen. Irgendwann musste Jonas dann für kleine Jungs. Als er nach geraumer Zeit, noch nicht wieder auftauchte, machte ich mir langsam Sorgen und beschloss, nach ihm zu sehen. Als ich die Toilettentür öffnete traf mich fast der Schlag: Jonas und Marcel standen knutschend vor den Toiletten und es wirkte nicht gerade so, als ob sich Jonas dagegen wehren würde. Da Jonas mit dem Rücken zu mir stand, bemerkte er mich nicht, aber Marcel sah mich ganz genau und grinste mich triumphierend an. Ich musste da einfach nur noch weg, verstehst du? Ich konnte diesen Anblick nicht länger ertragen und floh richtiggehend aus dem Club. Zum Glück lief mir auf meiner Flucht nach draußen Marie über den Weg, die nicht zögerte, mich nach Hause zu begleiten. Und jetzt frage ich mich pausenlos, warum Jonas das gemacht hat. Er hat mir geschworen, dass er für Marcel nichts außer Freundschaft empfindet. War er schon einfach zu besoffen, aber so betrunken hat er auf mich gar nicht gewirkt? Oder wollte er mir eins auswischen dafür, wie ich ihn damals behandelt habe, vielleicht hat er mir ja nie verziehen und das war jetzt seine Rache? Ich weiß es einfach nicht, ich weiß nicht, was ich noch denken soll.”

“Das ist natürlich eine heftige Geschichte und ich kann absolut verstehen, warum du so durch den Wind bist. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass er zu so einer miesen Nummer in der Lage ist, so wie ich Jonas kennengelernt habe. Er liebt dich, das war deutlich zu spüren und so etwas kann man nicht spielen. Ihr müsst dringend miteinander reden, dann klärt sich wahrscheinlich alles auf.”

“Möglicherweise hast du Recht. Ich muss mit ihm sprechen und das so schnell wie möglich.”

In diesem Augenblick läutete es an der Tür.

“Marie, machst du mal auf.”

“Ja Mama, ich geh schon.”

Ich vernahm ein Stimmengewirr vor der Tür, konnte aber nicht wirklich verstehen was gesprochen wurde. Ich hörte nur das Marie laut wurde und wollte nach ihr sehen. Ich traute meinen Augen nicht: Ein sichtlich angeschlagener Jonas wurde von Marie gerade zur Schnecke gemacht. Es rührte mich, dass Marie sich so für mich einsetzte, aber da ich eh mit Jonas reden wollte, beschloss ich ihn zu erlösen.

“Marie ist schon gut. Lass mich das mit Jonas klären. Jonas kommst du bitte. Lass uns im Gästezimmer reden, dort sind wir ungestört.”

Jonas sah gar nicht gut aus. Er hatte rote, verquollene Augen mit dunklen Ringen darunter. Er schien ebenfalls eine unruhige Nacht gehabt zu haben. Wortlos folgte er mir. Kaum hatte ich die Tür geschlossen, legte er auch schon los:

“Es tut mir so leid, Luca. Du warst gestern einfach verschwunden, Lisa sagte mir, dass du mich und Marcel auf der Toilette gesehen hast. Glaube mir, es ist nicht so wie du denkst.”

“Ach ja, wie ist es denn dann? Warst du zu besoffen um dich gegen Marcel zu wehren?So sah es für mich nämlich nicht aus. Oder war das jetzt deine späte Rache dafür, was ich dir damals angetan habe?”

“Nein, natürlich nicht. Ich habe dir doch gesagt, dass ich dir verziehen habe und das halte ich dir auch nicht mehr vor. Ich wollte einfach nur zur Toilette und dort traf ich auf Marcel. Er war total fertig und weinte. Er tat mir einfach leid, daher habe ich versucht ihn zu trösten.”

“Indem du ihm deine Zunge in den Hals steckst?”

“Nein, so war das doch gar nicht.”

“Jonas rede keinen Scheiß, ich weiß was ich gesehen habe.”

“Man Luca, lass mich doch bitte mal ausreden.”

“Also schön, dann rede”, raunzte ich ihn an.

“Naja, er sagte mir unter Tränen, dass er mich nicht vergessen könne und sich in mich verliebt habe. Ich versuchte ihm klarzumachen, dass du meine große Liebe bist und er mich vergessen muss. Irgendwann schien er es dann endlich akzeptiert zu haben, aber er bat mich noch um einen letzten Abschiedskuss. Er meinte, dass würde ihm helfen mit mir abzuschließen und ich war betrunken und dumm genug darauf hereinzufallen. Das war genau der Moment in dem du zur Tür reinkamst. Er wollte, dass du das siehst, verstehst du. Ich habe ihm gestern noch ganz deutlich dazu meine Meinung gesagt und mich furchtbar mit ihm zerstritten. Mit dem bin ich fertig, ich hätte nie gedacht, dass er zu so einer miesen Nummer fähig ist. Bitte lass nicht zu, dass er gewinnt und einen Keil zwischen uns treibt.”

“Das hätte ich mir ja denken können, dass dieses miese Aas dahinter steckt. Ich wusste von Anfang an, dass man ihm nicht trauen kann und er immer noch hinter dir her ist. Ich möchte jetzt eine ehrliche Antwort von dir Jonas. Ich stelle dir diese Frage, nur noch ein letztes Mal: Hast du noch Gefühle für Marcel?”

“Nein, dass habe ich nicht. Bitte glaub mir. Ich liebe nur dich. Ich habe noch nie ansatzweise für einen anderen Menschen so gefühlt, wie für dich. Bitte gib uns noch eine Chance, ich würde es nicht ertragen, dich noch einmal zu verlieren.”

“Und du versprichst mir, keine anderen Jungs mehr zu küssen und dich von Marcel, diesem Penner, fernzuhalten?”

“Ja, ganz sicher. Bitte verzeihe mir, es tut mir so leid.”

Jetzt war es um Jonas geschehen und er konnte seine Tränen nicht länger zurückhalten. Es tat mir weh, ihn so dastehen zu sehen wie ein Häufchen Elend. Ein ganz warmes Gefühl durchströmte mich und ich hatte einfach nur noch das Bedürfnis ihn zu trösten und ihn den Arm zu nehmen.

“Ach komm her Kleiner.”

Ich nahm Jonas liebevoll in den Arm und bei mir liefen jetzt auch die Tränen. Endlich trafen sich unsere Lippen und es fühlte sich so gut an, dass wieder alles in Ordnung war und ich meinen Jonas wieder hatte. Mit tränenerstickter Stimme sagte ich:

“Uns wird keiner mehr auseinander bringen. Kein Marcel, nicht meine Eltern und auch nicht meine alten Freunde, hörst du. Wir gehören einfach zusammen. Ich liebe dich Kleiner.”

“Ich liebe dich auch Luca. Ich bin so froh, dass alles wieder gut zwischen uns ist. Ich habe letzte Nacht kein Auge zugetan. Ich dachte, ich hätte dich jetzt endgültig verloren.”

“So schnell wirst du mich nicht mehr los. Du hast mich ab jetzt an der Backe”, lachte ich.

“Du bist doof”, meinte Jonas, doch auch er hatte jetzt wieder ein Lächeln auf den Lippen.

“He, mir ging es letzte Nacht nicht anders, ich habe mich die ganze Nacht nur im Bett gewälzt und kaum geschlafen. Magst du vielleicht hier bei mir bleiben und wir schlafen noch ein bisschen?”

“Es gibt nichts was ich lieber täte.”

Wir zogen uns aus, kuschelten uns dicht aneinander und schlummerten wenige Augenblicke später bereits selig. Erst am späten Nachmittag wachte ich wieder auf und stellte fest, dass ich alleine im Bett lag. Unruhe überkam mich und ich wurde traurig, denn ich hatte scheinbar alles nur geträumt. Geknickt und niedergeschlagen quälte ich mich aus dem Bett. Kaum hatte ich das Zimmer verlassen, stieg mir auch schon ein verführerischer Duft aus Kaffee und Kuchen in die Nase. Zwar würde ich in meiner momentanen Verfassung keinen Bissen runterkriegen, aber ein bisschen Gesellschaft konnte ja nichts schaden. Marie, Dirk und Mark waren bereits um den Tisch versammelt und ließen es sich schmecken.

“Da bist du ja endlich du Schlafmütze. Komm setz dich, magst du ein Stück Kuchen essen?”

“Nein danke Marie, ich bekomme gerade nichts herunter. Aber ein Kaffee wäre nicht schlecht.”

“Kaffee ist gerade alle geworden, aber Mama macht gerade neuen”, ließ mich Mark wissen.

In dem Moment kam Ruth mit Jonas im Schlepptau aus der Küche und hatte eine frische Kanne Kaffee in der Hand. Beim Anblick von Jonas machte mein Herz einen Sprung und ich schoss von meinem Platz hoch um ihn stürmisch zu umarmen.

“Oh man, ich habe echt gedacht, ich habe unsere ganze Versöhnung nur geträumt, als ich eben alleine aufgewacht bin.”

“Sorry, du hast noch so friedlich geschlafen, als ich wach wurde, dass ich dich nicht wecken wollte. Luca nicht so fest, du erdrückst mich”, lachte Jonas.

“Sorry, ich bin nur gerade so froh, dass du hier bist und ich mir nicht alles nur eingebildet habe.”

Mein Ausbruch sorgte für allgemeine Heiterkeit, so dass ich schließlich selbst darüber lachen musste.

“Ihr zwei seid echt zu süß. Ich freue mich, dass zwischen euch wieder alles in Ordnung ist ”, meinte Ruth.

“Ja das sind wir auch”, meinten Jonas und ich unisono, was wiederum für Gelächter sorgte.

Wir verbrachten einen entspannten Nachmittag im Kreise der Familie Baumann, bis meine Handy plötzlich vibrierte und mir den Eingang einer SMS signalisierte. Sie war von Finn, was mich doch einigermaßen verwunderte. Neugierig öffnete ich die Mitteilung:

“Ich wollte mich für meine heftige Reaktion gestern bei dir entschuldigen. Bitte lass uns nochmal reden. Es wäre mir wichtig, dass wir uns heute noch treffen.”

Ich freute mich über seine Entschuldigung und in mir keimte wieder Hoffnung auf, dass unsere Freundschaft vielleicht doch noch zu retten war, daher schrieb ich ihm postwendend zurück:

“He ist schon ok, ich kann ja verstehen, dass du diese Neuigkeit erst einmal verdauen musst. Ich habe Zeit, lass uns treffen, sag mir wann und wo?”

“In einer halben Stunde, an deiner Schule?”

“Ok ich werde da sein. Aber kein Wort zu meinen Eltern, ok?”

“Ja keine Sorge, ich komme alleine. Bis dann.”

“Ja, bis dann.”

Die anderen am Tisch sahen mich mit großen erwartungsvollen Augen an, bis ich sie über den Inhalt der Textnachrichten in Kenntnis setzte und von meinen Entschluss mich jetzt gleich mit Finn zu treffen. Vor allem Jonas und Marie mutmaßten wieder, dass es sich bei dem Treffen um eine Falle handeln könnte und bestanden darauf mich zu begleiten. Ich versuchte ihnen daraufhin begreiflich zu machen, dass es irgendwie doof aussehen würde, so, als ob ich ihm nicht vertrauen würde, was ich aber nach wie vor zu einhundert Prozent tat, immerhin ist er mein ältester Freund. Immer noch nicht vollständig überzeugt, willigten sie schließlich ein, mich allein gehen zu lassen, nahmen mir aber das Versprechen ab, mich nach dem Treffen sofort zu melden, was ich ihnen auch zusicherte.

Ich machte mich also bereit und setzte mich auf mein Fahrrad. Da Jonas jetzt langsam nach Hause musste, begleitete er mich noch ein Stück des Weges. Bevor er in Richtung seines Elternhauses davon fuhr, sagte er zu mir:

“Pass bitte auf dich auf Luca. Wenn dir irgendetwas komisch vorkommen sollte oder du deine Eltern siehst, dann hau sofort ab und ruf mich an, ok?”

“Versprochen! Mach dir keine Sorgen. Finn würde mich niemals verraten, glaube mir - ich kenne ihn.”

“Ok, aber du rufst gleich nach dem Gespräch bei mir an und auch nochmal wenn du zu Hause bist.”

“Ja, das mache ich und jetzt hau schon ab, sonst komme ich noch zu spät”, lachte ich.

“Vorher will ich noch einen Kuss, sonst gehe ich nicht.”

“Also gut, wenn es unbedingt sein muss”, tat ich genervt.

Wir küssten uns nochmal zum Abschied, bevor wir uns in entgegengesetzte Richtungen davon machten. Kurze Zeit später war ich am vereinbarten Treffpunkt angekommen und aus der Ferne, konnte ich Finn bereits ausmachen. Ich stellte mein Fahrrad ab und ging ging schnellen Schrittes auf ihn zu.

“He Luca, schön das du gekommen bist.”

“Ist doch klar, ich habe mich voll gefreut das du dich nochmal mit mir treffen wolltest. Ich fand es blöd wie wir gestern auseinander gegangen sind.”

“Ja, das fand ich auch. Du bist seit jeher mein bester Freund und ich habe gestern überreagiert, dafür möchte ich mich entschuldigen.”

“He Schwamm drüber, ist doch klar, dass du so eine Nachricht erst einmal verdauen musst, wäre mir wahrscheinlich an deiner Stelle genauso gegangen.”

“Ich habe nochmal über diese ganze Sache mit dir und Jonas nachgedacht und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass du eigentlich nichts dafür kannst. Du hast nun mal diese Schwäche in dir und durch die ganze Sache mit Daniel hast du deinen Glauben verloren. Deswegen hast du dieser Schwäche auch nachgegeben. Aber du musst kämpfen Luca, du musst deinen Glauben zurück erlangen. Es ist deine einzige Chance, ansonsten droht dir die Vernichtung in Harmagedon ( Gericht Gottes über die Menschheit) und das kann ich nicht zulassen, dafür bedeutest du mir einfach zu viel.”

“Was redest du denn da? Weißt du Finn, ich dachte du hättest irgendetwas begriffen von dem, was ich dir gestern gesagt habe, aber scheinbar ist bei dir überhaupt nichts angekommen. Jetzt nochmal zum Mitschreiben: Ich liebe Jonas und niemand wird uns mehr auseinander bringen, nicht du, nicht meine Eltern und auch nicht die Bibel - es ist mir mittlerweile egal, was dort drin steht, ich lasse mir mein Leben nicht mehr von irgendeinen Buch vorschreiben, das irgendwelche Menschen geschrieben haben. Nie mehr, verstehst du? Ich bin endlich frei, frei von den Fesseln der Zeugen und ich werde auch nicht mehr zu ihnen zurückkehren.”

“Ok, ich habe es nochmal im Guten versucht, aber du lässt uns leider keine andere Wahl.”

Plötzlich nahm ich hinter mir eine Bewegung war. Erschrocken drehte ich mich um und sah meinen und Finns Vater, direkt vor mir stehen.

“Finn was soll das? Ich habe dir vertraut, wie konntest du mich nur so verraten?”

“Es tut mir leid Luca, aber es ist nur zu deinen Besten. Dafür wirst du mir später noch dankbar sein.”

Ich drehte mich nochmals um und sah meinem Vater direkt ins Gesicht.

“Hallo mein Sohn. Wir sind gekommen um dich zu retten.”

“Um mich zu retten, dass ich nicht lache. Nehmt bloß eure dreckigen Finger von mir, sonst schreie ich.”

“Nun, du kannst es auf die sanfte Tour haben und freiwillig mitgehen oder auf die harte Tour, aber mit uns mitkommen wirst du auf jeden Fall.”

Panisch zog ich mein Handy aus der Tasche, dass mir dann aber gleich von Finn in einer schnellen Bewegung aus Hand gerissen wurde. Erschrocken sah ich meinem einstigen besten Freund ins Gesicht.

“Von meinen Vater habe ich ja nichts anderes erwartet, aber ich hätte niemals gedacht, dass du bei so einer linken Nummer mitmachen und mich so verraten könntest.”

“Mann, ich tu das alles doch nur für dich. Ich möchte den alten Luca wiederhaben. Irgendwann wirst du verstehen, dass ich nicht anders handeln konnte, um dich wieder auf den rechten Weg zurückzubringen.”

“Man kapiert es doch endlich. Der alte Luca ist tot, er ist zusammen mit Daniel gestorben und er kommt auch nicht wieder. Ich möchte mit euch und den Zeugen nichts mehr zu tun haben und ich werde mich auch offiziell ausschließen lassen.”

“Es steht schon schlimmer um ihn, als ich dachte, er ist schon total verblendet. Mach dir keine Sorgen Finn, du hast das absolut Richtige getan, indem du uns zu Rate gezogen hast. Aber es ist noch nicht zu spät, noch können wir ihn retten und auf den richtigen Weg zurückführen”, meinte mein Vater plötzlich.

“Die Einzigen die hier verblendet sind, seid jawohl ihr und was ihr für den richtigen Weg haltet und was nicht, ist mir scheißegal. Gib mir jetzt sofort mein scheiß Handy zurück du Verräter. Ich habe keinen Bock mehr mir diesen Schwachsinn anzuhören. Ich gehe jetzt.”

Während ich noch mit Finn um mein Handy rangelte, schlich sich jemand von hinten an und drückte mir ein feuchtes Tuch über Mund und Nase.

“Du wirst nirgendwo hingehen Luca”, war das letzte was ich meinen Vater sagen hörte, bevor bei mir endgültig die Lichter ausgingen.

Jonas: Kein Lebenszeichen von Luca

Schon als ich mich von Luca verabschiedete, hatte ich ein ganz ungutes Gefühl. Ich wusste nicht warum, aber mich ergriff eine nervöse Unruhe. Als ich zu Hause angekommen war, wurde dieses Gefühl mit jeder Minute, die verstrich und Luca sich nicht meldete, immer schlechter. Bald schon hielt ich diese Warterei nicht mehr aus und schrieb Luca eine Textnachricht, dass er sich gleich bei mir melden solle, sobald er das lesen würde. Sollte Luca wieder vergessen haben, sich an sein Versprechen zu halten und mich nach dem Gespräch mit Finn gleich anzurufen, wäre ich langsam echt sauer auf ihn - er sollte doch wissen, dass ich mir wahnsinnige Sorgen um ihn machte. Die Zeit zog ins Land, aber von Luca kam kein Lebenszeichen. Daher beschloss ich ihn anzurufen, doch Luca’s Handy schien aus zu sein, denn es meldete sich nur die Mailbox. So langsam begann ich mir ernsthaft Sorgen zu machen, ich wurde das Gefühl nicht los, dass hier irgendetwas nicht stimmte, denn Luca’s Handy war eigentlich nie aus. Mir gingen tausend Schreckensszenarien durch den Kopf: Was, wenn diese ganze Versöhnungsnummer mit Finn doch eine Falle war und Luca jetzt seinen Eltern wieder in die Hände gefallen war - ich mochte gar nicht daran denken. Nein, das konnte nicht sein, aber was wenn doch? Luca vertraut Finn blind, soviel ist sicher, was wenn sie diese Tatsache ausgenutzt und ihn in einen Hinterhalt gelockt haben? Verdammt, ich hätte nicht auf Luca hören und darauf bestehen sollen, ihn zu begleiten. Jetzt machte ich mir schreckliche Vorwürfe. Angestrengt dachte ich darüber nach, was jetzt zu tun wäre: Ok, zuerst einmal bei Marie anrufen, vielleicht ist er ja doch schon wieder zu Hause und hat nur vergessen sich zu melden.

Ich schnappte mir mein Handy und rief Marie an, die auch sofort abnahm.

“Na endlich meldet ihr euch. Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Du kannst deinen Freund ausrichten, dass er sich ruhig mal früher hätte melden können.”

“Scheiße Marie, dass heißt bei euch ist er auch nicht aufgetaucht?”

“Nein, ich versuche schon die ganze Zeit ihn zu erreichen, aber es geht immer nur seine Mailbox ran.”

“Fuck, ich habe ein ganz ungutes Gefühl bei der Sache. Ich bin mir sicher, dass er in eine Falle gelockt wurde und seine Eltern ihn jetzt wieder haben.”

“Jetzt male nicht gleich den Teufel an die Wand, vielleicht dauert das Gespräch ja länger und sie sind noch was trinken gegangen oder so und sein Akku ist vielleicht einfach leer.”

“Findest du nicht, dass das zu viele “vielleichts” sind. Luca weiß doch, dass wir uns Sorgen machen und er hätte sich auf jeden Fall bei uns gemeldet, zur Not halt mit Finn’s Handy.”

“Ja Scheiße, du hast Recht! Hier stimmt was nicht. Wo bist du gerade? Kannst du vorbei kommen? Am besten nimmst du deine Eltern noch mit, dann überlegen wir gemeinsam was zu tun ist.”

“Ok, wir kommen gleich vorbei.”

Aufgeregt unterrichte ich meinen Eltern was geschehen ist und erzählte ihnen auch von meinem Verdacht, dass Luca etwas zugestoßen sein könnte. Sie versuchten mich zwar zu beruhigen, aber ich konnte in ihren Gesichtern sehen, dass sie sich ebenfalls Sorgen machten. Daher erklärten sie sich auch sofort einverstanden, mich zu den Baumanns zu begleiten.

Als wir dort eintrafen, herrschte bereits nervöse Betriebsamkeit. Es wurde rege diskutiert, was jetzt am besten zu tun sei.

“Ok, wir müssen jetzt einen kühlen Kopf bewahren. Hat jemand zufällig die Telefonnummer von diesem Finn”, fragte Maries Mutter.

Alle Blicke waren jetzt auf mich gerichtet.

“Nein, ich war zwar mit ihm und Luca’s anderen Freunden auf diesem Kongress in Großstadt, aber Nummern habe ich mit keinem ausgetauscht.”

“Aber die Telefonnummer von Lucas Eltern hast du?”

“Ja Frau Baumann, aber ich bezweifle, dass die uns weiterhelfen werden.”

“Naja, einen Versuch ist es Wert, vielleicht ist Luca ja wirklich nicht bei denen und hatte einen Unfall, oder so was?”

Ich wurde ganz bleicht im Gesicht, denn diese Möglichkeit hatte ich noch gar nicht in Betracht gezogen.”

“Gut, dann lasst uns dort anrufen.”

Ich gab Frau Baumann die gewünschte Nummer und sie zog sich zum Telefonieren in ein ruhiges Zimmer zurück. Die Zeit in der wir auf ihre Rückkehr warteten, erschien mir wie eine Ewigkeit. Als ich es vor Ungewissheit schier nicht mehr aushielt und schon in das Zimmer stürmen wollte, in dem sie telefonierte, kam sie endlich mit ernster Miene raus.

“Was ist los? Was haben sie gesagt?”

“Also ich habe mit Luca’s Vater gesprochen und er behauptet, dass sie Luca seit dem Tag, als sie an der Schule waren, nicht gesehen haben. Ganz im Gegenteil, er hat mir noch Vorwürfe gemacht, dass wir unserer Aufsichtspflicht nicht nachgekommen sind und es ein Nachspiel haben wird, falls Luca irgendetwas zustoßen sollte. Also entweder ist er ein sehr begabter Lügner oder Luca ist wirklich nicht bei seinen Eltern.”

“Mensch der lügt doch”, entfuhr es Marie.

“Und was wenn nicht? Also ich sag euch was wir jetzt tun: Wir rufen alle Krankenhäuser in der Umgebung an, ob dort in den letzten Stunden ein Junge, auf den Lucas Beschreibung passt, eingeliefert wurde und wir recherchieren gleichzeitig im Internet nach Verkehrsunfällen in der Gegend.”

Gesagt - getan. Die Aufgaben wurden aufgeteilt und wir machten uns gleich an die Arbeit. Nach intensiver Recherche mussten wir aber feststellen, dass weder ein Junge, auf den Lucas Beschreibung passt, in ein Krankenhaus in der Umgebung eingeliefert wurde, noch es irgendwelche relevanten Verkehrsunfälle in der Gegend gegeben hatte. Damit blieb nur noch als letzte Option die Polizei zu rufen, da ja das Aufenthaltsbestimmungsrecht bei der Familie Baumann lag und Luca mit hoher Wahrscheinlichkeit gegen seinen Willen von seinen Eltern festgehalten wurde. Frau Baumann übernahm auch diese Aufgabe, allerdings mit geringem Erfolg: Die Beamten teilten ihr mit, dass sie erst frühestens 24 Stunden nach Lucas Verschwinden tätig werden könnten und dass es wohl nichts ungewöhnliches in Lucas Alter wäre, mal über Nacht wegzubleiben. Diese Ignoranz brachten mich schier zur Weißglut. Am liebsten wäre ich persönlich zu Lucas Eltern gefahren und hätte Luca da rausgeholt, aber die anderen meinten, dass es vermutlich keine gute Idee wäre, weil Lucas Eltern dann sofort die Polizei rufen würden. Uns blieb also nichts anderes übrig, als die 24 Stunden Frist abzuwarten. Es hat meine Eltern ein hohes Maß an Überredungskunst gekostet, um mich davon zu überzeugen, mit ihnen nach Hause zu gehen und einzusehen, dass wir heute einfach nichts mehr tun konnten. Widerwillig verabschiedete ich mich von den Baumanns und begleitete meine Eltern nach Hause, nicht ohne uns für den nächsten Nachmittag zu verabreden, um dann mit Hilfe der Polizei Luca da rauszuholen. An diesem Abend fiel es sehr schwer Schlaf zu finden; Ich wälzte mich die ganze Nacht unruhig hin und her und hoffte, dass es Luca gut geht. Ich wollte mir nicht vorstellen, dass seine Eltern ihm etwas antun würden, dazu wären sie nicht in der Lage, sagte ich mir. Sie liebten ihn, zwar auf ihre ganz eigene verschrobene Art und Weise, aber er war schließlich jetzt ihr einziger Sohn, also würden sie ihm auch nichts tun. Dieser Gedanke beruhigte mich ein wenig, so dass ich dann doch noch etwas Schlaf fand.

Luca: Wo bin ich?

Als ich aufwachte, verspürte ich nur unendliche Kopfschmerzen. Es fiel mir sehr schwer, meine Augen zu öffnen, da mir ganz schummrig und schwindelig war. Vorsichtig versuchte ich es trotzdem und stellte fest, dass ich in einem Bett in völliger Dunkelheit lag. Verdammt, was war nur passiert? Ok, jetzt bloß nicht in Panik verfallen. Ganz langsam kam mein Gehirn wieder in Gang und ich versuchte mich zu erinnern. Ich hatte mich mit Finn getroffen und wurde von ihm an meinen Vater verraten. Richtig und als ich gerade mit Finn um mein Handy rangelte, wurde mir irgendein feuchtes Tuch auf Mund und Nase gedrückt und es wurde dunkel. Scheiße, wo war ich nur? Ich musste hier weg. Als ich versuchte aufzustehen, bemerkte ich das ich mich kaum bewegen konnte. Ich war sowohl an den Händen, als auch an den Füßen an irgendetwas festgebunden. Scheiße, ich war in einem Horrorfilm gefangen. Entgegen meiner guten Vorsätze stieg jetzt doch Panik in mir auf und ich begann wie verrückt an meinen Fesseln zu rütteln, doch sie bewegten sich keinen Zentimeter. Ich begann panisch um Hilfe zu schreien und hörte schließlich Schritte auf meinen Raum zukommen. Jemand öffnete die Tür und schaltete das Licht ein. Reflexartig kniff ich meine Augen zusammen, da die plötzliche Helligkeit in meinen Augen schmerzte. Nur langsam gewöhnten sich meine Augen daran und ich nahm schemenhaft eine Gestalt war, die direkt vor meinem Bett stand. Mit Schrecken erkannte ich, dass es sich dabei um meinen Vater handelte.

“Na mein Sohn bist du endlich wach? Verzeih mir, dass ich dich betäuben musste, aber freiwillig hättest du mich wohl kaum begleitet.”

Ich sah an mir herab und erkannte, dass ich an Händen und Füßen am Bett festgebunden war.

“Sag mal, bist du jetzt völlig übergeschnappt? Mach mich sofort los.”

“Tut mir leid, aber das musste sein, damit du nicht gleich nachdem du aufwachst, auf dumme Ideen kommst.”

“Wo bin ich hier? Wo hast du mich hingebracht?”

“Du bist in der kleinen Ferienhütte deiner Großeltern, hier ist rundherum nur Wald und sonst nichts. Die nächste Straße ist einige Kilometer entfernt. Wenn du vernünftig bist und nicht versuchst zu fliehen, mach ich deine Fesseln ab.”

“Ja doch, aber bitte mach mich los.”

Mein Vater begann ganz sachte die Fesseln an meinen Händen zu lösen. Es war eine riesige Erleichterung endlich meine Hände wieder bewegen zu können. Ich begann die schmerzhaften Druckstellen an meinen Arm zu reiben, da ich mir die Handgelenke bereits leicht aufgescheuert hatte.

“So, wenn du mir jetzt versprichst, keinen Ärger zu machen, dann löse ich auch die Fesseln an deinen Füßen. Versprichst du mir das?”

“Ja, ich verspreche es”, log ich und machte mich insgeheim bereit zur Flucht.

Mein Vater schien mir zu glauben und öffnete nacheinander erst die eine und dann noch die andere Fessel. Sobald meine Füße frei waren, nutzte ich den Überraschungseffekt und trat ihm so fest ich konnte auf die Nase. Mein Vater schrie auf und sackte schmerzerfüllt zusammen. Das war die Gelegenheit zur Flucht: So schnell ich konnte sprang ich aus dem Bett, aber meine Füße waren leider total taub und rutschten mir weg, so dass ich mich erst mal lang machte. Ich robbte panisch in Richtung Tür und schaffte es mit letzter Kraft mich am Türhenkel hochzuziehen und diese zu öffnen. Immer noch wackelig auf den Beinen, schleppte ich mich zur Haustür und versuchte diese zu öffnen. Abgeschlossen, scheiße was nun? Nach hinten über die Terrassentür heraus. Ich machte kehrt und rannte so schnell es meine Beine zuließen zum Hinterausgang.

“Papa, pass auf, er versucht zu fliehen”, hörte ich meinen Vater hinter mir rufen.

Scheiße, mein Opa war also auch da. Kaum hatte ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, tauchte er auch schon vor mir auf und versuchte mir den Weg zu versperren.

“Luca, sei doch vernünftig. Wir versuchen doch nur dir zu helfen.”

“Opa, geh mir aus den Weg. Ich will dir nicht weh tun.”

“Das kann ich leider nicht zulassen, mein Junge.”

“Also gut, du hast es ja nicht anders gewollt.”

Ich stieß ihn rigoros zur Seite, er verlor das Gleichgewicht und fiel hin. Diese Gelegenheit nutzte ich, öffnete die Terrassentür und war endlich in Freiheit. Ich rannte so schnell mich meine Füße tragen konnten. Da es aber bereits dunkel war und ich in meiner Panik vergaß das Licht auf der Terrasse einzuschalten, kam ich nicht weit. Ich stolperte und ging zu Boden. Verdammt, ich verhielt mich so dumm, wie die Leute in den Horrorfilmen, die immer im entscheidenden Moment, wenn der Killer hinter ihnen her war, stolperten und sich jeder über ihre Tollpatschigkeit aufregen musste. Ich war definitiv auch nicht besser, dachte ich mir als ich am Boden lag. Verrückt, was einem für Gedanken in einer solchen Situation durch den Kopf gehen. Mühsam rappelte ich mich auf und war gerade im Begriff meine Flucht fortzusetzen, als mir von hinten wieder jemand ein chloroformiertes Tuch über Mund und Nase hielt. “Luca Hellmann du bist ein verdammter Idiot”, war das letzte was ich dachte, bevor mir schwarz vor Augen wurde. So eine Chance kommt nicht so schnell wieder.

Jonas: Sorge um Luca

Völlig gerädert wachte ich am nächsten Morgen auf und mein erster Gedanke galt Luca. Ich würde nicht aufgeben, bis ich meinen Freund wieder zurückhaben würde, koste es was es wolle. Wie konnte man nur so kranke Eltern haben, die ihren eigenen Sohn, gegen seinen Willen festhalten, das konnte ich einfach nicht verstehen. Da uns bis zum Nachmittag eh die Hände gebunden waren, überredeten mich meine Eltern in die Schule zu gehen.Vielleicht würde mir ja ein bisschen Ablenkung ganz gut tun und ich müsste nicht pausenlos an Luca zu denke. Diese Hoffnung stellte sich im Nachhinein als Schwachsinn heraus, denn ich bekam vom Unterricht überhaupt nichts mit und starrte die ganze Zeit nur auf den leeren Stuhl neben mir. Marie war zum Glück auch da. Doch auch sie war total übermüdet und fertig mit der Welt. Die ganze Klasse, vor allem Frau Schnell machten sich Sorgen um Luca, als sie von uns erfuhren, dass er vermutlich von seinen Eltern verschleppt worden war, selbst Marcel machte ein betroffenes Gesicht. Er suchte auch nochmal das Gespräch mit mir und wollte sich vermutlich entschuldigen, aber ich hatte für so was gerade überhaupt keinen Nerv und ließ ihn einfach stehen.

Ich war froh, als dieser Schultag endlich vorüber war. Marie ging es nicht anders. Als am späten Nachmittag die quälende 24 Stundenfrist endlich vorüber war, versammelten wir uns bei Familie Baumann und meldeten Luca jetzt auch offiziell bei der Polizei als vermisst. Auch äußerten wir unseren Verdacht, dass er von seiner Familie festgehalten wird. Die Beamten versprachen uns, noch heute bei Lucas Eltern vorbei zuschauen. Sie ermahnten uns aber dringend, die Ermittlungsarbeit ihnen zu überlassen und nichts auf eigene Faust zu unternehmen. Da Marie und ich aber nicht untätig herumsitzen wollten, redeten wir so lange auf unsere Eltern ein, bis wir uns mit zwei Autos auf den Weg zu Lucas Eltern machten. Im Auto klingelte mein Handy plötzlich und zeigte mir den Eingang einer SMS an. Mein Herz setzte für einen Moment aus, als ich sah um wen es sich bei den Absender handelte, die Textnachricht war von Luca.

“Oh mein Gott, ich glaube Luca ist wieder frei, ich habe gerade eine SMS von ihm bekommen”, rief ich aufgeregt an die Adresse meiner Eltern.

“Und was schreibt er?”

“Moment Mama, ich bin ja gerade dabei.”

Aufgeregt öffnete ich die SMS und sie hatte folgenden Inhalt:

“Mir wird gerade alles im Moment zu viel. Ich habe mir eine Auszeit genommen, um nachzudenken. Keine Sorge mir geht es gut. Luca”

“Dann wissen wir jetzt wenigstens, dass es ihm gut geht”, meinte Papa.

“Quatsch, diese SMS ist nie im Leben von Luca, die muss sein Vater verschickt haben, die haben ihm doch garantiert sein Handy weggenommen.”

“Vielleicht wurde ihm ja wirklich der ganze Ärger mit seinen Freunden und seinen Eltern zu viel und er ist wieder unsicher geworden. Unterschätze nicht, dass er sein ganzes Leben in dieser Religionsgemeinschaft verbracht hat und ihm eingetrichtert wurde, dass seine momentane Lebensweise falsch ist.”

“Nein Mama, ich kenne ihn. Ich weiß, dass er sich definitiv für mich entschieden hat. Er möchte sein ganzes altes Leben hinter sich lassen. Diese SMS ist definitiv nicht von ihm.”

“Es wäre ja nicht das erste Mal, dass er es sich wieder anders überlegt und zu seiner Religionsgemeinschaft zurückkehrt”, gab meine Mutter zu bedenken.

“Mann Mama, das kannst du ja wohl nicht miteinander vergleichen. Das letzte Mal hat sich sein Bruder das Leben genommen und dass man in einer solchen Situation total durch den Wind sein kann, ist ja wohl verständlich.”

“Da hast du wohl Recht Schatz, entschuldige bitte. Ich will doch nur, dass du nicht noch einmal so verletzt wirst.”

“Schon gut. Weiß ich doch Mama.”

Endlich waren wir nahezu gleichzeitig mit den Baumanns an Luca’s Elternhaus angekommen. Ich lief gleich zu Marie und zeigte ihr die vermeintliche SMS von Luca. Sowohl Marie, als auch ihre Eltern teilten meine Meinung, dass es sich bei dem Absender nicht um Luca handelte. Kurz nach uns trafen dann auch die Polizeibeamten ein. Sie waren etwas ärgerlich darüber, dass wir ebenfalls vor Ort waren und ermahnten uns erneut, ihnen die Arbeit zu überlassen und uns nicht einzumischen. Wir warteten angespannt vor dem Haus auf die Rückkehr der Polizeibeamten und ich hoffte inständig das sie Luca dort vorfanden und mit sich nahmen. Etwa 30 Minuten später verließen die Polizisten das Haus wieder, allerdings ohne Luca. Sie kamen auf uns zu. Einer der beiden sagte:

“Wir haben das Haus der Familie Hellmann ausführlich durchsucht und keine Spur von Luca gefunden. Seine Eltern machen sich auch große Sorgen. Herr Hellmann hat eine SMS von seinem Sohn bekommen, aus der eindeutig hervorgeht, dass es ihm gut geht, er aber ein bisschen Abstand von allem benötigt. Die Mobilfunknummer konnten wir eindeutig Luca zuordnen. Mehr können wir im Augenblick nicht tun. Er wird schon bald wieder auftauchen.”

“Das ist doch nicht Ihr Ernst!”, schrie ich wütend. “Und damit ist die Sache jetzt für Sie erledigt? Ich habe die gleiche SMS bekommen und ich bin mir ganz sicher, dass nicht Luca sie geschrieben hat.”

“Achten Sie bitte auf Ihren Tonfall, junger Mann. Wir konnten den Absender der SMS eindeutig als Luca Hellmann identifizieren.”

“Ja aber verstehen Sie denn nicht? Sein Vater hat ihm wahrscheinlich sein Handy weggenommen und selbst die SMS geschrieben. Sie haben ihn irgendwohin verschleppt und halten ihn dort fest. Haben Sie denn schon versucht sein Handy zu orten?”

“Für derartige Theorien gibt es aktuell überhaupt keine Anhaltspunkte. Das Handy haben wir auch versucht zu orten, allerdings ohne Erfolg, wahrscheinlich hat er es ausgeschaltet.”

“Merken Sie denn nicht, dass da irgendetwas faul an der Sache ist?”

“Ich bin mir sicher, dass Ihr Freund bald wieder auftauchen wird und sich die ganze Sache aufklären wird. Gehen Sie jetzt bitte alle wieder nach Hause.”

Danach setzten sich die beiden Polizeibeamten ins Auto und fuhren davon. Ich konnte einfach nicht fassen, dass die Polizisten es sich so einfach machten.

“Das kann doch nicht deren ihr Ernst sein? Es kann doch nicht sein, dass sie Luca entführt haben und damit durchkommen?”

Ich war außer mir vor Wut. Ich sah plötzlich rot und stürmte auf die Haustür von Lucas Eltern zu.

“Jonas komm zurück, du machst alles nur noch schlimmer”, hörte ich meine Mutter hinter mir herrufen, aber das war mir in diesem Moment egal.

Ich klingelte Sturm, bis mir ein sichtlich genervter Herr Hellmann die Tür öffnete.

“Was willst du hier? Hast du nicht schon genug angerichtet? Immerhin ist mein Sohn wegen dir abgehauen, weil du ihn total verwirrt hast.”

“Ich glaube Ihnen kein Wort. Ich weiß, dass Sie Luca entführt haben und ich will jetzt sofort wissen, wo Sie ihn hingebracht haben.”

Mit Blick auf die anderen, die inzwischen auch vor der Haustür standen, antwortete er:

“Ich lasse mir so infame Unterstellungen nicht an den Kopf werfen. Ich und meine Frau, machen uns selbst große Sorgen um unseren Sohn. Sie alle haben zu verantworten, dass er jetzt abgehauen ist, mit dem ganzen Unsinn, dem Sie ihm eingeredet haben. Aber mein Sohn weiß, wo er hingehört und wird bald zu uns zurückkehren.”

“Ja das könnte Ihnen so passen. Akzeptieren Sie endlich, dass Luca nichts mehr mit Ihnen zu tun haben möchte. Sie können ihn nicht zwingen zu Ihnen zurückzukehren, das ist doch krank.”

“Pass auf, wie du mit mir redest Bürschchen. Ich rate euch jetzt dringend alle zu verschwinden, ansonsten werde ich die Polizei rufen und euch wegen Hausfriedensbruchs anzeigen.”

Mühsam zogen mich meine Eltern von der Tür weg, am liebsten hätte ich ihm das selbstgerechte Grinsen, dass er in diesem Moment enthüllte, aus dem Gesicht geschlagen. Uns blieb nichts anderes übrig, als den Nachhauseweg anzutreten. Später saßen wir bei den Baumanns zusammen und diskutierten unsere weitere Vorgehensweise, doch niemand hatte einen brauchbaren Vorschlag. Es war zum Verzweifeln. Ich wollte Luca unbedingt helfen, wusste aber nicht wie und die Polizei war auch keine große Hilfe. Plötzlich kam mir eine Idee.

“Luca hat eine Freundin bei den Zeugen, Rahel. Die beiden haben damals zusammen Daniels Tagebuch entdeckt und sie war es auch, die ihm ermutigt hat, sein Elternhaus zu verlassen. Ich habe zwar keine Handynummer von ihr, aber sie hat mir mal erzählt auf welche Schule sie geht. Ich schlage vor, dass Marie und ich gleich morgen früh versuchen, sie vor der Schule abzupassen und mit ihr zu reden. Vielleicht weiß sie ja irgendetwas? Wenn uns jemand helfen kann, dann sie.”

Da keiner eine bessere Idee hatte, wurde mein Vorschlag angenommen. Meine und Maries Eltern wollten uns auch für morgen eine Entschuldigung für die Schule schreiben. Ich war echt froh, dass sie in der Sache so hinter uns standen. Selbst meine Mutter hatte inzwischen ihre Zweifel Luca gegenüber einigermaßen abgelegt und war inzwischen auch überzeugt, dass da irgendetwas faul war. Sowohl mein, als auch Maries Vater hatten morgen allerdings wichtige berufliche Termine, die sie nicht verschieben konnten, daher war es an Marie, mir und unseren Müttern, die Sache morgen früh durchzuziehen. Unseren Vätern war allerdings nicht ganz wohl bei der Sache, daher ermannten sie uns, keine wilden Sachen zu unternehmen und sobald wir Lucas Aufenthaltsort in Erfahrung gebracht hätten, sofort die Polizei zu verständigen und nichts auf eigene Faust zu unternehmen. Nachdem wir ihnen das versprochen hatten, waren sie zähneknirschend mit unserem Plan einverstanden. Bald darauf lösten wir unsere Versammlung auf und verabredeten uns für den nächsten Morgen um 7 Uhr an Rahels Schule, da wir sie auf keinen Fall verpassen wollten ...

Luca: Die Gehirnwäsche beginnt

Ich kam mit einem Schock zu mir, weil ich plötzlich ganz nass war. Ich öffnete erschrocken meine Augen und erkannte meinen Vater, der mir so eben einen Eimer Wasser über den Kopf geschüttet haben musste. Ich konnte mich nicht bewegen, da ich mit Fesseln an einem Stuhl fixiert war. Mein Vater und mein Opa standen jeweils an einem Ende des Stuhles und beteten für mich, dass mir Gott doch die Kraft schenken mögen, gegen meine schändlichen Begierden anzukämpfen.

“Bitte hört doch auf mit diesem Schwachsinn. Ich bin nicht krank und ich bin auch nicht verwirrt, ich bin einfach nur verliebt. Ich bin verliebt in einen Jungen und nichts was ihr tut, wird daran etwas ändern.”

“Sei unbesorgt mein Junge, wir werden dir helfen. Ich weiß, dass du die ganze Zeit dem schädlichen Einfluss von diesem Jungen ausgesetzt warst und dadurch im Glauben schwach geworden bist. Du wirst deinen Glauben wiederfinden.”

Jetzt lasen sie mir abwechselnd Bibelstellen vor, um mir zu zeigen, dass mein homosexueller Lebenswandel von Gott verurteilt wird. Ich konnte diese Heuchelei nicht mehr ertragen und schrie meinen Vater an:

“Siehst du denn nicht, dass du ganz genau die gleiche Scheiße mit Daniel abgezogen hast. Reicht es denn dir nicht, dass du einen Sohn unter die Erde gebracht hast? Willst du mich auch noch unglücklich machen?”

Das hatte gesessen. Mein Vater wurde knallrot im Gesicht und gab mir eine schallende Backpfeife. Mir schossen Tränen ins Gesicht, weniger durch den Schmerz, viel mehr durch die Verzweiflung, die ich gerade empfand.

“Wann verstehst du endlich, dass Daniels Tod ein Unfall gewesen ist. Er war schon auf den Weg der Besserung, er war beinahe geheilt, ich hätte ihn aber wahrscheinlich noch etwas länger hier behalten sollen. Die Konfrontation mit Max und seiner Freundin kam noch zu früh für ihn und deswegen hat er zu Alkohol und Tabletten gegriffen, aber umbringen wollte er sich sicher nicht. Bei dir werde ich denselben Fehler aber garantiert nicht mehr machen, ich behalte dich solange hier, bist du vollständig geheilt bist.”

“Verdammt, du bist doch krank. Ich bin nun mal schwul und Daniel war es auch. Es ist keine verdammte Krankheit, sondern man wird einfach so geboren. Man kann sich seine Sexualität nun mal nicht aussuchen, akzeptiere das doch endlich. Und dass du bei dieser Entführung auch noch mitmachst, Opa.”

“Junge, hörst du dich denn nicht reden? Du bist schon total verblendet und der Teufel hat dich fest in seiner Hand. Wir können nicht zulassen, dass er gewinnt und du dein ewiges Leben verspielst, wir lieben dich doch Junge”, sagte mein Opa.

“Das ist keine Liebe. Wenn ihr mich wirklich lieben würdet, dann würdet ihr mich so akzeptieren wie ich bin. Aber ihr liebt mich nur wenn ich so bin, wie ihr mich gerne hättet.”

“Nein Junge, dass siehst du ganz falsch, wir tun das alles doch nur für dich.”

Plötzlich kam meine Mutter herein und umarmte mich mit Tränen in den Augen.

“Mein Gott! Muss dass den sein, dass er an einen Stuhl gefesselt ist.”

“Mama, bitte hilf mir”, flehte ich sie an.

“Wir hatten keine andere Wahl, er hat versucht abzuhauen”, rechtfertigte sich mein Vater.

“Ich habe ihm etwas zu essen mitgebracht und Klamotten zum wechseln.”

“Sehr gut, ich fürchte, dass wird noch einige Tage mit ihm dauern. Er ist bisher überhaupt nicht einsichtig”, meinte mein Vater.

“So, ihr macht jetzt mal eine Pause und trinkt eine Kaffee. Luca muss jetzt etwas essen, er sieht schon ganz entkräftet aus. Und nehmt ihm diese furchtbaren Fesseln an den Händen weg.”

“Ja, aber nur an den Händen, die an den Füßen bleiben dran. Wenn irgendetwas ist, wir sind nebenan.”

Bevor die beiden den Raum verließen, wurde mir noch die Handfesseln abgenommen, so dass ich meine Hände endlich wieder frei bewegen konnte.

“Mama, bitte du musst mir helfen, die sind hier alle völlig verrückt geworden”, flehte ich sie an, als wir alleine waren.

Wortlos stellte mir meine Mutter einen großen Teller mit meiner Lieblingsspeise hin.

“Ich habe Lasagne für dich gemacht. Iss erst mal was.”

“Bitte Mama, ich habe gerade echt keinen Hunger.”

“Du isst jetzt erst mal was und dann reden wir, basta.”

Also gehorchte ich und schlang das Essen hinunter, was sich im Nachhinein als ein Fehler herausstellte, da meine Mutter mir prompt noch einen zweiten Teller hinstellte. Diesmal aß ich langsamer, bis meine Mutter endlich der Meinung war, dass ich nun satt sein müsse.

„Ok jetzt können wir reden, was willst du mir sagen?”

“Bitte Mama, du musst mich hier rausholen. Ich gehe hier zur Grunde.”

“Papa und Opa wollen dir doch nur helfen und wenn du erst geheilt bist, wirst du ihnen noch dankbar sein.”

“Mama bitte, ich muss von gar nichts geheilt werden. Ich bin nicht krank, ganz im Gegenteil, ich bin zum ersten Mal in meinem Leben wirklich glücklich.”

“Nein! Du bist verwirrt, du weißt doch gar nicht was du da redest.”

“Ich bin nicht verwirrt Mama, ich war noch nie so klar im Kopf. Ich bin einfach nur verliebt, genauso wie Daniel und Max es gewesen waren. Verstehst du denn nicht, dass Daniel an dem Druck zerbrochen ist, nicht zu seinen Gefühlen stehen zu können und sich deshalb das Leben genommen hat.”

“Luca, rede doch nicht so ein Schwachsinn, du weißt genau, dass Daniels Tod ein Unfall war.”

“Nein, eben nicht! Und ich kann es auch beweisen. Weißt du, ich bin nicht ohne Grund von heute auf morgen von zu Hause weg. Ich habe beim Durchstöbern von Daniels Sachen sein Tagebuch gefunden. Und dort steht es schwarz auf weiß.”

“Das glaube ich nicht.”

“Doch Mama, wach endlich auf. Ich hatte doch einen Rucksack dabei, als ihr mich entführt habt. Wo ist der jetzt?”

“Entführt, also wirklich, so kannst du es ja wohl nicht nennen, immerhin sind wir deine Eltern.”

“Verdammt, dann nenn es halt wie du willst. Wo ist mein Rucksack?”

“Der steht zu Hause in deinem Zimmer, wo er hingehört.”

“Okay gut. Du musst mir bitte etwas versprechen.”

“Was denn, mein Schatz?”

“Nimm gleich nachdem du heute nach Hause kommst, Daniels Tagebuch aus meinem Rucksack und lies es. Versprichst du mir das?”

“Also gut, ich werde dieses angebliche Tagebuch lesen, zufrieden?”

“Ja, danke Mama.”

“Brauchst du sonst noch etwas, mein Schatz?”

“Nein Mama, lies einfach nur das Tagebuch, ok?”

“Ok, ich muss dann langsam los, ist eine lange Fahrt. Tschüss, mein Schatz und sei nicht böse auf uns, wir wollen dir doch nur helfen.”

“Tschüss Mama und vergiss das Tagebuch nicht.”

“Nein, werde ich nicht, habe ich dir doch versprochen.”

Mit diesen Worten verließ sie die Waldhütte und machte sich auf den Weg nach Hause. Nachdem meine Mutter weg war, wurde ich die halbe Nacht von Opa und Papa

wach gehalten. Sie redeten immer wieder abwechselnd auf mich ein, lasen mir Bibeltexte vor oder beteten für mich. So sehr ich auch beteuerte nicht krank zu sein, sie akzeptierten es einfach nicht und intensivierten nur noch ihre Bemühungen mich zu heilen.

Erst als ich schon völlig am Ende war und kaum noch meine Augen aufhalten konnte, hatten sie ein Einsehen und verfrachteten mich wieder ins Bett, an das ich sicherheitshalber wieder fixiert wurde. Ich war so erschöpft, dass ich innerhalb von Sekunden eingeschlafen war.

Jonas: Rahel - meine letzte Hoffnung

Lange bevor mein Wecker klingelte, erwachte ich nach einer unruhigen Nacht. Die ganze Nacht wälzte ich mich hin und her. Immer wieder fragte ich mich, ob es Luca wohl gut geht. Es war wie ein Albtraum, in dem ich gefangen war und aus dem ich einfach nicht aufwachen konnte. Rahel war meine letzte Hoffnung herauszufinden, wo sie Luca gefangen hielten. Sie musste mir einfach helfen. Da an schlafen eh nicht mehr zu denken war, stand ich auf und ging duschen. Eine halbe Stunde später hatte ich bereits Kaffee aufgesetzt und den Frühstückstisch gedeckt. Meine Mutter staunte nicht schlecht, als sie im Morgenmantel aus dem Schlafzimmer kam.

“Schatz, was machst du denn so früh schon hier?”

“Ich konnte nicht mehr schlafen und dachte, dass ich mich ein bisschen ablenke und Frühstück mache.”

“Das ist aber lieb von dir. Komm mal her.”

Meine Mutter nahm mich fest in die Arme und sagte:

“Ich verspreche dir, dass wir Luca finden werden, koste es was es wolle, ok?”

“Ok, ich mache mir nur so furchtbare Sorgen um ihn. Was ist, wenn sie ihm etwas antun, weil er sich nicht bekehren lassen will?”

“Das werden sie nicht tun Schatz. Sie sind immer noch seine Eltern und werden ihm garantiert nicht weh tun. Und jetzt tu mir den Gefallen und versuche ein bisschen was zu essen.”

Obwohl mir überhaupt nicht nach Essen war, tat ich meiner Mutter den Gefallen und würgte ein paar Bissen herunter, bis ich sie endlich zum Aufbruch bewegen konnte, denn ich wollte auf keinen Fall riskieren, Rahel zu verpassen. Auf dem Weg zu Rahels Schule sammelten wir noch, wie verabredet, Marie und ihre Mutter ein und stellten kurze Zeit später in der Nähe der Schule unser Auto ab. Unsere Mütter blieben auf unseren Wunsch hin im Auto, während Marie und ich uns vor der Schule in Stellung brachten. Trotz der frühen Uhrzeit - es war gerade einmal kurz nach sieben - kamen schon vereinzelt die ersten Schüler an uns vorbei. Ich hoffte inständig, dass wir Rahel nicht schon verpasst hatten. Je später es wurde und je mehr Schüler ins Schulgebäude strömten, um so unruhiger wurde ich. Und dann sah ich Rahel plötzlich. Mein kurzer Hoffnungsschimmer erlosch sofort wieder, als ich sah, dass sie von Lea und Finn begleitet wurde.

“Scheiße, da kommt sie, aber sie ist nicht alleine. Ich muss mich verstecken, wenn Finn und Lea mich sehen gibt es nur Ärger und sie wird nicht mit mir sprechen. Bitte Marie, ich warte um die Ecke, du musst dir was einfallen lassen, dich kennen sie nicht.”

“Ok, lass mich mal machen.”

Ich konnte aus meinem Versteck sehen wie Marie die drei auf sich zukommen ließ und dann ansprach. Ich war nah genug dran, um das Gespräch verfolgen zu können.

“Hallo, ich bin die Marie Baumann und gerade erst mit meinen Eltern hierher gezogen. Der Direx hat gemeint, dass mir eine Rahel Kepler die Schule und so zeigen soll und mir helfen soll mich zurechtzufinden. Die Leute haben auf euch gezeigt, als ich nach Rahel gefragt habe.”

“Ja das bin ich. Freut mich dich kennenzulernen. Also gut, dann zeig ich dir mal alles, was du wissen musst.”

Auch Finn und Lea stellten sich artig vor und schüttelten Marie die Hand.

“He, ist doch kein Problem. Wir können ihr doch zusammen alles zeigen”, schlug Lea plötzlich vor.

Verdammt, diese dämliche Pute machte gerade unseren schönen Plan zunichte. Ich wusste nicht, wie sich Marie da wieder rauswinden wollte. Zum Glück hörte ich Rahel sagen:

“Nein, ist schon gut. Geht ruhig schon mal vor. Ich zeig ihr schnell alles wichtige und komme dann nach.”

“Aber das ist echt kein Problem, wir können ruhig mitkommen”, ließ Lea nicht locker.

Ich verfluchte diese penetrante Tante langsam wirklich und sah Rahel schon einknicken. Zu meinem Erstaunen aber sagte sie:

“Ne, lasst mal gut sein. Wir schreiben doch gleich Bio und wie ich Finn kenne, will er mit dir vorher bestimmt den Stoff nochmal durchgehen, um doch noch auf den letzten Drücker was zu raffen.”

“Haha, aber sie hat Recht, es wäre wirklich keine schlechte Idee, wenn du mir vorher noch ein paar Fragen beantworten könntest”, meinte Finn kleinlaut.

“Dann komm! Wir sehen uns dann später im Klassenzimmer”, befahl Lea.

“Ja bis später.”

Als die beiden sich in Richtung Schulgebäude entfernten, nahm Marie Rahel zur Seite und sagte:

“Du wirst mich nicht kennen, aber ich oder besser gesagt wir, brauchen dringend deine Hilfe.”

“Doch, ich habe mich sofort an deinen Namen erinnert, als du dich vorgestellt hast. Luca hat mir oft von dir erzählt, deswegen habe ich die anderen auch abgewimmelt. Ist was mit Luca?”

Noch bevor Marie antworten konnte, kam ich aus meiner Deckung und stellte mich neben Marie, die sichtlich zusammenzuckte.

“Verdammt, musst du mich so erschrecken, du Blödmann”, fuhr sie mich an.

“Sorry, war keine Absicht. Hi Rahel.”

“Hi Jonas. Bitte sagt mir, was mit Luca ist. Geht es ihm gut?”

“Keine Ahnung, sag du es uns.“

“Hä, was soll das heißen? Luca hat sich seit unserem Treffen am See nicht mehr bei mir gemeldet. Ich habe mir schon Sorgen gemacht.”

“Heißt das, dass du keine Ahnung hast?”

“Keine Ahnung wovon? Sag mir jetzt verdammt nochmal was los ist.”

“Mist. Einen Tag nach eurem Treffen am See, hat Finn sich bei Luca gemeldet und ihn nochmal um ein Treffen gebeten, um sich angeblich für sein Verhalten zu entschuldigen. Luca ist da hin und seitdem spurlos verschwunden. Wir vermuten, das es eine Falle war und seine Eltern ihn geschnappt haben. Wir standen gestern auch schon mit der Polizei bei denen vor der Tür, aber die behaupten von nichts zu wissen und Luca wurde im Haus auch nicht vorgefunden. Bitte, du bist unsere letzte Hoffnung! Hast du vielleicht irgendeine Idee, wo sie ihn hingebracht haben könnten?”

“Das ist wirklich seltsam. Finn hat mir überhaupt nichts von diesem Treffen erzählt. Gestern Abend hätte das Buchstudium bei den Hellmanns stattfinden sollen, doch es wurde abgesagt, weil sie beide angeblich krank wären. So lange ich denken kann, ist es noch nie vorgekommen, dass das Buchstudium abgesagt wurde. Außerdem hat sich Finn am Sonntag in der Versammlung noch furchtbar über Jonas aufgeregt und gemeint, dass er seinen neuen Lebenswandel niemals akzeptieren werde. Und dann will er sich am Nachmittag plötzlich bei Luca entschuldigen? Das passt doch alles nicht zusammen. Ich glaube, ihr könntet Recht haben. Seit ich Luca am See verteidigt habe, trauen mir Finn und Rahel nicht mehr über den Weg. Das spüre ich. Sie verheimlichen mir etwas. Ständig sind sie heimlich am tuscheln, auch vorhin wieder.”

“Hast du irgendeine Idee, wo sie Luca hingebracht haben könnten?”

“Nein, leider keine Ahnung.”

“Rahel, du hast doch mit Luca zusammen Daniels Tagebuch gelesen. Hatten die nicht damals Daniel auch irgendwohin verschleppt, als sie die Sache mit Max herausgefunden haben.”

“Stimmt, du hast Recht. Jetzt ziehen sie mit Luca die selbe Nummer ab wie damals mit Daniel. Scheiße, ich glaube, ich weiß wo sie ihn festhalten. Lucas Großeltern habe eine kleine Ferienhütte im Wald, etwa zwei Autostunden von hier. Wir waren dort mal alle zusammen campen.”

“Meinst du, dass du noch den Weg dorthin finden würdest?”

“Wenn ihr ein gutes Navi habt, ja. Ich weiß nämlich den Namen des Ortes, bevor das Waldstück anfängt.”

Erleichtert fiel ich ihr um den Hals.

“Das ist ja großartig. Komm schnell, lass uns keine Zeit mehr verlieren und Luca da rausholen.”

Kurz darauf saßen wir alle im Auto und gaben den Ort in das Navi ein, den uns Rahel nannte. Damit ihre Freunde keinen Verdacht schöpften, schrieb Rahel Lea eine SMS in der sie behauptete, dass der neuen Schülerin plötzlich schlecht geworden sei. Weil bei ihr niemand zu Hause sei, hätte sie der Direx gebeten, sie nach Hause zu begleiten. Den Test dürfe sie später im Direktoriat nachschreiben. Sie solle das bitte auch der Lehrkraft so weiterleiten. Rahel meinte, das wir schon längst dort wären, bis diese Lüge auffliegen würde. Wir waren alle ziemlich beeindruckt, wie kreativ Rahel lügen konnte, aber sie meinte nur lachend, dass diese Fähigkeit bei den Zeugen Jehovas überlebenswichtig sei. Als ich dann meinte, dass Luca so was ähnliches auch immer gesagt hat, musste sie herzhaft lachen.

Da meine Mutter wie eine Bekloppte fuhr, erreichten wir das kleine Örtchen schon nach guten 90 Minuten. Von da an navigierte uns Rahel aus dem Gedächtnis. Kurz vor dem Ziel, kam uns plötzlich ein uns sehr bekanntes Auto entgegen ...

Luca: Showdown in der Ferienhütte

Nach einer viel zu kurzen Nacht wurde ich wieder am frühen Morgen von Opa und Papa geweckt. Immerhin wurde mir zum Duschen die Fesseln abgenommen, aber es bestand keine Möglichkeit zur Flucht da ich von den Beiden mit Argusaugen bewacht wurde. Danach wurde ich auch gleich wieder zur Sicherheit an den altbekannten Stuhl fixiert. Nicht einmal zum Frühstück dachten die Beiden daran, meine Fesseln zu lösen, zu groß war ihr Misstrauen mir gegenüber. Als mein Vater versuchte mich mit Rührei zu füttern, sah ich mal wieder rot und spukte ihm die Reste mitten ins Gesicht. Mit hochroten Kopf wischte sich mein Vater die Rühereireste aus dem Gesicht und sagte:

“Gut damit ist das Frühstück für dich beendet, selbst schuld wenn du dich nicht benehmen kannst. Ich würde dir dringend raten, endlich mal deinen Widerstand aufzugeben und zu kooperieren, sonst werden wir noch eine lange Zeit hier bleiben müssen. Und denke nicht, dass ich es nicht durchziehe. Ich habe mir extra Urlaub genommen. Wir haben so lange Zeit wie es nötig ist, um dich wieder auf den Rechten Weg zurückzubringen.”

Inzwischen war ich einfach am Ende meiner Kräfte und so langsam bröckelte mein Widerstand. Mir schossen die Tränen ins Gesicht und ich flehte meinen Vater an:

“Bitte Papa, lass mich doch einfach gehen. Es hat doch keinen Zweck. Ich werde definitiv nicht zu euch und den Zeugen zurückkehren. Verstehe doch, dass ich mit Jonas zum ersten Mal in meinem Leben glücklich bin und das nicht aufgeben kann.”

“Das ist schade mein Sohn. Ich hatte gehofft, dass du schon weiter wärst, aber anscheinend steht uns noch ein langer Weg bevor.”

Und so begann das Martyrium wieder von vorne. Opa und Papa beteten für mich und lasen aus der Bibel vor, in der Hoffnung, dass ich meinen Glauben wiederfinden möge. Da sie für meine Argumente taub waren und mich einfach nicht verstehen wollten, änderte ich mit der Zeit meine Strategie. Ich gab vor langsam einzusehen, dass ich mich in etwas verrannt hatte und die Beziehung zu Jonas zur nichts führen würde. In der Hoffnung, dass sie mich dann endlich frei ließen, versprach ich nach Hause und zu den Zeugen zurückkehren zu wollen und die Beziehung zu Jonas zu beenden. Ich konnte Opa und meinem Vater ansehen, dass sie sich über meine Worte freuten.

“Das freut mich zu hören mein Sohn. Endlich machen wir Fortschritte.”

“Dann könnt ihr mich ja jetzt freilassen und wir fahren nach Hause.”

“Ich wünschte es wäre so einfach, Luca. Ich kann dir aber noch nicht vertrauen, dein Sinneswandel kommt mir zu plötzlich. Mir macht es auch keinen Spaß dich hier festzuhalten, das kannst du mir glauben. Aber es geht hier immerhin um dein Leben. Der Weg auf dem du dich gerade befindest, endet in deiner Vernichtung, du wirst nicht in das Paradies gelangen und da du mein Sohn bist und ich dich liebe, kann ich das nicht zulassen.”

“Papa bitte, ich verspreche dir zu euch zurückzukehren, aber bitte mach mich los”, flehte ich.

“Ich wünschte, ich könnte dir glauben, aber du bist einfach noch zu labil. Wir werden noch eine Weile hier mit dir arbeiten müssen.”

Als ich merkte, dass ich mit dieser Nummer keinen Erfolg haben würde, rastete ich aus.

“Mach mich sofort los du krankes Schwein. Sobald ich hier raus bin, werde ich dich anzeigen und dafür sorgen, dass ihr nie wieder in meine Nähe kommt. Für mich seid ihr gestorben, ich möchte nie wieder was mit euch zu tun haben.”

“Schade, für einen Moment hatte ich wirklich gehofft, dass wir langsam Fortschritte machen.”

Nach diesen Worten verließen die beiden den Raum und ließen mich alleine zurück. Ich rastete völlig aus, zerrte und rüttelte an meinen Fesseln und rief ihnen wüste Beschimpfungen hinterher. Irgendwann war ich so verzweifelt, dass ich einfach nur noch hemmungslos heulte. Irgendwann ging die Tür wieder auf und Mama betrat den Raum. Als ich sie sah, keimte plötzlich leise Hoffnung in mir auf. Hoffentlich hatte sie ihr Versprechen gehalten und Daniels Tagebuch gelesen.

“Hallo mein Schatz. Ich habe Opa und Papa erst mal spazieren geschickt, damit sie sich ein wenig abregen können. Wir müssen uns beeilen, wir haben nicht viel Zeit.”

Sie machte sich an meinen Fesseln zu schaffen und begann diese zu lösen. Ich konnte es nicht glauben, sie war wirklich gekommen, um mich hier rauszuholen.

“Dann hast du das Tagebuch also wirklich gelesen?”

“Ja mein Schatz und ich habe jetzt endlich begriffen, dass wir Daniel Unrecht getan haben und das gleiche jetzt mit dir machen. Man kann niemanden zwingen einen bestimmten Weg einzuschlagen, selbst wenn man ihn für den Richtigen hält. Es tut mir so Leid, mein Schatz, ich hätte für Daniel und für dich da sein müssen, aber ich war überzeugt, das Richtige zu tun.”

Mit Tränen in den Augen sah sie mich traurig an. Inzwischen hatte sie alle Fesseln gelöst und ich war endlich frei.

“Ist schon gut Mama, jetzt bist du ja da.”

“Komm Luca, wir müssen uns beeilen. Opa und Papa werden nicht lange weg sein.”

Zusammen rannten wir zur Haustür und zu Mamas Wagen. Wir hatten das Auto noch nicht ganz erreicht, als wir aus der Ferne Opa und Papa auf uns zu rennen sahen.

“Verdammt, was machen die denn schon wieder hier. Schnell Luca, ins Auto mit dir.”

Panisch liefen wir zum Auto und verriegelten den Wagen. Meine Mutter drehte den Zündschlüssel um, doch der Wagen ruckelte nur und wollte, wie in einem schlechten Film, nicht anspringen.

“Nein, bitte nicht jetzt”, rief meine Mutter und versuchte es abermals, mit dem gleichen Ergebnis.

Mir wurde schon ganz schlecht vor Angst, dass konnte doch einfach nicht wahr sein. Derweil hatte mein Vater unser Auto erreicht und hämmerte wütend auf die Fahrerseite ein.

“Sag mal, bist du denn verrückt geworden. Mach sofort auf Maria, oder ich schlage die Scheibe ein.”

“Hans, wir können den Jungen nicht zwingen zu uns zurückzukehren, das ist falsch. Ich möchte nicht noch einen Sohn verlieren.”

Noch während sie redete, versuchte sie immer wieder den Wagen zu starten, doch das Mistding wollte einfach nicht anspringen, es war wie verhext.

“Ich habe jetzt genug von dem Quatsch. Ihr steigt jetzt sofort hier raus.”

Mein Vater schnappte sich einen Ziegelstein, der von dem Anbau aus dem letzten Jahr noch vor dem Haus lag und kam damit wütend auf uns zu, entschlossen die Scheibe damit einzuschlagen. Meiner Mutter und mir stand die schiere Panik in den Augen, meine Mum unternahm nochmal einen letzten Versuch das Auto zu starten und tatsächlich es sprang an und der Ziegelstein verfehlte sein Ziel. Meine Mutter drückte ordentlich auf’s Gas, allerdings kamen wir nur schwerlich voran, da meine Mutter keinen Geländewagen besaß. Endlich war die rettende Landstraße in Sicht, doch schon sahen wir im Rückspiegel Papas Geländewagen immer näher kommen.

“Wir müssen es nur auf die Landstraße schaffen, dann kann ich sie abhängen.”

Ausgerechnet in dem Augenblick bog plötzlich ein Wagen in den Waldweg ein und schnitt uns den Weg zur rettenden Landstraße ab. Meine Mutter musste scharf abbremsen, so dass wir unseren Vorsprung einbüßten. Doch halt, saßen da vorne nicht Ruth und Jonas Mutter im Wagen?

“Mama, das sind Ruth und Jonas Mutter. Sie sind bestimmt gekommen, um mich hier rauszuholen.”

Meine Mutter riss geistesgegenwärtig das Lenkrad herum und setzte den Wagen quer über den Waldweg, um meinem Vater den Weg abzuschneiden.

“Schnell Luca, Hau ab.”

Ein letztes Mal sah ich meiner Mutter noch ins Gesicht und sagte:

“Danke Mama, dass werde ich dir nie vergessen.”

“Ich liebe dich mein Schatz. Versprich mir, dass du glücklich wirst.”

Jetzt konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten und antwortete:

“Ich verspreche es. Pass auf dich auf Mama.”

“Und du auf dich. Und jetzt verschwinde endlich. Vergiss deinen Rucksack nicht, er liegt auf der Rückbank, Daniels Tagebuch habe ich wieder reingelegt.”

Ich schnappte mir den Rucksack und lief so schnell ich konnte zum Auto von Jonas Mutter. Mein Herz machte einen Sprung, als ich Jonas aussteigen sah, doch jetzt war keine Zeit für lange Wiedersehensumarmungen, denn auch mein Vater war inzwischen ausgestiegen und stürzte auf uns zu. Ohne ein Wort nahm ich Jonas an die Hand und zerrte ihn mit mir ins Auto, aus Platzgründen musste er auf meinen Schoß Platz nehmen. Jonas Mum setzte den Wagen gekonnt auf die Landstraße zurück und wir fuhren davon. Ich war endlich in Sicherheit. Im Auto war die Freude riesengroß und ich musste alle erst einmal drücken, besonders Jonas. Ich hatte ihn ja so vermisst. Ich musste ihnen natürlich ausführlich erzählen was alles passiert war. Vor allem die Aktion meiner Mutter beeindruckte alle. Danach bekam ich noch von meinen Freunden erzählt, was sie in der Zwischenzeit alles unternommen hatten und wie es ihnen letztendlich gelungen war, mich zu finden. Ich war tief beeindruckt, was für tolle Freunde ich doch hatte. Mehr noch als das: Sie gaben mir das Gefühl, eine neue Familie gefunden zu haben.

2 Jahre später

Ich wurde ganz langsam wach und öffnete zaghaft die Augen. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich heute Geburtstag hatte und endlich volljährig war. Schlaftrunken drehte ich mich auf die andere Seite des Bettes, doch es war leer. Verdammt, warum musste Jonas ausgerechnet heute so früh aufstehen? Missmutig wollte ich auch schon aufstehen und nach ihm sehen, als sich plötzlich die Zimmertür öffnete und er mit einem riesigen Tablett hereinkam.

“Alles Gute zum Geburtstag mein Schatz. Verdammt, du bist ja schon wach. Jetzt hast du mir meine Überraschung verdorben. Bleib liegen, heute gibt es Frühstück im Bett.”

Jonas stellte das Tablett mit lauter leckeren Sachen vor mir ab.

“Oh man, du bist ja süß. Vielen Dank, mein Schatz.”

Dafür gab es erst mal einen langen Kuss.

“So und jetzt wird gefrühstückt, sonst wird noch alles kalt und die ganze Mühe war umsonst”, meinte er lachend.

Begeistert machten wir uns über das leckere Frühstück her. Ich schaute Jonas an und konnte mein Glück immer noch nicht fassen, das ich mit ihm hatte. In den letzten beiden Jahren war viel passiert:

Ich bin endgültig bei Jonas eingezogen und wir führen eine tolle Beziehung. Ich habe meinen Vater angezeigt und musste auch vor Gericht gegen ihn aussagen. Er ist zwar mit einer hohen Bewährungsstrafe davon gekommen, lässt mich seitdem aber in Ruhe. Ich habe ihn nach der Verhandlung nie wieder gesehen. Ab und zu treffe ich heimlich meine Mutter, die sich ständig Sorgen um mich macht ob es mir wohl gut geht und jedes mal steckt sie mir Geld zu. Leider ist sie nach wie vor mit meinen Vater zusammen, sie kommt einfach nicht von ihm los. Auch Rahel hat die Zeugen Jehovas inzwischen verlassen und lebt mit Max in einer betreuten Wohngruppe. Max hat nach einer wirklich schweren Zeit ebenfalls den Absprung geschafft und seit kurzem sogar einen lieben Freund. Ich habe mich total für ihn gefreut. Zu Finn und Lea haben wir jeglichen Kontakt abgebrochen, ich habe nur gehört, dass sie vor kurzem geheiratet haben sollen. Max und Rahel sind sogar auf unsere Schule gewechselt. Seit ein paar Wochen sind wir alle stolze Besitzer eines Abiturs. Max war ja eigentlich ein Jahr über uns, aber durch seinen langen Aufenthalt in der Psychiatrie hat er das Jahr wiederholen müssen. Naja egal, es ist Sommer, wir haben Ferien und es ist mein Geburtstag. Heute Abend findet eine große Feier im Garten meiner neuen Familie statt, zu der alle erscheinen werden. Bevor wir alle auf die verschiedensten Unis wechseln, wollen wir nochmal so richtig Gas geben. Ich freue mich total, das wird bestimmt super. Doch bin ich gerade heute auch ein bisschen traurig, weil mir an Tagen wie diesen mein Bruder besonders fehlt. Ich bin mir aber sicher, dass er stolz auf mich ist und heute Abend bei mir ist, wo immer er auch jetzt sein mag. Ich weiß nicht, ob es so etwas wie ein Paradies wirklich gibt, indem die rechtschaffenen Menschen ewig leben werden, aber selbst wenn, würde ich darauf verzichten, wenn Gottes Preis dafür wäre, die Liebe meines Lebens aufzugeben. Ich will lieber ein einziges Leben glücklich und selbstbestimmt führen, als ewig zu leben und unglücklich zu sein.

Nachwort

Danksagung:

Erst einmal möchte ich mich bei meinen vielen treuen Lesern, für ihre zahlreichen Kommentare bedanken. Es ist ein gutes Gefühl als Autor zu sehen, dass deine Geschichte jemanden bewegt. Ich danke meiner Familie und Freunden, die mich immer wieder ermutigt haben, diese Geschichte zu schreiben. Ganz herzlich möchte ich mich auch nochmal bei Wolfgang bedanken, der mir bei der Überarbeitung des letzten Teils eine große Hilfe war und sich stundenlang durch meine zahlreichen Rechtschreib-, und Grammatikfehler gequält hat:-) Zu guter Letzt, danke ich auch noch der gesamten Nickstories Redaktion für die Mühe, die ihr in die Überarbeitung und Korrektur meiner Geschichte gesteckt habt.

Ja das wars, falls ich jemand vergessen haben sollte, war es keine Absicht:-)

Euer LucaG

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