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Goldjunge

Teil 3 - Donnerstag

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Spindler lag auf einer Art Notbett und starrte an die Zimmerdecke – sein Schädel brummte nach wie vor und selbst das Denken schien ihm wehzutun. Gerade eben war Inspektor Platzer bei ihm gewesen um ihn zu befragen, er wurde allerdings von einem behandelnden Arzt wieder vor die Tür geschickt, wo er nun ausharrte und abwechselnd mit einem Kollegen sprach und zur Tür hereinblickte.

An alles hatten Lu und Franz gedacht – nur nicht daran, was er dem Inspektor mitteilen sollte, nachdem der `Austausch´ über die Bühne gegangen war. Schließlich lag es doch auf der Hand, dass Spindler selbst in den Mittelpunkt der Ermittlungen rücken würde, nachdem keine Person mit der scheinbar ausgehändigten Geldtasche das Parkhaus verlassen hatte. Franz atmete schwer und versuchte sich einzureden, dass sie nichts, aber auch rein gar nichts gegen ihn in der Hand hatten. Er habe die Tasche übergeben so wie es ihm befohlen wurde und wurde anschließend niedergeschlagen – woher sollte er also wissen, auf welche Weise der Täter den Tatort verlassen hatte?

Mittlerweile war es im Floridsdorfer Versteck 20 Uhr geworden. Chris hatte sich in der Zwischenzeit zwar etwas beruhigt, ihm war aber dennoch klar, dass sein Halbbruder wohl mit dem Geld abgehauen war, da er längst schon hier sein sollte.

Julian saß nach wie vor mit gefesselten Händen da, seine Hose klebte an seinen Beinen, da er nach Chris´ Drohung nicht mehr zu fragen wagte, ob er aufs Klo gehen dürfte.

„Bitte, lass mich frei. Ich werde niemandem etwas verraten – ich schwöre es dir“, durchbrach Julian schließlich die unangenehme Stille, die den Raum völlig einzunehmen schien. Nachdenklich – aber auch ratlos blickte Chris zu ihm rüber.

„Ich kann nicht, es tut mir leid. Auch wenn ich dir sogar glaube, aber irgendwann wird dir ein Wort rausrutschen – die Polizei wird dich vernehmen und ob du willst oder nicht, du wirst ihnen alles erzählen. Es ist immer so – die Bullen sind nicht blöd, die haben eine Menge Tricks auf Lager. Sie bescheißen dich ärger, als es mein Bruder und ich mit anderen getan haben. Sie haben mir damals Sicherheit versprochen, dass mir schon nichts passieren würde im Jugendknast, alles Bullshit. Nie mehr Knast – lieber sterbe ich!“

Da war sie wieder – diese bedrohliche Stille. Dennoch wollte Julian nun genau wissen, was genau ihm denn im Gefängnis widerfahren war. Ob Lu nun wirklich abgehauen oder die Situation der Übergabe vielleicht sogar schief gelaufen war – Julian spürte nun irgendwie, dass er zunehmend Oberhand über Chris gewann und dass er vielleicht doch heil aus der Situation rauskommen würde. Eines meinte er allerdings ernst: er würde ihn nicht verraten.

„Vielleicht hast du es damals ja sogar in der Zeitung gelesen“, sprach Chris leise. „Es stand überall: zu volle Zellen, zu wenig Personal. Und das war auch so – sie haben mich zu drei Leuten in die Zelle gesteckt, die wohl nicht das erste Mal einsaßen. Richtige Verbrecher waren das. Wir saßen praktisch aufeinander, so wenig Platz hatten wir und oft vergingen Stunden, ohne dass jemand vom Wachpersonal nach dem Rechten sah. Was da drinnen passierte…“

Chris schreckte kurz auf, blickte Richtung Fenster – doch das Auto, von dem er vermutete es würde jeden Moment stehenbleiben, fuhr schließlich doch am Haus vorbei. Dann erzählte er weiter, auch wenn es ihm merklich schwer fiel.

„Ich war ihr Hund. Musste Männchen machen, Wasser aus der Schüssel trinken und mich von ihnen streicheln lassen. Anfangs versuchte ich natürlich mich dagegen zu wehren, aber sie waren umso viel stärker und haben mich windelweich geschlagen. Was blieb mir dann schon anderes übrig? Es war so demütigend…selbst eine Leine hatten sie, mit der sie mich am Bettgestell festbanden. Wo immer sie die auch her hatten.“

„Ich kann mich nicht erinnern, das in der Zeitung gelesen zu haben…“, hakte Julian nach, obwohl er wusste, dass das noch nicht alles gewesen sein konnte, was ihm Chris beichten wollte.

„Sie haben mich…sie haben mich vergewaltigt. Abwechselnd. Jede Nacht…immer wieder. Erst einer, dann der andere, dann der letzte. Ich…ich wollte einfach nur sterben….keinen der Wachen schien es zu kümmern, es gab ja eben kaum Kontrollgänge. Es schien ihnen vollkommen egal zu sein, was im Inneren der Zellen so alles ablief. Und ich glaub nicht, dass ich der einzige war, dem so etwas passierte. Erst als ich eines Morgens auf der Krankenstation des Gefängnisses landete, nachdem sie mir einen Besenstil…“ Chris hörte auf zu reden – zu sehr schmerzten diese Erinnerungen.

Julian fragte auch nicht mehr weiter nach - er konnte sich tatsächlich an die Zeitungsartikel erinnern: Überall war über die grausamen Haftbedingungen und den Personalmangel in Österreichs Jugendgefängnissen zu lesen. Es war ein Riesenskandal, als ein erst 16-jähriger auf der Krankenstation landete, nachdem er von seinen Zellengenossen mit einem Besenstil penetriert wurde. Dies sorgte einige Wochen für Zündstoff in Printmedien und Fernsehen.

Wieder herrschte einige Zeit absolute Stille.

„Erst als Lu ebenfalls geschnappt und eingeliefert wurde, hörte es auf. Er hat mich vor solchen Leuten beschützt. Wenigstens dazu war er gut. Jetzt weißt du wenigstens, warum ich dich nicht freilassen kann – ich kann dort nicht mehr zurück.“

„Und wenn du einfach abhaust und mich hierlässt?“


„Also noch mal ganz von vorne“, war Platzer wieder an Spindlers Krankenlager aufgetaucht. Er war noch längst nicht mit ihm fertig. „Sie fuhren also in die dritte Etage des Parkhauses, wo sie aufgefordert wurden ihren Wagen zu verlassen, übergaben dem Täter die Tasche und wurden niedergeschlagen, nachdem er ihnen das Mikrofon vom Leib gerissen hatte!“

„Ja, Herr Inspektor…ich kann mich zwar nicht mehr so ganz genau erinnern, aber ich denke so ist es gewesen. Ja, ich bin mir nun wieder fast sicher, dass es so war.“

„Glauben sie ernsthaft, ich kaufe ihnen diesen Scheiß ab?“, fuhr ihn Platzer böse an und Spindler war erstaunt über seine Wortwahl.

„Ich verstehe nicht ganz…“, stammelte Franz.

„War es nicht eher so, dass sie selbst die Verkleidung des Lüftungsschachts abgenommen haben um die Tasche Geld runter zu werfen? Dorthin, wo ihr Komplize bereits sehnsüchtig darauf wartete?“ Ohne seinen Blick von Spindler abzuwenden hielt er ihm ein Bild vom Tatort unter die Nase, das den angesprochenen Lüftungsschacht zeigte.

„Was wollen sie mir damit sagen?“, wurde Spindler immer kleinlauter.

„Keine Ahnung. Aber ich frage mich viel mehr, was wohl Julians Vater dazu sagen wird, wenn ich ihm berichte, dass sie mit den Entführern seines Sohnes gemeinsame Sache machen! Julians Vater, der in ihnen ja so einen loyalen Mitarbeiter sieht – der für sie die Hand ins Feuer legen würde.“

„Wie können sie es wagen, mir so etwas zu unterstellen? Ich arbeite schon so lange im Haus der Steins – glauben sie wirklich, ich würde einen so ehrenhaften Mann wie Julius Stein solchen Ängsten aussetzen. Und Julian ist auch mir ans Herz gewachsen, das dürfen sie mir glauben!“ Franz versuchte mühsam ein paar Tränen zu zerdrücken, was ihm allerdings überhaupt nicht gelang.

„Wollen sie sich das Bild nicht nochmals ansehen? Der Spalt ist gerade breit genug – sagen wir mal für eine Reisetasche – und Sie wollen mir ernsthaft glaubhaft machen, der Täter, den sie ja bei der ersten Vernehmung als groß und kräftig beschrieben haben, wäre durch dieses Loch in der Wand verschwunden?“

Spindler wurde immer bleicher, was nicht nur an seiner erlittenen Gehirnerschütterung zu liegen schien. Er blickte nach links und rechts, als ob er hoffte, irgendjemand würde ihn aus dieser misslichen Lage befreien. Platzer hatte ihn da, wo er ihn haben wollte. Es war Zeit, die Trumpf-Karte auszuspielen.

„Woher kennen sie Lukas Prachner?“

Kurz nachdem Platzer versucht hatte, Spindler das erste Mal zu verhören, bekam er einen Anruf aus dem Supermarkt, jenem Supermarkt, der an das Parkhaus grenzte. So ganz unbemerkt wie Lu dachte, war seine Flucht doch nicht verlaufen. Ein früherer Mitarbeiter, dem der Polizeieinsatz rund um das Gebäude nicht entgangen war, schien in einer Person, die den Supermarkt verließ, Lukas Prachner erkannt zu haben. Jenen Lukas Prachner, der mit ihm zusammen im Getränkelager arbeitete und von ihrem gemeinsamen Chef gekündigt wurde, nachdem er seine erst 16-jährige Tochter auf der Firmenweihnachtsfeier gevögelt hatte. Da er von Prachners krimineller Vergangenheit wusste, zählte er eins und eins zusammen – und auch die Überwachungsbänder des Supermarkts sprachen eine eindeutige Sprache: Der Mann, der den Supermarkt mit einer grauen Sporttasche über der Schulter verließ, war eindeutig sein früherer Kollege.

Nachdem Lu den Supermarkt verlassen hatte, fuhr er einige Stationen mit der U-Bahnlinie 6, die kurioserweise eine ihrer beiden Endstationen in Floridsdorf hat, dort wo sich der Rohbau befand, in dem er und sein Halbbruder Julian gefangen hielten. Er verließ sie an der Station `Dresdner Straße´, wo er sich einige Wochen zuvor eine Wohnung unter falschem Namen angemietet hatte. Dort verschanzte er sich, um einige Zeit abzuwarten – schließlich war ihm bewusst, dass sämtliche Straßen, die aus Wien hinaus führten, kontrolliert wurden.

Vor ihm lag ein Haufen Geld – er war zufrieden und lachte laut, als er daran dachte, wie plump ihn die Polizei reinlegen wollte. Einen Peilsender hatten sie ihm in die Tasche gesteckt. Dachten sie wirklich, er wäre so blöd mit dieser Tasche quer durch Wien zu fahren. Erstmal ein paar Tage abwarten – dann würde er aus Wien verschwinden. Und sein Bruder Chris, Franz – der von ihm aus sagen sollte was er wollte – und die ganze Polizei: Sie sollten ihn doch alle am Arsch lecken. Wieder musste er lachen: Glaubten diese Idioten denn wirklich, er würde mit ihnen teilen? 5 Millionen! F-ü-n-f Millionen! Verdammt, er hatte es echt geschafft!

„Guten Abend Inspektor Platzer. Sie wissen schon, dass es unzulässig ist jemanden zu befragen, der sich noch in ärztlicher Aufsicht befindet?“ Nachdem es Spindler zu heiß wurde, verlangte er nach einem Anwalt, jenem Dr. Karl, der nun vor Inspektor Platzer stand und ihm Paragraphenverletzung über Paragraphenverletzung um die Ohren warf.

Platzer kümmerte es nicht – er lächelte verschmitzt und ließ ihn einfach stehen. Der Chauffeur der Steins würde früher oder später ohnehin auspacken, das war für ihn sonnenklar. Fliehen konnte er ebenso wenig, denn schon kurz nachdem Spindler eingeliefert worden war, veranlasste er, das Krankenhaus bewachen zu lassen. Viel mehr lag es nun daran, den flüchtigen Prachner zu finden, nach dem bereist fieberhaft gefahndet wurde. Und auch Julian war ja immer noch nicht gefunden worden, was ihm sein Lächeln dann doch wieder aus dem Gesicht trieb. Außerdem ging man ja nach der Spurensicherung in Julians Schule nach wie vor davon aus, dass es sich um zwei Entführer handeln musste.

Als er Spindler auf dessen Versteck ansprach, sagte dieser kein Wort mehr und verlangte eben zu diesem Zeitpunkt nach einem Anwalt. Außerdem war sich Platzer fast sicher, dass er wahrscheinlich wirklich nichts davon wusste: Er schien lediglich eine Marionette in Prachners perfidem Spiel zu sein.

Eine weitere schwierige Aufgabe hatte er noch vor sich – er musste den Steins seinen Verdacht von Spindlers Mithilfe unterbreiten. Also beschloss er zu deren Anwesen nach Döbling zu fahren.

Natürlich fiel das Ehepaar Stein aus allen Wolken, als ihnen Platzer davon berichtete. Wüste Flüche kamen Julius über die Lippen, Flüche in denen er Franz weiß Gott was für Krankheiten an den Hals wünschte – doch schließlich beruhigte er sich, weil er erkannte, dass es ihm in dieser Situation nicht weiterhalf durchzudrehen, dass es auch Julian nicht weiterhalf, der nach wie vor in größter Gefahr sein konnte.

„Herr Platzer“, suchte er hilfesuchend den Blick Platzers, „glauben sie Julian lebt noch?“

Fast hätte der Inspektor ebenso hilflos mit den Achseln gezuckt.

„Ich denke schon. Ja, ich bin mir ziemlich sicher. Der Täter hat sein Geld, ich glaube, dass er sich in völliger Sicherheit wähnt. Mich würde nicht wundern, wenn er Julian alleine in seinem Versteck gelassen hätte und mittlerweile ganz woanders ist. Aber auch da machen sie sich keine Sorgen: Er kommt nicht weit, wir haben mittlerweile ein Gesicht und einen Namen nach dem wir suchen: Lukas Prachner. Und morgen früh, knöpfe ich mir nochmals ihren feinen Chauffeur vor. Apropos: Ich denke nicht, dass sie etwas dagegen haben, wenn ich mir das Zimmer von ihm mal genauer anschaue?“

Um Herr und Frau Stein nicht zusätzlich zu verunsichern, verschwieg er ihnen, dass sich der mögliche Mittäter nach wie vor bei Julian aufhalten könnte.

Natürlich ließ es Herr Stein zu, genauso wie es Platzer zuließ, dass ihm dieser ins Dienstzimmer seines ehemals Vertrauten folgte.


Mittlerweile war es fast Mitternacht geworden. Chris hatte Julians Wunsch Folge geleistet und ihn auf die Matratze gelegt, wo er nun ausgestreckt da lag und abwartete – was konnte er auch viel anderes tun.

„Klar könnte ich abhauen, aber ich hab eben keine Ahnung, was in der Zwischenzeit alles passiert ist. Vielleicht hat er mich bereits verraten und sie suchen schon nach mir“, sinnierte Chris vor sich hin.

„Das denke ich nicht“, entgegnete ihm Julian. „Hätte er das getan, dann hätte er ihnen auch dieses Versteck hier verraten und die Polizei wäre längst hier. Er hat das Geld, also kann ihm eigentlich egal sein, wie es mit dir und mir weitergeht. Was hätte er davon, dich zu verraten?“

„Keine Ahnung, vielleicht einfach deswegen, weil es ihm Spaß machen würde mich dran zu kriegen. Was weiß ich. Aber ich kann doch nicht einfach abhauen. Erstens kann ich dich nicht einfach so hierlassen – und zweitens wüsste ich doch nicht mal, wo ich hinsollte. Ich besitze nichts und die Leute die ich kenne, würden mir auch nicht weiterhelfen können.“

„Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen – lockere meine Fesseln und ich wäre schon einige Zeit damit beschäftigt, mich ganz von ihnen zu befreien. Bis ich das geschafft habe, bist du über alle Berge!“

„Ich werde dich wohl nicht wiedersehen, oder?“

„Wahrscheinlich nicht. Schade, ich hätte dich so gerne besser kennen gelernt – weil ich weiß, dass du kein schlechter Mensch bist. Ist es nicht höchst eigenartig, dass wir in dieser Ausnahmesituation fast zueinander gefunden hätten?“

„Fast?“

Julian schluckte. Noch am selben Morgen hatte ihm Chris gesagt, dass er sich in ihn verliebt hatte. Und auch Julian war sich fast darüber sicher. Die Situation war zwar noch nicht ganz ausgestanden, aber nachdem von Lu weiterhin jede Spur fehlte, doch wesentlich entspannter. Und deshalb war sich Julian nun eben doch nicht mehr so sicher über seine Gefühle. War es wirklich nur die Beschützerrolle Chris´, durch die er sich zu ihm hingezogen fühlte? Er hatte in Psychologie schon über dieses Stockholm-Syndrom gehört – aber war es nicht auch so, dass ihm die körperliche Nähe, die beide in den frühen Morgenstunden genossen, so unendlich gut gefallen hat? Julian war ein weiteres Mal verwirrt.

Noch mehr, als er plötzlich merkte, dass Chris neben ihm auf der Matratze saß.

„Wahrscheinlich hast du Recht. Ich glaube ich werde dich hier zurücklassen – und verschwinde“, er sagte es ganz leise und im selben Moment spürte Julian einen kleinen Ruck – er hatte ihm tatsächlich das Tuch abgenommen.

Julian hatte etwas Angst die Augen zu öffnen – er erinnerte sich daran, wie schmerzvoll es einige Stunden zuvor gewesen war, als die Sonnenstrahlen sein Gesicht trafen. Doch als ihm einschoss, dass es mittlerweile ja stockdunkel sein musste, öffnete er zaghaft seine Augen.

Er blickte sich im Zimmer um. Die Matratze auf der er sich befand – und recht viel mehr befand sich in dem Zimmer auch nicht – lag in unmittelbarer Nähe eines Fensters, durch das etwas Straßenlicht ins Zimmer drang.

Dann blickte er Chris an. Er saß dicht neben ihm und war genauso ruhig wie er.

„Ich weiß nicht, ob ich dir wirklich vertrauen kann – ob du mich verrätst oder nicht. Ich konnte nie jemandem vertrauen, weißt du?“

Als Julian ihn so anblickte, wusste er, dass es stimmte, was er sagte. Dieser Chris war eine ganz arme Sau, dem das Leben übel mitgespielt hatte. Er saß da wie ein Häufchen Elend und wirkte um einiges schmächtiger, als ihn sich Julian vorgestellt hatte. Langsam gewöhnten sich Julians Augen an deren wiedergewonnene Sehkraft – er musterte Chris von oben bis unten, was dieser mit traurigem, aber abgewandtem Blick registrierte. Er konnte ihn einfach nicht ansehen – zu sehr schämte er sich darüber, was er diesem hübschen Jungen angetan hatte.

„Es tut mir so leid!“, flüsterte er und begann leise zu weinen. „Ich wollte das alles nicht!“

Julian wollte ihn umarmen, allerdings hatte ihn Chris noch nicht von seinen Fesseln befreit.

„Du kannst mir vertrauen“, versuchte ihn Julian zu trösten. „Ich werde dich nicht verraten!“

Endlich drehte sich Chris – der immer noch weinte – zu ihm rüber und blickte ihn an.

„Ich wünschte, ich könnte irgendwo hin und nochmals neu anfangen“, schüttelte er den Kopf, weil er selbst nicht so recht an seine Worte glaubte.

„Dann mach es“, antwortete Julian so einfühlsam wie möglich. Er tat ihm unendlich Leid – und als er ihn so anblickte, war es wieder um ihn geschehen, diese dunklen Augen, dieses Gesicht – er war wunderschön. Aber er war vernünftig genug zu wissen: Er musste gehen!


„Nichts als unnützer Kram“, schnaufte sich Platzer durch den Kram, den er in Spindlers Zimmer fand, während ihn Herr Stein gespannt beobachtete.

Es war bereits drei Uhr früh und an Schlaf war in dieser Nacht wohl wieder nicht zu denken – so sehr sich der Inspektor nach der vorangegangenen, ebenfalls schlaflosen Nacht auch danach sehnte.

„Wie das Zimmer eines Klosterschülers: Hier ist rein gar nichts. Nichts, was auf irgendeine Mithilfe hindeuten würde. Hat dieser Franz eigentlich Familie?“

„Er ist geschieden – aber er war immer höchst professionell. Über Privatsachen hat er kaum gesprochen. Der Dienst bedeutet ihm alles. Und jetzt das!“ Herr Stein schüttelte zum wiederholten Male ungläubig den Kopf – er konnte es nach wie vor nicht fassen, wie sehr er von seinem längsten und engsten Mitarbeiter so dermaßen hintergangen wurde.

„Machen sie sich keine Vorwürfe“, beschwichtigte ihn Platzer, ehe er an sein läutendes Handy ging.

Am anderen Ende der Leitung sprach Kollege Riedl.

„Inspektor Platzer? Nun ja, sie haben mich doch gebeten, nach diesem grünen Peugeot fahnden zu lassen – Kennzeichen: W 349UI.“

„Ja“, schnaufte der Inspektor aufgeregt, „was ist damit? Sagen sie schon!“

„Wir haben ihn gefunden. Er steht in Floridsdorf – in der Gerasdorferstraße. Sollen wir ein Einsatzteam hinschicken?“

„Natürlich!“, schrie Platzer fast ins Telefon, während er gleichzeitig Herrn Stein am Arm packte. „Holen sie ihre Frau und kommen sie mit. Wir haben das gestohlene Auto – vermutlich das Auto des Entführers – gefunden! Machen sie schnell!“


Was für ein Teufel dieser Lu doch war – nicht nur, dass er seine Komplizen beschissen hatte, nein, er schien sich auch noch einen Spaß daraus zu machen, seinen Halbbruder reinzureiten. Angst, dass ihn dieser verraten würde, hatte er keine, schließlich musste er annehmen, dass mittlerweile Spindler seinen Namen sowieso schon preisgegeben hatte und bereits nach ihm gefahndet wurde. Da machte es auch gar nichts, seinen Halbbruder – mit dem ihm so gut wie gar nichts verband – ans Messer zu liefern. Ständig musste er auf ihn aufpassen und ihm aus der Patsche helfen. Dass er schwul war, war ihm eigentlich egal – er hasste ihn auch so genug. Er und seine Mutter waren schließlich schuld, dass sein Vater seine Mutter verließ – auch daran, dass sie später an Krebs starb. Er sollte nun die angemessene Strafe bekommen. Zwar hatte er das Auto nicht direkt vor dem Rohbau geparkt – so leicht wollte er es den Bullen dann auch nicht machen – aber zumindest in derselben Straße. Das Blöde daran war nur, dass Lu nicht den Zeitpunkt des Auffindens des Wagens wissen konnte – wie geeignet wäre der ganze Wirbel schließlich, um in der Zwischenzeit zu flüchten. Die ganze Wiener Polizei wäre dann wahrscheinlich in Floridsdorf vor Ort – und niemandem würde es auffallen, wenn er zu diesem Zeitpunkt die Stadt verließe. Und erstmal aus der Stadt draußen, würde er sich bis zur ungarischen Grenze durchschlagen. Dort hatte er einst als Soldat gedient, womit er genug Fluchtwege über die Grenze kannte. Dann hätte er es fast geschafft – kalte Schauer der Erregung liefen seinen Rücken hinab, so sicher war er sich seiner Sache.


Zur selben Zeit waren der Anwalt Dr. Karl und Franz – der sich nach wie vor im überwachten Krankenhaus befand – ins Gespräch vertieft. Im Auto, das Spindler zur Übergabe benutzte, wurde ein Schlagstock gefunden, der wohl nicht vom Täter stammen konnte. Der Winkel, in dem Spindler auf den Betonpfeiler aufprallte passte nicht so recht – und das größte Indiz von allen: Auf dem zerstörten Mikro wurden Spuren gefunden, die eindeutig von Spindlers Schuhen stammten. Es war also so gut wie sicher, dass er das Mikro selbst von seiner Brust entfernt und anschließend zerstört haben musste.

Dr. Karl riet ihm, alles zuzugeben was er wusste, nicht nur, um Julians Leben zu retten, sondern auch um Strafmilderung für sich rauszuholen.

Also erzählte ihm Spindler alles – auch wenn das nicht wirklich viel war: Dass er Prachner in einem Lokal am Gürtel kennenlernte, sie gemeinsam ein paar Gläser tranken und sie sich schließlich an mehreren Abenden trinkend unterhielten. Als irgendwann die Berufe der beiden zur Sprache kam, hatte ihn Prachner schließlich: Bereitwillig plauderte Spindler über seinen reichen Chef, dessen verzogenen Sohn, welche Schule er besuchte und dergleichen.

Und wie sie schließlich ausmachten, wann es soweit sein sollte und welche Rolle Spindler dabei innehaben sollte.

Recht viel mehr konnte er allerdings nicht erzählen – den momentanen Aufenthaltsort von Julian hatte ihm Prachner nie verraten.

Dr. Karl schien nicht ganz zufrieden zu sein – zwar hatte Spindler `ausgepackt´, aber recht viel ließ sich da für seinen Klienten wohl nicht herausholen, auch wenn er nun endlich geständig war. Bevor er ihm gegen 2:30 Uhr eine gute Nacht wünschte, riet er ihm noch, Inspektor Platzer am folgenden Morgen – natürlich in seiner Anwesenheit – dasselbe zu erzählen.

Auch im Floridsdorfer Versteck schlief niemand – weder Chris noch Julian, der endlich von seiner Kopfbinde befreit war.

„Ich glaube, du solltest jetzt besser gehen“, meinte Julian, der instinktiv wusste, dass es für Chris hier von Minute zu Minute gefährlicher werden könnte. Dennoch wusste er aber auch – so komisch es ihm auch vorkam – dass er sich wohl nach dessen Flucht so einsam vorkommen würde, wie er es noch nie zuvor in seinem Leben gewesen war.

Neben ihm saß einer seiner Entführer – doch in Julians Augen war er das nicht mehr. Da saß einfach ein Junge, der es im Leben nicht leicht hatte – und der noch dazu fühlte wie er.

Auch wenn Julian in materieller Hinsicht auf die Butterseite des Lebens gefallen war – und Chris gleichzeitig nichts hatte – irgendwie war er ihm ähnlicher, als er es sich zu Beginn vorgestellt hatte. Beide sehnten sich einfach nur nach Liebe – und ausgerechnet Liebe verband die beiden irgendwie.

Chris dachte ähnlich – er hatte schon während der Entführung erkannt, dass in Julian mehr steckte, als ein arroganter, verzogener Schnösel. Als sie ihn ins Auto gebracht hatten – vom Chloroform außer Gefecht gesetzt – kippte er in jeder Kurve an seine Seite. Wie ein friedlich schlafendes Baby kam er ihm dabei vor – ruhig an seiner Schulter atmend. Schon zu diesem Moment war sich Chris absolut bewusst, dass es falsch war, was die beiden – er und Lu – gerade abzogen. Allerdings war es zu diesem Zeitpunkt zu spät – es gab kein zurück mehr. Unbemerkt brachten sie ihn ins Versteck, wo er einige Stunden später auch wieder zu sich kam. Und als Julian dann das erste Wort von sich gab, war es um Chris geschehen: Er hatte sich sofort in ihn verliebt und ihm war klar, dass er ihn um keinen Preis der Welt verletzen würde. Koste es, was es wolle.

Und nun saßen sie nebeneinander. Mal sprechend, mal schweigend. Bis ihm Julian eben wieder riet, doch einfach abzuhauen, um sich in Sicherheit zu bringen.

„Ich weiß nicht, ob ich klar komme, wenn ich dich hier zurücklasse“, flüsterte Chris. „Du wirst damit klarkommen, wenn du erst wieder bei deiner Familie bist. Du wirst den ganzen Scheiß hier irgendwann vergessen haben – und mich auch. Aber ich habe keine Ahnung, wie es mit mir weitergehen soll. Südamerika – wie lächerlich“.

Chris schüttelte den Kopf und lachte, während ihn Julian von der Seite beobachtete. Da seine Hände nach wie vor gefesselt waren, bedurfte es großer Anstrengung sich zu ihm zu beugen, um ihn auf die Wange zu küssen.

Chris schien überrascht zu sein – wandte sich allerdings Julian zu und küsste ihn auf den Mund.

„Du wirst es schaffen“, flüsterte Julian. „Du bist kein schlechter Mensch und ich schwöre bei meinem Leben, dass ich dich niemals verraten werde. Solltest du erwischt werden – selbst vor Gericht würde ich für dich lügen. Bitte…mach mich los… und hau ab!“

Ein seltsames Licht flutete plötzlich das Zimmer – obwohl der Morgen bereits graute, hatte dieses Licht nichts mit Tageslicht zu tun. Es war Blaulicht und drehte sich im Zimmer, wie die Lichter eines Karussells.


Nachdem die Polizei das Auto gefunden hatte, wurde die umliegenden Häuser auf ihre Bewohner überprüft – bis man vor einem Rohbau in der Gerasdorferstraße 123 Reifenspuren fand, die zum Profil der Autoreifen des gesuchten Peugeots passten.

Keine Frage: In diesem Haus musste sich Julians Entführer aufhalten. Und Julian selbst. Ob beide noch drinnen waren, konnte man nicht wissen, daher wurde das Haus mal umstellt.

„Drehen sie doch die Blaulichter ab“, weinte Frau Stein, die mit ihrem Mann ebenfalls vor Ort war, völlig in Angst um ihren einzigen Sohn. „Wenn der Entführer noch drinnen ist und das sieht…“

Es war ihr alles zu viel. Sie brach in Tränen aus und versank in den Armen ihres Mannes.

„Ist das wirklich notwendig?“, wandte sich dieser an den Inspektor, der ihn zugleich beschwichtigte. „Keine Sorge – wir wissen, was wir tun.“

Er nahm ein Megafon zur Hand, führte es an seinen Mund und sprach: „Lukas Prachner! Wir wissen, dass sie sich in diesem Haus befinden. Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus – dann passiert ihnen nichts. Lassen Sie zuerst Julian raus und ich garantiere ihnen völligen Schutz!“


Lukas Prachner. Der Typ sagte eindeutig Lukas Prachner. Sie hatten ihn also noch nicht erwischt und vermuteten ihn hier. Und er hatte Recht: Lu hatte ihn in allen Belangen reingelegt. Chris rannte aufgescheucht im Zimmer auf und ab – sie suchten nicht ihn, aber wie sollte er bloß aus dem Haus kommen? Sollte er dem Befehl des Polizisten Folge leisten? Und wenn nicht – sie könnten doch nicht einfach das Haus stürmen und so Julians Leben aufs Spiel setzen? Was verdammt noch mal hatten sie vor, was verdammt noch mal sollte er bloß tun?

Julian kauerte nach wie vor auf der Matratze – er wusste, dass es besser war in der jetzigen Situation den Mund zu halten und nichts mehr zu sagen. Ganz still saß er da, als er plötzlich von Chris hochgerissen wurde.

Ein weiteres Mal hörte man Platzer dieselben Instruktionen verlautbaren. Wiederum bot er dem Entführer jeglichen Schutz an, sollte er nur Julian freilassen.

„Wir gehen jetzt da raus“, flüsterte Chris, der sich dicht hinter Julian befand und ihn Richtung Eingangstür schob. Etwas kleines, rundes bohrte sich in Julians Rücken und erst jetzt fiel ihm wieder ein, dass ja auch Chris eine Waffe besaß. Genau diese war jetzt auf ihn gerichtet – würde Chris doch umfallen und ihn töten? Ihm wurde schlecht und hätte ihn Chris nicht so fest gepackt, wäre er wohl umgekippt.

Ob Chris noch wusste was er tat? Er atmete nicht mehr – er keuchte praktisch nur noch. Julian konnte förmlich spüren, wie die Panik von Chris Besitz ergriff. Fast waren sie vor der Eingangstür, als der Druck der Waffe von seinem Rücken verschwand. Julian vernahm ein kurzes Klicken und nach einem kräftigen Ruck ein befreiendes Gefühl – Chris hatte ihm die Fesseln an seinen Händen durchgeschnitten.

Ganz dicht befand sich nun Chris´ Kopf hinter dem seinigen.

„Du wirst jetzt da rausgehen“, flüsterte er ihm ins Ohr. Er war so dicht hinter ihm, dass sich Julians Nackenhärchen aufrichteten, als er den warmen Atem an seinem Hals spürte.

„Aber ich komme nicht mit. Für mich ist es hier vorbei“, weinte er. „Vergiss mich nicht – und verzeihe mir alles, was ich dir angetan habe. Ich wollte nicht, dass es so kommt und du musst mir glauben, dass ich nie vorhatte, dir irgendetwas zu tun. Los, geh da jetzt raus“, schnüffelte er und küsste ihm den Nacken.

Er öffnete ihm schnell die Tür und verschwand genauso schnell ins Hintere des Hauses, dorthin, wo sich das Klo befinden musste.

Julian stand in der offenen Türe und blickte ins Freie. Das blaue Blitzlichtgewitter tat ihm in den Augen weh. Irgendwo hinter den vielen Polizisten, die ihre Waffen auf das Haus richteten, vernahm er ein schrilles Kreischen, dass von seiner Mutter kommen konnte.

Er blickte rauf in den Himmel, der langsam, ganz langsam blau wurde und den neuen Tag willkommen hieß. Rechts neben dem Haus, gleich neben der Auffahrt, befand sich ein riesiger Kastanienbaum.

Er atmete tief ein und begann zu gehen. Ganz langsam setzte er einen Schritt vor den anderen. Alles spielte sich wie in Zeitlupe ab – er selbst war wie in Trance und hatte den Eindruck, nicht mehr hören zu können. Alles war still, als plötzlich ein paar Einsatzleute auf ihn zuliefen. Er rechnete damit, dass sie ihn packen würden, doch sie liefen an ihm vorbei Richtung Haus.

Ein kurzer Knall zerfetzte den morgendlichen Frieden und riss Julian aus seinem Trancezustand.

„Nein“, stieß er einen schrillen Schrei aus, drehte sich um und lief in das Haus zurück, vorbei an den Sicherheitsleuten, die sich am Eingangstor postiert hatten.

„Bleib hier Junge, bist du verrückt?“, schrie ihm einer nach, doch das war Julian egal.

Er stürzte ins Haus, dorthin, wo Chris kurz zuvor verschwunden war. Dorthin, wo ihn Chris vor zwei Tagen gebracht hatte, um ihm beim Gang auf die Toilette zu helfen. Und genau neben dieser Toilette hockte er an der Wand, die Waffe noch immer in seiner Hand.

„Komm, gib sie mir. Wir gehen zusammen raus, hörst du?“

Als keine Reaktion kam, griff Julian nach seiner Schulter – leblos kippte sein Körper zur Seite. Erst jetzt konnte Julian das kleine Loch an Chris´ Schläfe erkennen.

Vor ihm lag Chris. Er war tot.

Heulend warf sich Julian auf seine Brust, hinter der kein Herz mehr schlug. Er dachte nichts in diesem Moment – auch in ihm fühlte es sich tot an. Erst als er von den ins Haus stürmenden Beamten weggerissen wurde, kam er wieder zu sich. Er stieß einen lauten Schrei aus – und keiner der Beamten konnte so recht begreifen, was hier passierte.

„Das Haus ist gesichert!“, sprach der Beamte ins Funkgerät, der Julian schließlich aus dem Haus führte.

Und dann stand er schließlich vor seinen Eltern, vor seiner Mutter, die ihn sofort in die Arme nahm.

„Danke Gott, danke Gott…“, wimmerte seine Mutter unentwegt. Julian vergrub sein Gesicht in ihrer Brust – alles war so surreal. Aber er wusste auch – es war vorbei. Er war wieder bei seiner Familie, die ihn liebte. Die sich in den letzten Tagen um ihn sorgte, um ihn fürchtete, um sein Leben bangte.

„Er braucht jetzt erstmal Ruhe“, sprach Inspektor Platzer, der neben seinen Eltern stand, mit ruhiger Stimme. „Bringen sie ihn erstmal nach Hause, ich werde am Nachmittag bei ihnen vorbeischauen.“

„Danke, danke für alles Herr Inspektor“, reichte ihm Herr Stein mit ergriffener Stimme die Hand. Noch nie hatte Julian seinen Vater so gesehen. Und tatsächlich: Sein Vater weinte! Und nahm ihn das erste Mal seit langem in die Arme.

„Ich hab dich so lieb, Julian“, stammelte er. „Wenn dir was passiert wäre….ich…“

„Sch…“, sagte Julian nur, „ist schon gut Papi!“

Als in der Morgenzeitung die ersten Fahndungsbilder von Lukas Prachner erschienen, schnappten auch bei ihm die Handschellen zu. Ein Hausbewohner hatte ihn wieder erkannt, nachdem er ihn am späten Nachmittag mit einer grauen Sporttasche das Haus betreten gesehen hatte.

Lukas Prachner ließ sich am selben Vormittag zwar sichtlich überrascht – aber widerstandslos festnehmen.

Das Team rund um Inspektor Platzer hatte ganze Arbeit geleistet. Platzer sehnte sich nun nach seinem wohlverdienten Schlaf – einen Weg hatte er aber noch vor sich.

„Wir konnten ihn retten“, sprach er leise. „So wie ich es dir versprochen habe. Ich weiß, dass ich dich damals nicht retten konnte, aber vielleicht finden wir nun beide Ruhe. Es… es tut mir so leid. Ich hätte für dich genauso da sein müssen, wie für Julian. Verzeih mir bitte… und vielleicht, vielleicht sehen wir uns eines Tages ja wieder.“

Er fuhr sich mit beiden flachen Händen seufzend übers Gesicht, ehe er noch eine Kerze am Grab seines Sohnes entzündete. Es war ihm, als nehme er gerade ein zweites Mal Abschied von ihm – dieses Mal allerdings so, als würde eine schwere Last von seinen Schultern fallen, die er so lange mit sich herumgetragen hatte. Er konnte Thomas endlich gehen lassen.

Julian erholte sich von Woche zu Woche besser. Er bekam von seiner Schule frei und durfte sich in aller Ruhe auf seine Matura vorbereiten, die er allerdings erst im Herbst ablegen musste.

Zuvor luden ihn seine Eltern zur Ablenkung auf eine Reise durch Kalifornien ein, um etwas Abstand von der ganzen Sache zu bekommen. Während dieser Reise outete sich Julian auch bei seinen Eltern – die zunächst so taten, als ob sie nichts davon gewusst hätten, ihn dann aber doch aufklärten, schon länger davon `vermutet´ zu haben und ihm jegliche Unterstützung versprachen.

Im Herbst absolvierte Julian schließlich seine Matura und es ging ihm zunehmend besser. Langsam verblassten die Ereignisse dieser drei Tage in seinem Gedächtnis – so als wäre es ein langer, böser Traum gewesen.

Nur wenn er an Chris dachte, schmerzte es – und er vermutete, dass da auch immer eine Lücke in seinem Herzen bleiben würde. Denn so gefährlich diese drei Tage auch waren, so nahe er sich zwischen Leben und Tod befand – gerade in diesen schrecklichen Stunden hatte er auch so etwas wie Liebe gefunden. Und dafür war er Chris unendlich dankbar.

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