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Die Möwe

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Oh wie schön das war, so einfach durch die Lüfte zu fliegen. Fabian konnte den warmen Wind förmlich spüren, der durch seine Zehen und seine Hände glitt, die er ganz ruhig und gerade nach vorne ausgestreckt hatte. Seine Locken wehten im Wind und es fühlte sich an, als könne er diesen warmen Wind auch in sich spüren – fast federleicht fühlte er sich, als er über grüne Hügel entlang segelte. Unten tummelten sich einige Lämmer – zwar sahen sie aus dieser Höhe wie kleine Wattebällchen aus die einander nachjagten, aber wenn Fabian sich ganz konzentriert anstrengte, konnte er sogar ihr Blöken vernehmen. Er flog weiter – über kleine Dörfer, in denen fröhliche Kinder spielten, über Wälder, so dunkelgrün wie die Augen seiner Lieblingspuppe. Rechts neben ihm tat sich nun ein endlos groß scheinender Ozean auf, als plötzlich eine Möwe seine Begleitung suchte und ihn neugierig anblickte. Fabian konnte es noch nie so wirklich leiden, wenn ihn jemand so anstarrte. Also beschloss er eine Linkskurve zu drehen, um dieser frechen Möwe auszuweichen.

„Bleib hier! Es wird dir gefallen hier bei uns“, hörte er sie rufen. „Hier tut dir keiner was!“

„Ich kann leider nicht“, japste Fabian, dem das Sprechen in solch großer Höhe schwer fiel, „ so schön es hier auch ist, ich gehöre nicht hier her. Vielleicht ein anderes Mal.“ Kaum hatte er den Satz zu Ende gesprochen, zog es ihn plötzlich nach unten, so als ob ein fester Griff ihn umschlossen hätte. Er sauste Richtung Erde und der vormals so dunkle, schöne Wald wirkte nun finster und bedrohlich und kam noch dazu näher und näher.

Langsam, ganz langsam öffnete Fabian die Augen. Warum nur mussten seine Träume immer so enden, wie gerne wäre er noch weitergeflogen. Er rieb sich die Augen und lugte müde unter seiner Bettdecke hervor. Es würde nicht mehr lange dauern, bis ihn seine Mutter aufwecken kommen würde. Leider war das Wochenende wieder viel zu schnell vergangen – wie schön es wieder war bei seinen Großeltern am Land. Die Stadt, der Alltag – und vor allem die Schule waren an freien Tagen immer so weit weg. Fabian hasste die Schule – nicht so, wie es viele Schüler gerne mal sagen, nein, er hasste sie wirklich.

„Guten Morgen mein Liebling, gut geschlafen?“ Seine Mutter war unbemerkt ins Zimmer gekommen und drückte ihm wie jeden Morgen einen sanften Kuss auf die Stirn.

„Morgen Mama!“, erwiderte Fabian und ließ ein herzhaftes, übertriebenes Gähnen folgen. Es war dasselbe Ritual wie jeden Tag und jedes Mal musste seine Mutter herzhaft drüber lachen. Alles was er wollte war, sie glücklich zu machen, ihr ja keinen Kummer zu bereiten.

Während er langsam aus dem Bett tapste, fummelte seine Mutter in seinem Kleiderschrank herum, um ihm seine Kleidung bereit zu legen. Wie immer maulte Fabian darüber – schließlich sei er kein kleines Kind mehr. Dennoch fand er es andrerseits schön, dass sie sich so um ihn kümmerte.

Nach dem Duschen hatte es Fabian dann immer eilig – in Rekordtempo würgte er sein Frühstück runter, verabschiedete sich von seiner Mutter und seinem Vater – der mittlerweile auch aufgestanden war – und lief mit seiner vollbepackten Schultasche Richtung Busstation, die nicht weit von seinem Elternhaus entfernt lag. Nicht, dass er es eilig hatte in die Schule zu kommen – wie gesagt: er hasste die Schule – aber jedes Mal hoffte er einen früheren Bus zu erhaschen um nicht ihnen zu begegnen. Ihnen – den anderen Jungs aus seiner Klasse.

Leider hatte er an diesem Morgen Pech – zwar war er früh genug an der Haltestelle, doch scheinbar schien ein Bus ausgefallen zu sein. Es erschien ihm eine Ewigkeit, bis der Schulbus endlich anrollte. Sein Herz klopfte bis zum Hals – hoffentlich war wenigstens seine Freundin Silvie im Bus, die immer in der ersten Reihe saß und ihm einen Platz freihielt. Dann musste er sich wenigstens nicht bis ganz nach hinten durchkämpfen, vorbei an allen Reihen wo sie saßen. Silvie war nicht nur seine einzige Freundin, er saß in der Schule auch neben ihr. Ob das der Grund war, warum ihn die Jungs `Mädchenjunge´ nannten? Oder waren es seine blonden Löckchen? Fabian wusste die Antwort auf diese Frage nicht. Er mochte Silvie sehr gerne, aber er war nicht verliebt in sie.

Glücklicherweise saß Silvie an diesem Morgen im Bus und hatte ihm wie immer einen Platz freigehalten. Sein Herz schlug wieder in normalem Tempo, als er neben ihr Platz nahm. Alex, Phillip und Can saßen weiter hinten im Bus und schienen Fabians Erscheinen vorerst nicht registriert zu haben. Sie waren in derselben Klasse und seine schlimmsten Feinde.

„Guten Morgen Fabian“, lächelte ihm Silvie entgegen, ähnlich wie seine Mutter. „Ach, könnte der Tag jetzt schon vorbei sein – schöner wird er wohl nicht mehr“, dachte sich Fabian und begrüßte Silvie ebenfalls freundlich.

Schon bald waren sie ins Gespräch vertieft – wie das Wochenende so war, ob er alle Hausübungen hatte und wie es ihm so ginge. Einige Male blickte Silvie böse nach hinten – und zwar ab dem Zeitpunkt, als die ersten Kaugummikugeln Richtung Fabian flogen.

„Ich war bei Oma und Opa. Es war echt toll, stell dir vor wie groß ihr neuer Hund schon wieder ist“, erzählte Fabian. Der `alte´ Hund war leider im vergangenen Jahr gestorben, worüber Fabian sehr traurig war. „Am liebsten würde ich ihn…“

Fabian verstummte. Eine Kaugummikugel hatte ihn voll am Kopf getroffen. Während Silvie nach hinten schimpfte, versuchte er diese Attacke zu ignorieren. „Woher sie immer so viel Kaugummi haben?“, dachte er und es gelang ihm nur schwer, die Tränen zu unterdrücken.

„Du Schwuler!“, hörte er von hinten laut rufen. Eindeutig Can – der nannte ihn immer so.

„Heul doch, du Mädchen. Hast ja heute gar nicht dein Röckchen an!“ Das war Alex. Wie er das bloß wissen konnte? Fabian kannte Silvie schon sehr lange und sie hatten schon im Kindergarten gerne miteinander gespielt. Sie war auch oft zu Gast in Fabians Haus – und da hatten sie öfters mal aus Neugier ihre Kleidung getauscht. Fabian empfand das immer als sehr angenehm, aber eben auch als Spiel. Nur – Alex konnte doch nichts davon wissen.

Fünf Minuten später war der Bus endlich an der Schule angelangt. „OK. Wir sehen uns dann in der Klasse!“, sagte er zu Silvie, ehe er seine Beine in die Hände nahm um Richtung Schulhaus zu laufen. In den Pausen und der Zeit vor dem Unterrichtsbeginn war es immer am schlimmsten. Also versuchte er vor allen anderen in der Schule zu sein – wenn auch nicht wirklich in der Schule. Direkt vor Fabians Klasse befand sich der Schulgarten, zu dem auch ein altes Gartenhäuschen gehörte. Natürlich war es versperrt, aber vor geraumer Zeit hatte er ein loses Brett entdeckt, durch das er locker durchschlüpfen konnte – schließlich war er sehr schmächtig gebaut. Darin angekommen kauerte er sich immer hinter den großen Spaten und Rechen zusammen und blieb ganz still sitzen. War er besonders früh dran, genoss er die Stille, den Geruch des Holzes oder das Zwitschern der Vögel.

Von Minute zu Minute stieg dann allerdings der Lärmpegel im Schulhaus neben ihm. Er hörte wie die anderen lachten und durch die Gegend riefen. Wie die Jungs sich gegenseitig aus Spaß beschimpften. Wie die Mädchen kicherten.

Er wusste, dass er nicht dazugehörte. Er kämpfte nicht gerne mit den anderen Buben, er spielt auch nicht gerne Fußball. Beim Turnen blieb er lieber bei den Mädchen – es gab ja auch andere Ballspiele außer Fußball, wo er sowieso immer als Letzter gewählt wurde. Überhaupt schienen ihm die Mädchen viel sanfter zu sein - unter ihnen fühlte er sich wohl. Aber er war eben auch kein Mädchen, auch wenn er sich oft vorstellte wie es wohl wäre, eines zu sein. Darüber – und über vieles mehr dachte Fabian immer nach, in diesen letzten Minuten vor dem ersten Läuten. Danach hatte er fünf Minuten Zeit seine Jacke in der Garderobe aufzuhängen und in die Klasse zu eilen.

Die meiste Zeit bewerkstelligte er das tatsächlich auf Zehenspitzen, nur um nicht laut zu sein oder aufzufallen. Wie gerne wäre er manchmal wie die anderen Jungs – laut und wild. Und wenn einer frech zu ihm wäre, dann würde es eine auf die Schnauze geben! So wie es die anderen mit ihm machten, allerdings nicht weil er frech zu ihnen war, sondern einfach nur deswegen, weil er anders war. Nur hinhauen – das konnte er nicht, selbst daran zu denken erschien ihm als Fehler. Er war eben nicht wie die anderen, er gehörte einfach nicht dazu.

Erschwerend kam noch hinzu, dass sich nach dem ersten Läuten alle Schüler in den Klassen befinden mussten – wurde man von einem Lehrer erwischt, bedeutete das Probleme. Einmal wurde Fabian erwischt: Ein Lehrer fauchte ihn dermaßen zusammen, dass er ganz wackelige Knie bekam und ihm die Tränen in die Augen schossen. Warum er zu spät gekommen war, fragte er nicht. Es schien ihn nicht wirklich zu interessieren. Es interessierte die Lehrer nicht, dass er sich regelmäßig vor den Pausen fürchtete. Es interessierte sie nicht, was jedes Mal vor und nach der Schule passierte.

Es interessierte auch keinen Lehrer, als sie ihn eines Tages packten und auf die Toilette schleiften.

„Komm mit!“, sagte damals ein Junge aus einer anderen Klasse freundlich zu ihm. Fabian kannte den älteren Jungen nicht und war neugierig, was er von ihm wollte. „Ich hab auf dem Klo ein kleines Kätzchen versteckt, willst du es mal sehen?“ Fabian liebte Tiere, seine Großeltern hatten nicht nur einen Hund, sondern auch zwei Katzen, mit denen er oft stundenlang spielte, wenn er die Wochenenden über bei ihnen war.

Also ging er an jenem Tag mit dem Jungen mit, auch wenn er etwas Angst hatte – schließlich wusste er, dass Tiere im Schulgebäude verboten waren und dass ihm das jede Menge Ärger einbringen könnte.

Jeden Morgen erinnerte sich Fabian an diesen Tag, an das Pochen in seiner Kehle, an die Aufregung – und an das, was dann passierte.

„Ich hab sie in der letzten Kabine versteckt“, hörte er den Jungen, der nur mehr knapp hinter ihm war. In diesem Moment überkam ihm das erste Mal Angst – irgendwas schien hier nicht zu stimmen. Blitzschnell sprang die Tür auf und ein anderer Junge kam heraus. Fabian versuchte wegzulaufen, doch der ältere Junge hinter ihm war viel zu stark – er packte ihn am Hals und drückte ihn mit Hilfe des anderen in die Kabine.

„Sei still!“, zischte einer und hielt ihm den Mund zu, als Fabian zu wimmern begann.

„Du sollst still sein!“, zischte er abermals, als Fabian sich nicht beruhigte.

„Los, bevor ein Lehrer kommt!“, wisperte der andere. Sie packten ihn an den Beinen, tauchten seinen Kopf in die Muschel und betätigten die Spülung. Viel lauter noch als das Wasser konnte Fabian ihr hässliches Lachen hören.

„Na, hat dir die Dusche gefallen, du Schwuchtel?“, lachte ihm einer der beiden ins Gesicht, als sie mit ihrem bösen Spiel fertig waren.

„Dann wollen wir mal sehen, ob er wirklich ein Mädchen ist“, meinte der andere und schon zog er Fabian die Hose runter.

Es schien die beiden nicht im Geringsten zu stören, dass Fabian nun leise vor sich hin weinte. Duldsam ließ er die Schmähungen über sich ergehen.

„Kuck mal, der hat ja doch ´nen Pimmel!“, rief einer der beiden amüsiert.

„Und was für einen winzigen. Also doch fast ein Mädchen“, meinte der andere. Vorm Eingang des Klos wurde es langsam lauter, was die beiden nervös machte.

„Du bleibst da jetzt noch 5 Minuten hier, ok? Sonst wiederholen wir das morgen wieder und übermorgen und jeden anderen Tag auch, verstanden? Und wehe du sagst irgendjemanden was! Dann fällt uns noch viel Schlimmeres ein!“

Um dies zu bekräftigen, boxte ihn einer der beiden noch in den Bauch, ehe sie die Toilette verließen. Fabian sackte zusammen – noch nie zuvor hatte er so Angst gehabt in seinem Leben. Doch er tat wie es ihm die Jungs befohlen hatten. Er zog sich die Hose hoch und blieb noch 15 statt 5 Minuten sitzen, während er still weinte.

Es hatte längst zur Stunde geläutet, als er den Kopf unter den Föhn hielt, um seine Haare zu trocken. Dann kehrte er in die Klasse zurück, wo er auch noch vom Lehrer Ärger bekam.

„Fabian du weißt es ist untersagt, nach dem Läuten zu spät in die Klasse zu kommen!“

„Entschuldigen Sie, ich war noch am Klo. Ich habe schon seit dem Morgen Bauchweh!“

Der Lehrer musterte ihn argwöhnisch und Fabian wusste, dass er ihm nicht glaubte. „Erzähl keine Märchen“, meinte der Lehrer an jenem Tag. „Hast dich wohl wieder auf der Toilette verkrochen, wie? Sag, musst du dich eigentlich immer ausschließen? Willst du ein Leben lang ein Außenseiter bleiben?“

Fabian stand wie angewurzelt an seinem Platz, während ihn alle anderen anstarrten. Er hasste es, angestarrt zu werden. Sein Klassenlehrer hatte damals sogar seine Eltern in die Schule bestellt, um ihnen mitzuteilen, wie sehr er sich um Fabian sorgte. Sein Grund zur Besorgnis: Fabian würde sich ausschließen – er würde sich der Gruppe verweigern. Als ihn seine Mutter später darauf ansprach, begann Fabian zu weinen. Er hatte viel zu viel Angst ihr zu sagen, was wirklich passiert war – und außerdem wollte er seine Mutter, die er über alles liebte, nicht traurig machen.

Ab diesem Tag traute sich Fabian auch kaum mehr, in der Schule aufs Klo zu gehen – und er begann Bett zu nässen.

An diesem Morgen war Fabian rechtzeitig an seinem Platz, als es zur Stunde läutete. In der ersten Stunde hatten sie Mathematik – Fabian war äußerst begabt und vor allem Mathe ging ihm leicht von der Hand. Die Stunde verging schnell, leider, denn in der drauffolgenden Pause musste Fabian zu Can. Der hatte ihm wenige Wochen zuvor befohlen, ihm täglich seine Jause zu überlassen.

„Was hast du denn heute dabei, Schätzchen?“, flötete er mädchenhaft, worüber sich seine Freunde köstlich amüsierten.

„Ich hab einen Kornspitz mit Käse – und ein Packerl Kakao!“

„Bäh. Ist das alles? Die reinste Mädchennahrung! Hast du wenigstens Geld dabei?“

„Nein“, log Fabian, denn er hatte 5 Euro in seiner Tasche. Natürlich glaubte ihm Can nicht. Fabian zuckte zurück, als er ihm in die Hosentasche griff und die 5 Euro herausfingerte.

„Lügner!“, fuhr ihn Can an und die anderen blickten drein, als hätte Fabian ein schwerwiegendes Verbrechen begangen. Silvie – die versuchte einzuschreiten – wurde von ein paar Mädchen davon abgehalten; alle halfen sie mit, wenn es gegen Fabian ging.

„Lüg mich noch einmal an und du kassierst wieder Schläge, verstanden?“, baute sich Can vor dem kleineren Fabian auf. „Verstanden?“

„Ja“, piepste Fabian.

Can steckte die 5 Euro ein, nahm seinen Kornspitz mit Käse trotzdem, führte ihn an seinen Schritt und fuhr mit der rechten Hand auf und ab.

„Oh, Fabian, Fabiaaan“, stöhnte er während die anderen sich vor Lachen bogen. Dann spuckte er auf Fabians Jause und gab sie ihm zurück.

„Guten Appetit, Schwuchtel. Und jetzt geh mir aus der Sonne“.

Fabian hatte es so satt. Er war zu schwach und zu ängstlich um sich gegen den viel stärkeren Can zu wehren. Was hätte es auch gebracht? Can hatte viele Freunde die ihm helfen würden, er hatte nur Silvie, die ihm auch nicht helfen konnte.

Und Can meinte das durchaus ernst: Tat Fabian nicht das was er wollte, lauerte er ihm nach der Schule auf und schlug ihn zusammen. Can schlug ihm nie ins Gesicht, meistens in den Magen oder in die Eier. Schließlich sollte Fabian keine sichtbaren Beweise gegen ihn haben.

So ging der Schultag weiter – Stunde um Stunde. Pause um Pause. Beleidigung um Beleidigung. Einmal war es Can, dann Phillip, dann Alex.

Endlich waren die letzten beiden Stunden gekommen – Zeichnen. Fabian war ein sehr guter Zeichner und er liebte dieses Fach. Wenn er sein Zeichenblatt und seine Wasserfarben vor sich liegen hatte, dann verschwand er in eine andere Welt. Er tauchte in den Wasserfarben unter und alles war dann bunt um ihn. Sein Pinsel tanzte wie von Geisterhand bewegt über das Blatt, während Fabian Traumlandschaften kreierte. Denn genau das war das Motto der Stunde: ein Traum!

Was für ein Zufall! Fabian beschloss seinen Traum der letzten Nacht zu malen. Er malte die Hügel über die er geflogen war, die Lämmchen die einander nachjagten – und eine freundlich dreinblickende Möwe. Er erinnerte sich daran, was die Möwe zu ihm gesagt hatte: „Hier tut dir keiner was!“

Fabian war schneller fertig als alle anderen und blickte zufrieden auf sein Blatt – die Zeichenlehrerin lobte ihn und er konnte es kaum erwarten nach Hause zu kommen, um es seiner Mutter zu zeigen.

„Wir sehen uns bei der Bushaltestelle“, flüsterte Fabian zu Silvie, während er genauso schnell aus der Schule lief, wie morgens aus dem Bus.

Ein wenig später trafen sie sich an der Haltestelle wieder – gemeinsam mit einer Traube an anderen Schülern, die alle auf den Bus warteten. Darunter auch Can, Alex und Phillip, die ihn böse anblickten. Fabian war stolz auf seine Zeichnung – sie konnten es scheinbar nicht leiden wenn er zufrieden war.

Immer mehr Kinder fanden sich in der Haltestelle ein, ohne dass sich ein Bus näherte. Als Fabian sich von den anderen unbeobachtet fühlte, verabschiedete er sich von Silvie und beschloss zu Fuß nach Hause zu gehen.

„Bist du dir sicher?“, fragte Silvie. „Sicher wird der Bus gleich da sein!“

„Ach, so weit ist es ja auch nicht, außerdem fallen mir dann die anderen wenigstens nicht auf den Wecker!“

So unauffällig wie möglich schlich er sich davon, seine Zeichnung behutsam vor sich hertragend – schließlich wollte er sie nicht unnötig zerknittern. Die Sonne schien warm und die Leute die ihm entgegen kamen blickten ihn lächelnd an.

„Ah, der Fabian!“, lief ihm Frau Weinfahrt über den Weg, die in der Nachbarschaft wohnte. „Was hast du denn da wieder für eine schöne Zeichnung gemacht? Und wie groß du schon bist. Wie alt bist du denn schon?“

„Ich werde in zwei Wochen neun!“, antwortete Fabian höflich.

„Na dann jetzt schon alles Gute.“ Sie kramte in einer ihrer Taschen herum und holte eine Tafel Schokolade hervor, die sie ihm auch gleich in die Schultasche steckte. „Falls wir uns nicht mehr sehen sollten vorher!“

Fabian bedankte sich und verabschiedete sich. Er mochte Frau Weinfahrt, die immer nett zu ihm war.

Wie konnte es nur sein, dass ihn in seinem Viertel scheinbar alle mochten, während ihn in der Schule alle hassten?

Neun Jahre sollte er werden. Groß war er nun aber wirklich nicht, auch wenn Frau Weinfahrt das behauptete. Eher klein und sehr schmächtig. Durch seine blonden Löckchen hielten ihn manche wirklich für ein Mädchen, was Fabian im Grunde egal war – solang man ihn nicht deswegen beschimpfte. Er spielte halt gerne mit Puppen und mit anderen Mädchen. Mit Jungs wollte er nicht spielen – er hatte eher Angst vor ihnen, auch wenn er auf der anderen Seite etwas Geheimnisvolles in ihnen sah. Dachte er an manche Jungs, wurde ihm sogar immer warm in seinem Bauch. Eigenartig fand er das dann!

„Hast dich ja wieder ordentlich eingeschleimt bei der Müller! Los her damit!“

Can stand plötzlich vor ihm – mit Alex und Phillip im Schlepptau. Er entriss ihm die Zeichnung und betrachtete sie spöttisch.

„Kuckt mal – lauter Schäfchen! Und Wölkchen! Und diese scheiß Taube! Ein richtiges Schwuchtelbild!“ Die Wörter Schäfchen und Wölkchen zog Can höhnisch in die Länge, während er Fabians Zeichnung mit zwei Fingern hielt.

„Das ist eine Möwe“, flüsterte Fabian kaum hörbar.

Die drei verstummten.

„Bitte? Hast du irgendwas zu sagen?“, fuhr ihn Can an.

„Los, schafft ihn da rüber!“

Alex und Phillip drängten Fabian unbemerkt ihn eine Seitengasse, wo sie ihn sogleich zu Boden drückten und ihn festhielten.

Fast behutsam legte Can Fabians Zeichnung knapp vor dessen Gesicht, so als würde ihm etwas daran liegen, sie nicht zu beschädigen. Dann knöpfte er seine Hose auf und pinkelte drauf.

Die Farben verwischten und verschwammen ineinander – die Möwe sah nun nicht mehr freundlich drein, eher so, als ob sie weinen würde.

Als Fabian bemerkte, dass sich der Griff von Alex und Phillip leicht lockerte, nutzte er diese Chance um zu entkommen.

„Los, auf ihn mit Gebrüll!“, hörte er hinter ihm Can rufen.

Kopflos rannte er aus der Seitengasse auf die Straße.

Erst das Quietschen eines Autos veranlasste Can, Alex und Phillip ihre `Jagd´ zu beenden.

Fabian stand wie angewurzelt da – hätte das Auto nicht eine Vollbremsung hingelegt, wäre es wohl um ihn geschehen. Er drehte sich zu seinen drei Peinigern um und blickte sie an. Nicht vorwurfsvoll oder böse. Einfach nur traurig und mit einem flehenden Blick in den Augen der zu sagen schien: „Lasst mich doch einfach in Ruhe!“

Ob Can, Alex und Phillip es auch zur Kenntnis genommen haben konnte er nicht beurteilen. Sie standen ebenfalls da, als wären sie zu Salzsäuren erstarrt. Still ging Fabian nach Hause.

„Na mein Schatz, ist alles in Ordnung? Gleich gibt’s Essen – Spaghetti mit Käsesauce. Die magst du ja so. Wie war dein Tag?“, begrüßte ihn seine Mutter, als Fabian ins Haus schlich.

„Alles in Ordnung, alles wie immer“, lächelte Fabian sie an und ging in sein Zimmer. Er wollte nicht, dass sie ihn weinen sah. Sie sollte sich bloß keine Sorgen um ihn machen. In wenigen Wochen würde er neun werden – und da sollte dann doch alles besser werden.

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