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Der Golf - oder: Murphys Gesetz

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Dort stand er. Unter dem Baum, im Schatten. Voller Vogelkot - obwohl er dort erst seit einer halben Stunde parkte. Mein Volkswagen Golf. Dunkelblau war er, nannte sich 1.9 TDI Highline.

Mein Golf.

Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich gesagt, so ein dreckiges Auto hätte ich niemals besessen. Aber er stand nunmal unter diesem Baum. Denn dort hatte ich ihn geparkt.

Ich kam gerade aus der Stadt, aus dem Café. Schlenderte gerade die sonnige Straße entlang.

Da setzte sich doch ein Vogel auf die Motorhaube meines Golfs.

Mein Golf, jawohl.

Er war gefährlich, lebensgefährlich. Aber nur, sobald ich aus ihm ausstieg. Sobald ich wieder in ihm saß, war ich es, der ihn gefährlich machte.

Doch jetzt ... knackte es laut und plötzlich und die Motorhaube schwang wie von einer ehemals gespannten Feder gehalten ruckartig gen Frontscheibe.

Die Taube - ich glaube, es war eine Taube - wurde durch die Luft geschleudert und schlug beinahe an einem Halteverbotsschild an.

Mein Golf, jaa, das war er.

Er will nur spielen.

Kapitel 1

Geschafft. Ohne größere Schäden hatte ich es dann doch noch geschafft, mein Heim zu erreichen.

Irgendwo fernab der Zivilisation. Mitten im Ruhrgebiet.

Woher diese Kratzer herrührten, die ich erst jetzt bemerkte? Ich wusste es nicht. Vor Fahrtantritt waren sie jedenfalls noch nicht da gewesen.

Na, und?

Liebst du dein Auto, dann liebt es auch dich. Oder so ähnlich lautete die Werbung. Nur von einem Baumarkt.

Jedenfalls hatte ich im Stau gestanden. Obwohl ich hätte anders fahren können.

Was sollte es?

Ich? Ja, das bin ich. Gerade achtzehn geworden, leicht vereinsamt und begeisterter Auto-Freak. Meine Mutter arbeitet, mein Vater ist tot.

Und ich bin schwul.

Immerhin war ich jetzt wieder daheim. Hatte den Golf in die Garage bugsiert - etwas lieblos vielleicht, aber es war doch nur ein Auto. Nur ein Auto? Nur? Es war ein Auto! Ein Golf.

Nicht besonders schön. Ein Golf halt. Gut, er war nachtblau und an manchen Stellen, bevorzugt an der Front sah man sogar die Sterne. Und den Mond von Wanne-Eickel. Steinschlag, das war die richtige Diagnose. Das Heckkennzeichen hing schief, wenn auch nur um wenige Millimeter, aber es hing schief.

An der Fahrertür war ein Hauch von rotem Lippenstift. Nein, es war vielmehr das Werk eines Rüpels, der nicht hatte ausparken können. Aber es war schön.

Und nun wankte ich erschöpft durch den Garten in den Hausflur. Ging dann wie gewöhnlich die Treppe nach oben und ließ mich in meinem Zimmer auf die Couch fallen.

Ja, mein Zimmer. Es war klein, aber fein. Mit Teppich. Und Balkonblick.

Platz genug für einen Schreibtisch, eine Kommode, einen ehemaligen Bücherschrank, der jetzt als Kleiderschrank die nutzbare Bodenfläche verringerte, einen Raumteiler, ein Regal, ein Bett und eine Couch. Und das auf knapp zwölf Quadratmetern.

Nun, es war schon ein Trick dabei. Denn das Bett war ein Hochbett und darunter fand dann auch die Couch ihren Platz.

Ich seufzte. Draußen regnete es schon wieder. Feinster englischer Nieselregen bei angenehmen neunzehn Grad.

Ein paar Minuten blieb ich noch sitzen, dann war mir das Nichtstun zu dumm geworden. Ich musste etwas tun.

Schreiben? Musik hören? Fernsehen?

Ich konnte mich nicht entscheiden, schob zuerst die DVD in den DVD-Spieler unter dem Fernseher, schaltete dann das Radio ein und ließ dann mein Laptop hochfahren.

Da saß ich nun an meinem Schreibtisch, berieselt von einem Film und einem Rockkonzert, und versuchte, einen halbwegs vernünftigen Mist für die Schule zu schreiben, über Aurelius Augustinus.

Mir fiel nichts ein. Weniger als nichts. Vielmehr lauschte ich der Musik, gerade war es ein Gitarrensolo, sah gleichzeitig den Film und hackte ideenlos auf die Tastatur meines Laptops ein.

Irgendwann verschwand dann die Musik aus meinem Kopf und der Film nahm mehr und mehr eine dominante Position ein. Verdrängte alle anderen Gedanken.

Bis auf einen einzigen: »Junge, geh ins Internet! Du musst was unternehmen!«

Gesagt, getan. Film und Musik liefen weiter und nun ging ich auch noch ins Internet. Nach einer kurzen Durchsicht meiner E-Mail-Fächer, die nichts außer Werbung zu Tage brachte, versuchte ich noch, jemanden aus einem meiner Kursen im Chat zu erwischen.

Tote Hose. An einem Mittwochabend. Niemand da.

Zuerst dachte ich daran, noch schnell einen Text für die Schülerzeitung ins Forum zu stellen, doch ich beließ es bei dem Gedanken und ging auf eine andere Seite.

Zu den Kontaktanzeigen.

Ein Klick und ich war in meiner Region angelangt. Noch ein Klick und ich hatte das Alter der potenziellen Kandidaten auf ein spontanes Treffen auf höchstens vierundzwanzig reduziert.

Warum gerade vierundzwanzig? Ist so eine schöne Zahl. Dreimalzweihochdrei. Fünfhochzweiminuseins. Sechsmalvier. Ich hab keine Ahnung, warum.

Gespannt las ich die diversen Gesuche.

»Suche Boy für Freundschaft und mehr ...« ...

Immer das Gleiche. Doch eine Anzeige ließ mich aufhorchen.

»Einsamer Boy sucht jemanden zum Anlehnen, Kuscheln und Reden.« Das klang doch schon besser. Schnell schrieb ich ihm eine E-Mail.

»Hi du. Mir geht's wie dir. Brauche auch jemanden zum Reden. Können wir uns treffen?«

Ich fügte noch meinen Namen an und klickte dann auf »Senden«. Die Antwort kam prompt.

»Hi. Treffen klingt gut. Wann und wo? Marc.«

Die restlichen Formalitäten wurden im Chat abgewickelt und nur wenige Minuten später hatte ich mir eine Regenjacke gegriffen und saß wieder im Golf.

Kapitel 2

Eigentlich war es nicht weit. Aber zum einen regnete es mittlerweile unaufhörlich und zum anderen hatte es einen Unfall gegeben - und ich war natürlich nicht rechtzeitig abgebogen.

Ja, das bin ich. Die Reinkarnation von Murphy's Gesetz. Was schiefgehen kann, geht schief. Gibt es ein Fettnäpfchen, trete ich hinein. Und das mit dem größten Vergnügen - oder auch nicht.

Jetzt stand ich da also. Mitten im Stau. Vor einer Unfallstelle. Es regnete und regnete immer weiter. Und der Abend wurde immer später.

Langsam wurde auch der Himmel immer dunkler. Hatte zu Beginn meiner Fahrt noch ein rötlicher Schimmer die hellen Flecken zwischen den Gewitterwolken erhellt, so war nun alles dunkelgrau und die Regentropfen glänzten vom Licht der entgegenkommenden Autos.

Glücklicherweise hatten wir auch die Handynummern ausgetauscht.

Ich rief also bei ihm an.

»Kein Anschluss unter dieser Nummer. ... Kein Anschluss unter dieser Nummer.«, näselte es nur aus dem Handy.

Entweder hatte ich die Nummer falsch abgetippt, oder Marc war nur eine Fantasie. Ein Tagtraum.

Ich beschloss, ihn zu einem Tagtraum zu machen, das machte es einfacher, log ich mir ins Gehirn. Aber es war bitter, was ich empfand. Wie ich ihn mir vorstellte, viel zu schön für einen Traum. Aber es schien ein Traum zu bleiben.

Von einem lauten Hupen wurde ich aus meinen Träumen zurückgeholt. Endlich ging es weiter, endlich kam ich meinem Ziel näher.

Aber mit jedem Meter stieg die Ungewissheit. War Marc real oder nicht?

Mit jedem Meter, den ich weiter von Zuhause wegfuhr, wünschte ich mir mehr, ich wäre nie losgefahren.

Schließlich kam ich am Treffpunkt an. Hoffnungslos verspätet, mindestens ein halbe Stunde zu spät. Meine Uhr hatte wenige Kilometer vor dem Ziel bei einer knappen halben Stunde Verspätung den Geist aufgegeben.

Ich öffnete die Tür und lehnte mich dann an das zugegebenermaßen nasse Heck meines Golf. Blickte mich suchend um, um festzustellen, dass ich die einzige Person weit und breit war.

Wehmütig seufzte ich. Es hatte nicht sollen sein. Endlich stieß der Mond hinter der dichten Wolkendecke hervor und die Regentropfen an meinem Golf reflektierten sein fahles, klares Licht. Unwirsch wischte ich die Tropfen mit der Hand weg und ließ mich am Golf hinab ins Gras rutschen.

Mein Blick stieg gen Himmel. Ja, der Mond von Wanne-Eickel lachte spöttisch und die Sterne funkelten nur so um die Wette. Ich sah dagegen ganz blass aus.

Doch dann erschien eine Sternschnuppe und ich wusste, es war an der Zeit, endlich meinen Schlaf zu finden. Nicht an diesem Ort, sondern daheim, im warmen Bett.

Enttäuscht stieg ich wieder in dem Golf und beschloss, diesmal über die Dörfer zu fahren, um meinen Kopf freizumachen von dem Nebel, der mich noch immer umfing. Dieser mystische Nebel der Enttäuschung, der meine Gedanken verbarg und umhüllte wie ein Nebel eine alte Burg im Hinterland verschwinden ließ, so dass diese nie mehr gesehen wurde.

Hinfort mit diesen Gedanken. Doch noch waberte der Nebel nur sacht.

Kapitel 3

Ich wollte fort, fort von der Enttäuschung, wollte sie salopp mit der Hand wegwischen können. Ich öffnete Fahrer- und Beifahrerfenster und ließ die kühle Nachtluft meinen Golf durchströmen.

Die Straße machte eine Linkskurve.

Plötzlich knallte es laut und mein Wagen begann zu schleudern.

Das Nächste, was ich wieder wusste, war, dass ich kopfüber im Golf irgendwo im Feld lag.

Ich stöhnte auf, als ich mich zur Seite drehte.

Hallo Murphy!

Mühsam kroch ich aus dem Wrack.

Mein Golf. Schrott! Wegen eines einzigen Reifens!

Vollkommen zerstört setzte ich mich in das Feld und starrte auf den Golf.

Nichts war von seiner ehemaligen Schönheit geblieben. Schönheit? Nennen wir es besser Zeitlosigkeit.

Das Dach war etwas tiefer angesetzt, die Front war verbeult, das Heck war eingedrückt, die Heckscheibe fehlte und hinter der B-Säule war ein große Delle, gesäumt mit Holzsplittern. Ich drehte mich um. Ja, der Baum musste es gewesen sein, der meinen Golf auseinander genommen hatte.

Die Zeit verging.

Plötzlich hörte ich nur noch ein Quietschen und dann ein Scheppern und dann einen lauten Knall.

Schockiert drehte ich mich um.

Der Baum, den ich gerade noch verteufelt hatte, war weg. Stattdessen stand senkrecht an den Baumrest gelehnt ein äußerst demolierter gelber Kleinwagen.

Ford KA. So viel hatte mir der Schock noch nicht aus dem Gehirn gepustet.

Was dann geschah, weiß ich nicht wirklich.

Ich muss wohl zu diesem Ford KA gelaufen sein.

Jedenfalls weiß ich dann wieder, dass plötzlich ein Feuerball aus dem KA aufschoss.

Kapitel 4

Ich hatte eine Person aus dem Wrack gezerrt, sie hing jetzt in meinen Armen. Bewusstlos.

Und männlich und ziemlich jung - und attraktiv.

Woran habe ich in dem Moment bloß gedacht?

Dann hielt ein Fahrzeug an der Straße an. Zwei Personen stiegen aus, eine telefonierte scheinbar. Die andere lief zum Wrack und konnte noch eine zweite Person herausziehen.

Kurz darauf muss dann auch der Krankenwagen gekommen sein, jedenfalls erwachte ich erst in einem Krankenhaus wieder.

Dass es ein Krankenhaus war, wusste ich, noch bevor ich die Augen geöffnet hatte. Es roch so ungesund.

Ich saß in einem Zimmer, hing in einem Stuhl und hielt dem jungen Typen die Hand.

Irgendwie kam ich mir sehr verwirrt und durcheinander vor.

Schule hab ich dann geschwänzt.

Ich holte tief Luft.

Tja, und jetzt verließ ich zusammen mit diesem jungen Typen das Krankenhaus. Und ich wusste nicht, warum.

Der Typ lächelte und ich sah vor mir an einem Freitagmorgen den Tagtraum vom Mittwochabend. Er schaute mir in die Augen. Ungewöhnlich lange.

Ich konnte meinen Blick gar nicht mehr von ihm lösen.

Epilog

»Weil du mein Lebensretter bist.«

»Das war meine Pflicht.«

»Dennoch hast du mir das Leben gerettet.«

Wieder lächelte er spitzbübisch und ich versank in seinem Gesicht.

»Und nun?”, fragte ich verwirrt, als ich bemerkte, dass er mich komisch ansah.

»Wollen wir endlich reden?«, fragte er.

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