zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Verstecktes Leben im Abseits - Tabuthema Homosexualität in der Männerdomäne Fußball

Kapitel 10 - Das kleine Finale

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

 

Ich glaubte nicht daran, Mathew noch einmal wiederzusehen. Er rief mich nie an und auch Thomas telefonierte nur noch ein paar Mal mit ihm, bis dieser Kontakt ebenfalls erstarb. Miriam fragte mich ein paar Mal, ob ich etwas von ihm gehört hatte, denn nicht nur fand sie es komisch, dass ich nichts mehr mit ihm zu tun hatte, sondern vermisste sie ihn selbst ein wenig. Im Stillen verlor ich zunehmend die Hoffnung, noch ein einziges Mal sein Lächeln zu sehen, auch wenn ich es nicht vergessen konnte.

Dabei war es vermutlich gut so, redete ich mir dann wieder ein. Ich hatte immerhin mittlerweile beschlossen, eine Heteroehe einzugehen. In dem Leben hatte er keinen Platz. Nein, es war sogar besser für ihn, nichts mehr damit zu tun zu haben. Auf diese Weise würde er mich vergessen können und einen neuen Mann finden, eine neue Liebe, die sicher viel stärker sein würde als unsere, immerhin hatte diese noch ganz am Anfang gestanden und nie ernsthafte Bahnen eingeschlagen. Es tat weh, auch nur darüber nachzudenken, doch ich beruhigte mich mit dem Gedanken, dass es ihm ohne mich besser ergehen würde. Er zumindest würde bestimmt glücklich werden. Er hatte es verdient.

Die Monate vergingen und Miriam sprach natürlich immer wieder das Thema Hochzeit an. Jedes Mal schreckte ich dann ein kleines Stück zurück, bedacht darauf, sie dies nicht merken zu lassen. Zwar trug sie jetzt mein Versprechen in Form eines Ringes am Finger, doch ich hatte noch immer Angst davor, den letzten Schritt zu gehen. Daher wich ich ihr oft aus, schob Termine vor und fantasierte nur sehr allgemein mit ihr über unsere Hochzeit. Sie hingegen wäre am liebsten sofort mit mir zum Altar geschritten, und ab und an fragte ich mich, ob mich, so wenig ich auch an ihn glaubte, wohl die Strafe Gottes treffen würde, sobald unser Versprechen vor ihm geschlossen werden würde.

Zum Glück ließ es mein sehr voller Terminkalender lange kaum zu, genaue Pläne zu schmieden. Und ich kümmerte mich auch nicht darum, dass er leerer wurde. Stattdessen sah ich die EM näher kommen und somit einen Weg, dem ganzen noch ein wenig länger zu entfliehen. Ich schämte mich dafür, dass ich mich dermaßen erbärmlich verhielt, doch ich sah einfach keinen Ausweg. Ihr Ring zeigte mir immer wieder, dass es schon bald kein Zurück mehr geben würde, ebenso wie er mir meine Angst vor diesem vermeintlich endgültigen Schritt verdeutlichte.

Auf das Trainingscamp freute ich mich daher sehr. Hier würde ich Ablenkung finden und einfach frei meiner Leidenschaft nachgehen können. Hier würde ich abschalten und runterkommen, und vielleicht konnte ich anschließend, nach der EM, mit ihr ernsthaft über unsere Hochzeit reden. Dann würde ich es sicher schaffen, den Weg mit ihr zu gehen. Davon war ich wirklich überzeugt, so lange bis ich den Mann wieder sah, der meine Welt bereits einmal fast zum Einsturz gebracht hatte.

 

Rein objektiv gesehen war Mathew genauso wenig mein Typ wie er es vor fast zwei Jahren gewesen war. Er hatte sich kaum verändert. Seine Haare waren bloß etwas länger, seine Gesichtszüge vielleicht etwas markanter, sein Körper, soweit man das durch die Kleidung ausmachen konnte, ein wenig schmaler. Nichts Besonders war an ihm, mag man meinen, doch alleine sein Anblick war genug, um mein Herz für eine lange Sekunde aussetzen zu lassen.

Von der gesamten Ansprache des Trainers bekam ich kein einziges Wort mit. Stattdessen konnte ich meine Augen kaum von dem Mann lassen, den ich nie erwartet hatte, noch einmal wiederzusehen. Sein Blick und das angedeutete Lächeln hingegen sagten mir, dass dies kein Zufall war. Fast so laut wie Worte stachen sie in mich und machten mir deutlich, dass Mathew nicht einfach gefragt worden war, herzukommen; er hatte es darauf angelegt. Er hatte mich nicht vergessen, er hatte keinen neuen Mann gefunden. Er war hier wegen mir.

Was dachte er bloß, was nun geschehen würde?

Zunächst kam ich mit dem Gedanken überhaupt nicht klar, dass er wieder in meiner Nähe war. So lange hatte ich mich nach ihm gesehnt, die Gefühle unterdrückt und gegen sie gekämpft; wie konnte er es da wagen, einfach so wieder vor mir zu stehen? Wusste er denn nicht, dass er alles kaputt machen konnte? Oder war das alles Berechnung seinerseits? Wollte er mich zerstören?

So irrsinnig diese Gedanken auch waren, verfolgten sie mich dennoch einige Tage lang, in denen ich ihm bewusst aus dem Weg ging. Ich musste meine Gefühle ordnen, sonst würde ich es nicht schaffen, ihm gegenüberzutreten. Denn ich war nicht bereit dazu, mich ein weiteres Mal in ihm zu verlieren. Dabei war mir eigentlich klar, dass ich nie wirklich aus ihm herausgefunden hatte.

Meine Gefühle waren immer noch da, verborgen mit dem Teil meiner selbst, den ich verleugnete und immer mal wieder hasste. So wie jetzt, da mir bewusst wurde, wonach ich mich die letzten Monate gesehnt hatte. Aber wieso? Wieso war diese wunderbare Frau nicht genug für mich? Sie liebte mich und wollte mit mir alt werden. Wieso konnte ich nicht einfach genau das gleiche fühlen? Wieso musste ausgerechnet ich so abscheulich anders sein?

Meine Wut auf mich selbst war schwer zu verbergen, gar unmöglich. Jeder merkte mir an, dass etwas nicht stimmte, wenn auch nur einer wissen konnte, was die Ursache war. Doch gerade mit ihm wollte ich nicht sprechen, während er den Kontakt suchte und ihn zumindest mit Miriam, mit Thomas und Cheila fand. Doch ich blockte ab, immer wieder. Ich durfte nicht schwach sein.

Miriam war ratlos. Sie verstand nicht, was nun schon wieder passiert war, und versuchte, Anhaltspunkte für mein Verhalten zu finden. Ich versuchte meinerseits, sie davon abzuhalten, aus Angst, sie könne tatsächlich auf die richtige Spur stoßen. Denn für mich war es so deutlich, so offensichtlich; merkte sie denn nicht, dass es alles mit der Anwesenheit eines einzigen Menschen zusammen hing?

Sie merkte es nicht, denn vermutlich war sie so davon überzeugt, dass ich der heteroste Mann auf der Welt war, weshalb sie noch nicht mal im Ansatz in die richtige Richtung dachte. Es erleichterte mich, wann immer ich das merkte, machte das ganze aber nicht einfacher, weil ich das Gefühl hatte, an meinen eigenen Lügen zu ersticken… oder an meiner Sehnsucht.

Um ehrlich zu sein, mir war nicht bewusst gewesen, wie sehr ich Mathew tatsächlich vermisst hatte. Zwar wehrte ich mich gegen diese Erkenntnis, doch wann immer ich in seiner Nähe war oder in seine Augen blickte, spürte ich das Verlangen, welches zwei Jahre zuvor entfacht worden war. Und es war stärker als damals, ein Vielfaches intensiver. Ich konnte mich kaum auf etwas konzentrieren, sobald er auch nur in Sichtweite trat, und es fiel mir schwer, die Distanz zu wahren. Zum Glück versuchte er nicht, sie zu überwinden, denn ich wäre sofort eingebrochen, hätte er an meiner Mauer geklopft.

Doch warum war dies so? Wir hatten einander nie geküsst, nur selten berührt. Wir hatten zwar geredet, doch gab es so vieles, was ich nicht über ihn wusste. Ich kannte nur wenige seiner Macken, bei weitem nicht alle Vorlieben und Wünsche. Ich wusste nicht, was er von der Zukunft erwartete und hatte nur ein ungefähres Bild von dem, was seine Persönlichkeit geprägt hatte. Wieso also konnte ich nicht anders, als ständig an ihn zu denken? Warum konnte ich sein Lächeln nicht vergessen; oder seine Stimme? Weshalb sehnte ich mich nach seinen Berührungen, seiner Nähe? Weswegen verfolgte er mich in der Nacht, wenn es doch viel mehr Dinge abseits von ihm gab, die mich beschäftigen sollten? Was war so besonders an ihm, dass er mich so in Beschlag hatte nehmen können?

Wieso liebte ich ihn?

Ich ertrug diese Frage kaum, nachdem sie sich einmal in meinem Verstand eingenistet hatte. Niemand auf der Welt kann wirklich beschreiben, was Liebe ausmacht, jeder muss sie für sich selbst erkunden und entdecken. Und an diesem Punkt war ich nun, oder vielleicht bereits vor zwei Jahren. Ich wusste, tief in mir drin, dass dies Liebe war, so irrsinnig es auch für mich klang.

Wir hatten so wenig Zeit zusammen gehabt, nie ein gemeinsames Alltagsleben, und dennoch erfüllte er mich wie niemand sonst. Bei ihm war ich innerlich zur Ruhe gekommen, entspannt und glücklich. Fern von ihm war ich aufgewühlt und von Unwahrheiten zerfressen. Er war es, den ich am liebsten für immer an meiner Seite haben wollte. Dies war Liebe, zumindest für mich. Und sie brannte in mir, so sehr ich sie auch verdrängte und versuchte, sie herunterzuspielen. Sie wollte nicht aufhören zu lodern, so stark und hell, dass ich sie kaum übersehen konnte. Sie umhüllte mich mit ihren Flammen und zog mich hinab zum Fegefeuer. Wenn ich dem einmal nachgäbe, würde es kein Zurück mehr geben.

Ich wusste das, es machte mir Angst, doch ich sehnte mich desgleichen genau danach. Jahre zuvor war ich auch in einer schwierigen und verbotenen Situation gewesen. Damals war ich zu ihm gegangen und zwischen uns war nichts Anzügliches geschehen. Wir hatten nur geredet, uns an harmlosen Stellen berührt. Doch nun wollte ich das tun, was damals hätte passieren können, wenn ich nur den Mut gehabt hätte.

Und so führte mich all das letztendlich dazu, dass ich in einer sternenklaren Nacht Miriam in unserem Bett alleine ließ. Bis zu dem Punkt war ich immer irgendwie stark gewesen, hatte gelernt, Instinkte und Verlangen zu unterdrücken und stattdessen so gehandelt, wie es von mir erwartet wurde. Ich war nie wirklich bereit gewesen, schwach zu sein, meinen Traum zu opfern. Doch nun war ich es. Zu lange hatte ich gesehnt und geliebt. Zu lange hatte ich mir vorgestellt, wie seine Lippen schmecken und seine Haut sich anfühlen würde. Ich konnte einfach keinen anderen Weg mehr wählen. Ich wollte in dieser Gefühlswelt nicht mehr alleine sein.

Man mag sich vorstellen, wie überrascht Mathew war, als ich plötzlich vor seiner Tür stand. Wir hatten in den vergangenen Tagen nur die nötigsten Worte gewechselt, kein einziges persönliches. Ich war ihm ganz deutlich aus dem Weg gegangen. Und nun stand ich plötzlich vor ihm, einfach so.

Ich streckte ihm die Hand entgegen, ohne ein einziges Wort. Es war nur eine kleine Geste, doch sie sagte so viel. Und dann schloss sich die Tür hinter uns und ich riss ihn an mich. Dieses Mal wollte ich nicht nur reden, dieses Mal vergrub ich meine Lippen auf seinen und war nicht bereit, ihn loszulassen, ehe wir uns die Kleider vom Leib gerissen und einander auf unbändige Weise geliebt hatten.

Es ging schnell, viel zu schnell und ungestüm, und danach saß ich benommen da, auf dem Boden des Flurs, direkt bei der Tür. Ich konnte noch immer sein lustvolles Stöhnen in meinen Ohren hören. Wir hatten beide versucht, jeglichen Laut zu unterdrücken, doch hier und da war dennoch einer hervor gekrochen. Und jetzt, in diesem Augenblick wollte ich ihm sagen, wie sehr ich ihn liebte. Doch ich konnte es nicht, denn der Zeitpunkt war zu stark dafür, zu überwältigend. Daher zog ich ihn vom Boden hoch und mit mir ins Schlafzimmer, nur um ihn hier erneut zu küssen, meine Hände in seinem Rücken zu vergraben und ihn noch einmal so wunderbar stöhnen zu hören. Ich hatte noch nie etwas vergleichbar Sinnliches und Erregendes erlebt. Wie hatte ich so lange darauf verzichten können?

Es dauerte lange, bis unsere Gier gestillt war. Kein Wort hatten wir gesprochen, doch so nötig sie vor Jahren noch gewesen waren, so unwichtig waren sie nun. Und so kam es, dass wir irgendwann verschwitzt und erschöpft dalagen, einander festhielten und es nicht für notwendig erachteten, irgendwie zu kommentieren, was mit uns geschah.

Doch wie immer, wenn man etwas Verbotenes tut, kommt irgendwann der Punkt, an dem man es nicht mehr unbeschwert genießen kann. Für uns kam er schnell. Noch bevor der Schweiß auf unserer Haut getrocknet war, ergriff mich ein abscheuliches Gefühl. Und so schob ich Mathew von mir, setzte mich auf und drehte ihm den Rücken zu. Er berührte mich nicht, denn er merkte, dass das nicht gut gewesen wäre.

Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen und versuchte, meinen Verstand zu ordnen, während ich mich mit jedem Atemzug dreckiger fühlte. Es war ein anderes Gefühl, als das, welches ich immer nach den Sexkinos gehabt hatte, es saß tiefer und schmerzlicher. Ich fühlte mich von Lügen beschmutzt; Lügen, welche ich mir und vor allem Miriam vorgebetet hatte. Denn das, was ich gerade erlebt hatte, war etwas, das ich mir schon immer gewünscht hatte. Ich war zum ersten Mal ganz ich selbst gewesen, mit all meinen Bedürfnissen.

Ohne ein Wort zu sagen, stand ich auf und zog mich an. Mathew folgte mir und sah schweigend zu, wie ich zur Tür ging. Hier erst drehte ich mich noch mal zu ihm um. Anders als bei den Küssen zuvor, trafen unsere Lippen sich kaum und strichen sich nur sanft. Meine Augen hingegen hielten ihn fest und wie auch immer er es machte, er hatte mich schon wieder vollkommen verstanden. Er nickte und ließ mich gehen.

Wir beide wussten, dass ich nun den Punkt erreicht hatte, an dem sich irgendetwas ändern würde. Ich wäre nicht noch einmal bereit, ihn einfach so gehen zu lassen.

„Dachten Sie daran, Miriam die Wahrheit zu sagen?“

„Ja, denn mehr denn je plagte mich mein schlechtes Gewissen. Egal wie sehr es immer darum gegangen war, mich zu verstellen und zu verstecken, ich hätte Miriam nie so tief mit hinein ziehen dürfen.“

„Sagten Sie es ihr?“

„Nein. Ich war kurz davor, als sie am nächsten Morgen neben mir aufwachte, doch ich konnte es nicht. Der Gedanke, ihr so weh zu tun, brach mir das Herz… Ich hatte das doch nie gewollt…“

„War Ihnen nicht bewusst gewesen, dass es irgendwann so kommen könnte?“

„Nicht in dem Ausmaß. Wenn man es eine gewisse Zeit schafft, ein Versteckspiel zu leben, so denkt man, dass man so auf ewig weitermachen kann… Ich hatte zu spät erkannt, dass so etwas unmöglich ist. Man kann sich nicht sein Leben lang verstecken… nicht vor sich selbst.“

„Was hatten Sie also vor?“

„Das wusste ich zunächst einmal selbst nicht. Einige Tage lang ging ich Mathew wieder aus dem Weg, doch bald schon schlich ich erneut zu ihm. Und ich sagte ihm, dass ich vorgehabt hatte, Miriam nach der EM zu heiraten… Ich hatte nie erwartet, dass er diese Idee noch immer unterstützen würde.“

„Ehrlich? Aber er liebte Sie doch auch, oder etwa nicht?“

„Das fragte ich ihn auch. Wie konnte er so etwas sagen? Wie, nach dem, was zwischen uns geschehen war? Wie konnte er mich in ihre Arme treiben?“

Mathews Antwort darauf verstand ich nicht. Er wolle nicht, dass ich mein Leben für ihn aufgab, waren seine Worte. Mehr noch. Wenn es nötig wäre, würde er nach außen hin einfach ein Freund sein. Wenn er dadurch an meiner Seite bleiben könnte, so würde er damit leben können. Er wollte bloß bei mir bleiben, doch er verlangte nicht, dass ich dafür etwas änderte.

Zu Anfang war ich wütend auf Mathew und fragte ihn, was er sich denn dachte. Wollte er meine schäbige Affäre werden und mit ansehen, wie ich Miriam heiratete und mit ihr Kinder bekäme? Wollte er ihr lächelnd gratulieren und am besten noch Trauzeuge und Patenonkel werden? Wollte er denn nicht frei sein? Oder dachte er gar daran, mich auf diese Weise jederzeit einfach so verlassen zu können? Ohne Verpflichtungen wäre es doch leicht für ihn, einfach wieder zu gehen, nicht wahr?

Ich tobte, als ich ihm all das an den Kopf warf. Ich konnte es nicht fassen, wie er so ruhig bleiben konnte. Doch dann griff er meine Hand, zog mich zu sich und küsste mich sanft, schloss mein Gesicht in seine Hände und sah mir tiefer in die Augen als je zuvor.

„Ich liebe dich“, sagte er da, zum allerersten Mal. „Doch ich bin nicht bereit, dafür dein Leben zu zerstören.“

Anschließend versuchte er es mir zu erklären und wollte von mir hören, was ich mir denn sonst gedacht hätte. Wollte ich mich etwa outen, meine Karriere wegschmeißen und für Monate zur Zielscheibe der Medien werden. Wofür hatte ich dann so lange gekämpft? Wollte ich das alles aufgeben? War das mein Plan?

Ich wusste es nicht, denn ehrlich gesagt hatte ich noch nicht darüber nachgedacht, wie es weitergehen würde. Ich war mir nur im Klaren darüber, dass ich nicht mehr ohne Mathew leben wollte, mehr wusste ich nicht. Doch er hatte Recht, es ging um mehr als nur darum. Nicht umsonst hatte ich mich doch die ganzen Jahre versteckt; ich konnte doch jetzt nicht alles einfach hinwerfen.

Also änderte sich nach außen hin rein gar nichts. Wir ließen uns nichts anmerken, führten lediglich eine professionell freundschaftliche Beziehung und mit Miriam sprach ich über die Hochzeit. Ich versuchte, mich auf dem Spielfeld zu kontrollieren und an Abenden, an denen wir alle etwas zusammen machten, kontrollierte ich mich noch um ein Vielfaches mehr. Ich wurde paranoider als zuvor, glaubte dann und wann, Thomas würde mir fragende Blicke zuwerfen oder Cheila würde kritisch schauen. Auch Miriams Lächeln kam mir vereinzelt falsch vor und wenn ich mit Mathew alleine war, fühlte ich mich beobachtet und verfolgt. Dabei genoss ich es so sehr, wann immer ich diese Zeit mit ihm hatte.

Noch nie hatte ich in Gegenwart eines anderen Menschen vollkommen ich selbst sein können. Ich konnte meine Makel zeigen und über all das sprechen, was mir gerade im Kopf herumschwirrte. Ich konnte mich in seine Arme schmiegen, wenn mir danach war, konnte ihn berühren, wenn ich es wollte, und Sex zum ersten Mal wirklich auskosten. Ich konnte mir vorstellen, dass es immer so weitergehen würde, auch wenn dieses „Immer“ in meinen Träumen lediglich ihn und mich umfasste.

All das war grausam Miriam gegenüber und vielleicht auch zum Scheitern verurteilt, doch zunächst schien es zu funktionieren. Natürlich, es gab viel zu viele Risiken. Es ging nicht nur darum, dass ich meine Frau betrog. Im Endeffekt belog ich die ganze Welt beziehungsweise jeden, der mich kannte, sei es nun privat oder aus dem Fernsehen. Ihnen allen machte ich etwas vor, wann immer ich mich an der Seite meiner zukünftigen Frau ablichten ließ. Nein, eigentlich sobald ich auf dem Feld stand. Diese Gewissheit zerfraß mich zunehmend. War wirklich das das Leben, welches ich leben wollte?

Eines Nachts begann ich ernsthaft, mich zu fragen, was auf mich zukommen könnte, wenn ich mich doch irgendwann einmal outete. Zum ersten Mal fasste ich es bewusst in Gedanken und Tatsachen. Ich würde aus der Mannschaft geworfen, so viel war klar. In vermutlich allen Zeitungen auf der Welt würde man über mich schreiben, mich vielleicht beschimpfen, auslachen, verurteilen. Doch abgesehen davon? Was konnte mir noch passieren?

Es kam ein Punkt, ab dem ich mich fragte, ob ich damit umgehen konnte. Zwar wusste ich nicht, wann bei mir dieses Umdenken stattgefunden hatte, doch irgendwie war es geschehen und ich fragte mich tatsächlich zum allerersten Mal, ob es mir nicht doch möglich sein würde, allen die Wahrheit zu sagen. Ich war doch stark genug, nicht wahr? Ich würde nicht daran zerbrechen…

Als ich das erste Mal ernsthaft mit Mathew über ein Outing sprach, zählte er mir sogleich alle negativen Punkte auf, die ihm einfielen. Er schüttelte vehement den Kopf und sagte mir, ich solle mir das ganz schnell wieder aus dem Kopf schlagen. Ich würde Miriam das Herz brechen und meine Karriere vergessen können. Natürlich, dessen war ich mir längst schmerzlich bewusst. Doch konnte ich denn wirklich auf Jahre dieses Doppelleben führen, welches mich bereits nach nicht einmal einem Monat innerlich aufzufressen schien?

Letztendlich packte Mathew mich und sah mir tief in die Augen, um mich so zu bitten, es nicht zu tun. Weshalb nicht, wollte ich wissen, und seine Antwort leuchtete mir tatsächlich ein. Wenn ich mich jetzt outen würde, so täte ich es wegen ihm, um mit ihm zusammen zu sein. Wenn es ihn nicht gäbe, würde ich mein Leben vermutlich weiterleben wie bisher und wäre auf meine Weise zufrieden damit. Doch wenn ich erst einmal geoutet war, würde sich alles verändern und keiner wusste, wohin der Weg uns dann führen würde. Wer konnte schon sagen, dass wir immer glücklich miteinander sein würden? Wer wusste schon, ob ich ihm nicht vielleicht irgendwann, möglicherweise bald schon, vorwerfen würde, was ich selbst fabriziert hatte? Er wollte nicht der Grund für mein Outing sein. Wenn ich es täte, dann wegen meiner selbst, nicht aber wegen ihm. Wäre das mein Grund, würde er sich augenblicklich von mir trennen.

Ich zweifelte nicht daran, dass er diesen Schritt wirklich gehen würde. Und außerdem verstand ich seine Gründe, musste ihm gar Recht geben und wurde in meinen Überlegungen weit zurückgeworfen. Doch vergessen konnte ich sie nicht.

Abseits davon schritt die EM sehr erfolgreich für uns voran. Ich genoss die Spiele und die Jubelstürme unserer Fans, auch wenn ich nie wirklich abschalten konnte. Von meiner schwierigen Gedankenwelt bekam niemand etwas mit außer Mathew. Mit ihm sprach ich kaum darüber und mit Miriam schmiedete ich andere Pläne. Mit Thomas und meinen Mannschaftskollegen sprach ich euphorisch über das Finale, dem wir immer näher kamen. Wir gewannen ein Spiel nach dem anderen und standen schließlich genau dort, wo wir immer hingewollt hatten. Ich sog die Begeisterung in mich auf und fragte mich, ob ich tatsächlich schon bereit war, dies aufzugeben. Ich hatte es so weit gebracht und eigentlich hatte ich die wichtigsten zwei Menschen an meiner Seite. War nicht alles bestens so, wie es war? Konnte ich nicht so weiterleben?

Kurz vor dem Endspiel zog ich Mathew zur Seite und küsste ihn heftig in einer verborgenen Ecke. Ich wollte ihn nie wieder verlieren, das flüsterte ich ihm ins Ohr, und er lächelte daraufhin, sagte mir, dass ich nun erst einmal dieses Spiel gewinnen solle. Alles andere würde sich schon irgendwann in die richtigen Bahnen leiten.

„Ihre Mannschaft hat nicht gewonnen.“

„Nein, leider nicht. Dabei wäre es ein wirklich schöner Abschluss gewesen… aber es sollte nicht sein und ehrlich gesagt kann ich Ihnen noch immer nicht erklären, was los war. Es lief einfach nicht und dann fiel ein Tor nach dem anderen gegen uns…“

„Das ist wirklich schade… aber wie heißt es so schön? Es gibt immer eine nächste Chance.“

„Nicht für mich.“

„Meinen Sie wirklich?“

„Ja. Ich habe viel darüber nachgedacht, was passieren wird, wenn Sie diesen Artikel bringen, doch egal was ich mir wünsche, mit ihm wird meine Karriere ein Ende haben.“

„Sie waren sich dessen schon immer bewusst, warum riskieren Sie es dann ausgerechnet jetzt? Sie sind noch jung und stehen am höchsten Punkt Ihrer Karriere… Warum warten Sie nicht noch bis nach der nächsten WM? Oder gar bis zum Ende Ihrer Profikarriere? Dann ist der Schaden nicht mehr so groß…“

„Doch, er wird noch viel größer sein. Wenn ich noch länger warte, bekommen Miriam und ich vielleicht Kinder, die dann mit in das Ganze hineingezogen werden. Ohnehin würde ich Miriams Leben noch weiter zerstören, je länger ich sie belüge. Dabei hat sie ein Recht darauf, noch einmal neu anzufangen und einen besseren Mann zu finden, solange sie noch jung ist… Sie hatte es nie verdient, so belogen zu werden… irgendwann muss das einfach ein Ende haben.“

„Also machen Sie das für sie?“

„Ja und natürlich für mich. Und auch für Mathew, selbst wenn er das nie wollte…“

„Haben Sie denn mit ihm darüber gesprochen?“

„Am Anfang sehr oft, doch in letzter Zeit nicht mehr. Er hat seinen Standpunkt und ich verstehe ihn. Aber genauso möchte ich das tun, was ich für richtig halte… und jetzt ist der beste Augenblick dazu.“

„Wieso ausgerechnet jetzt?“

„Weil ich nicht mehr kann. Ich habe in diesen paar Monaten seit der EM gemerkt, wie es mir an die Substanz geht. Es war schon immer schwierig, doch jetzt, mit Mathew an meiner Seite, ist es für mich fast unmöglich, mich zu verstecken. Wenn ich bei ihm bin, bin ich vollkommen bei mir selbst, bin ein vollständiger Mensch, doch immer wieder reißt die Wirklichkeit an mir. Das hinterlässt Narben, je tiefer ich mich darin verliere. Wenn es so weiter geht, machen meine eigenen Lügen mich derartig kaputt, dass ich mich selbst vielleicht nie wieder finde. Ohnehin denke ich, dass ich auf dem Weg hierher schon viel zu viel von mir verloren habe…“

„Das klingt, als bereuen Sie Ihren Weg?“

„Nein, so kann man das auch nicht sagen. Ich bereue, dass ich so viele Menschen mit hineingezogen und ihnen wehgetan habe oder noch wehtun werde, doch Fußball war immer mein Traum… Lange war dieser Sport mein Leben… doch irgendwann bemerkt man einfach, dass es noch wichtigere Dinge gibt.“

„Zum Beispiel?“

„Naja… wie soll man das beschreiben… Sie sind verheiratet, oder?“

„Ja.“

„Würden Sie sagen, mit der Liebe Ihres Lebens?“

„Ja.“

„Dann kennen Sie das Gefühl, welches man hat, wenn man am Abend neben genau dieser Person einschläft, und Sie wissen, wie es ist, wenn das erste, was man am Morgen sieht, ihre Augen sind. Es ist mit nichts zu vergleichen und letztendlich gibt es kaum wertvollere Augenblicke… Wissen Sie, was ich meine?“

„Sehr gut.“

„Dann verstehen Sie vielleicht, was mir fehlt. Und wenn ich überlege, wie viele Menschen ihr Leben lang nach genau dieser Liebe suchen ohne sie vielleicht jemals zu finden, dann bin ich nicht bereit, meine noch länger zu riskieren. Denn wer weiß, ob uns dieses Versteckspiel nicht doch irgendwann zerstören wird…“

„Sie wissen nicht, ob das mit Mathew ewig hält.“

„Das ist richtig, aber ich wünsche es mir… und ich wünsche mir, dass Miriam irgendwann die Liebe ihres Lebens findet.“

„Waren das nicht Sie?“

„Ich hoffe nicht. Ich hoffe, dass sie einen Menschen findet, mit dem sie noch glücklicher sein kann als sie es mit mir gewesen ist.“

„Haben Sie denn schon mit ihr gesprochen?“

„Ja. Vor ein paar Tagen. Sie sollte es nicht aus der Presse erfahren.“

„Was ist dabei herausgekommen?“

„Darüber möchte ich nicht sprechen. Sie hat ein Recht darauf, es selbst zu tun, wenn sie das irgendwann möchte.“

„Verstehe. Ich denke, dann kommen wir auch langsam zum Ende… Aber eine Frage hätte ich noch.“

„Bitte.“

„Was hoffen Sie, wird sich ab morgen positiv für Sie ändern?“

„Naja, das Versteckspiel hat endlich ein Ende und ich kann anfangen, wirklich zu leben. Ich muss niemanden mehr belügen und ich kann ich sein, ohne jemandem etwas vormachen zu müssen.“

„Ich hoffe für Sie, dass es klappt. Sie haben es trotz allem verdient.“

„Danke.“

„Nein, ich danke Ihnen. Es ist mir wirklich eine Ehre, diesen Artikel schreiben zu dürfen, wir haben extra einige Seiten dafür reserviert. Ich hoffe, er wird Ihren Vorstellungen entsprechen.“

„Ach, wissen Sie, letztendlich ist es vermutlich eh egal, was geschrieben wird. Seien wir mal ehrlich, zwar sieht man immer mehr Schwule auf der Straße, in der Politik oder im Fernsehen, sie werden fast überall mehr oder minder akzeptiert, doch mich wird man zerreißen, weil ich ein Fußballspieler bin. So funktioniert unsere Welt nun mal.“

„Und dennoch gehen Sie einen mutigen Schritt…“

„Ja. Ich gehe ihn, damit ich zumindest einen Teil davon in der Hand habe, was ab jetzt erzählt werden wird. Und vielleicht öffnet der Artikel ja zumindest dem ein oder anderen Menschen die Augen. Aber selbst wenn nicht, wissen Sie, eines hab ich begriffen…“

„Und das wäre?“

„Man sollte den Kopf immer oben halten, den Blick nach vorne richten und die Augen offen für Neues lassen… denn egal wie schlimm es für uns manchmal aussieht, innerhalb des Lebens gibt es kein Ende. Wenn eine Sache endet, beginnt eine andere.“

Kapitel 10 – Ende

Nachwort

An dieser Stelle erreichen wir das kleine Finale der Geschichte. Zu Anfang sollte sie an dieser Stelle enden, doch dann ist mir klar geworden, dass es noch lange nicht das Ende ist. Es gibt noch zu viele Dinge, die nicht gesagt wurden oder noch gesagt werden müssen… weshalb ich mich recht schnell dazu entschieden hatte, noch fünf weitere Kapitel zu schreiben. Auf diese dürft ihr euch nun also freuen!

Bis dahin würde ich mich wiederum freuen, von euch zu erfahren, wie ihr die Geschichte bis hierher wahrgenommen habt. Was gefällt euch? Was stört euch? Was glaubt ihr, wie es nun weiter geht mit unserem Fußballspieler?

Bevor ich euch nun aber dorthin entlasse, möchte ich noch ein paar Kleinigkeiten loszuwerden… ein paar Antworten auf ein paar Fragen sozusagen.

1. Weshalb dieser Erzählstil?

Normalerweise schreibe ich ja, wie viele von euch wissen, weniger distanziert, näher am und im Geschehen. Ich beschreibe die eigentlichen Handlungen und Momente. Für diese Erzählung aber habe ich mich bewusst für einen Stil entschieden, der das ganze etwas nüchterner und relativ distanziert darstellt. Natürlich weiß ich, dass diese Art einer Geschichte auf Dauer ein wenig anstrengend sein kann und weniger „das Eintauchen in sie“ zulässt, doch es ging mir vorwiegend darum, das Thema in einen passenden Rahmen zu fassen. Eine "richtige" Geschichte wäre mir irgendwie zu kitschig gewesen, zu wenig authentisch, zu unrealistisch, unprofessionell? Das Thema ist zu ernst, als dass ich es in Alltagssituationen quetschen möchte. Ich will es umfassend behandeln, ansprechen, kritisieren und damit zeigen, wie es einem schwulen Fußballer gehen könnte. Daher musste ich eine gewisse Distanz wahren.

2. Was bedeuten die Einschübe bzw. der Artikel?

Wie ihr ja spätestens nach diesem Kapitel wisst, sind sie ein Interview für einen Artikel über das Outing unseres Fußballprofis. Allerdings kann man es sich jetzt nicht so vorstellen, dass alles, was in den „Geschichtsblöcken“ steht, auch dem Reporter gesagt wird bzw. später in dem Artikel geschrieben steht. Aus dem Grunde hab ich es auch durch Schrift- und Erzählstil abgegrenzt. Zwar wird dem Reporter von den Fakten auch das erzählt, was ihr zu lesen bekommen habt, aber natürlich weniger detailliert. Nur für den Leser der Geschichte ist die Vergangenheit etwas deutlicher dargestellt… man kann es auch als Gedankengänge sehen, welche unser Protagonist während des laufenden Interviews hat.

3. Wie heißt der Protagonist?

Es war und ist meine volle Absicht, den Namen unseres Fußballers nicht zu nennen. Natürlich habe ich zunächst darüber nachgedacht, doch ich habe mich schnell dagegen entschieden. Hätte ich einen Namen gewählt, hätte ich darauf achten müssen, dass es keinen Fußballer gibt, der so heißt, denn ich will euch keine falschen Vorstellungen in den Kopf rufen… oder auch nur Bilder, weil ihr einen bestimmten Spieler vor Augen habt. Ich denke einfach, durch seinen Namen (oder auch durch sein Heimatland oder seinen Verein) wäre die Geschichte weniger allgemein gültig, denn dann würde sie einen einzelnen Menschen spezieller herausheben. Auf diese Weise aber möchte ich zeigen, dass es letztendlich jedem so ergehen kann. Bei vielen werden wir vermutlich nie auf die Idee kommen.

Soweit dazu, und jetzt möchte ich euch noch viel Spaß mit den restlichen Kapiteln wünschen! =)

Lesemodus deaktivieren (?)