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Bring mir dein Lachen bei

Akt 10 - Reprise

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Inhaltsverzeichnis

 

Nach dem Telefonat am Dienstag beschließe ich am Mittwoch, trotz des Gefühls, mit Mel reden zu wollen, ihn nicht anzurufen. Ich kann doch nicht jeden Tag mit ihm sprechen ... das bin ich schließlich wirklich so gar nicht! Und dennoch hängen den Abend lang meine Gedanken des Öfteren bei ihm ... und in irgendeinem komischen Zusammenhang dazu, muss ich auch wieder an meine Eltern denken, an meine Geschwister.

Tobias merkt, dass ich schweigsamer bin als sonst, fragt mich danach und erhält von mir daraufhin nur die Antwort, dass er sich doch langsam daran gewöhnt haben müsste. Bald danach gehe ich ins Bett, viel zu früh. Hier liege ich wach und sehe Bilder vor mir, die ich nicht sehen will. Da ist Mel ... und da ist meine Mutter an ihrem Schreibtisch ... ihr ernster Blick ... der meines Vaters ... Er, wie er mit Kenneth im Flur stand ... Jahre ist es her, lange, lange Jahre ...

Ich schmeiße mich im Bett herum. Ich will nicht daran denken ... wieso sollte ich es auch? Es hat doch nichts mit mir zu tun, nichts mit heute ... nichts mit jetzt ... mit Mel ...

Ich schalte das Licht ab, sinke noch tiefer in die Matratze hinein, schlinge die Decke um mich. Und wieso denke ich an ihn die ganze Zeit? Warum muss ich daran denken, was er über das Schwulsein sagte? Warum habe ich das Bedürfnis, ihn dazu noch mehr zu fragen? Ich wollte noch nie darüber reden, habe mir nie Gedanken darüber gemacht oder mich länger als nötig damit befasst ... Wieso ist also jetzt alles so anders, einfach so? Oder rede ich mir das alles einfach nur ein? Sollte ich nicht einfach endlich aufhören, mir so unnötig den Kopf zu zerbrechen?


Auch trotz dieses Vorsatzes ... am Donnerstag herrschen in meinem Kopf dieselben Gedanken vor. Mehr noch als am Tag zuvor muss ich mich zusammenreißen, um nicht zum Telefon zu greifen. Dies tue ich erst, als es klingelt ... und als tatsächlich diese eine Nummer darauf zu sehen ist, kann ich nicht anders, als das Gefühl der Freude in mir zuzulassen. Tobias sieht mich skeptisch an.

Ich verschwinde in meinem Arbeitszimmer, nehme hier das Gespräch entgegen. Es ist Mel, der am anderen Ende der Leitung wartet. Habe ich nicht genau das gehofft?

„Hast du am Samstag was vor?“, kommt er ziemlich direkt zum Grund seines Anrufes.

„Bisher nicht ... wieso?“

„Weil du dann jetzt was vor hast.“

„Hab ich das?“, grinse ich ins Telefon. „Und was?“

„Überraschung“, zieht er das Wort fröhlich in die Länge.

„Ich mag keine Überraschungen.“

„Wirklich nicht?“, klingt er direkt verunsichert.

„Doch, ich gewöhne mich langsam daran“, beruhige ich ihn schnell wieder.

„Gut! Dann steht dem ja nichts im Wege! Also? Kommst du?“

„Natürlich. Das kann ich mir doch nicht entgehen lassen, oder?“

„Nein, kannst du nicht. Es wird dir gefallen!“ Ein Lachen. „Wenn du magst, kannst du auch schon am Freitag kommen ...“

„Ich glaube, das wäre keine gute Idee ...“

„Wieso nicht? Wegen Tobias?“

„Ja. Zwar haben wir uns nicht mehr gestritten, aber seine schlechte Laune liegt in der Luft. Wenn ich jetzt schon wieder für zwei Tage weg bin, flippt er wahrscheinlich aus ...“

„Oh ... ich verstehe“, klingt es fast etwas enttäuscht.

„Aber dafür komm ich Samstag so früh ich kann!“, füge ich schnell hinterher. „Holst du mich am Bahnhof ab?“, entferne ich gleichzeitig mit der Bewegung der Maus den Bildschirmschoner und rufe den Internetbrowser auf, um nach den Bahnverbindungen zu gucken. „Muss ich irgendwas mitbringen? Taucherbrille, Kletterstiefel, oder Regencape?“

„Nein“, kommt es lachend zurück. „Du reichst vollkommen ...“


Dass ich am Samstag weg muss, sage ich Tobias auch erst am Samstag. Ich weiß, dass dies nicht gerade die beste Vorgehensweise ist, aber ich weiß auch, dass es ansonsten noch eineinhalb streitdurchzogene Tage geworden wären.

„Was habt ihr denn vor?“, fragt Tobias am Frühstückstisch, nachdem er sein Brot auf den Teller gepfeffert hat.

„Weiß ich nicht.“

„Wie bitte?“, kommt es etwas zu laut. „Willst du mich verarschen?“

„Nein, hatte ich eigentlich nicht vor.“

„Aber-“

„Mel hat sich eine Überraschung überlegt ...“

„Mel also?“ Ein kühles Lachen.

„Ja. Hast du ein Problem damit?“

„Das fragst du doch nicht ernsthaft?!“

„Doch. Aber eigentlich kenne ich die Antwort schon ... Deshalb sollten wir das jetzt auch besser lassen ...“ Ich stehe auf.

„Nate!“

„Ja?“, drehe ich mich am Kühlschrank wieder zu ihm um.

„Wann kommst du wieder nach Hause.“

„Keine Ahnung.“

„Aber du musst doch wissen ...“ Er steht auch auf, mit todtraurigem Gesicht. „Aber ... du kommst ... heute noch?“

„Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht ...“

„Bitte Nate ...“, steht er nun direkt vor mir, hebt die Hände, fasst mich aber schließlich doch nicht an.

Ich seufze, nicke und sage schließlich: „Ja, wahrscheinlich.“

„Wahrscheinlich? Nate, ich-“

„Ich weiß es nicht, Tobias. Ich habe keine Ahnung, was er vor hat oder wie lange das dauert. Deshalb kann ich dir das jetzt nicht sagen ...“

Er senkt den Kopf. „Na gut ...“

Ich ziehe ihn an mich heran.

„Beruhig dich, okay? Ich bin heute Abend wahrscheinlich wieder zuhause und alles ist gut ... okay?“

Ein Nicken, als er sich an mich schmiegt.

„Du bist so fremd“, kommt es flüsternd ... und ich beschließe, es nicht gehört zu haben.

An meinem Zielbahnhof angekommen, wartet Mel bereits auf mich. Er strahlt mir entgegen, als ich auf ihn zukomme.

Auf dem Weg zu seinem Auto fragt er nach Tobias. Kurz und knapp erkläre ich, dass er natürlich wieder nicht einverstanden war, was Mel nicht so leicht hinnimmt, wie erhofft.

„Vielleicht hättest du nicht kommen sollen ...“, bleibt er stehen.

„Doch natürlich! Ich will doch wissen, was du dir ausgedacht hast ...“, deute ich mit dem Kopf, weiterzugehen.

„So ... so toll ist es auch wieder nicht ...“ Es klingt fast etwas beschämt. Er steht weiterhin.

„Wo ist denn plötzlich deine Sicherheit geblieben, dass es mir gefallen wird?“

„Wird es, bestimmt. Aber ... wahrscheinlich denkst du dir jetzt was weiß ich was ... und ... naja ... ich meine ... es ist nur was Kleines ...“

„Weißt du was, Mel?“

„Hm?“

„Lass es mich selbst entscheiden. Ich denke schon, dass es mir gefallen wird.“

Ein nervöses Lachen. „Das hoffe ich ...“

„Ist das nicht deine Uni?“, frage ich leicht verwirrt, als wir einige Zeit später aus dem Auto steigen.

„Ja. Komm mit.“

Mel geht los und ich folge ihm, lasse dabei meinen Blick über die einzelnen Gebäude streifen. Da hinten ist das Theater, wo ich mich letzte Woche zu Tode blamiert habe.

An einem anderen Gebäude angekommen zieht Mel eine Karte hervor, die er an ein kleines Gerät an der Wand hält. Vor uns öffnet sich die Tür.

„Ein Freund hat sie mir gegeben ... Alleine war ich noch nie hier drin ...“, tritt er durch die Tür ins Innere eines Flures. „Ich hoffe, ich finde den Weg ...“ Grinsend geht er los. „Weißt du, der Architekt, der die Gebäude unserer Uni geplant hat, muss betrunken gewesen sein ... Er hat ein halbes Labyrinth erschaffen ...“

„Aber passt das nicht zu einer Kunstuniversität?“, lasse ich meinen Blick über die Bilder an der Wand schweifen.

„Ja, da hast du recht ... Hier lang.“

Er öffnet die Tür zu einem Treppenhaus und steigt eine Treppe hinab. Ich begutachte das Schild, bei dem ein Pfeil nach unten zeigt. Nur Raumnummern stehen darauf und irgendein Fachausdruck, mit dem ich nichts anfangen kann.

Unten angekommen bleibt Mel schnell vor einer großen Tür stehen.

„Da sind wir“, sagt er und wirkt fast nervös dabei. Dann öffnet er mit der Karte die Tür. Sie springt auf und gibt den Blick frei.

Von einer Sekunde auf die andere wird mir klar, wo wir gelandet sind und mit großen Augen starre ich in den Raum hinein.

„Komm“, fordert Mel auf und tritt hinein, schließt hinter mir die Tür und deutet in eine Richtung, die er selbst einschlägt. „Das ist eine der größeren Werkstätten ... Wir haben in unserem Fachbereich auch welche, aber die sind nur klein, da wir mehr zum Musicalschauspiel und –singen ausgebildet werden. Diese hier ist für die Bühnenbildner ...“

Beeindruckt lasse ich meinen Blick herumschweifen. Einige halbfertige Pappgestelle stehen hier oder größere Gebilde aus Holz.

„Naja ... und hier ...“ Mel bleibt stehen. „Hier ist der Bereich, in dem Kulissenbestandteile aus ... naja ... Speckstein hergestellt werden. Ich dachte mir, wenn du magst ... könnten wir heute ein bisschen was ... ausprobieren ... naja ... ich meine ... weil du ...“ Er verstummt und sieht mich an.

Ich spüre den Blick von der Seite und kann förmlich seine Anspannung fühlen. Ich schüttle den Kopf, ganz langsam ... und dann lächle ich, sehe ihn an, sehe in das nun vollkommen verunsicherte Gesicht.

„Das ist ... ich weiß nicht was ich sagen soll ... ich ...“ Ich habe das Gefühl, einen Kloß in der Kehle stecken zu haben. So gut es geht schlucke ich ihn hinunter, sehe Mel noch fester an. „Ich ...“

„Gefällt dir die Idee nicht?“, fragt er, immer unsicherer.

„Doch! Natürlich!“ Ich nicke heftig. „Ich ... Mel.. wirklich ... das ist ...“

Ich schlucke erneut fest, versuche meine Stimme zu beruhigen und die richtigen Worte zu finden. Dann trete ich einen Schritt auf ihn zu. Überrascht werde ich angesehen.

„Mel, das ist wahrscheinlich das Schönste, was sich je jemand für mich ausgedacht hat!“

Seine Augen werden größer. „Wirklich? ... Ich meine, übertreib nicht ... so was Besonderes ist es nun auch nicht ... ich ...“

„Doch“, unterbreche ich ihn. „Doch das ist es! Weißt du, wie es hier riecht? Wie bei meinem Großvater ... du kannst dir gar nicht vorstellen ...“ Und dann tue ich es. Aus bloßem Instinkt heraus umarme ich Mel. Ich drücke ihn an mich und ziehe den Geruch ein, der in meine Nase strömt ... „Danke“, flüstere ich ihm ins Ohr. „Vielen Dank!“

Langsam entspannt sich der Körper in meinen Armen und dann legt er seine Hände auf meinen Rücken. Er hält mich fest, ich halte ihn fest ... und für einen Moment, als ich die Augen schließe, habe ich das Gefühl, mich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr so geborgen gefühlt zu haben.

Macht das wirklich nur dieser vertraute Geruch?

Lange Sekunden vergehen, bis ich Mel wieder loslasse. Er strahlt, als ich in sein Gesicht sehe ... es ist deutlich, wie erleichtert er ist, dass ich mich freue.

„Wollen wir anfangen?“, fragt er dann.

„Ja. Aber ich warne dich, ich bin wirklich nicht begabt.“

„Soll ich dir was sagen? Ich auch nicht!“ Er lacht. „Ich kann noch nicht mal ein Haus malen, ohne dass irgendwas schief ist!“

„Das kenne ich irgendwoher ...“

Ich nehme auf einem der Hocker platz, die hier stehen, greife nach einem der Steine, die er mir hinhält.

„Und wie macht man das jetzt?“, frage ich, etwas unsicher.

„Keine Ahnung. Ich hab da noch nie mit gearbeitet ...“

„Aber ich dachte, ihr habt auch so einen Bereich?!“

„Ja, aber ich habe immer eher den Maskenbereich gewählt ... oder eben Kostüme ... Bühnenbild ist nicht so ganz mein Ding ...“

„Also bist du genauso hilflos wie ich?“

„Ganz genauso!“

Wir lachen und es erfüllt mich mit Wärme. Ich habe das Gefühl, ihm schon wieder danken zu wollen.

Stattdessen greife ich nach einer der herumliegenden Feilen.

Fast zwei Stunden verbringen wir so gut wie schweigend nebeneinander und bearbeiten unseren ersten und nach einem Misserfolg unseren zweiten Stein. Hier und da hört man Fluchen oder leises Zu-sich-selbst-Gemurmel, ansonsten ist es fast still. Nur die Geräusche beim Bearbeiten der Steine erfüllen den großen, vollgestopften Raum.

Irgendwann wird diese Stille durch ein lautes Knurren durchbrochen.

Mel horcht sofort auf, sieht dann mich an.

„Warst du das?“, fragt er, während sein Gesicht sich schon zu einem Grinsen verzieht.

„Ja“, gebe ich zu. „Der Streit heut morgen hat mir den Appetit verdorben ...“

„Warte mal!“

Mel legt den Stein aus der Hand und robbt zu seinem Rucksack, den er mitgebracht hat. Mittlerweile sitzt er auf dem Boden und ist ebenso wie ich über und über mit feinstem Staub bedeckt. Im nächsten Moment wird mir ein Apfel vor die Nase gehalten.

„Oder ist dir eine Banane lieber? Ich kann dir auch ein Brötchen anbieten ...“

Mit großen Augen sehe ich ihn an.

„Du hast ja an alles gedacht!“

„Naja ... Ich hab mir gedacht, dass wir lange hier sein werden, deshalb hab ich was mitgenommen ...“ Er wird rot unter den Staubflecken in seinem Gesicht.

„Du bist klasse!“, sage ich begeistert und verlasse nun auch meinen Stuhl, sinke zu Mel auf den Boden. Ich reibe mir die Hände an der Hose ab. Keine Ahnung, ob es etwas bringt. Dann greife ich nach einer der Wasserflaschen, die Mel ebenfalls hervorgeholt hat.

„Jetzt machen wir also ein Picknick im Staub?“, grinse ich ihn an, als ich einen Schluck getrunken habe.

„Tut mir leid! Ich habe vergessen, dass Jörg gesagt hat, wir sollten lieber Kittel anziehen ...“ Er deutet grinsend hinter sich. „Die hängen da, wenn du noch einen willst ...“

„Ist doch nicht schlimm. Es macht doch keinen Spaß, wenn man nicht so richtig dreckig wird ... obwohl ich mich frage, wie wir das Zeug nachher ohne Dusche abbekommen werden ...“

„Das frag ich mich auch noch.“ Lachend beißt er in einen Apfel.

Ich tue es ihm gleich, lasse dabei meinen Blick zu seinen zwei Steinen wandern.

„Was soll das darstellen?“, frage ich, auf den ersten deutend.

„Keine Ahnung .... ein Fantasiewesen vielleicht. Ursprünglich sollte es eine Schildkröte werden ...“

„Und das?“

„Das ist noch nicht fertig. Ich ringe noch damit ... Was ist mit deinen?“

„Das hier“, deute ich auf meinen ersten Misserfolg, „sollte ein Fisch werden ... ebenso wie das Zweite ... jetzt bastle ich im Moment an einem Hund ... oder wenigstens an etwas mit vier Beinen ...“ Grinsend drehe ich das Wesen, welches bisher noch nicht mal ein richtiges Bein hat, in meiner Hand. „Ich frage mich, wie er das damals gemacht hat. Ich hab überhaupt keine Ahnung, wie ich da drangehen soll, damit es nicht sofort vollkommen bescheuert aussieht ... Aber er damals ... du hättest es mal sehen sollen ... Er hat Gesichter aus Marmor geschnitzt ... und Schiffe, bei denen man die Maserungen der Planken sehen konnte ...“

„Wow, das hört sich toll an!“

„Ja.“

„Hast du irgendwas von ihm?“

„Nur eine kleine Eidechse, die er damals für mich als Glücksbringer gemacht hat ... Die anderen Sachen wurden alle verkauft oder stehen bei meinen Eltern ...“

„Die Eidechse würde ich gerne mal sehen.“

„Ich zeig sie dir gerne, aber dazu musst du mich besuchen kommen ... Sie reist nicht so gerne ...“ Ich zwinkere ihm zu, was er mit einem Grinsen aufnimmt.

„Mag sie denn Besuch?“

„Sie bekommt sehr wenig, aber ich glaube, sie würde sich freuen.“

„Dann komme ich gerne.“

Mel sieht mir in die Augen und ich habe das Gefühl, dass er mir mit diesem Blick irgendwas sagen will. Mein Herz schlägt einen Takt schneller.

Ein weiters Knurren meines Magens reißt unsere Blicke auseinander. Lachend deutet Mel auf seinen Rucksack.

„Du solltest ihm endlich was Richtiges geben, sonst wird er böse ...“

„Ich glaub auch.“ Damit greife ich nach einem Brötchen.

Nach unserem kleinen Mittagessen begebe ich mich zurück zu meinem Hund. Auch Mel arbeitet noch eine ganze Weile weiter, bis er irgendwann aufsteht, mit den Worten, sich ein bisschen umsehen zu wollen. Er verschwindet hinter einer Ecke.

Während ich weiter feile und säge höre ich hinter mir ab und an ein leises Geräusch und dies ist ein angenehmes Gefühl. Ich weiß noch nicht wieso. Es ist einfach nur schön, mal seine Zeit auf eine ganz andere Weise zu verbringen ... und noch schöner ist es, wenn man dabei nicht alleine ist.

Irgendwann, nachdem mein Nicht-Hund sein viertes Bein bekommen hat, lege ich ihn weg und beschließe, Mel suchen zu gehen. Zögernd folge ich den Geräuschen, die ich wahrnehme, während ich meinen Blick wieder und wieder über die prachtvollen, meist noch nicht ganz fertigen Kulissen schweifen lasse.

Mel scheint mich nicht kommen zu hören, als ich ihn in einer Ecke entdecke. Er dreht gerade verschiedene Gegenstände vorsichtig in den Händen herum, begutachtet dies, begutachtet das ... und nachdem ich einen kleinen Moment einfach nur dastehe, höre ich sogar, dass er ganz leise vor sich her singt.

Dies ist es, was mich nun nur noch leiser werden lässt. Ich spitze meine Ohren, erkenne eines der Lieder, die er vor einer Woche auf der Bühne vorgetragen hat. Fast sehe ich ihn in seinem schwarzen Gewand wieder vor mir, kann aber in diesem Moment meine Augen nicht von seinem jetzigen Erscheinungsbild lassen. Seine Kleidung ist staubig, seine Haare zerzaust ... und dennoch habe ich das Gefühl, ihn umhüllt von einem warmen Lichtschein stehen zu sehen ...

Irgendwas stimmt nicht mit mir.

Irgendwann hört Mel auf zu singen, scheint ganz in die Verzierungen eines Bogens vertieft zu sein. Ein klein wenig fällt der Zauber des Moments von mir ab und ich beschließe, mich endlich bemerkbar zu machen.

„Singst du mal richtig für mich?“, frage ich.

Erschrocken fährt Mel herum. Der Bogen fällt zu Boden.

„Ich hab dich gar nicht kommen hören“, greift er sich an die Brust, lacht. „Stehst du schon länger da?“

„Eine ganze Weile ...“, gebe ich zu.

„Aber wieso hast du-“

„Ich wollte dich nicht unterbrechen, ich habe dir zugehört.“ Ich trete zu ihm heran, hebe den Bogen auf und drehe ihn in meinen Händen. „Der ist schön.“

„Finde ich auch.“

Mel will ihn mir abnehmen, doch ich lasse nicht los. Stattdessen ziehe ich Mel so ein Stück näher an mich heran. Nervös werde ich angesehen, bevor er mit roten Wangen den Blick senkt.

„Faszinierend, was schöne Dinge manche Leute anfertigen können ...“, spricht er leise.

„Ja.“ Ich hebe eine meiner Hände und berühre Mel am Kinn. Langsam hebt er den Kopf. „Aber noch faszinierender als das ... finde ich ...“

Ich spreche nicht weiter, sondern werde in den Bann der Situation gezogen. Mels Augen sind mir ganz nah und ich kann diese kleine Narbe erkennen, die er unter dem linken Auge hat. Ich wollte schon mal fragen, wo sie her kommt. Nun hebe ich einfach nur meine Finger und streiche darüber. Es lässt ihn die Augen schließen und ich komme ihm noch näher. Ich spüre schon seinen unruhigen Atem ...

Ein lautes Klappern lässt uns auseinander fahren.

Mel reißt die Augen wieder auf.

„Mist!“, flucht er, bückt sich nach dem Bogen und hebt ihn wieder auf. „Das tut mir leid ... es ... ich meine ...“

Er legt den Bogen weg und dreht sich wieder zu mir um. Nun ist mehr Distanz zwischen uns. Er bemerkt sie auch und sieht schnell weg.

Das Knistern aus der Luft ist verschwunden.

„Wir sollten langsam gehen“, sage ich und trete einen Schritt zurück.

Mein Herz rast und ich weiß, dass das nicht gut ist ... gar nicht gut.

Damit drehe ich mich um und gehe den Weg zurück, den ich von unserer Arbeitsstelle gekommen bin. Ich könnte mich verfluchen ... und es tut mir leid, aber ich weiß noch nicht mal genau, was am meisten.

Wir räumen die Sachen schweigend zusammen und versuchen dann so gut wie möglich den Staub zusammenzufegen, ohne ihn noch mehr aufzuwirbeln. Anschließend spülen wir unsere unfertigen Figuren unter Wasser ab, ebenso wie unsere Hände, und verlassen die Werkstatt. Als Mel die Tür hinter sich schließt, nehme ich sein trauriges Gesicht wahr.

Ich sehe weg und gehe zurück Richtung Treppe.

Draußen angekommen schütteln wir bestmöglich unsere Klamotten aus, lachen uns dabei gezwungen zu und steigen ins Auto. Den Motor gestartet und das Radio angeschaltet bin ich froh, dieser erstickenden Stille entkommen zu sein.

Ich starre auf den unfertigen Hund auf meinem Schoß und streichle sein nichtvorhandenes Fell. Vor mir sehe ich wieder die Situation von zuvor.

Ich hätte Mel geküsst, wenn er den Bogen nicht hätte fallen lassen ... Ich hätte Mel geküsst ...

Verdammt noch mal, was ist denn los mit mir?

Am Bahnhof angekommen sage ich Mel, dass er nicht zu warten braucht. So also bedanke ich mich steif bei ihm und gehe. Aber eigentlich hätte ich ihm so gerne gesagt, wie schön ich den Tag fand ... wie ich seine Nähe genossen habe ... wie froh ich bin, ihn kennengelernt zu haben.

ENDE Akt 10

Reprise:

Reprise bedeutet „wiederaufnehmen“ und steht für Musikstücke, welche dieselbe oder nur leicht abgeänderte Melodie haben, wie ein zuvor bereits gespieltes Stück. Manchmal ist sogar der Text gleich, aber auch wenn nicht, ist „die Wiederholung“ eigentlich jedes Mal eindeutig erkennbar.

Bei mir geht es dabei um das „Wiederaufnehmen“ oder auch „Wiederaufleben“ von Nathanaels Erinnerungen bezüglich seiner Kindheit mit seinem Großvater.

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