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Sometimes it is better to know nothing

Kapitel 1 - Gegenwart oder die Frage: Was mache ich hier?

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Sand, Steine, Staub.

Seit zwei Tagen nichts anderes.

Müde lehne ich meinen Kopf gegen die dreckige Fensterscheibe des gemieteten Fords und schließe die Augen, lausche der leisen persischen Musik, die aus dem Radio dringt:

Man por az harfe sokootam

Khaliam, ru be sughutam Bi to ba abyie eshghet Teshneam ... Kabire lutam

Nemikham ashofte basham Arezooye khofte basham Nazar akhare ghese Harfamo nagofte baasham

In mir gehäuft Worte des Schweigens Leer bin ich gesichts des Absprungs Ohne dich und dein grünes Liebesmeer Dürstet’s mich, bin etwas Verwüstetes

Will nicht sein wie etwas Verwirrtes, Erleben, Verschlafen eines Traumes Lass es nicht enden, die Geschichte Ohne mein ganzes Nicht-Gesagtes

Ich summe den Text mit. Es ist mehr sinnliche Poesie als ein passender Text für einen schnulzigen Schlager; trotzdem, auf Farsi klingt es echt nett.

Leise seufze ich, beobachte die starre Miene meines Vaters durch den Rückspiegel, der konzentriert den Wagen über die staubige Piste lenkt. In der Ferne kann ich schon den Grenzübergang erkennen. Irgendwie ist mir unwohl, und nervös wische ich meine schweißnassen Hände an meiner Jeans ab.

Ich sitze in der Mitte, eingeklemmt zwischen Fadi und Nouri. Es ist eng, unbequem und irgendwie so dermaßen heiß, dass mein Shirt eng und nass an meinem Oberkörper klebt. Ich lehne mich ein wenig zu Nouri, meinem Zwillingsbruder. Dieser betrachtet mich nachdenklich, legt seine Hand auf meinen Oberschenkel und streicht sanft darüber.

 „Alles okay mit dir?“, fragt er.

Ich winke nur ab, will eigentlich nicht mit ihm reden, sondern nur meinen Gedanken nachhängen.

„Es geht mir gut“, wiegle ich ihn ab, sehe wie er den Mund öffnet und nach Luft schnappt, etwas sagen will.

Ich stöhne auf. „Nouri, bitte, lass es gut sein.“

Mit einem Ruck bringt mein Vater ein paar Minuten später den Wagen zum Stehen. Sofort postieren sich zwei Soldaten mit Kalaschnikows vor unserem Auto, mustern uns streng.

Ein dritter Soldat tritt an das Fenster, macht eine Handbewegung, die meinem Vater zeigen soll, das Fenster runterzukurbeln, dann beugt er sich hinunter und sieht einen Augenblick ins Fahrzeuginnere. Sein Farsi ist hart und strotzt nur so vor Dialekt, und ich habe Mühe, ihn zu verstehen.

„Willkommen im Iran. Wir freuen uns über Ihren Besuch und wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt“, sagt er, nimmt die Papiere an sich und studiert sie sorgfältig.

Dann weist er uns an auszusteigen, um das Fahrzeug vom Zoll kontrollieren zu lassen. Natürlich finden sie nichts. Wir haben Kaffee dabei und ein paar Anziehsachen. Wohlweißlich haben wir Alkohol und Zigaretten Zuhause gelassen. Es ist nicht ratsam, so was in den Iran mitnehmen zu wollen.

Mein Blick schweift durch die Gegend. Nicht dass es hier viel zu sehen gebe. Die Landschaft ist karg, hier und da mal ein Dornenbusch, ein paar Felsen. In der Nähe kann ich ein paar Ziegen und deren Besitzer dazu erkennen.

Plötzlich fühle ich mich beobachtet, drehe mich um und blicke geradewegs in die braunen Augen eines jungen Polizisten. Ein verlegenes Lächeln ziert seine sinnlich geformten Lippen und unwillkürlich lecke ich mit meiner Zunge über meine eigenen. Er ist ziemlich hübsch. Sein Gesicht ist fein geschnitten, seine Haut braun gebrannt und seine schwarzen Haare leicht verstrubbelt. Außerdem steht ihm die Uniform mehr als gut. Ich betrachte ihn eine Weile, lächle schüchtern zurück und zwinkere ihm zu. Ein überraschter Ausdruck macht sich sofort auf seinem Gesicht breit und beschämt schaut er zur Seite. Ich seufze wieder leise auf. Wahrscheinlich bin ich der erste, der ihn nicht skeptisch beäugt, weil er den Versuch des Flirtens unternommen hat. Hektisch schaut er sich um und mir wird schlagartig bewusst, dass das, was wir hier machen, gefährlich ist. Für ihn und für mich.  Wir sind hier schließlich nicht in Berlin.

„Kian.“ Die Stimme meiner Mutter reißt mich aus meiner Starre und widerwillig steige ich zurück ins Auto. Ich schaue ihn an, sehe den traurigen Ausdruck in seinen Augen, doch ich kann ihm nicht helfen. Er ist gefangen … in diesem Land und wahrscheinlich auch in sich selbst.

Als mein Vater den Wagen startet und wir uns langsam von der Grenze entfernen, lächle ich ihn noch einmal an, mit der Gewissheit, sollte er auf der Rückreise auch hier sein, ihm meinen Skype-Namen in die Hand zu drücken. Vielleicht kann ich ihm etwas Mut abgeben.

„Bist du eigentlich wahnsinnig?“, zischt Nouri leise, immer darauf bedacht, dass unsere Eltern und Fadi uns nicht hören.

Ich zucke nur mit den Schultern.

„Es ist doch nichts passiert“, entgegne ich angesäuert.

„Nein, das nicht, aber das hätte auch anders ausgehen können! Reichen dir die Typen, die du in Berlin abschleppst, nicht? Musst du ausgerechnet mit einem Iraner flirten?“

Nouris Vorwurf trifft mich hart und ich funkel ihn böse an.

„Das klingt, als würde ich jeden Tag irgendeinen abschleppen.“

„Ist das nicht so?“

„Halt einfach die Schnauze!“, sage ich wütend, drehe ihm demonstrativ den Rücken zu und weiche gekonnt den besorgten Blicken meines Bruders aus.

 „Jungs, wir sind da.“

Ehrfürchtig blicken wir aus dem Fenster. Wir befinden uns auf einer Schotterpiste, ein paar einfache Ziegelhütten stehen am Straßenrand, kleine Brunnen, keine Lichter, keine Reklame, keine Strommasten … das ist Miski, ein Dorf am Golf von Oman, Iran.

Es ist die Heimat meiner Eltern und damit auch meine, obwohl ich sie nicht als solche ansehe.

Meine Heimat, mein Zuhause ist Berlin. Die Stadt, die meine Liebe hat und in der sich alles befindet, was ich mir erträume, wünsche und … was ich begehre.

Doch das würde ich niemals laut sagen.

Das Mietauto rumpelt den Weg entlang, biegt in die Hauptstraße ein und ich sehe kleine Jungen am Wegrand, die fröhlich lachend einen Drachen hinter sich herziehen, darauf warten, dass der laue Wind ihn mit sich zieht. Ich sehe Mädchen, die Murmeln spielen. Frauen, die versuchen, auf dem kargen Boden Getreide zu züchten. Ich fühle mich Hunderte Jahre zurückversetzt, in ein Land, das so widersprüchlich ist wie wohl kein anderes auf der Welt. Und das ich dennoch irgendwie liebe.

Nach ein paar hundert Metern stoppt der Wagen und langsam löse ich meinen Gurt, blicke zu Nouri und sehe dieselbe Angst in seinen Augen, die mein Herz gerade heftig umklammert. Wir sind nicht nur hier, weil wir unsere Verwandten sehen wollen. Wir sind hier, weil wir ihnen etwas für uns so sehr Wichtiges sagen müssen … und das macht uns Angst.

Der Empfang ist herzlich. Es ist Jahre her, dass ich in den Armen von Pedarbozorg va Madarbozorg (Großvater und Großmutter) lag und es fühlt sich verdammt gut an. Ich ziehe den typischen Geruch von Großeltern ein, löse mich nach einer Weile von ihnen und zusammen betreten wir das Haus.

Sofort drängen Erinnerungen an die Oberfläche. Es riecht nach Muskat, Safran und Zimt, nach gebratenem Reis und Bohnen, nach Lamm und Pfefferminztee, und es ist einfach himmlisch. Ich fühle mich wieder wie der kleine Junge von damals, der zusammen mit seinen Brüdern draußen Drachen nachjagte, so wie die kleinen Jungs heute, der den Koran herunterbetete, der mit schlurfenden Schritten und hängenden Schultern nach einer Rangelei und schmutzigen Sachen nach Hause kam, die Rüge seines Vaters erwartend und die liebevolle, versteckte Geste des Opas, der mir, vor dem Zubettgehen, eine gefüllte Dattel in die Hand drückte.

Fast schon ein wenig wehmütig denke ich an die Zeit zurück, aber sofort weiß ich auch, warum das hier nicht meine Heimat ist: Hier wäre ich niemals das gewesen, was ich nun bin. Ein freier Mensch.

Mein Großvater lächelt uns an, weist mich, Nouri und Fadi an, uns auf die weichen Kissen auf dem Boden zu setzen, drückt jedem von uns ein Mundstück für die Shisha in die Hand und füllt heißes Wasser und getrocknete Melonenstücke nach. Während wir Männer rauchen und ich den tiefen, brummigen Stimmen meines Vaters, meiner Brüder, meines Onkels und meines Opas zuhöre, widerstehe ich dem Drang, in die Küche zu gehen. Meiner Oma und Mutter dabei zu helfen, das Essen vorzubereiten, etwas davon zu naschen, mit ihnen zu erzählen. Sie wären beleidigt, würde ein Mann ihnen Hilfe anbieten. Ich werde mich niemals an die Hierarchien gewöhnen.

Das Essen ist fantastisch. Es gibt Tschelo Kabab, ein Fleischspieß aus Lammfleisch, dazu duftenden Reis, Bohnen, Datteln und Schir Berenji, süßen Milchreis. Ich habe nach dem Essen das Gefühl zu platzen und verziehe mich für eine Weile vor die Tür, um ein paar Runden ums Dorf zu gehen.

Es ist immer noch sehr warm, mit Sicherheit um die 30 Grad, und ich zupfe an meinem T-Shirt. Meine Gedanken schweifen nach Berlin. In diese Stadt, die manchmal so hässlich und gleichzeitig so schön ist. Auf einmal fröhlich gestimmt, singe ich leise „Schwarz zu Blau" von Peter Fox und lächle über meine bescheidenen Gesangskünste.

Ein gehauchtes „Salam“ von einer mehr als angenehmen Stimme lässt mich zusammenfahren und durchdringt die Stille des Abends. Verwundert drehe ich mich um und sehe: ihn. Den Polizisten von der Grenze. Ein kleines Lächeln ziert sein Gesicht und er tritt einen Schritt auf mich zu.

„Ich bin Yasouf“, sagt er im gebrochenen Deutsch.

„Hey, Yasouf“, antworte ich sanft, genieße die Wärme, die von ihm ausgeht, „ich bin Kian.“

„Ich weiß. Ich hab eure Papiere gelesen, die der Wachhabende kopiert hat.“

„So, so. Und woher kannst du Deutsch?“

„Facebook“, lacht er. “Ich hab deutsche Freunde auf Facebook und sie bringen mir Deutsch und ich ihnen Farsi bei.“

„Wie kommst du hierher? Also ich meine … nicht dass ich mich nicht freuen würde, dich zu sehen, aber … wohnst du hier?“

„Nein, ich wohne im Nachbardorf, 34 Kilometer von hier nach Norden“, sagt er und zeigt in die ungefähre Richtung, wo er Norden vermutet. „Ich bin mit dem Moped da, aber … nun ja … du bist mir irgendwie nicht aus dem Kopf gegangen“, flüstert er leise und malt verlegen mit dem Fuß Muster in den staubigen Sand.

„Magst du ein Stück gehen?“, frage ich.

Er nickt nur, tritt an meine Seite und langsam gehen wir ein Stück, immer darauf bedacht, genügend Abstand zwischen uns zu haben. Niemand, der rein zufällig auch auf der Straße unterwegs ist, soll auf falsche Gedanken kommen.

Wir machen nach ein paar Minuten bei einer hüfthohen Ziegelmauer halt, die weit entfernt von den letzten, spärlich beleuchteten Häusern am Rand eines Feldweges steht, setzen uns auf sie und lassen unsere Beine baumeln.

Die Nacht ist sternenklar. Ich schaue ihn von der Seite her an. Er hat den Kopf in den Nacken gelegt, betrachtet die funkelnden Himmelskörper.

Er sieht wirklich verdammt gut aus.

Nur einen winzigen Moment denke ich an Berlin. Und an Jordi. Doch der Gedanke verfliegt so schnell, wie er gekommen ist.

„Das war ganz schön gefährlich, heute“, sagt er dann und sieht mir unverwandt in die Augen. Ich fühle, wie mir die Röte und Hitze ins Gesicht steigt, hoffe aber, dass es zu schummerig ist, um es gut zu erkennen.

„Ich weiß, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass du es unangenehm findest.“

„Das nicht, aber du weißt ja, wie man im Allgemeinen hier darauf reagiert.“

„Entschuldige, ich wollte dich nicht in Bedrängnis bringen.“

Er lacht kurz auf, winkt ab und rutscht ein kleines Stück näher an mich heran.

„Was macht ihr hier? Verwandte besuchen?“

Ich nicke.

„Wir haben sie seit Jahren nicht gesehen und jetzt wurde es mal Zeit, sie zu besuchen.“

Wir schweigen ein paar Minuten.

„Wie ist es so?“

„Hm?“

„Na in Europa. Deutschland. Ich denke oft daran, wie es dort wohl ist. Immer wenn ich mit meinen Freunden schreibe, dann stelle ich mir vor, wie es wohl ist, einfach in ein Geschäft zu gehen und etwas zu kaufen. Schokolade zum Beispiel. Ich liebe Schokolade. Oder wie es ist, eine Hochschule zu besuchen. Zu studieren. Medizin vielleicht. Oder“, und jetzt flüstert er, „wie es ist, in eine Disco zu gehen, in die nur Männer gehen, ohne dabei angestarrt zu werden. Wie es wohl ist, mit einem zu tanzen oder ihn zu berühren.“

Ich weiß nicht, was ich sagen soll, deshalb schweige ich und betrachte ihn wieder.

„Du hattest noch nie einen Freund, oder?“

Es war mehr eine Feststellung als eine Frage und ich kenne die Antwort bereits. Es macht mir nichts aus, dass er nichts dazu sagt und ein wenig aneinandergelehnt sitzen wir nur da. Es ist mittlerweile stockfinster.

Plötzlich springt er auf, stellt sich dicht vor mich hin, nähert sich zaghaft meinem Gesicht und presst seine Lippen auf meine.

Die Geschmacksexplosion ist gewaltig.

Er schmeckt süß und salzig, herb und sanft, nach Datteln und Kurkuma, und ich wünsche mir, dass dieser Kuss nie aufhört.

Dann entzieht er sich meinen Lippen, weicht zurück, dreht sich um und entschwindet langsam in die Nacht.

„Werde ich dich wiedersehen?“, rufe ich ihm nach.

Ich höre leise seine Schritte im Sand, sehe seine Kontur, wie sie wieder auf mich zukommt.

Dann drückt er mir einen Zettel in die Hand, küsst mich nochmal und dann ist er weg.

Ich bleibe noch ein Weilchen auf der Mauer sitzen, lege nun selbst den Kopf in den Nacken und betrachte die Sterne. Frage mich, wie es wohl gerade Jordi geht, ob er an mich denkt, mich vermisst.

Ich schüttele den Kopf.

Nein, das tut er mit Sicherheit nicht.

Langsam gehe ich zum Haus zurück. Laute Stimmen, Lachen und leise persische Musik klingt mir entgegen. Nouri lehnt an der kleinen Veranda, sieht mir besorgt entgegen.

„Wo warst du denn?“, fragt er.

„Nur bisschen spazieren gehen“, antworte ich und versuche, mich an ihm vorbei zu drängen, doch sein Griff um meinen Arm ist unerbittlich.

„Kian, hör zu. Es tut mir leid, okay? Was vorgestern passiert ist, hab ich so nicht gewollt, und ich kann nichts für die Gefühle, die Jordi für mich hegt. Ich will, dass wir wieder Brüder sind. Zwillingsbrüder. Wie früher. Ein Herz und eine Seele.“

„Lass mich“, fauche ich ihn an.

„Kian, bitte … ich liebe dich, Du bist meine zweite Hälfte.“

„Lass mich los!“ Ich entziehe mich ihm und betrete das Haus, bleibe jedoch ruckartig bei dem Anblick, der sich mir bietet, stehen.

Meine Eltern tanzen, lachen fröhlich und der Rest der Verwandtschaft, inklusive zweier fremder Frauen, sitzt um sie herum, klatscht zum Rhythmus der Musik in die Hände.

Mein Blick bleibt an den beiden Frauen hängen. Sie sind atemberaubend hübsch, das muss selbst ich zugeben. Das schwarze Haar lugt nur ein paar Zentimeter unter den bunten Kopftüchern hervor, aber die braunen Augen schauen belustigt, die Nase ist fein und gerade, die Lippen geschwungen und die hohen Wangenknochen leicht gerötet.

„Wer ist das?“, frage ich Nouri, doch der zuckt nur mit den Schultern. Im selben Moment spüre ich eine Hand auf meiner Schulter.

Mein Vater steht hinter mir, mustert mich und Nouri streng und schiebt uns in die Küche.

„Wir müssen reden“, sagt er, setzt sich auf den kleinen Hocker.

„Was ist denn los?“

„Das sind Farima und Este, beides Mädchen aus der Umgebung, wohlerzogen, hübsch, und die Eltern sind beide reiche Kaufleute.“

Mir schwant Böses und eigentlich kann ich meine eigenen Gedanken kaum glauben.

Bitte, lass mich nicht recht haben.

„Und warum sagst du uns das?“, fragt Nouri, sieht mich kurz an, mit einem Blick, den ich kaum deuten kann.

„Weil ihr sie heiraten werdet.“

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