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Meine vier Leben (Eine fiktive Geschichte)

Teil 3 - Das zweite Leben - Das Kinderdorf

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Informationen

 

Wir kamen an, als es schon leicht dunkel wurde. Ich schlich hinter Roman her.

»Hier, 'Haus Frieden', das ist dein neues Zuhause.«

Ach, als ob mich das interessierte.

»Hallo Kai, gut das du da bist. Ich machte mir schon Sorgen. Ich hatte euch früher erwartet.«

Ich schaute die Frau an, die mich ansprach. Sie war groß, schlank und, weiß nicht, vielleicht jünger als meine Mutter.

»Ich bin die Ruth, so was wie die Kinderhausmutter.«

»Wir waren noch am Grab seiner Eltern«, sprach Roman.

»Komm, ich zeige dir dein Zimmer.«

Ich folgte ihr und trat dabei auf ein Auto, was da herumlag. Ich trat es wütend in die Ecke. Ein kleiner Junge, den ich bisher nicht bemerkt hatte, sah mich böse an. Ich ging hinter Ruth die Treppe hoch.

»Hier ist dein Zimmer.« Sie zeigte auf eine Tür.

Ich blickte hinein, und das Erste, was mir auffiel: es standen zwei Betten darin. Eines etwas unordentlich bezogen und eins, wo das Bettzeug noch darauf lag.

Meins!

Dann sah ich die beiden Umzugskartons. Ich sagte nichts.

»Du kannst deine Sachen in den Schank rechts und in die Regale einräumen. Soll ich dir dabei helfen?«

Sie sah mich an. Die Tränen liefen mir wie Sturzbäche über meine Wangen. Sie wollte mich in den Arm nehmen. Nein, ich wollte nicht, ich wollte leiden. Ich wich ihr aus.

Sie sagte nichts.

»Soll ich dir das Bett beziehen?«

Ich schüttelte den Kopf. Sie sollte mich in Ruhe lassen.

Das merkte sie anscheinend auch.

»In einer Stunde gibt es Abendbrot. Bitte komm dann herunter. Wir müssen uns ja auch noch über die anderen Dinge unterhalten, und du wirst sicher auch viele Fragen haben.«

Dann ging sie. Ich schmiss mich auf das Bett und heulte.

Wie sehr tat ich mir leid.

Ich war wohl kurz eingeschlafen, denn ich zuckte zusammen, als eine leise, weinerliche Stimme sagte:

»Du hast mein Auto kaputt gemacht.«

Ich öffnete meine Augen und sah den Jungen von vorhin. Er stand da und hielt mir sein Auto entgegen und weinte leise.

»Verpiss dich und lass mich in Ruhe!«, antwortete ich schroff.

Er blieb stehen und auf einmal wurde die Tür aufgestoßen und ein älterer Junge stand in der Türe.

»Pass mal auf, du Arschloch, was ich dir jetzt sag, denn ich sage es kein zweites Mal mehr«, sagte er laut zu mir. Er schaute den Kleinen an, strich ihm über den Kopf und sagte zu ihm:

»Benny, geh in dein Zimmer, ich komme gleich zu dir.«

Benny ging, und der Junge schloss die Tür und kam auf mich zu. Ich war bereits in die hinterste Ecke gekrochen und hob zur Abwehr die Hände vor meinen Kopf. Aber er schlug mich nicht. Er fasste meine Oberarme und zwang mich aufzustehen.

»Schau mich an!«

Ich wollte nicht.

Er drückte in meine Oberarmmuskeln, ein Schmerz durchzuckte mich. War der stark, da hatte ich keine Chance.

»Schau mich an!«

Widerstrebend gehorchte ich.

»Ich sag dir das jetzt und hier nur einmal im Guten. Sollte ich dir das noch mal sagen müssen, dann wärest du froh, niemals hierher gekommen zu sein. Du wirst dich gleich, wenn ich fertig bin, bei dem Kleinen entschuldigen und zwar in aller Form. Du wirst ihm ein neues Auto kaufen. Haben wir uns bis hierhin verstanden?«

Er drückte nochmals zu. Ich schrie auf und nickte.

»Dann sag ich dir noch eins. Niemand von uns hat sich hierher gewünscht. Niemand. Wir alle sind hier, weil wir da draußen niemanden mehr haben. Wir sind hier die Familie, und du gehörst jetzt dazu. Benimm dich auch so. Wir alle haben unser Schicksal hinter uns. Du stehst mit deinem nicht allein. Ich weiß, was dir passiert ist. Schlimm genug! Es gibt einige, die es aber noch schlimmer erwischt hat als dich.«

Ich schaute ihn fragend an. Was konnte schlimmer sein, als seine Eltern und seinen Freund zu verlieren?

»Kannst du dir vorstellen mit ansehen zu müssen, wie deine Eltern und Geschwister im Auto feststecken und verbrennen? Und du musst tatenlos zusehen, weil du nicht helfen kannst! Kannst du dir das vorstellen?«

Das war in der Tat schrecklich vorstellbar. Ich war ja erst nach sechs Wochen aus dem Koma erwacht. Was sich beim Unfall abgespielt hatte, davon hatte ich überhaupt nichts mitbekommen.

»Benny?«

Er nickte.

»Jetzt reiß dich zusammen und hör auf zu flennen. Räume deinen Kram ein, entschuldige dich bei Benny und komm dann zum Essen!«

Damit ließ er mich los, drehte sich um und ging.

Das, was er gesagt hatte, hatte mich sehr getroffen. Benny, das mit seinen Eltern und die Worte, wir sind hier die Familie und du gehörst jetzt dazu, hatten mich doch sehr nachdenklich gemacht.

Die Sachen konnte ich nachher einräumen. Ich ging auf den Flur und machte die gegenüberliegende Türe auf. Das Bad. Unter der Dusche stand jemand.

»Entschuldigung«, sagte ich und wollte sie wieder schließen.

»Bist du der Neue?«, fragte mich der Junge, der im gleichen Moment den Duschvorhang zur Seite schob.

»Ich bin Tobi, an sich Tobias. Willkommen im Club.«

Dass er nackt vor mir stand, machte ihm anscheinend nichts aus. Ich war ja recht offen, das verblüffte mich einen Moment und ich sah auf den Boden, denn ich wollte ihn nicht anstarren.

»Noch nie nen nackten Mann gesehen? Daran solltest du dich hier gewöhnen, denn wir sind, mit dir, acht Jungs und vier Mädchen.«

Ich schaute nun wieder hoch, obwohl mir durch den Kopf schoss, was mach ich mit meinem Hang zu Jungs? Ich sah ihn an, er war ein wenig kleiner als ich und sicher ein bis zwei Jahre jünger.

»Ich bin Kai. Ja, ich bin der Neue. Danke für das Willkommen. Ich kenne mich noch nicht aus. Ich suchte das Zimmer von Benny.«

»Warte, ich geh mit.«

Und schnell war er draußen und trocknete sich ab.

»Reib bitte mal meinen Rücken trocken.«

Er hielt mir ein Handtuch hin. Ich tat es. Dann band er sich das Handtuch um die Hüften und nahm meine Hand.

Er zog mich aus dem Bad und ging den Flur weiter.

»Also, hier wohnen ich und Oliver.«

Er zeigte auf die Tür neben dem Bad.

»Gegenüber ist das Reich von Daniel. Daneben Peter, daneben Benny und Sören, die jüngsten, 8 und 6 Jahre. Hier neben unserem Zimmer wohnen Tanja und Danni, daneben Olga und Vera, und daneben das Mädchenbad. Mädchenbad und Mädchenräume sind für uns tabu, und umgekehrt.«

Ich schaute ihn an.

»Hält sich auch jeder dran.«

Da brauchte er bei mir keine Angst zu haben.

»Wieso haben Daniel und Peter ein Einzelzimmer? Und wer schläft bei mir?«

»Peter ist 17 und macht eine Ausbildung bei der Bank. Daniel ist 16. Bei dir schläft Holger, der musste zur Klinik. Immer die Ältesten bekommen auf Wunsch ein einzelnes Zimmer. Ich bin 12. Oliver, den hast du ja schon kennen gelernt, der wird demnächst 18.«

Als er das sagte, wurde er traurig.

»Was hast du?«

»Ich bin traurig. Denn mit 18 muss man aus dem Haus. Er ist wie ein Bruder. Deshalb sind wir immer noch in einem Zimmer. Aber du wolltest doch zu Benny. Beeil dich, gleich gibt's Abendbrot.«

Ich ging zu Bennys und Sörens Zimmer. Das mit der Hierarchie hatte ich soweit begriffen, und Holger schlief bei mir. Da war ich mal gespannt.

Ich klopfte. Keine Antwort.

Ich klopfte noch einmal. Immer noch nichts.

Ich öffnete die Tür und sah ins Zimmer. Chaotisch sah es hier aus. Erst dachte ich, dass niemand da wäre, dann hörte ich ein leises Schluchzen. Ich ging dorthin und sah Benny auf dem Bauch im Bett liegen.

Ich setzte mich zu ihm und legte meine Hand auf seinen Rücken. Er zuckte zusammen.

»Ich möchte mich bei dir entschuldigen. Ich war nicht gut drauf.«

Er drehte sich um und sah mich lange an.

Ich weiß es nicht. Sekunden? Minuten? Er kniete sich aufs Bett, schaute mir in die Augen. Soviel Traurigkeit war darin zu sehen. Und ich? Was hatte mich nur geritten? Ich nahm meine Hände und wischte die Tränen ab.

»Bitte entschuldige. Ich wollte dir nicht wehtun.«

»Hast du aber.«

Er legte einen Arm um meinen Hals und legte seinen Kopf auf meine Schulter.

Ich hob ihn hoch, einen Arm unter seinem Po und einen um seinen Körper. Ich drehte mich und setzte mich dann wieder. Nun saß er auf meinem Schoß.

Ich ließ nicht los, und er auch nicht. Beide weinten wir.

In dem Moment wurde mir nun endgültig klar, wir, die wir hier ankamen, hatten nur noch uns. Ja, wir hatten nur uns. Ich drückte ihn fest an mich.

»Wir müssen Essen«, flüsterte Benny in mein Ohr. »Trägst du mich?«

Ich sah ihn an, wischte ihm und mir die Tränen aus den Augen und nickte.

»Klar. Und nach dem Essen kannst du mir ja helfen meine Kartons auspacken. Es kann sein, dass dort noch Autos drin sind, schließlich hab ich deins kaputtgemacht. Ja?«

Er nickte und gab mir einen Kuss auf die Wange. Dann gingen wir hinunter, und Benny lotste mich zum Esszimmer.

»Hallo, da seid ihr ja, wir haben gerade angefangen. Bitte setze dich hierhin«, sagte Ruth und deutete auf einen freien Stuhl neben Daniel. »Haut erst mal rein. Die Vorstellungsrunde gibt es nach dem Essen.«

»Und?«, fragte Oliver. »Mit Benny wieder klar?«

»Ich denke ja«, antwortete ich ihm, »und noch danke.«

»Danke für was?«

»Danke für deine Worte vorhin. Ich hab's gebraucht.«

»Ist schon gut, wir sind ja eine Familie.«

Die Vorstellungsrunde fand statt.

Oliver (18), Peter (17), Daniel (16), Tanja (15) Danni und ich (14), Holger (13), Tobi und Vera (12),Olga (10), Benny (8), Sören (6), Roman (22) und Ruth (44).

Das war die Familie »Haus Frieden«.

Taschengeld, Schule, kurzum alle Fragen des täglichen Lebens wurden mir erläutert. Dann ging es mit Bennys Hilfe ans Sachen auspacken. Drei neue Autos konnte Benny anschließend sein Eigen nennen.

So schlief ich ein, mit dem Gedanken, dass es so schlecht nun doch nicht war, eine solche Familie zu haben, wenn man keine eigene mehr hatte.

Holger ist ein netter Junge. Oliver hatte mich beiseite genommen und mir eine Aufgabe übertragen. Ich hatte ihn angeschaut und meinen Einwand hervorgebracht, den hatte er nicht gelten lassen. Er würde mich so einschätzen, dass ich das schaffe.

Jeder von den Älteren bekam eine Aufgabe, um den Jüngeren zu helfen.

Meine Aufgabe sollte darin bestehen, mich um Holger zu kümmern. Nein, keine schulische Unterstützung, sonder eher sportlich gesehen.

Holger hatte einen Unfall gehabt. Man hatte ihm den Unterschenkel amputieren müssen. Das war vor einem halben Jahr gewesen. Nun hatte er eine Gehhilfe und sollte laufen, statt mit dem Rollstuhl zu fahren. Das wollte er aber nicht, und da kam ich ins Spiel.

Ich wachte auf. Es war mein erster Schultag. Wahrscheinlich würde ich eins heruntergestuft werden. Egal. Ich sollte auf die Realschule. Ich schaute mich um. Holger schnarchte noch. Ich schaute auf den Wecker. Viertel vor sieben.

»Hey Holger, aufstehn.«

Ich taperte ins Bad. Ich öffnete die Tür, und schon flog mir ein nasser Waschlappen entgegen. Ich konnte gerade noch ausweichen, und schon hatte ihn Peter, der offenbar hinter mir gewesen war, im Gesicht.

»Wer war das?«

Daniel und Benny grinsten.

»Warte, euch werde ich es zeigen!« Er packte sich Daniel, der, ehe er's begriff, unter der Dusche stand und eiskalt abgeduscht wurde. Benny wollte flüchten, kam aber nicht weit und wurde ebenfalls abgeduscht. Klar war, dass bei dem Hin und Her am Ende alle nass waren. Nachdem der Friede wiederhergestellt war, war Peter als erster aus den nassen Klamotten im Bad. Ich wagte ihn nicht anzuschauen.

»Peter hat nen Dicken«, kam von Benny.

»Bist bloß neidisch, weil du noch keinen kriegst,« antwortete Peter, und ich sah, was er meinte. Er hatte eine tierische Morgenlatte.

»Ich auch. Hätte mir besser noch einen runtergeholt«, kam von Daniel.

»Was ist mit dir?«, fragte er mich. Ich drehte mich zu ihm hin, und er grinste, als er das Zelt sah.

Wir zogen ebenfalls unsere Schlafanzüge aus und hängten sie zum Trocknen auf. Mittlerweile kam Holger herein.

»Hab ich was verpasst?«

Mit den Worten, »Nein«, hatte er schon eine nasse Hose im Gesicht. Wir fingen alle an zu lachen. Irgendwie war meine Angst vor dem ersten Tag weg.

»Los Holger, mach hinne, wir gehen zusammen zur Schule. Wahrscheinlich komme ich eh in deine Klasse.«

»Zu Fuß? Ich geh nicht zu Fuß, Roman soll mich fahren.«

»Nein, du gehst zu Fuß. Du setzt ja schon Speckrollen an. Du musst was tun, sonst wirst du fett«, sagte ich zu ihm, und Daniel kniff ihm in den Bauch und grinste.

»Ja richtig, hier wird einer fett. Was wird Anja dazu sagen?«

»Du Arsch, was kann ich denn dafür? Ich kann mit der Prothese nicht lange laufen. Ich bekomme Druckstellen, und das tut höllisch weh.«

Ich konnte mir vorstellen, was er meinte. Aber wenn er sich nicht daran gewöhnte, dann würde das nie etwas werden. So sagte ich darauf:

»Wir können ja den Rolli mitnehmen, dort können wir die Schulrucksäcke drauflegen, und wenn du wirklich nicht mehr kannst, dann schieb ich dich.«

Er sah mich an und nickte.

»Und wer ist Anja?«, fragte Peter.

»Na, das ist doch seine neue Flamme. Mit der möchte er gerne, die lässt ihn aber nicht ran«, lachte Daniel und sah mich dabei an.

»Was ist mit dir? Hast du auch irgendwo eine Flamme oder geht's dir wie Peter?«

Ich merkte, wie ich knallrot wurde. Da war wieder der Satz. ‚Was ist mit Dir? Was macht deine Freundin?' Dieser Scheißsatz. Er kann ein Leben verändern. Was soll's, ich hatte nichts mehr zu erwarten, dann konnte ich es auch sagen. Ich hatte aber wohl zu fragend geschaut, und Daniel gab mir eine Antwort, die auf seine Bemerkung zielte.

»Na, Peter hat einen Docht.«

Nun verstand ich gar nichts mehr, und so schaute ich auch drein.

»Na, Peter hat einen Freund, Thomas. Peter deckt bei uns die zehn Prozent ab.«

Ich konnte nicht so schnell folgen.

»Die zehn Prozent der Jungs, die laut Statistik schwul sein sollen. Kapiert?«

Jetzt verstand ich. Peter schaute mich an und wartete anscheinend wie die anderen auf meine Reaktion. Ich rechnete kurz nach.

»Na ja, dann stimmt die Statistik hier im Haus nicht mehr, wenn zwei von acht schwul sind, dann sind das fünfundzwanzig Prozent.«

Etwas sprachlos ließ ich sie stehen, denn ich war mittlerweile fertig, begab mich ins Zimmer zurück und zog mich an. Mal sehen, welche Reaktionen noch kommen würden. Ich war der Erste beim Frühstück.

Ruth fragte mich, wie ich die Nacht verbracht hatte und ob ich dann wirklich schon in die Schule wollte, ich könnte auch noch ein oder zwei Tage Auszeit nehmen.

»Och, ich geh an sich ganz gern in die Schule. Ach übrigens, ehe es dir zugetragen wird, ich bin schwul. Das heißt ich war schwul, quatsch, ich denke, ich bin's immer noch, aber was ich damit ausdrücken wollte, ich hab keinen Freund mehr. Du verstehst?«

Ruth nickte.

»Ich hab deine Daten vom Jugendamt bekommen. Der Junge im Auto?«

Ich nickte, und schon liefen bei mir wieder die Tränen. Das Frühstücken war mir vergangen.

»Was hat Kai? Warum weint er?«, kam von Holger, der sich zum Frühstück setzte.

»Er ist traurig.«

Das war's erstmal, keiner schaute mich komisch an. Peter schien mir entspannter als gestern Abend, und ich machte mich auf zur Schule. Holger ging mit mir, und ich schob den leeren Rolli.

»Du bist schwul?«

»Ja.«

»Hast du dann einen Freund?«

»Nein, so nicht mehr. Er ist tot.«

»Was meinst du mit: so nicht mehr?«

»Na, was man mit schwul und Freund in Zusammenhang bringt. Ansonsten hab ich jemanden, den ich schon als Freund bezeichnen würde, Simon.«

»Wo wohnt denn Simon?«

»Er müsste auch hier in der Ecke wohnen. Ich Simse ihm.«

»Kann ich vielleicht auch dein Freund werden? Eh, natürlich im Sinne von Freund!«

»Klar kannst du das, hoffentlich hat Anja nichts dagegen.«

»Warum sollte sie? Willst du dann ans schwarze Brett schreiben, dass du schwul bist?«

»Nee, ganz bestimmt nicht. Hausieren geh ich nicht damit. Außerdem will ich keine Liebe mehr, denn Phillip kann keiner das Wasser reichen.«

Im Schulsekretariat wurde ich einer Klasse zugewiesen, es war die neunte. Ich sollte eine Probezeit nutzen um zu schauen, ob ich den fehlenden Stoff aufholen konnte. Die Stunden begannen erst um 10:00 Uhr. So stand ich mit dem Rolli im Flur und wartete.

»Was stehst du hier so einsam herum?«

Ich schreckte hoch und sah einen Mann im grauen Kittel.

»Schäfer, ich bin der Hausmeister, und wer bist du?«

»Ich bin Kai Bonner. Ich bin neu hier, und mein Unterricht beginn erst in der dritten Stunde.«

»Was ist mit dem Rolli? Den kenn ich doch. Gehört der nicht einem aus dem Kinderdorf?«

»Ja, der gehört Holger aus der Acht. Wir sind zusammen hierher gekommen. Ich komme auch aus dem Dorf. Das heißt, ich bin dort auch neu … Meine Eltern...«

Wieder liefen die Tränen, ich konnte nichts daran machen.

Er legte seinen Arm um meine Schultern und sagte:

»Komm wir verstauen erst mal den Rolli. Hast du gefrühstückt?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich hab nichts herunterbekommen.«

Er öffnete einen Raum, einen Abstellraum, und schob den Rolli dort hinein. Dann gab er mir den Schlüssel.

»Hier, ich vertraue dir den Schlüssel an. Hier kannst du den Rolli oder auch die Krücken deponieren.«

»Danke, aber sie kennen mich doch gar nicht.«

»Aber ich kenne die Kinder aus dem Kinderdorf. Alles nette Kinder. Komm wir gehen erstmal frühstücken und dann bringe ich dich zu deinem neuen Klassenlehrer. Ist vielleicht besser, du redest erst mit ihm, und ihr geht zusammen in die Klasse.«

Das war mir noch nie passiert, dass mich ein Hausmeister zum Frühstück eingeladen hatte. Er sagte seiner Frau, dass noch ein Teller und Messer benötigt wurden, und wir frühstückten.

Danach, nachdem ich mich auch bei seiner Frau bedankt hatte, brachte er mich in das Lehrerzimmer.

»Ach, Dr. Steinmüller, hier bringe ich ihnen den Neuzugang, Kai. Kai, das ist dein Klassenlehrer, und er ist Vertrauenslehrer. Wenn's mal Probleme gibt, zu ihm kannst du immer gehen, oder zu mir.«

Er wuselte mir nochmals durch die Haare und verschwand.

»Setz dich bitte. Möchtest du was trinken?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Wir wollen dich weiter in der neunten Klasse unterrichten. Dein Unfall soll dir ja nicht auch noch schulisch zum Nachteil werden. Ich möchte dir folgenden Vorschlag machen. Wir alle, das heißt, die Lehrer und du, schauen uns die nächste Woche an und entscheiden dann nächste Woche um diese Zeit. Wäre das für dich OK?«

Traumhaft hier. Hier hatte man die netten Lehrer und Hausmeister versteckt.

»Ja klar, natürlich wäre mir das recht, dann weiß ich auch, wo meine Mängel sind.«

»Dann komm, auf in den Kampf, Torero!«

Musste ich nicht verstehen. Wir betraten den Klassenraum. Es wurde still, und Dr. Steinmüller sagte:

»Das ist euer neuer Mitschüler, Kai Bonner. Er kommt aus dem Kinderdorf. Er wird zunächst, das heißt, diese Woche hier in der Klasse bleiben, da ihm einige Zeit fehlt. Du warst lange im Krankenhaus, nicht war?«

Ich nickte. Ich war froh, das ich nicht aufgefordert wurde, ‚Nun erzähl mal was von dir!'

»Ja, ihm wird Stoff fehlen, wir wollen erstmal feststellen, wie viel. Wer noch Fragen an ihn hat, stelle sie bitte in der Pause. Such dir einen freien Platz und schau in das Buch des Nachbarn.«

Damit war ich soweit entlassen und schaute durch die Klasse. Fünf Stühle waren frei. Einer der freien Plätze war neben einem süßen Schnuckel. Irgendwie zu jung für die Klasse. Puh, was hatte der ein Lächeln drauf. Ich schmolz dahin.

Nein, keine Beziehung mehr, und wer weiß, warum er so lächelte, bestimmt nicht wegen mir. Zwei Plätze neben Mädchen, das hätte mir an sich nichts ausgemacht, aber vielleicht meinte jemand, er hätte Anspruch darauf. Der vierte war mir zu weit hinten, und Nummer fünf war hinter dem Schnuckel – ich wollte doch nicht –, neben einem etwas untersetzten großen Boy. Ich marschierte auf den Platz. Täuschte ich mich, oder verzog mein Schnuckel den Mund?

Mathe mit Unbekannten nahm uns in Anspruch.

Malte, so stellte sich mein Banknachbar vor. Irgendwie hatte ich mit ihm keinen guten Griff getan. Ich kann es nicht leiden, wenn Wehrlose gehänselt oder verprügelt werden. Auf jeden Fall schlug er mit dem Lineal seinen Vordermann, meinen Schnuckel. Ich sah ihn giftig an, worauf er anfing zu grinsen. Dann flüsterte er:

»Jan hat es wieder nötig. In der Pause wird er mal wieder so richtig abgegriffen, der Warmduscher.«

Darunter wollte und konnte ich mir nichts vorstellen und versuchte dem Unterricht zu folgen. Was bisher besprochen wurde, kannte ich noch und ich kam auch mehrmals dran. Die nächste Stunde, Englisch, brachte dann so meine fehlenden Vokabeln zum Vorschein. Dennoch lobte die Lehrerin mich und meinte, mit Fleiß wäre es aufzuarbeiten. Dann ging es in die Pause.

Ich ging etwas ziellos über den Hof, es sprach mich keiner aus meiner Klasse an, nur mit Holger machte ich aus, wer früher fertig sein sollte, würde warten.

Dann, Herz hüpf, sah ich – Simon. Ich auf ihn zu.

»Hallo Simon!«

Fast hätte ich ihn in den Arm genommen. Im letzten Moment sah ich ein Mädchen neben ihm.

Er hatte aber kein Problem damit, denn er sprang fast auf mich, und es hätte nicht viel gefehlt und er hätte mich geknutscht. (Mir wär's recht gewesen.)

»Mensch Kai, wo kommst du denn her?«

Ich erzählte ihm vom Kinderdorf und was noch alles passiert war. Holger war in seiner Klasse. Wir verabredeten uns für den Nachmittag. Er stellte mich noch seinen Leuten vor. Händchen hier, Händchen da. Erster Eindruck: alle nett. Dann ging so langsam die Pause zu Ende, und ich verspürte einen Druck auf der Blase. Ich also zum Klo. Das Jungen-WC sah genau so aus wie an meiner alten Schule, eine Reihe Becken, und eine Reihe Türen. Ich stürmte rein, ging bis ganz nach hinten, und da sah ich sie in der letzten Kabine. Die Tür war leicht geöffnet. Malte, ein weiterer Junge und Jan. Es hatte nicht den Eindruck, dass das, was sie mit ihm machten, freiwillig geschah. Sie hatten seine Hose heruntergezogen und wichsten ihn. Der andere Junge hielt seine Hände so fest, dass er sich nicht wehren konnte.

»Lass ihn los! Sofort!«, rief ich laut. Überrascht schauten mich beide an. Dann grinste Malte wieder.

»Wenn du ihn nicht augenblicklich loslässt, bin ich bei Dr. Steinmüller.«

Wie ich das sagte, ließ ich keine Zweifel offen, es auch wirklich zu tun. Sie ließen ihn los und rannten an mir vorbei.

»Das wirst du noch bereuen! Setz dich nur ja nicht mehr neben mich. Sonst…«

Angst vor dem, nee, die hatte ich nicht. Ich schaute zu Jan, der immer noch mit seiner Hose um die Knie vor mir stand. Er weinte, und ich zog ihm die Hosen hoch und wischte ihm die Tränen ab. Jetzt wusste ich, was abgreifen war. Aber gleichzeitig wurde mir bewusst, dass ich mich wieder verliebt hatte, aber ich wusste nicht, ob ich das wollte.

»Wasch dein Gesicht. Ich muss gerade noch strullern, dann komm ich mit.«

Wir also zurück in die Klasse. Malte schaute mich provozierend an und hatte seine Beine auf meinen Stuhl gelegt. Der Lehrer war noch nicht da. Die Klasse wartete auf das, was ich nun unternehmen würde.

Ich ging zu ihm hin, er grinste.

»Neben einem Hirni wie dir möchte ich auch nicht weiter sitzen. Nun weiß ich, warum der Stuhl frei war.«

Mit einem Ruck hatte ich den Stuhl unter ihm fortgezogen, und er saß auf der Erde. Ich nahm seine Sachen und schmiss sie auf die Bank davor, neben Jan.

»Komm Jan, einen nach hinten. Wir müssen ja so einen wie Malte nicht hinter uns haben, sonst bekommen wir Pickel.«

Ein allgemeines, zustimmendes Gemurmel erhob sich.

Jan machte, dass er eins nach hinten zog und grinste mich wissend an.

- Hier muss der 2.Teil vom 2. Leben enden. Ich beschreibe ja nur Dinge, die mir, aus heutiger Sicht, wichtig erscheinen. Ich hoffe nicht, dass ich euch langweile. Ich dachte auch, es ginge schneller und kürzer. Es wird dann noch einen 3. Teil des 2. Lebens geben. Danke allen, die mir ein Feedback gaben und danke an Micha, der mit die Fehler korrigiert. -

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