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Tripartite

Teil 1 - Heimkehr in eine neue Welt

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

All jenen, die ihr Zuhause gefunden haben.

Prolog

Das Gedächtnis ist mir ein mysteriöser, ungreifbarer Stoff. Von einem erfüllten Tag bleibt mir am nächsten Morgen nicht mehr, als ein paar zerfledderte Fetzen Erinnerung. Sie ragen kaum in mein Bewusstsein und sind wie Gaze durchscheinend fein. Versuche ich in einer einsamen Stunde voll Sehnsucht nach ihnen zu tasten, so gleiten sie durch meine Finger und hinterlassen nicht mehr, als einen brokaten Schimmer. Berührt mich meine Erinnerung jedoch seinerseits, so streichelt sie trotz der abgerissenen Enden, wie Seide sanft und voll erfrischender Kühle über meine ausgemergelten Hände und spendet Trost und Freude zu gleichen Teilen. Ich finde es seltsam, dass ich so machtlos bin, meinem eigenen Bewusstsein gegenüber. Es entscheidet, wann es mich entführt und wählt meist Situationen dafür, wenn Millionen anderer Dinge viel wichtiger sind.

Es war ein ruhiger Sommertag, an dem ich die folgende Geschichte wieder fand. Sie lag in unserem Garten und mochte da schon seit ein paar Jahren den Gefahren von Wetter, Schmutz und Tieren trotzen. Dennoch hatte ich sie vorher nie entdeckt. Vielleicht war sie von Gras bewachsen oder Schlamm bedeckt. Doch als ich letztens draußen stand und Wäsche auf die Leine hing, da wehte ein aufkommender Wind mir eine Klammer fort. Als ich mich hinabbeugte, um sie aufzulesen, lag neben ihr ein Kiesel und äugte mich an. Zuerst schien es mir ein einfacher Stein zu sein, mit einer dreieckigen Form, ganz gemein. Doch in seiner Mitte hatte er einen tiefschwarzen Punkt, voll absorbierender Schwere, so wie ein Brunnengrund. Und aus dem Dunkeln gebar, als ich es interessiert besah, ein Strang Erinnerung.

Er legte sich von selbst in meine linke Hand und als wenn er nicht alleine war, fasste ich auch in der Rechten ein ähnlich festes Band. Ich ergab mich voll Begierde ihrer, sogar als sie sich um meine Handgelenke legten, widerstrebte ich ihren Banden nicht. Ich spürte, wie sie mich umworben und langsam enthoben in das wirre Knäuel hinein, das nur mein Gedächtnis konnte sein. Endlos lange Fasern hüllten mich ein und raubten mir die Sicht, auf die tropfende Wäsche, die reglos an der Leine vor meiner Nase hing. Ich spürte keine Angst vor meiner eigenen Vergangenheit, tauche vielmehr meine Hände voll Inbrunst immer tiefer in die Erinnerung hinein.

Bald merkte ich, dass die Stränge, die mir Anfangs einzeln schienen, fest miteinander verwoben waren. Es wurde mir intuitiv klar, wie ich sie zu ordnen hatte. Ich zog das linke Band in eine Schleife und reichte das rechte hindurch. Mit jedem Knoten den ich entwand, gewann ich, wie ein eingewobenes Pfand, ein Stück Erinnerung zurück. Schon war mir, als hörte ich das leise Rauschen des Himmels und ich sah Wolken durch einen Spalt zwischen dem rechten und linken Band. Erst reichte nur ein Finger hindurch, dann meine Hand. Bald vermochte ich ein Bein hindurchzustrecken und dann, mit einem sogendem Ruck, befand ich mich in meiner eigenen Vergangenheit, auf dem Rückweg in mein Heimatland.

Heimkehr in eine neue Welt

Ich öffnete verschlafen meine Augen. Noch einmal ging ein Ruck durch das Flugzeug. Einige Passagiere quiekten panisch, andere verkrampften lautlos auf ihren Sitzen. Ein Mann beschwerte sich betrunken und ein kleines Mädchen mir gegenüber fragte seine Mutter, ob sie Angst haben müsse. Sicherheitshalber klammerte es sich an ihr Kuscheltier. Es war eine Hello Kitty, dessen zwei Kulleraugen wie ängstlich aufgerissene Glubscher aussahen.

Ich rieb mir den Schlaf aus den Augenliedern und hörte auf die beruhigende Stimme des Piloten aus dem Lautsprecher. Es erklärte, dass es einige kleine Turbulenzen gäbe durch den Senkflug auf unseren Zielflughafen. Wir sollten uns ruhig verhalten und anschnallen. Ich folgte seinem Geheiß und überall im Flugzeug ratschten die Sicherheitsgurte. Das kleine Mädchen hinter mir weigerte sich. Ihre Kitty hätte ganz dolle Angst und solle auch angeschnallt werden. Zum Glück reichte der Gurt für beide. Der Mann neben mir grunzte nur im Schlaf und drehte sich auf die andere Seite.

Ich blickte erwartungsvoll aus dem Fenster auf Deutschland hinab. Im Dunkeln der Nacht belebten tausende Lichtquellen das Land und spiegelten den Sternenhimmel wieder. Ich suchte nach einem vertrauten Bild und fand es bald in einem Gestirn vieler kleiner Lichtquellen, die Dresden kennzeichneten. Vier Jahre war es meine Heimat gewesen und dieses scheinbar so chaotische Muster löste nun wohlige Vertrautheit in mir aus.

Ich war froh wieder nach Deutschland zurück zu kommen. Als ich zu dem Praktikum nach Singapur aufgebrochen war, hatte ich noch gedacht, es wäre ein Schritt in ein neues Leben. Zumindest hatte Katja – meine private Studienberaterin – mir empfohlen, ich solle ja nicht auf die Idee kommen, in Deutschland ein Praktikum zu machen, da sich das im Lebenslauf nicht gut macht. Außerdem hatte Katja – meine persönliche Beziehungstherapeutin – gemeint, ich bräuchte mal Abstand zu meinen platonisch, unglücklichen Liebesgeschichten. Also hat Katja – meine engagierte Managerin – mir kurzum die Praktikumsstelle in Singapur besorgt und mein WG-Zimmer an eine russische Austauschstudentin vermietet.

Zumindest hat Katja in einem Punkt Recht behalten, dass mich die Luftveränderung von meiner Erinnerung fortführen würde. Bald hatte ich in Singapur die Wandfarbe unserer Küche vergessen. Drei Jahre lang hatte ich sie täglich vor Augen gehabt. Drei Wochen später konnte ich mich nur noch des silbernen Kerzenständers in der Küche erinnern. Ich habe ihn nie leiden können. Katja – unsere selbsternannte Raumdesignerin – hatte ihn auf dem Flohmarkt aufgelesen und fand ihn in seiner barocken Form todschick. Ich fand das wuchtige Ding viel zu kitschig. Außerdem waren seine Bögen immer voll Kerzenwachs und Staub, egal wie oft man ihn putzte. Oft genug habe ich in der Küche gestanden und das Silber poliert, doch nie habe ich mir die Wandfarbe gemerkt.

Jetzt im Landeanflug kehrte die Erinnerung langsam wieder. Plötzlich sprach mich der Mann neben mir an und fragte, ob ich heimkehre. Ich antwortete gedankenfrei: »Orange«

Mit einem Ruck setzte das Flugzeug auf der Landebahn auf. Der Mann nickte zufrieden mit meiner Antwort und fragte weiter: »Wie lange waren sie fort?«

»Neun Monate«, sagte ich und es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Der Mann lächelte väterlich.

»Und glauben sie, dass sich etwas verändert hat?«

»Ich weiß es nicht.«

Er schüttelte selbstsicher mit dem Kopf. »Ich war einmal neun Jahre fort. Ich hatte gedacht, dass sich alles geändert haben muss, doch als ich zurückkam, hatte sich nichts getan. Es gab hier und da ein Haus mehr oder weniger, doch die Leute sind gleich geblieben.«

Ich lächelte ihn zaghaft an, glaubte ihm nicht. Der Mann zwinkerte mir zu und stand auf. Er kramte im Gepäckfach, obwohl die Freigabe noch gar nicht gegeben war.

Ich blickte durch das kleine Fenster hinaus und überlegte, ob er Recht haben könne. Automatisch suchte ich die spiegelnde Glasfront des Flugterminals nach etwas Neuem ab. Das einzige was ich veränderliches in ihr erblickte, war der Rumpf unseres Flugzeuges.

Wie ein Omen war der Tag meiner Ankunft der 1. April. Als mein Fuß die deutsche Gangway betrat, überfiel mich ein frostiger Schauder. Es waren frühlingshafte achtzehn Grad in Deutschland. Für mich fühlten sie sich jedoch an, wie arktische minus zehn. Immerhin war ich aus Singapur tropische Temperaturen gewöhnt und mein Körper war mit einem solchem Temperatursturz absolut überfordert. Ich fing augenblicklich an zu zittern.

Zum Glück beschleunigte die niedrige Temperatur meine Denkprozesse und mir fiel sofort auf, dass ich meine dicken Pullover in meinem Reiserucksack hatte. Ich hatte beim Packen natürlich nicht bedacht, dass Deutschland im März nicht die gleiche Temperatur hat wie Singapur. Fluchend warf ich meine Arme um mich und spurtete zum Gepäckband.

Als ich dort ankam, hob gerade ein junger, adretter Geschäftsmann im gefütterten Regencape seinen Hartschalenkoffer vom Band und verschwand mit einem sicheren Siegerlächeln. Eine braungebrannte Frau mit einem teuren Mantel zog gleich 5 Koffer vom Gepäckband. Die vierköpfige Familie in dicken Jacken neben ihr brachte nicht mehr Gepäck zusammen. Ein Traveller mit einem norwegischem Strickpulli und Wolltuch um den Hals schwang sich seinen Rucksack lässig auf den Rücken, die Töpfe daran schlugen krachend zusammen. Der Mann aus dem Flugzeug nahm zwei zerknautschte Kartons vom Band und stellte sie ganz sorgsam auf seinen Gepäckwagen. Er trug nur ein dünnes kurzärmliges Hemd. Bei diesem Anblick erschauderte ich und griff mir an meine eigenen bahren Oberarme. Dabei erschrak ich über meine Gänsehaut. Ich versuchte sie fort zu reiben, doch widerstand sie meinen Bemühungen eisig. Bibbernd harrte ich der Ankunft meines Rucksacks und meiner Pullover.

Nach und nach lichteten sich die Reihen und mit der schwindenden Anzahl der Wartenden stieg die Besorgnis in den Gesichtern der Übriggebliebenen. Alle konzentrierten sich intensiv auf das dunkle Loch in der Wand, das die Gepäckstücke ausspuckte, wie ein riesiger Höllenschlund. Es handelte sich scheinbar um einen okkulten Beschwörungskult. Je inbrünstiger man das Loch anstarrt, desto eher erfüllt sich wohl der Wunsch nach dem eigenen Gepäck. Wie beschenkte Kinder leuchteten die Augen der Gläubigen, wenn sie in dem Rachen ihre Tasche entdeckten. Sie stürmten darauf zu und rissen sie vom Band, bevor sie ihnen jemand streitig machen konnte. Es ist seltsam, dass gerade solche profanen Orte wie Gepäckbänder, die niedersten Instinkte der Menschen heraufbeschwören.

Die Situation erinnerte mich an die Auswahl zum Fußballspielen im Sportunterricht während meiner Schulzeit. In Wahrheit warteten wir gar nicht auf unser Gepäck, sondern darauf in eines der beiden Fußballteams gewählt zu werden. Vor dem Loch standen die zwei Teamführer und stritten sich um die besten Spieler. Die anderen schauten machtlos zu und ein jeder hoffte, das nächste Objekt der Begierde zu sein und keiner wollte der Letzte sein. Wenn sie aufgerufen wurden, stürmten sie schnurstracks vor, ohne sich einmal umzusehen. Erst nachdem sie sich unter den Anderen eingereiht hatten, drehten sie sich um und bedachten die Übrigen mit einem stolzen Blick. Am Glücklichsten und Stolzesten war immer der Vorletzte. Der Letzte blieb alleine auf der anderen Seite zurück.

Hier am Fließband fühlte ich mich wie damals. Als ob ich in einer kurzen Sporthose in der kalten Turnhalle stand und fror. Das Frieren war für mich immer das Schlimmste gewesen. Ich war nie besorgt darüber, der Letzte zu sein. Ich wusste, dass ich es sein würde. Ein jeder Teamleader wäre blöd gewesen, wenn er sich freiwillig die größte Niete im Fußball in sein Team gewählt hätte. Ich hätte es kaum anders gemacht. So stand ich einfach nur da und fror.

Vielleicht befürchtete ich deshalb auch nicht, dass gerade mein Gepäck nicht mitgekommen sei. Ich betrachtete die anderen Passagiere, die sich benahmen wie meine Klassenkammeraden und wusste, dass mein Rucksack fehlte. Es schockierte mich nicht. Ein Vorteil der Gewohnheit. Ich stand einfach nur da und fror.

Als das letzte Gepäckstück aus dem Loch gekommen war, blieb ich noch etwas. Ich wollte mir nicht vorwerfen lassen, ich hätte nicht lange genug gewartet. Nach ereignislosen zehn Minuten in der Kälte ging ich zum Servicepoint und erklärte mit klappernden Zähnen, dass mein Gepäck nicht angekommen sei.

»Da müssen sie noch kurz warten, manchmal haben die Verlader Probleme mit einzelnen Gepäckstücken«, schoss mich die Serviceassistentin wie aus der Pistole an. Sie hatte sich abwartend hinter ihrem schulterhohen Schalter verschanzt und trug ein tief in die Stirn gezogenes kugelförmiges Hütchen, das über den Tresen lugte wie ein Stahlhelm. Auf einem Poster an der Wand hinter ihr flog ein Flugzeug über einer Wüstenlandschaft in den Sonnenuntergang hinein. Darunter stand: »Bis in die Nacht hinein für Sie da.«

Ihre eintrainierte Reaktionsfähigkeit beeindruckte mich nicht. Gelassen blieb ich stehen, klapperte zwischendurch höchstens mal mit den Zähnen. Die Serviceassistentin versuchte mich anfangs zu ignorieren und pulte mit einer Schere an ihren Fingernägeln herum. Zwischendurch blickte sie mehrmals verstohlen auf. Ich blieb regungslos stehen und betrachtete ihr kugelförmiges Hütchen. Es war mit schwarz-weißen Sechsecken bestickt, die wahrscheinlich ein weltumspannendes Netzwerk symbolisieren sollten. Für mich sah es aus wie ein Fußball. Automatisch stellte sich bei mir ein gelangweilt abwartender Blick ein. Ich dachte an gar nichts. Denken stört beim Warten. Irgendwann stöhnte die Serviceassistentin mit dem Fußball auf dem Kopf erschöpft auf und nahm ein dreiseitiges Formular von einem Stapel. Desinteressiert fragte sie mich, welche Form mein Gepäckstück denn hatte.

Ich beschrieb ihr in neutralen Worten meinen Rucksack: Grün, groß, mit Strippen. Schon als das Wort Rucksack über meine Lippen kam, hörte sie auf meine Beschreibung zu stenographieren. »Namensschild?«, unterbrach sie mich. Ich zuckte mit den Schultern. Sie verdrehte die Augen entsetzlich und griff voller Abscheu nach dem Telefon, um die Verlader anzurufen. Ihr war in diesem Moment schon klar, dass mein Gepäck in der Zwischenzeit, über die komplette Landebahn verstreut lag. Ich hörte es in ihrer Stimme, als sie mit den Verladern sprach. Es schwang darin das einhellige Einverständnis mit, dass dies alles nicht passiert währe, wenn ich mir einen für den Flugurlaub zugelassenen und erprobten Hartschalenkoffer geleistet hätte, der über ein spezielles Klarsichtfeld für die Absenderadresse verfügt. Ich erwiderte ihren Blick ruhig, klapperte etwas mit den Zähnen und wartete geduldig darauf, bis ihre Befürchtungen von den Verladern bestätigt wurden. Es überraschte mich nicht.

Daraufhin ließ mich die kompetente Serviceassistentin mit dem Fußball auf dem Kopf das sechsseitige Formular zur Schadensmeldung selbst ausfüllen. Sie unterstützte mich indem sie ab und zu unverständlich mit dem Kopf schüttelte und an ihren Fingernägeln herumpulte. Ich brauchte recht lange zum Ausfüllen, da das Zittern meiner Hände beim Schreiben störte. In das letzte Feld für weitere Anmerkungen schrieb ich, dass mir das Werbeposter der Fluggesellschaft gefallen würde: Es erinnere mich an eine Servicewüste. Einen Kommentar über den Fußballhelm ersparte ich mir. Ich hätte lügen müssen, wenn ich geschrieben hätte, dass er mir gefällt. Ich mochte kein Fußball.

Die kompetente Serviceassistentin mit dem Fußball auf dem Kopf wies mich mit einem abfälligem Zucken ihres rechten Augenliedes und einem leichten Heben ihres linken Fingers noch darauf hin, wo ich unterschreiben müsse. Danach nahm sie all ihre Kraft zusammen und zerrte mir das Formular aus den Händen, um es auf einen Stapel mit vielen anderen zu klatschen. Erschöpft stöhnte sie auf und erklärte die Bearbeitung würde zwei Tage dauern. Das klappern meiner Zähne unterbrach nur zufällig meine Dankesworte. Sie schüttelte mit dem Kopf und warf mir hinterher, ich sollte mir doch was Wärmeres anziehen.

Eine halbe Stunde später saß ich in der Straßenbahn auf dem Weg nach Hause. Die Leute um mich herum amüsierten sich über mein sporadisches Zittern und hielten mich wahrscheinlich für einen verirrten amerikanischen Touristen, denn nur Amerikaner kommen auf die Idee, mitten im März ein T-Shirt zu tragen. Sie hatten offensichtlich alle dicke Jacken, Pullover und Mäntel an. Ich versuchte all die warmen Klamotten zu ignorieren und starrte fröstelnd aus dem Fenster.

Ich sog ein jedes Bild der Stadt ein, um es mit meiner Erinnerung zu vergleichen. Ich suchte in jedem Bild nach etwas Neuem, wie auf diesen Suchbildern aus den Zeitschriften, wo zehn Änderungen zu finden sind. Und genauso fand ich Kleinigkeiten die anders waren, doch das Bild, das sich mir eröffnete, blieb das gleiche. Es waren andere Leute auf der Straße, doch erinnerte ich mich auch gar nicht einzelner Gesichter. Es war die Art und Weise der Deutschen, wie sie geduldig an der Roten Ampel warteten, der immer so geschäftige Schritt und das seltene Lächeln, das mir vertraut erschien. Es hatte sich weder an der Art der Leute etwas geändert, noch an der Landschaft. Hier und da war ein Schild mehr, fehlte ein Baum, war eine Baustelle, aber immer noch gab es die Pflasterstraßen, Schlaglöcher und das vertraute Rattern der Straßenbahn. Der Mann aus dem Flugzeug hatte recht gehabt, es hatte sich nichts geändert. Das beruhigende Heimatgefühl verdrängte sogar die Kälte.

Als ich die Gartenpforte unserer alten Villa öffnete und sie freudig quietschte, umfing ein Lächeln mein Gesicht. Früher hat es mich immer genervt, doch heute war es mir ein schönes Geräusch. Auch die Löcher im Putz erschienen mir nun wie ein charakteristisches, fraktales Gemälde. Ich schritt genussvoll um das Haus, betrachtete es wie ein Kunstwerk. Der Wind hatte wieder einmal die Stange der Wäscheleine umgeworfen. Ich stellte sie auf und sammelte die heruntergefallenen Wäscheklammern auf und legte sie in ihren Korb. Zärtlich strich ich über das rostige Geländer der Terrasse. Es war kalt, aber diese Kälte störte mich nicht. Mit vollen Zügen zog ich den Duft des frisch erblühten Flieders unseres Vorgartens in mich auf. Die Bäume und Sträucher blühten gerade auf und ihr Grün war kräftig und frisch. Es schien mir alles so vertraut.

Als ich versuchte die Tür aufzuschließen, klemmte zu meiner Überraschung das Schloss. Niemand hatte mir gegenüber erwähnt, dass der Zylinder gewechselt worden war. Ich versuchte es noch einmal und dieses Mal kam mir der Widerstand des Schlosses bekannt vor. Eine Erinnerung an meine Abfahrt überkam mich:

Ich hatte bereits meinen schweren Rucksack aufgesetzt und ging durch den blau-gelben Flur zur Küchentür. Katja umarte mich ohne ein Wort zu sagen. Wir hatten uns bereits so oft verabschiedet. Maik stand vor dem Fenster in der Küche und zwinkert mir über Katjas Schulter zu, als wenn er mir nur einen schönen Abend wünschen wollte. Ich lächelte ihn tapfer an. Am liebsten hätte ich meine Klamotten wieder hingeworfen, um hier bei ihnen zu bleiben. Stattdessen drückte ich Katja fest an mich und sie knuffte mir aufmunternd in die Seite. Die Mittagsonne leuchtete hinter Maik hinein und die ganze Küche strahlte in einem kräftigen, orangenen Gelb. Als ich mich abwendete, spiegelte sich der silberne Kerzenleuchter in der Sonne. Es war das letzt Bild, das mir von unserer Küche blieb.

Ich zog die Haustür hinter mir ins Schloss und fuhr mit den Augen das Namensschild ab. Es war vergilbt und Regenwasser hatte den Klebestreifen aufgelöst. Als ich die Tür abschließen wollte, spürte ich für einen kurzen Moment eine widerstrebende Trägheit. Doch blieb ich stark und schloss ab.

Nun stand ich wieder vor der Eingangstür. Am Briefkasten klebte immer noch mein Name. Doch irgendjemand hatte das Schild ausgewechselt; neu und weiß strahlte es mich stolz an. Ich zog die Tür an mich heran und schloss mit ganzem Willen herum. Erkennend sprang das Schloss auf.

Als erstes begrüßten mich die Dielen knarrend. Ihr alter Geist war auch der einzige in der WG. Katja hatte bei unserem letzten Telefonat bereits angedeutet, dass wohl alle unterwegs sein würden. Es hätte mich gefreut, wenn zumindest einer die Zeit gefunden hätte, mich willkommen zu heißen, aber sie konnten halt nicht einfach ihre Pflichten ruhen lassen. Außerdem war ich vom Flug müde und ausgekühlt und wollte nur noch schlafen.

Bevor ich mich hinlegte, stöberte ich noch einmal durch die Wohnung. Es hatte sich kaum etwas getan, immer noch herrschte überall die natürliche Unordnung, die in meinen Augen der Wohnung Charakter verlieh. In der Küche erwartete mich der alte Kerzenleuchter, wie ich ihn in Erinnerung behalten hatte, mit den weit geschwungenen Armen und dem gesetzten Staub in den Wiegen. Die Wand wirkte blass in dem dämmrigen Licht, aber ihr orangener Ton war nicht zu verkennen.

Auf dem Küchentisch lag ein Zettel auf dem nicht mehr als ein kurzes ›Willkommen, Katja‹ vermerkt war. Ich lächelte. Katja – die bestorganisierteste, beste Freundin die man haben kann. Ohne sie währe ich wohl nie nach Singapur gekommen. Sie hatte mir die Praktikumsstelle über irgendwelchen obskuren Kontakte besorgt. Eines Tages meinte sie, ich soll mich dort bewerben – ein Geheimtipp. Als ich es nach zwei Wochen immer noch nicht getan hatte, hat sie meine Bewerbung abgesendet. Über die Bestätigung freute sie sich mehr als ich mich. Sie sah mich wohl schon als großen Bankmanager.

Im Nachhinein war es die richtige Entscheidung gewesen. Ich bin zwar nicht zum Management aufgestiegen, aber das Praktikum war gut gewesen. Und dann habe ich noch jemanden besonderes kennen gelernt. Tja – Katja traf immer die richtigen Entscheidungen.

Ein Lächeln zum Quietschen

Ein schmatzendes Geräusch weckte mich aus meinem Schlaf und holte mich in das nasskalte deutsche Leben zurück. Es hatte sich scheinbar in einem schleimigen Tropfen auf meiner Wange manifestiert. Ich kannte dieses Gefühl. Es erinnerte mich an die morgendliche Begrüßung meiner Mutter in meiner frühen Kindheit. Da ich dieser mit nunmehr 23 Jahren entwachsen und meine Mutter auch nicht in der Nähe war, konnte der Kuss nur von Katja herrühren. Ich hoffte zumindest es sei ihr Kuss, es könnte auch der nässende Schmatzer irgendeines Tieres sein. Bevor ich jedoch wagte, meine Augen zu öffnen, um meine im Halbschlaf aufgestellte Hypothese zu prüfen, begrüßte mich Katja verbal: »Hallo großer Weltreisender. Willkommen zurück.«

Beruhigt hob ich ein Augenlied und versuchte mit meiner wachen Gesichtshälfte ein halbes Lächeln zustande zu bringen. Die andere Hälfte meines Kopfes war noch tief im Kopfkissen versunken und hing seinen Erinnerungen von Palmen und Meer nach. Nach zwölf Stunden Flug hatte ich bis jetzt durchgeschlafen. Es mochte nun sechs Uhr am Abend sein. Doch nach meiner inneren Uhr war es bereits schon wieder um zwei Uhr in der Nacht. Ich hatte bestimmt nicht vor, so spät noch aufzustehen. Doch Katja hatte keine Nachsicht mit meinem Jetlag und kommentierte:

»Schön, dich in der gleichen verpennten Verfassung wieder zu finden wie früher.«

Ich war zu müde, um eine schlagfertige Antwort zu formulieren und gab ihr schweigend Recht. Meine Augen fiel ganz von alleine wieder zu und gerade als mein verträumter Geist seine Zehen auf warmen Sandstrand setzte, spürte ich Katjas Faust in meiner Seite. Ich öffnete das Auge vorwurfsvoll. Katja blickte unschuldig umher.

»Wie hast du es eigentlich geschafft, dein Zimmer in absolutes Chaos zu verwandeln, obwohl du gerade erst angekommen bist?«, fragte mich Katja. Ich verdrehte gepeinigt das wache Auge und sie konterte, indem sie mit keiner Wimper zuckte. Sie hatte eindeutig beschlossen, mich so lange zu provozieren, bis ich aufstehen würde, um ihr die Zeit zu vertreiben. Nun gut, ich sah meinen sozialen Pflichten als wohlerzogener Mitbewohner ins Auge und antwortete: »Ich find es auch toll, dass dir nix von deiner großen Klappe abhanden gekommen ist.«

Dann raffte ich mich aus dem Bett und lehnte mich schlaftrunken um Katja, die das hoffentlich als Umarmung auffasste. Doch anstatt mir Halt zu bieten, drückte sie mich zurück ins die Kissen.

»Ich glaub ich koch uns erstmal einen Kaffee und dann erzählst du mir alles, was du erlebt hast«, entgegnete Katja. Sie verschwand in der Küche und mich überkam ein zufriedenes Gefühl der Heimkehr. Es war schön Katja nach neun Monaten in Singapur wieder zu sehen. Ich hatte sie vermisst und sie schien sich in der Zeit meiner Abwesenheit kaum verändert zu haben. Noch immer hatte sie die kurzen roten Haare und ihre bestimmende Habe, mal von ihrer Klappe abgesehen. Doch war auch etwas anders. Ich sann darüber in meinem Bett nach, während Katja alleine in der Küche klapperte, bis mir auffiel, dass genau das anders war. Ich kannte Katja nicht ohne männliche Begleitung.

»Wo ist Maik?«, fragte ich laut und ging zu Katja in die Küche.

»Ach der wird wohl noch an der Uni sein.«

»Was ist los? Ihr habt doch sonst immer alles zusammen gemacht.«

»Ich hatte dir ja geschrieben, dass wir uns entschlossen haben, uns etwas Ruhe zu gönnen und uns nicht mehr so oft zu sehen.«

»Du hattest auch gesagt, das hätte euch geholfen.«

»Es entspricht vielmehr der Wahrheit, dass wir uns nicht mehr so oft auf die Nerven gehen, da wir uns seltener sehen. Lass uns nicht über unerfreuliche Dinge reden, erzähl mir lieber, was du erlebt hast.«

»Was gibt es da zu erzählen?«

»Du warst fast ein Jahr am Äquator und hast in einer Millionenstadt gelebt. Du willst mir doch nicht sagen, dass du dich daran nicht erinnern kannst?«

»Doch, aber da ist nichts passiert.«

»Nichts passiert? Was ist mit ›Ein Lächeln zum Quietschen‹?«

Bei ihren Worten durchfuhr mein Gesicht unweigerlich ein Lächeln, wie als Spiegel meiner Erinnerung. Meine Zunge wurde machtlos wie dazumal und stotterte: »War nett…«

»Nett? Er klang aber in deiner Beschreibung mehr als nur ›nett‹ und so wie du grinst, möchte ich jedes Detail erfahren.«

»Nun gut, wenn du es hören möchtest, dann setz dich hin. Es wird etwas länger dauern, aber beschwer dich nicht, du hättest alles schon vorher gewusst«, sagte ich zu Katja und schob sie an den Küchentisch. Feierlich zündete ich erst den alten Silberleuchter an, bevor ich zu erzählen begann: "Es war vielleicht zwei Monate nach meiner Ankunft in Singapur. Ich hatte mich gut an das geordnete Leben dort gewöhnt. Ich ging täglich pünktlich um 6:30 zu meiner Arbeit in der Bank, saß jeden Morgen neben der gleichen Frau im Bus, begrüßte meine Nachbarn in dem Büroteiler neben mir per Nachname, zog mir meine Bürouniform an und starrte auf den Bildschirm bis Punkt 19:30 Uhr. Dann traf ich mich auf dem Gang mit zwei anderen deutschen Praktikanten und wir fuhren gemeinsam in eine Teestube bei uns um die Ecke, um dort Karaokeshows im Fernsehen zu schauen.

Es begab sich an einem Samstagabend, als wir bei einer Tasse Jasmintee beschlossen, dem Trott ein spontanes aber nachhaltiges Ende zu bereiten. Wir wollten auf eine Party gehen und damit meinten wir keine gediegene Grillparty, mit Buffet und Anzugspflicht, sondern nicht mehr als eine schlichte Disko. Man mag zuerst vermuten, dass dies in einer modernen 4-Millionen-Stadt wie Singapur kein Problem darstellt. Doch sollte man die Welt nicht mit deutschen Augen sehen und in einer fremden Kultur werden alltägliche Dinge zur Besonderheit. So gab es zwar in Singapur Clubs und Bars, wo man hätten hingehen können. Doch wir waren den Standard europäischer Touristenfallen überdrüssig geworden und suchten eine ordentliche einheimische Disko. Einer von uns hatte gehört, dass eine wirklich große Disko sich in der Orchard Road befinden sollte. Das war die Haupteinkaufstraße der Stadt, in der sich ein riesiges klimatisiertes Kaufhaus an das nächste reihte. Damit man auch gar nicht Gefahr lief, zwischendurch der heißen Sonne ausgesetzt zu sein und die neu erstandenen Klamotten gleich wieder voll zu schwitzen, waren die Kaufhäuser alle mit gleichsam klimatisierten Tunneln und Übergängen verbunden.

In diesem Kaufhauskonsortium suchten wir nun eine riesige Disko. Wir dachten zuerst, das würde kein Problem darstellen, denn sie würde ja so viel Publikum anziehen, dass man sich eigentlich nur bei der U-Bahn-Station in die Masse der Leute einreihen muss, die dort hin strömten. Wir währen dabei rein theoretisch noch nicht einmal Gefahr gelaufen, von dem falschen Strom an Leuten erfasst und zum Beispiel zu einer Karaokegroßveranstaltung fortgeschwemmt zu werden, da in Singapur die Wege in der U-Bahn feinsäuberlich in Links- und Rechts-Verkehr mit Absperrbändern getrennt waren.

Nur leider hatten wir nicht damit gerechnet, dass der Ansturm auf die monströse Disko so gewaltig sein würde, dass wir letztendlich als Einzige an der MRT-Station ausstiegen. So standen wir vollkommen verlassen auf dem blassblau gekachelten Bahnsteig. Einzig das kontinuierliche Rauschen der Rolltreppe erzeugte ein Placebogefühl von Leben.

Wir schauten uns gegenseitig an. Ein jeder zuckte ahnungslos mit der Schulter. Keiner von uns hatte sich detaillierter nach dem genauen Standpunkt dieser gigantischen Disko informiert. Warum auch, denn wenn sie so exorbitant war, wie wir hofften, musste man sie ja von überall aus sehen. Diesem Impuls der Gewohnheit folgend, verließen wir die U-Bahn und stellten uns draußen in die Hitze der Orchard Road. In Deutschland hat jede noch so kleine Dorfdisko mindestens einen Flutscheinwerfer und solch ein exorbitant kolossale Disko, wie die, nach der wir suchten, würde sich mit einem Glimmlämpchen ja wohl kaum zufrieden geben. Wir sahen uns nach einer Batterie von Flutscheinwerfern um, die irgendwo in unserer Nähe den Himmel taghell erleuchten würde. Ein paar Autos fuhren vorbei, eine Leuchtreklame flackerte, ansonsten war es ruhig und vor allem dunkel auf der Orchard Road.

Ich beriet mich mit meinen Kollegen und wir trafen einhellig die Entscheidung – Durchhalten. Wir hatten uns doch nicht vollständig nutzlos in unsere sauteuren, wie angegossen sitzenden Polyamidkreationen gezwängt und unsere Haare mit Litern an Haarspray, Haargel und Finishern absolut luftdicht eingeschlossen, um all den Pomp in der lauschigen Teestube bei uns um die Ecke auszuführen und Karaokeshows im Fernsehen zu schauen. Wir sahen alle drei gleichsam nach Party aus, hatten alle drei gleich viel Bock auf Party und das einzige, das uns fehlte, war eine Party.

Wir irrten ungefähr eine dreiviertel Stunde auf der Orchard Road herum, ohne auch nur irgendwo ein Diskolämpchen aufblitzen zu sehen, einem Technokid zu begegnen oder irgendjemanden anderen in annähernd unserem Alter zu treffen, der unser Anliegen hätte verstehen können. Es sei erklärend angefügt, dass ein älterer Einheimischer unter den Begriff Disko eine große Karaokebar verstanden hätte. Singapurianer haben im Allgemeinen unter dem Begriff Spaß ein komplett anderes Weltbild als wir. So finde ich Karaokewettbewerbe in Stadien nicht lustig, sie schon.

Nach einer dreiviertel Stunde gaben wir letztendlich doch auf. Vollgeschwitzt wie wir waren, wollten wir uns nur noch das nächstbeste Taxi krallen und zu der lauschigen Teestube bei uns um die Ecke fahren, um die ganze Nacht Karaokeshows im Fernsehen anzusehen. Als ob Murphy, der moderne Gott des Schicksals, uns unsere niedere Leibeigenschaft vorführen wollte, bremste in diesem Moment vor uns abrupt ein Taxi. In meinen Ohren klang das Quietschen der Räder wie höhnendes Gelächter.

Die Türen des Taxis öffneten sich synchron wie Triumphtore und drei Prinzessinnen entstiegen ihm, als sei es Cinderellas magische Kutsche per se. Sie missachteten uns vollkommen in unseren vollgeschwitzten Klamotten und schritten zielstrebig an uns vorbei auf ein Gebäude zu. Ihre Stöckelschritte hallten wie Trommeln über die ruhige Orchad Road, ihre kurzen Röcke wehten im lauen Wind und ihre Handtaschen passten perfekt. Perplex schauten wir zwischen ihren musengleichen Gestalten und der wartenden Fahrergestallt in dem nunmehr dunklen, abgefuckten Taxiraum hin und her. Wir hatten die Wahl zwischen lebenslanger Karaokeshow in der lauschigen Teestube bei uns um die Ecke und der noch so wagen Hoffnung, dass die Mädels zu etwas partyähnlichen gingen.

Wir rannten ihnen sofort hinterher. Zumindest taten wir das, was man als Rennen bezeichnet in einer tropischen Klimazone. Als Mitteleuropäer mag man unter Rennen verstehen, hundert Meter in zehn Sekunden hinter sich zu lassen. In Singapur nennt man das rechtmäßig Selbstmord. Das lernt man bereits am ersten Tag nach der Ankunft. Zuerst ist man noch tierisch angenervt, dass sich die Einheimischen geradezu schleichend vorwärts bewegen und überholt sie noch jung-dynamisch auf der Gegenspur des zweigeteilten Fußgängerweges. Dass man innerhalb von fünf Sekunden seinen kompletten Körperwassergehalt in die Kleidung transpiriert hat, führt man dabei noch auf den Klimawechsel zurück. Nachdem man am Abend dann absolut dehydriert aber mit wasserquietschenden Schuhen in sein Bett fällt, gewinnt man im Fieberwahn die Einsicht, dass die Beschleunigung der MTV-Generation und der Management-Aktionismus nicht komplett an einem westlich orientierten Volk vorbei gegangen sein kann. Also musste die träge Bewegung im darwinistischen Sinne ein Überlebensvorteil bieten. Am zweiten Tag schleicht man probeweise genauso wie die Einheimischen herum und siehe da, man schwitzt nicht mehr, so lange man nicht wagt, die Hand übereilt zu heben oder die Schleichgeschwindigkeit auch nur minimalst zu erhöhen. Deshalb blieb unser Rennen vergleichbar mit mitteleuropäischer Schrittgeschwindigkeit. Sofort begann uns das Wasser aus den Poren zu schießen. Doch opferten wir männlich die wenigen Schweißtropfen in der Erwartung auf eine geile Party.

Wir holten zu den Mädels, die sich mit der landestypischen Trägheit bewegten, langsam auf. Ich wunderte mich etwas, dass alle drei kurze Haare hatten. Das ist in Singapur ungefähr genauso untypisch, wie bei uns Männer in Röcken und grenzt an kulturelle Revolution. Doch beachtete ich es nicht weiter, da die singapurianische Jugend sowieso gerade dem James Dean Revolutionismus und der sexuellen Befreiung erlagen, die Mitteleuropa schon in den Siebzigern überrollt hatten. Da Singapur eine reiche Stadt war, schlug sich dieses Aufbegehren in Stylish-Punks nieder. Dazu zählten schon Jugendliche, der mehr als zwei Ohrringe in einem Ohr hatten oder eben kurze Haare. Mir war die Frisur der Mädels vollkommen egal. Ich freute mich vielmehr, auf die absolut geilste Party, die wir gleich erleben würden.

Die Mädels verschwanden in einem Eingang eines Kaufhauses und wir folgten ihnen dicht auf. Sie nahmen einen Fahrstuhl und wir stopften uns nett grinsend mit hinein. Alle drei ignorierte uns eisern. Ich stutzte für einen Moment, da mir das seltsam erschien, doch da piepte die Ansage des Fahrstuhles und die Tür öffnete sich – zum Parkdeck. Wir waren irgendwo im sechsten Stock des Kaufhauses und es verwunderte mich nicht wirklich, gerade hier das Parkdeck zu finden. Ich hatte genug Zeit in Singapur verbracht, um noch irgendwelche sinntreibenden Fragen in solch einer fremden Kultur zu stellen.

Es bestand dazu auch keine Möglichkeit, da die drei Mädels bereits aus dem Fahrstuhl spaziert waren und zielstrebig um die Autos herumkreuzten. Leicht irritiert aber immer noch in der Hoffnung eine absolut obergeile Party zu finden, dackelten wir ihnen in unauffälligem Abstand hinterher. Wir gaben uns dabei Mühe so normal wie möglich zu wirken und keinesfalls den Eindruck zu erwecken, dass wir die Mädels verfolgten. Wir waren in einem anständigen Land, in dem man für sexuelle Belästigung schnell mal verhaftet wird, da man sie kaum widerlegen kann. Nichtsdestotrotz waren unsere Vertuschungsbemühungen natürlich idiotisch, da wir neben den Mädels die Einzigen auf dem ganzen Parkdeck waren und niemandem hätten glaubhaft erklären können, dass wir unser Auto zufälligerweise genau neben dem ihren geparkt hatten. Zum einen hatten wir gar kein Auto und zum anderen noch nicht einmal die horrenden Summen an Geld die in Singapur notwendig sind, sich neben den überteuerten Wagen auch noch eine nicht weniger kostspielige Lizenz zu leisten. Aber die Mädels schienen weder Anstoß an unserem finanziellen Unvermögen zu finden, noch daran, dass wir ihnen offensichtlich folgten.

Wir schlenderten ihnen pfeifend zu einer Rampe nach, die eine Etage hoch führte und von dort an bis zu einer verkratzten und beschmierten Blechtür. Die Mädels verschwanden hinter der Tür. Wir blieben unschlüssig davor stehen.

Es sah hier ganz und gar nicht nach absolut oberaffengeiler Party aus.

Zumindest fühlten wir uns heimisch zwischen den Autos. Überall standen Mercedes, BMWs, Audis und Volkswagen. Bereits zuvor hatten wir die feste Überzeugung gewonnen, dass Singapur den höchsten Anteil an deutschen Markenkarossen besaß. Das war langfristig positiv für die deutsche Wirtschaft zu bewerten, aber kurzfristig zauberte es uns keine absolut hammermäßige, oberaffengeile Party auf dieses Parkdeck.

Wir wollten gerade umkehren und uns ein Taxi suchen, dass uns zu unserer lauschigen Teestube bei uns um die Ecke mit lebenslanger 24h-Dauer-Karaokeshows zurück bringen würde, als die Blechtür sich ein weiteres Mal öffnete. Ein junger Typ mit Sonnenbrille, Zigarette und keck in die Stirn geworfener Locke ging an uns vorbei. Auch wenn dieses Parkdeck keine absolut hammermäßig oberaffengeile 24h-Dauer-Party versprach, der Typ machte eindeutig den Anschein von einer solchen zu kommen. Er war so cool, dass er uns keines Blickes würdigte. Das war auch verständlich, denn wenn er versucht hätte seinen Kopf auch nur etwas zu uns herum zu drehen, wäre seine Frisur in ihre atomaren Einzelteile zerbröckelt.

Somit bestärkt wagten wir es, durch die Tür zu treten und fanden uns wieder in einem zehn Quadratmeterraum der komplett in Rot gefasst und mit Edelstahl-Platten ausgelegt war. Dumpfer Bass dröhnte hinter der nächsten schwarzen Doppeltür hervor. Vor ihr wurzelte ein schwarzer Zwei-Meter-Riese mit ebenso breitem Kreuz, schwarzem engen Anzug, tiefschwarzer Sonnenbrille und schwarzem Knopf im Ohr. Er zuckte mit keinem Muskel als wir rein kamen.

Wir ließen uns davon nicht irritieren. Ein jeder von uns dreien war bereist und lange genug auf dieser Welt gewesen, um zu wissen, wie man global mit Türstehern umgehen muss. So wie das Aussehen und die Körpermaße eines Bouncer in irgendeiner ISO-Norm weltweit standardisiert zu sein scheinen, so ist auch der Umgang mit ihnen globalisiert.

Fragt man sie höflichst, ob man die Tür, die sie mit ihren breiten Schultern wie Kolosse zu stützen scheinen, durchschreiten darf, dann drehen sie ihren Kopf minuziös bis ihr Nacken knackt und sagen:

›Isch kenn disch ned.‹

Es ist dabei völlig irrelevant in welcher Sprache man sie angesprochen hat und in welcher sie antworten, ihre Antwort klingt immer homophon. Als ob sie, gleichermaßen global standardisiert, aus ein und demselben tiefen Vulkankrater heraufgesickert ist, um nur das wahre Unheil anzudeuten, das einem ereilt, wenn man nicht schnell genug fort kommt.

Fragt man jedoch nicht und ist der coolste Ober-Affen-Macho-Arsch, den es auf dieser Welt gibt, dann machen sie kein Problem und halten einem noch die Tür auf. Wahrscheinlich möchte einfach keine Disko, Kneipe oder was auch immer sich einen ISO-zertifizierten Bullbeißer vor die Tür stellt, nette Gäste haben. Arschlöscher sind überall willkommen, doch nette Menschen will man nur in Schachclubs.

Also rollten wir als erstes lockernd mit der Schulter und gingen dann im breitbeinigen John Wayne Schritt auf ihn zu. Wichtig ist, dass man in solch einem Moment allumfassende Weisheit verströmt. Es muss sichtbar sein, dass man ein klares Ziel hat und einen niemand dorthin aufhalten kann. Ich stellte mir also vor, ich stände auf der Straße einer verlassenen Westernstadt. Der Wind spielte mit dem Sand auf dem Boden und ein Strohkranz rollt durch das Bild vor meinem inneren Auge. Für einen Moment dachte ich darüber nach, weshalb durch Westernstädte immer nur eine Straße führt und wie dann das amerikatypische Straßen-Karo entstehen konnte, doch brachte dieser logische Gedankengang sofort meine Aura ins wanken und ich strauchelte. Also Konzentration zurück auf die Straße, an dessen anderem Ende ein schwarzer, schwarzgekleideter mit Sonnenbrille und Knopf im Ohr versehener Cowboy stand. Hinter ihm ging die Wüste nahtlos in einen titanischen, hyperdimensionalen, oberaffengeilen Diskotempel über. Doch konnte ich ihn nur betreten, wenn ich an diesem böswilligen Cowboy lebendig vorbei kam. Für mich war selbstverständlich, dass er abgrundtief bösartig war, denn er trug Schwarz und eine Sonnenbrille. Da ich im Schießen eine absolute Niete war und mein Revolver nur als passendes modisches Accessoire bei mir führte, besaß ich nur eine Chance: Ich musste mehr Cowboy, mehr Mann, mehr Neandertaler sein als er – schlussendlich ich musste Cooler sein als er. Solch eine intrinsische Coolness kann man nur verkörpern, wenn man sie tief verinnerlicht hat. Man muss regelrecht selbst zur Inkarnation der Coolheit werden und somit zu der unumstößlichen Überzeugung kommen, dass der Rest der Welt trivial und die Menschen nur primitive Affen sind. Ich reduzierte somit meine Furcht mitsamt jeglicher anderen Emotion auf ein schwarzes Loch inmitten meiner Seele. Durch das entstandende emotionale Vakuum gefror, entsprechend dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik, simultan der Spiegel der Seele – meine Puppille – und machte meine Unantastbarkeit für jeden weithin sichtbar. Obwohl der Cowboy eine schwarze Sonnenbrille trug, was nur ein fieser Taschenspielertrick war, sah ich an dem Zittern seiner Halsmuskulatur, dass er sich vor mir zunehmend fürchtete.

Als ich ihn dann passierte, schnellte seine linke Hand empor, griff nach der Türklinke und zog die schwarze Doppeltür auf. Wir gingen genauso regungslos an ihm vorbei, wie der Blick war, mit dem er uns bedachte. Diesen Moment muss man voll Taktgefühl passieren, denn man darf dem Türsteher weder danken, was ein Zeichen von Nettigkeit ist, wodurch Klausel eins in Kraft tritt, noch sollte man ihm ein Siegerlächeln präsentieren, denn dann könnte er sich voll gekränkter Männlichkeit seiner Muskeln erinnern und einen am Kragen herauszerren.

Hinter der zweiten Doppeltür hörten wir nun deutlich die House-Musik, die sich wohl zwei Räume tiefer erstreckte. Derzeit befanden wir uns noch in einem langen schlauchförmigen Gang, der im leichten Linksdrall nach unten führte. An den Seiten war er mit purpurnem Samt bezogen und hier und da hingen Spiegel in kitschigen Goldrahmen. Wir folgten dem Schlauch und kamen zu einer Couchecke, in der lauter megacoole Asiaten saßen und uns lässig beobachteten. Natürlich schauten sie uns nicht wirklich an, denn mit solch einer Weltlichkeit umzugehen, waren ihre in Coolness emotional ertränkten, aber dafür universal erschlossenen Geister, gar nicht in der Lage. Wir schauten ebenfalls nur zufällig an ihnen vorbei und bewegten uns im Geiste auf einer metaphorischen Ebene, die der ihren noch um Lichtjahre überlegen war. So nah am Eingang waren noch alle in ihrer coolen Weltsicht gefangen und so ließen wir sie in ihrer profanen Chaiselongue links liegen. Wir durchschritten eine weitere Doppeltür und vor uns öffnete sich der große Diskosaal.

Er schien eigens meinen Erwartungen entstiegen zu sein, um hier auf diesem Parkdeck manifestiert, meiner Ankunft zu harren. Die Tanzfläche wurde von einer Empore umringt, von der aus wir auf das ausgelassen tanzende Volk hinab sahen. Die Wände waren in nachtblauem Ton gestrichen, wodurch der Raum sich in Unendlichkeit auszudehnen schien. Zentriert wurden sie von einem riesigen neonfarbenden Zeusbild, das im Schwarzlicht unsichtbarer Scheinwerfer wie von innen zu leuchten schien. In der Mitte der Tanzfläche erhob sich das DJ-Pult, wo dieser nicht nur gut auflegte, sondern engagiert selbst mixte und eine Musik kreierte, die einer Einordnung widersprach, da sie das Beste aus allen Stilrichtungen vereinte. Allem oblag ein Hauch von Extravaganz. Es gefiel mir auf Anhieb.

Entsprechend ergriffen schritt ich mondän die Treppe zur Tanzfläche hinunter, wie wohl einst Cäsar nach seiner Rückkehr aus Gallien die Stufen des römischen Senates nahm. Dummerweise stolperte ich auf der Letzten und versaute mir somit meinen triumphalen Einzug. Zum Glück bekam es niemand mit, da mich keiner auch nur eines Blickes würdigte. Vielleicht entsprach die Disko doch nicht ganz meinen Träumen, ansonsten hätte es so was nicht gegeben.

Die allgegenwärtige Goute schlug sich leider auch in den Preisen nieder. Wir waren in einem der absoluten Nobelclubs gelandet. Wer sonst konnte es sich leisten, seinen Laden inmitten eines Parkdecks aufzumachen? Damit ging man quasi davon aus, dass die Kundschaft mit dem Auto kam und reduzierte sich in Singapur zwangsläufig auf die Oberschicht. Zum Glück war gerade Happy-Hour und ein jeder von uns leistete sich zwei get-two-for-one Strawberry-Margarita, weil sie einfach so super zu Sommer, Sonne und Strand passten. Wir setzten uns an einen Tisch auf der Empore und schauten auf die tanzenden Leute hinab.

Das Publikum hatte sich fabulös herausgeputzt und glich einer dem Ecstasy verfallenen Modenshow. So wie am Eingang die Coolheit diktatorisch regierte, hatte sich auf der Tanzfläche der anarchische Tanz durchgesetzt. Die ganze Tanzfläche schien der Musik in spastischen Zuckungen zu gehorchen und ihr genauso zu widersprechen. Ich erlag dem Anblick, der vom flackernden Diskolicht grotesk eingefroren fraktalen Formen, wie einem Rausch.

Meine beiden Begleiter hatten sich etwas zurückgezogen und flüsterten herum. Irgendwann nachdem ich den ersten Margarita geleert hatte und der zweite fast aufgetaut war, sprach mich Stefan dezent an und flüsterte mir auf Deutsch, damit es keiner verstand, ins Ohr: ›Sag mal Jean-Pierre, kann es sein, dass wir hier auf einer schwulen Party sind?‹

Ich schaute ihn überrascht an, spähte in das Publikum und antwortete äußerst überzeugt: ›Nee!‹

Er nickte, als ob er sich das auch gedacht hatte – die typische Reaktion eines Studenten, auf eine widersprechende Antwort. Ich fragte ihn nach dem Grund seiner Bedenken.

›Ich dachte ja nur wegen der ganzen aufgestylten Jungs.‹

Ich sah mich noch einmal um und stellte fest, dass es wirklich nur wenige Frauen gab, um nicht zu sagen, dass die drei kurzhaarigen Mädels die uns hergeführt hatten, die einzigen waren. In diesem Moment erinnerte ich mich meines seltsamen Gefühles im Fahrstuhl und begann im Geiste zu kombinieren:

a) Die drei Mädels hatten eine Kurzhaarfrisur.

b) Sie fühlten sich von unserer Verfolgung nicht bedroht.

c) Sie taten regelrecht so, als ob Männer nicht existent wären.

Alle Indizien deuteten darauf hin, dass diese drei Mädels lesbisch waren. Doch ließ ich mich davon noch nicht überzeugen. Bloß weil die einzigen drei Mädels möglicherweise lesbisch waren, hieß es noch lange nicht, dass die restlichen Anwesenden schwul waren. Ich war so darauf fixiert, in eine normale, einheimische Disko zu gehen, dass ich zweifelsfrei antwortete: ›Das ist bei den Singapurianern nun mal so. Sogar bei ihren Schuluniformen legen sie viel Wert auf Ordentlichkeit. Da werden sie sich, wenn sie mal in eine Disko gehen, ja wohl erst recht in Schale werfen. Immerhin sind wir nicht minder aufgestylt.‹

Meine Argumentation schien mir sehr schlüssig. Es war typisch für Singapurianer, dass sie alles perfekter machen wollten als die westliche Gesellschaft. So war es kaum verwunderlich, dass sie überprächtiger, überstylter und übercooler waren als der durchschnittliche, dekadente Deutsche. Doch trotz all der luxuriösen Monturen, den tadellosen Frisuren und den coolen Allüren wirkten sie unecht. Mir war, als ob in ihnen immer noch der prüde erzogene Schüler steckte. Sie hatten lediglich ihre Uniform getauscht, gegen ein pompöses Kostüm voll Partylaune. Und so wie sie heute Spaß konsumierten wie Poppkorn, würden sie morgen wieder den Pfeilen auf dem Fußgängerweg folgen.

Doch in dem Moment als ich meinen Satz beendete, passierte eine Feenfigur unseren Tisch und alle Blicke hafteten sich an ihre magische Gestalt. Ihre Bewegung glich weder einem Gehen, noch einem Schleichen, geschweige denn einem Rennen: Nein, sie schwebte. Nur um uns nicht zu irritieren, bewegte sie dabei ihre Beine. Zudem wackelte sie so betont mit den Hüften, als ob sie in einem unsichtbaren Hulahupreifen gefangen waren und wedelte mit den Händchen, als würde sie fünf silberne Bälle gleichzeitig jonglieren. Doch war es nicht diese Artistik, die unsere Aufmerksamkeit auf sich zog. Was ein jeder von uns fixierte, war ein goldenes Pailletten-Top, das sie über ihre Brust gestreift hatte. Es reichte nur bis knapp über den Bauchnabel, so dass als Tüpfel auf dem I ein jeder den Brillianten in ihrem Piercing blinken sehen konnte. In diesem Moment fing auch ich an, etwas an meiner so eben getroffenen Aussage zu zweifeln. Ehrlich gesagt, der ganze Glamour schrie mir geradezu die Lüge in das Gesicht. Der Strawberry-Margarita gefror vor Entsetzen in meiner Hand. Stefan fragte, was ich nicht zu denken wagte: ›War das ein Mann?‹

Ich antwortete nicht. In diesem Moment erlitt ich einen Nervenzusammenbruch. Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, was in der nächsten viertel Stunde passierte. Ich weiß nur noch, dass meine Gedanken, um den Vorwurf rotierten, dass ich bereits seit einer Ewigkeit in einem Homo-Schuppen saß, umgeben von hunderten Schwulen und keiner einzigen heterosexuellen Frau – und ich hatte es nicht gerafft. Ich zweifelte an meiner Sexualität an sich. Das konnte alles nicht wahr sein.

Nach dieser viertel Stunde tiefer Sinnkrise und drei leeren Margaritagläsern, die mich spöttelnd anstarrten, hatte ich mich wieder etwas beruhigt. Zumindest sahen die Probleme der Welt etwas verschwommener aus. Ich war zu der Überzeugung gekommen, dass mit mir alles in bester Ordnung war. Denn ich saß gar nicht in einem schwulen Club, sondern nur in einem Laden mit einem minimalem Überhang an Jungs, die geringfügig dazu neigten, overdressed zu sein und nur engumschlungen miteinander tanzten, weil sie bereits schon bei ihrer Geburt in nebeneinander liegenden Kreissälen entbunden worden waren und als erstes auf dieser Welt den Schrei des anderen vernommen hatten und somit durch das Schicksal in einer übernatürlichen Freundschaft verbunden waren. Sogar meine beiden Begleiter schien ich einigermaßen von meiner Meinung überzeugt zu haben, obwohl sie an der letzten Erklärung leichten Zweifel hegten.

Ich ließ mich davon jedoch nicht verunsichern und begann wieder, mich beruhigt umzuschauen. Da beendete der DJ auf einmal die Musik. Neben ihm war die asiatische Kopie von Austin Powers auf das Mischpult gesprungen, komplett im roten Samtanzug, weißem Rüschenhemd und aufgeklebtem Brusthaartoupet. Er griff emphatisch elegant, wie es Austin eigen war, nach dem Mikro und kündigte mit dramatisch bebender Stimme an: ›Welcome'la everybody'la to the greatest'la birthday party ever'la of five years'la gay and lesbian pride'la in Singapur. And now observe and admire the finalists'la of the sweetest'la boys ever'la in our singaporian beauty contest.‹

Mit seinem letzten Wort explodierten am anderen Ende des Saales unter dem Zeuskopf mehrere Feuerwerkskörper und während sie niederbrannten, fuhr aus der Empore automatisch ein Laufsteg zu dem DJ Pult herüber.

Simultan implodierte mein heterosexuelles Weltbild. Ich griff nach Stefans Margaritaglas und leerte es mit einem Zug. Das zerstochene Eis beruhigt meine Nerven und machte es für mich einfacher zu akzeptieren, dass ich in einem schwulen Club saß. Hasserfüllt starrte ich Austin Powers an und hoffte darauf, dass er sich nur einmal zu mir umdrehen würde, damit ich ihn mit meinem alldurchdringenden Laserblick augenblicklich in das drogenzersetzte Nineteensixtynine-Nirvana zurück befördern konnte, dem er entstammte. Er tat es nicht, sondern begann, als der Laufsteg ausgefahren war, die Show zu moderieren. Er redete dabei in typischen Singisch, einer Abwandlung des Englischen mit starkem chinesischem Akzent und einem obskurem ›'la‹ das man überall einstreuen konnte, wo es einem gefiel und dem gar keine bis zu einer philosophischen, allsagenden Bedeutung zukam.

Zuerst begann das Finale des Schönheitswettbewerbes mit einer Anzugs-Runde. Normalerweise ist es bei Schönheitswettbewerben eher amüsant, wer sich alles zu solch einem Wettbewerb traut und somit von seiner eigenen Schönheit überzeugt zu sein scheint. In diesem Fall jedoch musste ich zugeben, dass es bei einigen höchstens zur Debatte stand, weshalb sie noch nicht Mister Universum waren. Das Angebot reichte vom muskelbepackten Conan-Klon, über den romantischen Romeo, den coolen Casanova, bis hin zum namenlosen Jungen von Nebenan. Obwohl alle Kandidaten einen schwarzen Anzug mit einem weißen Hemd trugen, wiederholten sich die Teilnehmer nicht, sondern ein jeder verdeutlichte in seiner Körperhaltung einen spezifischen Charakter.

Die Vollendung erreichten sie in der Streetware-Runde im Anschluss. Nun sollte jeder das tragen, was ihm heimisch war. So marschierte der Conan-Klon in schwarzen Lederhosen auf, der Romeo wandelte in einem bequemen Leinengewand über den Laufsteg und der Casanova promenierte in einem engen Glitterdress.

Meine Begleiter schienen Gefallen an der Show zu finden. Sie stierten jedenfalls nicht minder interessiert auf die Kandidaten, wie der ganze Rest des Publikums. Als in der nächsten Runde die obligatorische Bademode angesagt war, fingen sie lauthals an zu jubeln und auf zwei Fingern zu pfeifen. Ich begann schwere Bedenken an ihrer geäußerten heterosexuellen Präferenz zu hegen.

Nach der Bademoden-Runde folgte die Wahl. Es fiel mir schwer, mich auf einen der vorgestellten Charaktere festzulegen. Meine beiden Begleiter hatten diesbezüglich keine Probleme, sie rissen dem Nummernmädchen – der Paillettenfee – die Stimmzettel aus der Hand, füllten sie schmierend aus und stopften sie ihr fast noch in den Ausschnitt zurück. Ich erbot mir noch etwas Zeit und überlegte mittels Ausschlussverfahren.

Conan ist zwar die Männlichkeit in Person, mir aber zu sehr Neandertaler. Casanova mag schön für eine Nacht sein, doch danach ruft er nie wieder an. Romeo ist herzerweichend, aber neigt zu suizidem Verhalten. Somit blieb mir nur der Typ von Nebenan, an dem es nichts auszusetzen gab, weil man ihn nicht kannte.

Ich erinnerte mich eines Jungen, der immer recht weit hinten gestanden hatte. Er besaß eine hellbraune Haut, tiefschwarze Haare und einen unbedeutenden Gesichtsschnitt. Er war mir erst beim zweiten Durchlauf aufgefallen, als meine Augen über die Kandidaten strichen und ihn bereits überspringen wollten. Er trug eine abgewetzte Jeans und ein graues T-Shirt. Er war von Kopf bis Fuß nichts Besonderes. Doch da lifteten sich seine Wangen zu einem koketten Grinsen, das einer Person im Publikum geweiht war. In seinen Mundwinkeln bildeten sich Grübchen und ehrliche Wärme war in seinem ganzen Antlitz zu lesen. Sie stach so sehr aus dieser künstlichen Atmosphäre des ganzen Saales heraus, dass ich selbst schmunzeln musste. Doch bevor ich seinen Ausdruck memorieren konnte, verflog das Grinsen auch schon wieder und sein Gesicht glitt in seine aussagelose Grundform zurück.

Er war sicherlich nicht der Schönste unter den Kandidaten, doch machte ich mein Kreuz mit absoluter Überzeugung bei ihm. Ich gab meinen Stimmzettel ab und wartete auf die Auswertung. Die Zeit bis dahin schien Austin Powers uns mit seinem singischem Singsang füllen zu wollen. Als er anfing uns Witze über die Einrichtung seines Wohnzimmers zu erzählen, verspürte ich schnell das Bedürfnis auf Toilette gehen zu müssen. Also stand ich auf und schritt Richtung der dunklen Ecke, wo immer wieder Leute eilig verschwanden und mit ihren Händen am Hosenstall beruhigt zurückkamen. Wer dort nun einen Darkroom erwartet, immerhin war dies ein schwuler Club, hat die gesitteten singapurianischen Grundprinzipien immer noch nicht verstanden.

Der Refreshing Roomwar genauso wie der Empfangsraum in Rot und Edelstahl ausgeführt, mal von den toilettentypischen Komfortartikeln abgesehen. Es gab dort sogar einen identisch gekleideten Türsteher. Er war lediglich kleiner von seinen Ausmaßen und trug anstatt der Sonnenbrille und des Knopfes im Ohr ein Papier-Handtuch in seiner Hand. Ich war mir zuerst über seine Funktion leicht im Unklaren, da er zwischen Waschbecken und Pissoir stand und gerade letzteres, insbesondere die davor stehenden Nutznießer, sorgsam überwachte. Ich stellte mich sicherheitshalber so, dass er keine Details von mir zu sehen bekam und spürte seine missbilligenden Augen in meinem Rücken. Als ich fertig war und mich umdrehte, bedachte er mich dem befremdet-abfälligen Blick, den eigentlich nur die Hunde der Queen von ihrem Butler kennen, wenn sie ausnahmsweise auf den Rasen gemacht haben, statt immer nur neben ihn. Ich ließ mich davon jedoch nicht beeindrucken, da ich der gesitteten Toilettenbenutzung schon seit einigen Jahren vertraut war und ging zum Waschbecken, um mir die Hände zu säubern. Ich ließ mir dabei ausreichend Zeit, nahm extra viel Seife und konnte es nicht vermeiden, ordentlich herumzusiffen. Als meine Hände dann tropfend nass waren, hielt ich sie dem Handtuchhalter hin und ließ mir dankend ein Handtuch reichen. Er drehte sich mechanisch zu dem Automaten in seinem Rücken um und riss ein neues ab, welches ich mir auch geben lies. Nach dem vierten oder fünften Handtuch, waren meine Hände dann zu meiner Zufriedenheit trocken. Ich verließ die Toilette mit dem befriedigenden Gedanken an meinem vielleicht doch nicht so schlechten Praktikumsplatz mit einem eigenen Schreibtisch in einem Büroteiler in der 32. Etage inmitten der Skyline von Singapur.

In der Zwischenzeit war die Auszählung beendet und Austin Powers kündigte gerade die Gewinner an. Es überraschte mich nicht, dass mein Kandidat nicht den Siegerpreis gewann, sondern einer der Romeos. Was mich verblüffte, war, dass er den dritten Platz ergatterte, was er mit einem schüchternen Lächeln quittierte.

Sofort nach der Siegerehrung riss der DJ die Aufmerksamkeit wieder an sich und begann seine magische Musik zu machen. Ich stand gerade noch an der Toilette und fühlte mich nach vier Margaritas in absoluter Tanzstimmung. Also stolperte ich sofort die Treppe hinunter auf die Tanzfläche und als ich unten ankam, war diese schon prall gefüllt. Ein weiteres eindeutiges Indiz dafür, dass dies eine Schwulenparty war. Ich verstand immer noch nicht so recht, weshalb ich das nicht von Anfang an gerafft hatte. Ich hatte vor Singapur fünf Jahre in der deutschen schwulen Szene gelebt und war der festen Überzeugung gewesen, dass diese Erfahrung ausreicht, um überall auf dieser Welt eine Schwester fünf Meilen gegen den Wind zu riechen. Doch hier in Singapur hat mein schwuler Spürsinn das erste Mal vollends versagt. Vielleicht lag es daran, dass es an jeder Straßenecke nach Durians roch, der so genannten Königin der Früchte, die dennoch stank, wie in Terpentin aufgelöster alter Käse. Ihr penetranter Geruch übertünchte jede feine Note, die einem sonst vertraut sind. Vielleicht waren zehn Jahre drohende Gefängnisstrafe für Homosexualität genug, seine eigene Sexualität aus seinen Gedanken zu verbannen und in regelmäßiger Arbeit zu ersticken. Doch das war mir nun egal. Ich wollte Spaß haben. Ich wollte tanzen und ich tanzte.

Für eine Zeit lang driftete ich auf der Melodie der Musik und stellte meinen Körper als Membran für die Bässe zur Verfügung. Ich genoss es einfach, jetzt – gerade hier – an diesem Ort zu sein, die Musik in meinen Ohren zu hören und die Anwesenheit der Leute um mich zu fühlen. Auch wenn sie mir alle so vollkommen fremdartig schienen, im Tanz mit ihnen vereint, verspürte ich eine Empfindung, die ich lange gemisst hatte. Das Gefühl in einer Gemeinschaft aufgenommen zu sein. In diesem Fall war es eine schwule Community, aber eigentlich ist es egal ob sie homo, hetero, bi oder irgendwas ist. Entscheidend bleibt, dass einen etwas emotionales mit ihr verbindet, sei es das Engagement, die gemeinsame Erfahrung oder einfach nur die Einmaligkeit des Momentes. In diesem ganz besonderen Fall, war es das Gefühl von gleich fühlenden Menschen umgeben zu sein und dass ich meine Augen vor ihnen verschließen konnte, um den Puls zu spüren, der uns alle verband.

Ich war ekstatisch, tanzte und lächelte vor mich hin. Ich griente bei jeder Höhe der Musik, die meine Ohren kitzelte. Ich öffnete meine Augen und der Junge von Nebenan stand vor mir. Seine Lippen hoben sich zu einem Grinsen. Seine Grübchen gruben sich in sein Backen. Und wie nach einer Eklipse öffnete sich sein Mund und seine perlweißen Zähne strahlten zwischen seinen dunklen Lippen hindurch.

Ich quietschte."

Katja brach in schallendes Gelächter aus und fiel fast vom Stuhl. Ich schaute sie vorwurfsvoll an, immerhin hatte ich mir den Mund fusselig geredet und den einzigen Dank, den sie mir zollte, war kreischendes Gelächter.

»Du hast gequietscht?«, fragte sie, nachdem sie sich einiger Maßen beruhigt hatte.

»Ja«, sagte ich und sie prustete wieder los. Ich beobachtet sie und lachte nicht. Für mich war mein Quietschen selbstverständlich. Ich versuchte es zu erklären: »Das ist mir vorher ja auch noch nie passiert, aber die Musik, das Tanzen, die Community, das alles hat mich total aufgeputscht. Und als dann dieser Typ vor mir stand mit seinem ehrlichem, warmen Grinsen und seinem einzigartig reinen Lächeln, da überkam es mich einfach und ich musste quietschen.«

Katja hörte aus meiner Stimme die Ehrlichkeit heraus und sammelte sich wieder. »Und was ist aus dem Lächeln zum Quietschen geworden?«

»Er hat für seine Verhältnisse ungefähr genauso reagiert wie du und richtig angefangen zu Lächeln.«

»Aber nicht gelacht.«

»Nein, damit hätte er mich ja beleidigt.«

»Und dann?«

»Dann haben wir uns kennen gelernt, etwas getrunken, etwas getanzt, ein bisschen rumgeknutscht und das Übliche.«

»Das Übliche?«

»Du weißt schon …«

»Nein weiß ich nicht! Meinst du das Übliche bei dir: Rumgedruckse bis der Typ Langeweile bekommt und dann unsterblich in Liebeskummer versinken; oder das Übliche bei Monika: Ab ins Bett mit ihnen, solange sie noch jung und unverbraucht sind.«

»Eher letzteres. Wir haben ständig telefoniert, uns des Öfteren im Geheimen getroffen und so weiter…«

»Im Geheimen getroffen? Hoho, wie spannend. Sag jetzt nicht, dass er einen eifersüchtigen Freund hatte?«

»Wohl kaum. Suhas kann sich keine eigene Wohnung leisten und lebt noch bei seinen Eltern, wie es sich gehört. Damit sie ihn nicht verstoßen, versteckt er sein Schwulsein vor ihnen. Deshalb waren wir nie bei ihm. Genauso wenig konnte ich ihn mit zu meinen muslimischen Vermietern nehmen. Die hätten mich gelyncht, wenn aus meinem kleinen Zimmer ein Quietschen ertönt wäre. Also haben wir uns immer bei McDonalds getroffen.«

»Und jetzt bist du hier und er ist dort«, deutete Katja an.

»Ja, natürlich! Singapur ist zehntausend Kilometer weit weg. Soll ich da einfach mal schnell rüber laufen, um mit ihm gemeinsam ein Frühstücksmenü zu bestellen? Und was dann? Sollen wir beide als Aushilfskraft bei McDonalds anfangen?«, feuerte ich wirsch heraus, härter als ich überhaupt wollte. Doch hatte ich dieses Thema schon zu oft in meinen Gedanken durchgekaut und alle Argumente wie ein Operationsbesteck präzise zurechtgelegt. Und so wie sie mir selbst mit ihrer exakten Logik in mein Fleisch schnitten, so sollten sie auch ruhig anderen die Zunge tranchieren, die es wagten, die Fragen zu stellen, auf die ich mir selbst keine befriedigende Antwort geben konnte.

»Und du hattest nicht spontan Lust, dein Praktikum noch zu verlängern?«, fragte Katja vorsichtig.

Ich zuckte mit der Schulter und schaute auf meine Finger, wie sie untätig auf dem Tisch lagen. Ich sagte nichts, das war auch nicht notwendig. Die Antwort kannten wir beide, es waren wiederum nur Fragen. Was vermag einem die Spontaneität versprechen, dass die Sicherheit des Gewohnten aufwiegen kann? Was unterscheidet die Bindung im Geheimen von der Einsamkeit in Freiheit? Was ist die Liebe zu einem Jungen von Nebenan, mit einem einzigartigen Grinsen zum Quietschen, wenn er am anderen Ende der Welt wohnt?

Nicht mehr als eine Geschichte.

Chueperraschung

Wir schwiegen beide. Während ich erzählt hatte, war eine Kerze ausgegangen. Katja griff nach den Streichhölzern und zündete sie wieder an. Zuerst wollte der verkohlte Docht nicht anbrennen, doch in der Wärme der Flamme fing er wieder Feuer. Katja fragte schlüpfrig:

»Und ist bei den Asiaten wirklich alles kleiner, wie man immer sagt?«

»Was meinst du?«

»Na du weißt schon«, sagte Katja und schaut mir demonstrativ in den Schritt. Ich machte eine Ein-Gentleman-Genießt-Und-Schweigt-Pose. Jedoch ließ Katja nicht locker und begann mich aufs Gemeinste hin zu erpressen: Sie schwieg. Ich schlürfte etwas an meinem kalten Kaffee und sagte irgendwann so beiläufig, als wenn ich über das Wetter schwadronieren würde: »Nein, in diesem Falle nicht.«

Katja griente lasziv und fragte mich dann plötzlich nach der Uhrzeit. Ich schätzte es so gegen halb vier Singapur-Zeit und rechnete es auf 19:30 Uhr Lokalzeit zurück. So langsam wurde ich wieder wacher. Auch Katja wurde mobil und sprang vom Küchentisch auf und fing an, im Küchenschrank herum zu wühlen.

»Ich werde uns mal etwas zu essen machen«, rief sie mir zu, während ihr Kopf irgendwo in den Reistüten steckte.

»Nichts mit Reis«, schrie ich auf. Nach neun Monaten faden Reisgerichten, hatte ich ein dringendes Bedürfnis nach kräftiger deutscher Nahrung.

»Oh ich könnte da ein tolles Curry zaubern?«

»Geht nicht einfach nur was mit Brot und Butter?«

»Wie sieht es mit einer Mitternachtssuppe aus und dazu kräftiges Schwarzbrot?«

Katja lass die Antwort an meinen bettelnden Augen ab. Ihre Mitternachtssuppe war einfach köstlich und in der Zwischenzeit schon weltberühmt, da ich jedem in Singapur darüber vorgeschwärmt habe. Sie ließ sich nur durch eines krönen: mit einem gediegenen Schwarzbrot und Butter. Ich half Katja bei der Vorbereitung und schnitt den Lauch, während sie die Zwiebeln anbriet. Keiner von uns verlor ein Wort bei seiner Arbeit und es war erstaunlich ruhig in der WG. Früher waren am Abend meist alle da gewesen und wir saßen bei einem Gläschen Wein um den Küchentisch und tauschten die Nachrichten des Tages aus. Einer hat dann meist für die anderen gekocht und ein anderer abgewaschen. Die WG war immer wie eine große Familie gewesen.

»Wo ist eigentlich Monika – unsere eigentliche Weltreisende?«, fragte ich Katja.

»Oh die ist ziemlich sesshaft geworden, seitdem du weg warst.«

»Ich habe mich schon gewundert, dass sie in all der Zeit nie überraschend vor meiner Tür stand.«

»Mach dir nichts draus. Wir haben sie in den letzten Wochen auch nicht öfter gesehen. Es ist fast wie früher: Monika ist nie hier, obwohl sie in Dresden ist.«

»Wo ist sie dann die ganze Zeit?«

»Bei ihrer neuen Flamme. Tanja.«

»Ein Mädchen? Sie hatte doch ständig an jedem Finger drei Männer hängen.«

»Mag sein, aber das war, bevor die russische Austauschstudentin in dein Zimmer gezogen ist. Die beiden verstanden sich vom ersten Tag an super und als Tanja in eine eigene Wohnung zog, ist Monika gleich mitgegangen. Seitdem ist sie nur noch zum telefonieren hierher gekommen«, sagte Katja etwas vorwurfsvoll.

Ich war überrascht, dass Monika scheinbar kein Problem damit hatte, nun eine feste Freundin zu haben, wo sie früher die Männerwelt durchprobiert hat. Während ich mich jahrelang mit meinem Schwulsein gequält habe, hat sie wahrscheinlich gerade mal eine Minute darüber nachgedacht. Laut kommentierte ich: »Sie hat eh einen grausigen Männergeschmack gehabt.«

»Oh, du weißt gar nicht wie recht du hast. Du hast ihre letzten Lover ja gar nicht mehr kennen gelernt. Aber Tanja ist wirklich nett. Es musste wohl erst eine Frau werden, bevor sie zu Verstand kam.«

»Und Frank?«, fragte ich weiter.

»Der arbeitet den ganzen Tag in irgendeiner Softwareklitsche und ist Abends meist bei seiner Freundin«, sagte Katja. Mit einem Seufzer ließ sie sich auf ihren Stuhl fallen.

»Es ist nicht mehr so wie damals. Die WG ist nicht mehr der Treffpunkt für alle, sondern nun macht jeder sein Ding. Ich selbst bin kaum noch hier«, sagte Katja traurig.

Ich schwieg. Der Mann im Flugzeug hatte gesagt: ›… es hat sich nichts geändert …‹ und nun sagte Katja das Gegenteil. Dabei wollte ich nicht, dass sich etwas verändert hatte. Ich wollte heimkehren. Ich beobachtete Katja, wie sie in der Küche herumwuselte.

»Es mag sich manches geändert haben, Katja. Aber du bist immer noch die Alte und das ist mir das Wichtigste«, sagte ich.

Katja verdrehte die Augen und spritzte mich mit heißem Wasser voll. Ich wich den Tropfen aus und lachte auf. Unser Lachen hallte befreiend durch die große Wohnung.

Katja kochte einen riesigen Topf Suppe. Ich fragte sie, warum sie für uns beide solche eine Masse bereitete, doch sie schnaubte nur auf und erklärte mir löffelschwingend, dass wenn sie schon mal wieder kocht, das auch richtig macht; außerdem kenne sie die Rezeptur gar nicht in geringeren Maßen.

Ich hielt mich mit weiteren Fragen zurück. Es kam mir ganz gelegen, auch noch die nächsten Tage von ihrer Mitternachtssuppe laben zu können. In ihrem Nostalgiewahn beschloss Katja, nicht in der Küche zu essen sondern bei ihr im Zimmer. Früher, wenn die Bude voll war, diente es immer als Esszimmer. Doch heute sahen die beiden Gedecke auf dem großen Tisch verloren aus. Ich stand kurz davor ein paar Leute anzurufen und einzuladen, aber es würde bestimmt keiner Zeit haben. Es wusste kaum jemand, dass ich wieder da bin. Niemand hatte gefragt und so habe ich es auch niemanden erzählt. Außerdem sollte es mir genügen, zu Hause zu sein. Wenn auch manches anders war, es blieb mein Zuhause und damit änderte sich eines nie: Die Erinnerung.

Ich holte den alten Silberleuchter aus der Küche und platzierte ihn in der Mitte des Tisches. Der mit Sand gefüllte Ständer lag vertraut schwer in meiner Hand und seine wuchtigen Arme breiteten sich wie schützende Schwingen über den Esstisch aus. Staub rieselte auf die Tischplatte hinab. Ich wollte ihn bereits fortwischen, als ich mich dann doch entschied, ihn liegen zu lassen. Ich wechselte die heruntergebrannten Kerzen gegen neue. Das in Dämmerschein getauchte Zimmer wirkte wie einst vor einer großen Feier. Es fehlten nur die vielen Stimmen der ankommenden Gäste. Einsam klapperte Katja in der Küche. Ich ging zur Musikanlage und stellte sie an. Ich zog die CD von Pink Floyd: ›Wish you were here‹ aus dem Regal und legte sie ein. Genau das richtige für einen ruhigen Abend bei einem guten Wein.

»Eine gute Idee. So ist es besser zu ertragen«, sagte Katja und kam mit ihrem großen Topf vor der Brust in das Zimmer gehuscht.

Sie stellte ihn auf den Tisch, schaute auf die Uhr und sagte: »Es ist gleich um Acht. Gerade noch rechtzeitig!«

»Wieso? Wir haben doch alle Zeit der Welt.«

»Weißt du nicht mehr? Früher haben wir immer um 8 begonnen«, antwortete sie strahlend. Doch ihr Lächeln verlor sich, während sie noch einmal in der Suppe rührte. Mit einem schwungvollen Platscher füllte sie die Teller und ich goss den Wein ein. Gurgelnd ergoss er sich in die weiten Gläser. Wir setzten uns gegenüber, nahmen die Gläser in die Hand und stießen miteinander an. Dabei sahen wir uns tief in die Augen und sprachen synchron: »Schön dich wieder zu haben.«

In dem Moment als unsere Gläser aneinander stießen, hallte ihr Klingen durch die ganze Wohnung. Es erschallte noch ein weiteres Mal, als wir unsere Gläser verdutzt auf den Tisch stellten. Und es klingelte noch ein drittes Mal, bevor ich begriff, dass es an der Tür läutete. Katja stand auf und sagte hintertrieben: »Na, wer mag das wohl sein?«

Es war gar nicht notwendig, dass sie die Haustür öffnete, denn bereits als sie die Zimmertür erreichte, füllte sich diese auch schon vollständig mit einer riesigen Blümchenmustertapete. Dieser entwuchsen zwei Windmühlenflügel, die sofort einsetzten sich begeistert zu drehen. In einem widerstrebendem Knarchsen vernahmen meine Ohren: »chueperraschung« 1Sodann ruderte die Blümchenmustertapete mit den Windmühlenflügeln unaufhaltsam auf mich zu. Gerade noch rechtzeitig konnte Katja zur Seite springen, doch mich erschlug die Blümchenmustertapete vollständig. Die Windmühlenflügel wickelten sich mit einer überraschenden Stärke um mich. Panisch schnappte ich nach Luft und eine dicke Wolke von Lavendelparfüm erschlug mich. Ich währe wohl erstickt, wenn nicht ein paar kräftige Männerarme die Blümchenmustertapete von mir fort gezogen hätten.

»Hallo Stefan, jetzt weiß ich auch, was ich all die Zeit vermisst habe«, hustete ich. Bei meinen Worten grinste Stefan stolz. Wobei Stefan wirklich breit grinsen konnte, denn Mutter Natur hatte ihm einen wahrlich großen Mund gegeben. Das war nichts Besonderes bei ihm, denn an Stefan war einfach alles groß. Er maß so an die zwei Meter zehn und hatte dazu ebenso breite Schulter und bestand von oben bis unten eigentlich nur aus Muskeln – vielen Muskeln. Seine Hobbys waren Klettern und Karate – Vollkontakt versteht sich. Dazu sah er auch noch verdammt gut aus. Man könnte sich also Stefan als Idealbild des Begriffes ›Mann‹ vorstellen, wenn da nicht die kleine Kleinigkeit wäre, dass er alles daran setzen würde, nicht männlich zu wirken. Um ehrlich zu sein, Stefan war so was von tuntig, dass die Normalreaktion auf sein Erscheinen panisches Entsetzen ist. Dieses Entsetzen wandelt sich jedoch schnell in Faszination, denn bei Stefan wirkte diese Tuntigkeit nicht aufgesetzt, sondern natürlich. Würde man Stefan in ein Kleid stecken, würden er mit Sicherheit die großartigste Diva der Welt sein. Er würde eine jede Frauen in den Schatten stellen und die gesamte Männerwelt würde ihm zu Füßen liegen, allein schon wegen der Größe. Deshalb ist es besser, wenn man sich Steffan als Idealbild des Begriffes ›Diva‹ vorstellt, leicht vergrößert im Maßstab 1:2. Da an Steffan alles groß war, hatte er auch ein großes Herz.

»chach ich chap tich chauch tsovass von vermisst mein tschatzie. tschön tisch vieder hier zu haben.« 2, sagte Stefan und warf sich als Beweis noch einmal auf mich. Auch dieses Mal zog ein Männerarm Stefan zurück. Martin kam zum Vorschein und lächelte mich aufmunternd an. Martin war das komplette Gegenteil von Stefan. Während Stefan groß, tuntig und extrovertiert war, wirkte Martin kompakt, hetero und ruhig, fast geheimnisvoll. Das typischste an ihm war sein Dreitagebart und die leicht schief sitzende Brille. Martin lächelte mich aufmunternd an und begrüßte mich mit den Worten: »Moin Moin Jean-Pierre. Wie ich dir damals schon gesagt habe: Er ist ›eigentlich‹ ganz harmlos.«

»cheigentlich? vass meinst tu tamit?« 3

»Nun mach hier kein Szene …«

»SSENE? chich? chich pinn cheiner ter tessentesten leute tie ich chenne!« 4, zickte Stefan los und stemmte seine riesigen Hände gefährlich in seine Hüfte. Es sah eher bizarr aus, denn gefährlich, ähnlich einer griechischen zwei Meter hohen Amphore – mit Blümchenmuster. Martin zog ihn kommentarlos zur Seite und gab den Blick auf die Zimmertür frei.

In ihr stand grinsend der ganze Rest der Bande. Monika mit Tanja im Arm, Frank mit Claudia und nun gesellte sich auch noch Katja zu Maik. Die Pärchen kamen einer nach dem anderen herein und begrüßten mich. Mein Herz wummerte vor Wiedersehensfreude und meine Aufregung wurde noch gestützt durch Stefans Gezicke im Hintergrund.

Wir setzten uns an die nun gut gefüllte Tafel und begannen Neuigkeiten auszutauschen. Irgendwann einmal rutschte ich zu Katja rüber, die eng umschlungen mit Maik dasaß.

»Ich scheint euch ja wieder gut zu verstehen?«

»Wieso?«, fragte Katja gehässig grinsend.

»Wegen vorhin …«, deute ich an.

Katja legte ihren: Unschuldiges-kleines-Mädchen-das-den-Weg-nach-Hause-vergessen-hat-Blick auf und sagte: »Ich habe etwas dramaturgisch ergänzt.«

»Du hast übertrieben!«

»So wie du mit deinem Inder!«

»Phe!«

»Aber es hat doch gewirkt. Ich hatte dich ausreichend deprimiert, um dich danach gehörig zu überraschen.«

»Du hast mich vielleicht nicht deprimiert, aber dafür war es eine schöne Überraschung«, gab ich zu.

»War es?«, fragte Katja schnippisch. Ich steckte ihr die Zunge raus und sie stupste mir die Nase und sagte: »Wird es – warte es nur ab!«

Katja behielt Recht – wie immer. Im Laufe des Abends trudelten noch mehr alte Freunde und Bekannte ein, bis ich selbst gar nicht mehr glauben konnte, dass ich so viele Leute kannte. Es wurde mir richtig unangenehm zum Mittelpunkt des Abends zu avancieren. Ich hatte mich auf ein ruhiges Essen mit Katja eingestellt und jetzt hatten wir eine volle Überraschungsparty am laufen. Alle Leute wollten wissen, wie es mir ergangen ist. Dabei stellten sie immer die gleichen Fragen: Wo ich gewesen war? Was ich gemacht habe? Wie ich auf die Idee gekommen bin? Ich wünschte ich hätte einen Kassettenrekorder gehabt, dann hätte es ausgereicht, beim Abspulen nett zu lächeln.

Zudem dass mich alle mit Fragen belagerten, stürzten sie sich, dem typischen Studentenbild ausgehungerter Schmarotzer folgend, auf Katjas Mitternachtssuppe. Jetzt war mir auch klar, warum sie diese Massen gekocht hatte und ich Einfaltspinsel hatte noch nicht einmal etwas geahnt. Stattdessen hatte ich mich darauf gefreut, die nächsten Tage davon zu essen und jetzt musste ich mich bemühen, überhaupt etwas abzubekommen. Aber wozu hatte ich heute Abend die Vorzugsposition und so drängelte ich mich egoistisch bis zum Suppentopf vor. Martin kratzte gerade die letzten Reste aus dem Topf und füllte sie mir mit einem großen Schmatzer auf den Teller.

»Da hast du ja noch mal Glück gehabt«, sagte er und nahm seinen eigenen Teller und gesellte sich zu mir.

Ich schlürfte – still, aber nicht weniger geräuscharm – meine Suppe und beobachtete die Leute, die alle wegen mir gekommen waren und sich scheinbar auch ohne mich prächtig amüsierten. Ein jeder Mann knuddelte seine Frau oder Frau ihre Frau oder gänzlich andersherum. Jedoch war das Prozentsatz an Pärchen unübersehbar. Etwas frustriert sagte ich zu Martin: »Gut dass ihr da seid, dann bin ich jedenfalls nicht der einzige Single hier.«

Martin verschluckte sich erstmal an seiner Suppe und antwortete dann: »Du hast es scheinbar noch nicht erfahren: Ich bin kein Single mehr.«

»Oh und Stefan?«, fragte ich Hoffnungsvoll. Wobei ich nie im Leben gedacht hätte, dass gerade Stefan meine letzte Hoffnung sein würde.

»Um ehrlich zu sein: Stefan ist auch kein Single mehr«, druckste Martin weiter herum.

»Was seid ihr etwa?«

»Wir?«, fragte Martin entsetzt. »Nee, bestimmt nicht.«

»Und wer ist es dann?«

»Du wirst ihn schon noch kennen lernen«, zwinkerte mir Martin zu.

»Zumindest hast du ihn nicht mitgebracht.«

»Gerade zurück und schon wieder auf der Jagd?«

Ich zuckte mit der Schulter.

»Wir gehen derzeit regelmäßig zu so einer Studentengruppe an der Uni. Da gibt's noch ein paar süße freie Jungs.«

»Für eine Jugendgruppe bin ich zu alt«, antwortete ich.

»Du bist 23 und so verklemmt wie ein 15-Jähriger. Außerdem ist keine klassische Jugendgruppe voller pubertäre, sexhungriger Jugendlicher – bis auf Stefan vielleicht – sondern das sind alles eher schüchterne Studenten – bis auf Stefan natürlich.«, meinte Martin mit einem Zwinkern. »Du kannst ja mal mitkommen.«

»Eigentlich hab ich keine Lust verkuppelt zu werden.«

»Also ich verkuppel dich bestimmt nicht noch einmal. Das ist eine Studentengruppe, da darfst du das Wort ›Partnervermittlung‹ noch nicht einmal in den Mund nehmen! Das steht sogar irgendwo in der Satzung«, erklärte mir Martin.

Doch hörte ich ihm schon gar nicht mehr zu. Ein gelbes Feuer war vor meinem inneren Augen entflammt, das einen Ring immergrüner Hoffnung verzehrte. Ein entsetztes Gesicht formte sich für einen Moment um diese brennenden Pupillen. Doch dann ebneten sich die Züge wieder und aus der Flammen Asche erwuchs ein zarter Löwenzahn. Er reifte und löste sich in tausend Schiffchen von seinem Halm. Mit ihnen entschwebte die Erinnerung an diesen einen Augenblick. Kleinlaut fragte ich: »Wie geht es Alexander?«

Martin schaute mich neugierig an. Er wusste, dass ich von meiner Nummer 9 redete. Nummer 9, alias Alexander, war die Männergeschichte die mich letztendlich nach Singapur getrieben hat. Nach unserem kurzen Intermezzo hatte ich ihn nicht mehr aus meinen Gedanken bannen können. Immer wieder habe ich habe mich gefragt, weshalb er zu Kim zurückgegangen ist. Es führte soweit, dass ich anfing Alexander anzurufen. Wenn er abnahm, nannte er fragend seinen Namen, als ob sich selbst nicht sicher war. Ich brachte kein Wort hervor, sah nur seine grüngoldenen Augen, wie sie sich selbst in ihrem Feuer versengten. Er sprach nie ein weiteres Wort, fragte weder nach dem Anrufer, noch nannte er meinen Namen. Er wusste, dass ich es war – da war ich mir sicher. Dennoch reagierte er nie sauer, legte nicht einfach auf oder lehnte das Gespräch ab. Erst wenn es mich zu sehr schmerzte, seinen ruhigen Atem mir widerstehen zu hören, legte ich auf. Mit jedem Anruf wurde ich immer zerworfener, nie befriedigt. Ich fand nie die Kraft aufzugeben. Die realistische Argumentation meiner linken Gehirnhälfte, dass er einfach nicht schwul ist, überzeugte keinesfalls meine romantische Rechte, die sich stur weigerte, von ihren Gefühlen loszusagen. Sie verhielten sich beide wie zwei streitende Geschwister und hörten einfach aus Prinzip nicht aufeinander. Da war es kaum verwunderlich, dass mein Gedächtnis beide gegeneinander auszuspielen vermochte und ein absolut unbehelligtes Dasein führte. So kam es dann, als ich in Singapur Suhas Lächeln sah, dass es sich von meiner Erinnerung an Nummer 9 in einem Rutsch mit der Wandfarbe unserer Küche rein wusch. Und jetzt wo mich Martin an ihn erinnert hatte, war die Erinnerung sogar angenehm.

»Ganz gut«, antworte Martin auf meine Frage nach Alexanders Befinden.

»Und Kim?«, fragte ich ehrlich interessiert. Doch Martin war wohl noch etwas empfindlich von damals, als ich ihn ständig wegen Nummer 9 belagert hatte. Er antworte schnippisch: »Es mag sich manches geändert haben Jean-Pierre, aber nicht alles.«

boo-boo

Ich bin natürlich nicht zu der Studentengruppe hingegangen. Wenn man gerade wiedergekommen ist, hat man viel zu tun. Man hat Wege zu erledigen und muss seine Zukunft organisieren. Also träumte ich in Wirklichkeit durch meine Freizeit. Immerhin musste ich mich akklimatisieren, ausruhen und den Jetlag besiegen.

Vor allem wollte ich nicht, dass das Leben weitergeht. Wenn ich eine Schlüsselerkenntnis aus meinem Praktikum gezogen habe, dann die, dass die tägliche Arbeit doch sehr zeitraubend ist und in meinen Augen keinesfalls erstrebsam war. So sollte meine beispielhafte Arbeit im Praktikum vorerst für ein, zwei Jahre ausreichen. Meine Eltern hatten zu diesem Thema sicherlich andere Ansichten, doch sie bezahlten kommentarlos meine Rechnungen. Also warum sollte ich mein Studium beenden wollen?

Es ist doch völlig ausreichend, wenn man Zeit für sich findet und sich mit Freunden trifft. Am liebsten saß ich in einem kleinen Kaffee in der Neustadt. Es lag an der Albertstraße und man konnte draußen sitzen und die Leute beobachten. Viele liefen geschäftig an dem Kaffee vorbei, voll gepackt mit Einkaufstüten und eine Hand am Handy. Es hätten genauso Singapourianer sein können, nur ihre Schritte waren schneller. Ich fühlte mich wie auf einer Zuschauertribüne an einer Rennstrecke. Eine unsichtbare Absperrung trennte die Kaffeehaustische von der Straße. Auf meiner Seite schien die Welt still zu stehen, auf der anderen jagte sie unaufhaltsam vorbei. Ich fühlte mich besser auf der langsamen Seite. Hier aalten sich die Leute in den ersten Frühlingsstrahlen. Sie trugen Sonnenbrillen und aßen Eis. Doch fühlte ich mich auch ihnen nicht zugehörig. Obwohl ich mich warm angezogen hatte, empfand ich es immer noch kälter als in Singapur.

Ich las viel in dieser Zeit: Kafka, Murakami, Becket. Ihre Charaktere waren mir in ihrer Unschlüssigkeit und Leere näher, als das deutsche ruhelose Leben. Es erfüllte mich, in die Bücher abzutauchen und dort die gleichen Fragen zu finden, denen ich mich konfrontiert sah. Es beruhigte mich, dort keine Antwort zu finden. Auf manche Fragen gab es keine Antwort – vielleicht macht das Sinnen darüber einfach zuviel Spaß. Dabei war es einfacher über das Leben der Charaktere in den Büchern nachzudenken, als über mein eigenes. Es war auch nicht notwendig. Dadurch, dass ich immer wieder die gleichen Bücher las, näherte ich mich den Charakteren immer mehr an, auch wenn es mich von meinem eigenen Leben immer mehr entfernte.

An einem besonders schönen Frühlingstag, besuchte mich Katja in meinem kleinen Kaffee, um diese Gelegenheit mit einem kleinen Mocca mit mir zu befeiern. Maik hatte leider keine Zeit. Er schrieb seine Diplomarbeit in einer Firma und war dort voll eingespannt. Er war meistens erst spät am Abend zu Hause, ging bereits bevor ich aufstand. Katja sah ich kaum öfter. Jemand wie sie hat immer viel zu tun. Neben dem Studium arbeitete sie an der Uni, engagierte sich im Studentenrat und zwei Vereinen. Dabei empfand sie noch nicht einmal Stress, dafür war sie viel zu gut organisiert. Sie war nur immer auf der Hatz, blieb im Kaffee selten länger als einen Espresso. Früher hatte ich sie noch zu vielen Dingen hin begleitet, jetzt genügte es mir, ab und zu einen Eintrag in ihrem Terminkalender zu bekommen. Sie versuchte mich zu überreden, mich zu engagieren, doch mochte ich mein Kaffeehausdasein, es hatte etwas Individuelles. Ich fühlte mich wie ein Einsiedler auf einer Autobahninsel, isoliert und dennoch am Puls der Zeit.

An jenem Frühlingstag hatte sich Katja jedoch Zeit genommen. Sie bestellte sich einen Mocca und setzte sich mit ihrer Sonnenbrille in den Sonnenschein. Wir redeten nicht über irgendwelche Aufgaben, Engagement oder dass ich mein Leben einen Sinn geben muss; nein, wir schwiegen – tauschten nur dann und wann ein paar Worte aus und schwelgten beide vornehmlich im Sonnenschein. Es war mir angenehm, neben ihr zu sitzen und nichts sagen zu müssen. Gemeinsam beobachteten wir die Leute.

In Katja schien die Frühlingssonne sogar einen überraschenden Hormonschub ausgelöst zu haben und sie hechelte mit ihrem Blick jedem halbwegs männlichem Wesen hinterher, dass unseren Tisch kreuzte. Ich hielt mich unterdes zurück und würdigte vielleicht mal jenen einen Blick, die sie zu einem visuellen Orgasmus trieben.

Irgendwann fragte sie mich aus dem Blauen heraus, was ich von Maik halten würde. Überrascht schaute ich sie an, wusste nicht ob sie die Frage aus Jux oder im Ernst gestellt hat. Doch der gefasste Blick den sie mir erwiderte, sagte deutlich, dass es keine Scherzfrage war. Ich überlegte in Ruhe, um weder etwas Falsches zu sagen, noch Lügen zu müssen. Dafür war Katja eine zu gute Freundin. Katja beobachtete mich die ganze Zeit in ruhiger Erwartung meiner Antwort.

»Ich denke, er ist ein recht pflegeleichter Mensch. Freundlich, ehrlich, zuvorkommend. Er ist weder besonders extrovertiert, noch hat er ein extravagantes Hobby. Vielleicht würden einige das langweilig nennen, dafür fällt es ihm leicht, sich auf die Menschen einzustellen.«

»Und was denkst du über unserer Beziehung?«, fragte Katja weiter, die mir regungslos zugehört hat.

Wieder musste ich überlegen, bevor ich antwortete: »Ich glaube dass ihr euch gut ergänzt. Während er den ruhigeren ausgleichenden Teil darstellt, bist du der aktivere.«

»Glaubst du, es ist noch wie Früher zwischen uns?«

Früher? Wie oft habe ich mir diese Frage in den letzten Wochen gestellt. Ich antwortete gleich.

»Es ist anders, aber nicht schlechter. Ihr lauft nicht mehr Arm in Arm knutschend einher, aber ich habe kein schlechtes Gefühl dabei. Es ist so, als ob ihr es nicht nötig habt, euch so eure Zuneigung zu beweisen, da ihr um sie wisst. Ihr redet nicht mehr so viel miteinander wie früher. Aber es ist interessant zu beobachten, wie wenige Gesten zwischen euch reichen, um euch über einen ganzen Tag auszutauschen.«

Katja nickte, als ich redete. Es war ein seltsames Nicken. Kein Nicken, um mir recht zu geben, sondern eher ein Nicken, um zu zeigen, dass sie mir zuhören würde. Sie blickte mich nicht mehr an, sondern auf den Tisch und schien ihn zu fragen, ob ich Recht haben würde. Ich weiß nicht, welche Antwort sie bekam. Sie schwieg und ich wagte es nicht zu fragen. Nun war mir das Schweigen unangenehm und auch Katjas Interesse an den Männern schien fortgewischt zu sein.

Irgendwann fragte sie mich ruhig, als wenn sie lange über die Frage nachgesinnt hätte: »Glaubst du, es gibt so was wie den Traummann?«

»Das fragst du mich? Ich bin ein Träumer«, entgegnete ich. Katja schien diese Antwort erwartet zu haben und sagte: »Eben. Wenn du sagst, dass es ihn nicht gibt, dann kann ich mir doch sicher sein – oder?«

Ich war frappiert – diese Frage überforderte mich. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, kannte ich doch selbst die Antwort nicht. Ich hatte nur eine Meinung, aber sollte ich sie Katja sagen und ihr vielleicht ihre Illusionen rauben oder sie schüren? Wir saßen eine Weile beide regungslos da. Keiner sagte ein Wort. Der Kaffee vor uns wurde kalt, er hatte bereits aufgehört zu dampfen. Niemand wagte einen Schluck zu nehmen und mit einer Regung die Anspannung aufzulösen.

»Glaubst du? Was sagt dir dein Geist?«, fragte Katja noch einmal.

»Mein Geist sagt mir, dass mein Traummann so perfekt, so momentan ist, dass er gar nicht existieren kann. Jedoch ist Glauben keine Entscheidung des Geistes.«

»Und was sagt dir dann dein Gefühl? Stell dir vor er wäre real.«

»Ich würde trotzdem nicht mit ihm zusammen sein wollen. Was sollte mich an ihm noch faszinieren, wenn er einen jeden meiner Wünsche erfüllt? Spätestens damit wäre er so berechenbar und langweilig, dass er nicht mein Traummann sein kann.«

»Ja«, sagte Katja. Es war nur ein kurzes Wort, aber ich habe nie zuvor ein Wort gehört, in dem so viel Entschlossenheit lag. Das war kein ›Ja.‹: ich habe dich vernommen, kein ›Ja‹: ich gebe dir recht. Es war ein ›Ja‹ das tausendmal nachhallte, als währe es wie ein Gong erklungen, als währe mit diesem Wort eine schwere Entscheidung gefallen. Unwillkürlich biss ich mir auf die Unterlippe. Katja zog sich vor meinen Augen zusammen. Ich griff rettend nach ihrer Hand. Als ich ihre Finger berührte, klammerten sie sich schmerzhaft in meine. Katja sah mir in die Augen und sagte mit einem traurigen, irrenden Blick: »Er ist zu perfekt. Er macht alles um mir jeden Wunsch zu erfüllen. Katja hier, Katja dort. Das ist schön, aber es nervt.«

»Hast du es ihm schon gesagt?«

»Hundert mal. Ich sage ihm, dass er mir mehr Freiheiten lassen soll und er ist daraufhin geknickt. Dann hab ich ein schlechtes Gewissen und letzten Endes sind wir beide mies drauf. Es ist sinnlos.«

»Liebst du ihn?«

»Und ob ich ihn liebe; das ist ja gerade das Problem. Versteht ihr denn das alle nicht? Doch bloß weil ich ihn liebe, heißt das doch nicht, dass immer perfekte Harmonie herrschen muss.«

»Niemand sagt, dass es einfach ist, glücklich zu sein.«

»Man kann nur glücklich sein, wenn man auch mal die Chance hat unglücklich zu sein.«

»Du scheinst mir recht unglücklich«, sagte ich vorsichtig.

»Ja toll! Ich möchte über Nichtigkeiten unglücklich sein können. Ich möchte mich darüber aufregen können, dass er im Stehen pinkelt, beim Frühstück die Zeitung liest oder die Zahnpastatube nicht zuschraubt; aber das macht er ja alles nicht. Man sagt ihm das einmal und er macht es nie wieder. Er hat es sogar geschafft nicht mehr zu schnarchen, nachdem ich ihn einmal damit aufgezogen habe. Soviel Perfektionismus ist mir einfach zu anstrengend. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchhalten kann.«

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Ich rückte einfach zu Katja und hielt sie fest. Sie lehnte sich an mich und beruhigte sich mit der Zeit. Dabei begann sie wieder, mich auf tolle Männer aufmerksam zu machen und fragte gleich, ob das mein Traummann sei. Aber es war nur ein leidenschaftsloser Versuch, das gute Wetter zu retten. Die Männer blieben fade und unsere Stimmung mit ihnen. Nach einer halben Stunde murmelte Katja etwas von einem dringenden Termin und machte sich von Dannen. Zum Abschied gab sie mir noch ein Küsschen und flüsterte mir ein ›Danke.‹ ins Ohr. Ich hielt ihre Hand, bis sie sie von alleine fort zog.

Als Katja gegangen war, dachte ich an Suhas, an seine haselnussfarbene Haut, sein perlweißen Lächelns und seine sanften Küsse. Es fiel mir schwer, mich seiner unscheinbaren Züge zu erinnern. Kurz nach meiner Ankunft war die Erinnerung scharf und hat noch ein Kribbeln in meinem Bauch hinterlassen. Jetzt blieb das Kitzeln aus.

Es half auch nicht, mit ihm zu telefonieren. Solange ich ihn an der Strippe hatte, scherzten wir wie einst. Er auf seine subtile Art und ich mit der europäischen Direktheit. Manchmal konnte ich fast sein Lächeln sehen. Es schwang in seiner Stimme mit, aber es klang hohl im Knacken des Telefons und brachte mich nicht mehr zum quietschen. Unsere Gespräche verloren sich nach und nach in den Nichtigkeiten des jeweiligen Lebens und wurden seltener. Ich traute mich nicht, ihm zu sagen, dass ich ihn vermisste. Er tat es auch nicht. Sobald er auflegte, war das Tuten des Telefons mir nur ein hämisches Lachen.

Wir hatten in Singapur nie darüber gesprochen, dass ich irgendwann nach Deutschland zurück gehen würde. Wir haben jede freie Minute miteinander verbracht, gelacht, gescherzt und so getan als ob McDonalds ein ewiges Paradies wäre. Unser letztes Treffen war am Abend vor meiner Abreise. Wir hatten uns an der Clementi Station beim McDonalds verabredet. Er kam etwas zu spät, aber sein breites entschuldigendes Grinsen voll ehrlicher Reue und Geck ließ mich unwillkürlich quietschen. Obwohl sich mein Magen in seiner Gegenwart immer noch verknotete, bestellten wir uns ein McSpice Menü. Wir redeten über unseren Tag, als wäre es nur einer von vielen. Ich erwähnte nicht, dass ich meine Sachen packen musste und er fragte nicht danach. Als wir fertig waren, gingen wir wieder zu Theke und holten uns ein BigMac Menu mit extra großen Pommes. Ich stupste meine Fritten in seine Currysoße und er klaute meine Majo. Irgendeiner von uns hatte danach die wahnwitzige Idee, aus den zig Verpackungen den Turmbau zu Babylon nachzuahmen. Da unser Material gerade mal für die unterste Ebene reichte, holten wir uns noch einen Cheeseburger, einen McFlurry, einen zweiten SpiceBurger und noch ein paar Chickenwings mit Chilisoße. Wir aßen und aßen; redeten und redeten; bauten und bauten. Der Turm vor uns wuchs gen Himmel, doch nie sprachen wir über morgen. Immer wenn wir etwas aufgegessen und verbaut hatten, fehlte einem von uns irgendwo noch eine Ecke. Stand der eine auf, um sich etwas Neues zu holen, ging der andere mit und nahm das Gleiche.

Es war bereits zehn Uhr, als der McDonalds zumachte. Unser Turm erstreckte sich über den ganzen Tisch und hatte eine beachtliche Höhe von einem Meter erreicht. Wir bewunderten unser gemeinsames Machwerk, fühlten uns gestärkt von seinem Anblick. Als wir aufstanden um zu gehen, blieb ich mit meinem Rucksack an einem Colabecher hängen. Der Turm brach zusammen und verstreute sich über den kleinkarierten Fließenfußboden. Schuldig blickte ich Suhas in die Augen und fand keine Worte der Entschuldigung. Doch Suhas lächelte mich nur mit seinen Grübchen und seinen weißen Zähnen an. Er strich mir wie einem kleinen Jungen tröstend über die Haare und sagte: »boo-boo«. Ich verstand ihn nicht, doch klang es nett.

Er begleite mich nach Hause und als keiner in der Nähe war, nahm er meine Hand und drückte sie kräftig. Ein Schauder überfiel meinen Rücken. In diesem Druck lagen all die Worte, die keiner von uns wagte auszusprechen. Ich presste meine Finger in die seinen und spürte wie wir uns beide entspannten. Sein Lächeln wurde auf einmal warm und als ich es in seinen Grübchen kitzeln sah, juckte es so in meinem Bauch, dass ich noch einmal quietschen musste. Ich zog Suhas in einen Hausflur, warf ihn an die Wand und küsste ihn stürmisch. Hätte ich ihn in diesem Moment aufsaugen können, ich hätte es getan. Ich saugte mich in seinen Mund, durchstach ihn mit meiner Zunge, umklammerte seinen Kopf mit meinen Händen. Er war so warm - so real. Sein Mund schmeckte nach scharfer Currysoße, sein Hals duftete nach frischem Jasmin und seine Haut fühlte sich an wie Samt. Keiner sagte ein Wort. Wir fanden kaum Luft. Aus den anfänglichen Küssen wurden Bisse, die den Hals und die Schultern des anderen traktierten, bis Blut unsere Lippen bedeckte. Wie losgelassene Berserker rissen wir aneinander und schlugen unsere Nägel schonungslos in den Rücken des anderen. Ein Feuer brannte in unseren Körper, das Blut schmeckte bitter, doch in den Schmerzen ließ sich Wirklichkeit erfahren. Wir wollten ineinander vergehen und einander so ein Leben lang kennzeichnen. Wir wogen unsere Kräfte an der existentiellen Statur des anderen. Es war ein stürmischer Moment, der sich in einem Orkan entlud.

Danach trennten wir uns ohne ein Wort des Abschiedes. Bald blieb mir davon nur noch die Spuren seiner Nägel auf meiner Haut. Sie brauchten einige Wochen der Heilung und mit ihnen verblasste die Leidenschaft der Erinnerung.

Jetzt saß ich in diesem Kaffee und suchte auf meinen Armen nach einem Kratzer. Sie waren bereits alle verheilt, noch nicht einmal eine kleine Narbe blieb mir als Erinnerung. Die Leute liefen an mir vorbei. Als ich aufblickte, sah ich wie ein blond gelockter Junge mich von der Straße aus beobachtete. Doch bevor ich sein Gesicht erkennen konnte, hatte er sich auch schon fort gedreht. Ich war mir auch nicht sicher, dass er mich wirklich beobachtet hatte. Ich versuchte ihm hinterher zu blicken, doch löste sich sein unbekannter Rücken schnell in der Menge auf. Der Kaffee vor mir war kalt. Ich ließ ihn stehen, legte etwas Geld auf den Tisch und ging nach Hause.

Die nächsten Wochen vergingen, ohne dass etwas Nennenswertes geschah. Ab und an klingelte das Telefon, aber wenn ich ran ging, antwortete niemand. Ich vermutete, dass es Freunde von Tanja waren, die noch nicht wussten, dass sie umgezogen ist und ignorierte es.

Nur wenn sich die Studentengruppe traf, lief bei mir überraschender Weise enorm viel Stress auf. Es begann mit einem im Magen kribbelndes Unwohlsein, dass entweder auf schlechte Ernährung oder aufkeimende Aufregung zurückzuführen war. Im der nächsten Stufe verschwand ich für einige Stunden im Bad. Nicht um mein Ernährungsproblem abzuführen, sondern das Unwohlsein mit einem guten Styling zu medikamentieren. Nachdem ich mich also in etliche Badezusätze eingelegt hatte und nach dem Baden mit rückfettenden Feuchtigkeitslotions meine Haut wieder in einen nahezu natürlichen Zustand zurückgebracht hatte, war ich zwar äußerlich sauber, aber innerlich noch viel kribbeliger als zuvor. Ich leitete meine Energie in meinen Kleiderschrank ab, den ich nahezu vollständig ausräumte, um einige wenige Kleidungsstücke auszusuchen, die ich in meinen aktuellen energetischen Zustand für die perfekte Isolation hielt. Dies sorgte im Endeffekt dafür, dass ich nicht nur total overstyled war, sondern zudem zu spät für das Treffen und überhaupt auch viel zu erschlagen.

Nach vier Wochen ergriff Katja die Initiative über mein Leben und schliff mich als erstes zu ihrem Professor an der Uni, um mir ein Diplomarbeitsthema aufzudrängen. Es ging um den Einfluss moderner Kommunikationsmittel im internationalen Bankwesen und Katja meinte ich wäre mit meinen Praktikumserfahrungen prädestiniert für dieses Thema. Sie erklärte mir noch en detail worum es ging und was ich den Professor fragen sollte. Ich tat wie sie es mir geheißen hatte und der Professor schien recht zufrieden zu sein. Auf einmal hatte ich mein Diplomarbeitsthema.

Ich war schockiert. Mir ging das alles zu schnell. Ich wollte noch keine Diplomarbeit schreiben. Danach wäre mein Studium beendet! Eine katastrophale Vorstellung.

Ich hätte nie gedacht, dass ein gewisser Grundstock an Intelligenz auch zum Nachteil mutieren kann. Dummerweise war ich zu klug gewesen, um in meinem Studium groß zu stolpern und zu faul, es gekonnt in die Länge zu ziehen. Und nun präsentierte mir die Uni einfach die Rechnung in Form eines bevorstehenden Abschlusses.

Panisch versuchte ich die letzten freien Minuten, die mir noch vor dem Arbeitsleben blieben, sinnvoll zu nutzen und setzte mich mit Katja zu einem Kaffee in die Mensa. Ich war gerade dabei, wieder eine gewisse Passion für das Leben aus dem Aroma des Kaffees zu saugen, als ein kreischendes Gequieke mein leicht gestresstes Trommelfell zum platzen brachte.

»chach daarling. ches isst ja cheine vonne tich chier an der uni tzu treffen.« 5, erklang es in meinem Rücken durch die ganze lange Mensa. Es war eine sehr lange Mensa und eine breite dazu. Sie hatte viele Tische und noch viel mehr Plätze, die zufälliger Weise gerade fast alle besetzt waren. Ich musste mich nicht umschauen, um das zu wissen. Wenn einem etwas peinlich ist, weiß man das einfach. Voller Schadenfreude präsentiert einem das Unterbewusstsein, welches normalerweise ein unnützes, langweiliges Dasein führt, äußerst präzise Personenzahlen. Sofort erschien mir eine virtuelle Karte von der Sitzordnung der Mensa. Die besetzten Plätze blinkten blau auf und Stefans Position rot. Wie eine Druckwelle durchschoss sein Sprachkegel den Raum und färbte augenblicklich alle blauen Punkte rot. Sogar in der entferntesten Ecke hinter einer breiten Säule brauchte Stefans Begrüßung nicht mehr als eine Sekunde.

Es war klar, dass es sich bei dem Rufer um Stefan handelte. Mir war auch klar, dass er mir in diesem Moment gerade zuckersüß mit riesigen Windmühlenflügeln zuwinkte, wenn er mir nicht sogar einen Kussmund zuwarf. Ab heute brauchte ich mir keine Gedanken mehr über meinen Ruf an der Uni zu machen. Die Mensa war stoppen voll und jedem, der nicht absolut taub und blind war, wird Stefans Aktion aufgefallen sein. Den Rückschluss von Stefans sexueller Orientierung auf die des Zieles seiner überschwänglichen Begrüßung wird ein jeder fertig bringen. Und niemand wird an Stefans sexueller Orientierung zweifeln.

Mein Versuch in die Kaffeetasse hineinzukriechen wurde von Stefan vereitelt. Er hob mich von meinem Stuhl hoch und drückte mir ein dickes Bussie auf mein knallrotes Gesicht. Danach ließ er mich wie einen nassen Sack fallen und begann Anja und mich voll zu texten.

Ich hörte ihm nicht zu, sondern hatte genug zu tun, mein Global-Outing zu verarbeiten. Ich malte mir detailliert aus, dass innerhalb von zwei Wochen, ein jeder Mensch in der Uni wissen würde, dass ich schwul sei. Ein jeder würde von mir nur noch in der dritten Person, als: ›Der Schwule‹ reden. Meine Matrikelnummer würde sich automatisch auf 696969 ändern und mein Professor würde meine Diplomarbeit nur auf rosarotem Papier und in Schnörkelschönhandschrift mit Herzchen über dem ›i‹ annehmen. Mein soziales Leben war quasi am Ende und meine kompletten Eigenschaften auf ein Wort in der dritten Person reduziert.

Ich überlegte, wie ich mich an Stefan rächen könnte und wollte schon aufstehen und lautstark irgendeine von Stefans präferenzierten Sexualpraktiken ausplärren. Doch kannte ich mich weder in Stefans Sexualleben aus, noch glaubte ich, dass ihm eine Diskussion darüber peinlich gewesen wäre. Ich grummelte herum und bedachte Stefan mit bösen Blicken.

Dieser ignorierte diese kurzerhand und belegte mich mit seinen neusten Studienerfahrungen. Wer hätte gedacht, dass solch ein Typ wie Stefan begeisterter Maschinenbaustudent ist? Irgendeine Geisteswissenschaft hätte ich ja noch verstanden und auch die Psychologen hätten sicherlich ihre Faszination an ihm gefunden, aber Maschinenbauer waren doch normalerweise langweilige Holzfällerhemdträger. Er würde unter ihnen mit seinen Blümchenmustern bestimmt auffallen.

Auch Katja saß dem einseitigen Gespräch nur bei. Doch besaß sie zudem die Idiotie, Stefan nicht nur zuzuhören, sondern auch noch scheinbar interessierte Fragen zu stellen. Somit zog sich Stefans Monolog immer mehr in die Länge und nach und nach leerte sich die Mensa. Mir war so, als ob mir die Studenten zweifelhafte Blicke zuwarfen, ich erwiderte sie mit einem bösartigen Starren.

Zu guter Letzt besaß Stefan die Dreistigkeit mich zu fragen, ob ich Lust hätte, am Mittwoch zu der Studentengruppe zu kommen. Anstatt mein säuerliches Aufstoßen als ›Nein‹ zu werten, gab er mir ein Bussie und meinte: »chach chich freu mich.« 6

Sofort beschloss ich, dass er sich darauf bis ans Ende seiner Tage freuen könne. Ich würde bestimmt nicht zu dieser tuckigen, schwuppigen Selbsthilfegruppe gehen. Ich würde gar nicht mehr zur Uni gehen! Ich lasse mir doch nicht von dahergelaufenen Studies irgendwelche Begriffe in der dritten Person hinterher pfeifen.

Ab so fort tat ich alles, um meine Freizeit panisch zu umgehen. Ich grub mich in meinem Zimmer unter einem Berg von Büchern ein, die ich mir von Katja aus der Bibliothek mitbringen ließ. Wenn ich einkaufen sollte, hatte ich gerade keine Zeit, da ich einer wichtigen Erkenntnis für meine Diplomarbeit auf der Spur war. Wenn Katja und Maik weggingen, dann blieb ich Zuhause. Ich vermied Studentenpartys und ging höchstens mal ins Kino am anderen Ende der Stadt. Es vergingen drei Wochen in denen meinen Leben sich im Takt der Buchseiten, die ich las, an mir vorbeibewegte.

In der vierten Woche in der ich in meinem Zimmer saß und meinen Kopf in Bücher versenkte, wurde es nicht nur mir zuviel, sondern auch Katja. Sie kannte mich lange genug, um meinen plötzlichen Arbeitswillen als natürlich anzusehen. Also lockte sie mich zu einem Studentenvortrag über: ›Auslandsbeziehungen‹. Sie meinte es würde zu meinen Interessen passen. Keiner von uns ahnte, was für einen Sommer sie damit einleiten würde.

Der Junge mit den blauen Augen

Rein niemand hatte mich verdächtig angeschaut, als wir auf dem Weg zu dem Vortrag waren. Genau genommen hatte mich überhaupt keiner auch nur eines flüchtigen Interesses gewürdigt. Entweder das war darauf zurückzuführen, dass ein jeder wusste, dass ich schwul war und mich aus Ekel ignorierte oder darauf, dass sich kein Arsch dafür interessierte.

Mein vager Eindruck wurde bestätigt, als mich ein 16 jähriges Mädchen mit Zahnspange und Übergewicht im Bus anrempelte. Der Busfahrer hatte ein überraschendes Bremsmanöver durchgeführt und das Mädel wurde von der Trägheit zu mir getragen. Von einer anerzogenen Freundlichkeit übermannt, streckte ich meine beiden Hände aus, um sie aufzufangen und konnte es peinlicher Weise nicht vermeiden, sie an ihrer weiblichsten Stelle zu berühren. Wäre ich auch nur annähernd bedeutsam gewesen, wäre ein Papparazi zugegen gewesen und hätte mich als busengrapschenden Mädchenjäger auf immer verewigt. Da ich jedoch völlig unbedeutend war, knallte mir das Mädel ihre ringbewehrte Hand ins Gesicht, noch bevor ich mich entschuldigen konnte.

Zumindest deutete ihre recht schmerzhafte Danksagung an, dass sie mich in Verdacht hatte, irgendein perverses sexuelles Interesse an ihr zu besitzen. Mir wurde schlagartig klar, dass sie nicht wusste, dass ich schwul war und dass es niemanden interessierte, wenn ich kleinen Mädels an den Busen grabsche. Mein Weltbild tat das ihm vertrauteste und kollabierte.

Mit geröteter Wange und irritiertem Blick folgte ich Katja durch den Campus. Ihr gehässiges Grinsen wertete ich als eine Reaktion auf das eben erlebte und erahnte nicht, dass es in Wirklichkeit bittere Vorfreude war. Sie führte mich zu einem Seminarraum im Hörsaalzentrum. Ich achtete nicht weiter auf irgendwelche Themenaushänge, immerhin kannte ich es ja und betrat den Raum.

Irgendjemand vor uns hatte die Tische zur Seite geschoben und die Stühle im Kreis aufgestellt. Nur kurz wunderte ich mich über die für einen Vortrag eher ungewöhnliche Form, doch waren wir immerhin in der Uni und da wusste man nie, was sich ein übereifriger Lehrkörper ausdachte. Es war noch recht früh und so war von den 40 Stühlen vielleicht die Hälfte besetzt. Es beruhigte mich, dass ich niemanden der Anwesenden erkannte und auch sie beachteten uns nicht besonders. Es war eine bunte Mischung typischer Studenten, von 19 bis 39, männlich, wie auch weiblich.

Katja setzte sich auf ein paar freie Plätze gegenüber dem Eingang und ich ging zu ihr. In Gedanken schollt ich mich einen Trottel, dass ich solch eine unberechtigte Angst gehabt habe, raus zu gehen. Immerhin war mir bis jetzt noch nichts passiert. Niemand hatte von mir in der dritten Person geredet, niemand hat mich angegafft und ein Mädchen hat mir sogar eine Ohrfeige gegeben, weil ich ihr an den Busen gegrabscht habe. Es war also immer noch alles in Ordnung mit dieser Welt. Sie hatte von meiner peinlichen Begegnung mit Stefan nichts vernommen. Zum Glück studierte er Maschinenbau und war bei einem BWL-Fachvortrag nicht zu erwarten.

Entspannt ließ ich meine Beine baumeln und lächelte Katja an, die mich interessiert beobachtete. »Ist etwas?«, fragte ich sie, doch sie schüttelte nur verwundert mit dem Kopf. Ich fragte sie, wer denn eigentlich vortragen würde, doch Katja zuckte nur unwissend mit den Schultern. Ich schaute mich im Raum um. Katja beobachtete mich weiter.

Ein paar Plätze weiter kauerte ein Typ, der verstohlen zu mir rüberschaute. Als ich ihn ansah, blickte er schnell weg und verschränkte seine Füße um die Stuhlbeine. Ein kräftiger Junge neben ihm erzählte ihm irgendwas mit einer fisseligen Stimme mit starkem sächsischem Dialekt. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ihm irgendjemand zuhörte, doch er redete unbeirrt weiter. Die Frauen saßen separiert, wie in der Schule. Um den Eindruck noch zu verstärken saß unter ihnen ein kleines Mädel mit zwei Pippi-Langstrumpf-Zöpfen und passenden quer gestreiften Socken mit einzelnen Zehen. Sie hatte ein bisschen Überbiss der ihren beherrschenden Gesichtsausdruck verstärkte. Sie bedachte mich mit einem abschätzenden, scharfen Blick und hielt es gar nicht für notwendig dem meinem auszuweichen. Unsicher blickte ich zu der Frau neben ihr. Sie war fast 1.90 und schlaksig. Ungünstiger Weise trug sie auch noch einen langen, schwarzen Ledermantel, der an ihr herunterhing wie ein Wandbehang. Unbeweglich hielt sie ihr Gesicht auf ihrem langen Hals in einer überdehnten geraden Position und starrte die Wand an. Keine von den Mädels sagte etwas, alle saßen nur herum und schwiegen. Genau in der Mitte der Mädels saß der absolute Oberproll. Trotz des Wetters hatte er die obersten Hemdknöpfe offen und seine Oberarmmuskeln quollen nur so aus seinem extraengen Hemd. Er lag fast in seinem Stuhl mit breit geöffneten Beinen. Ein Basecap hatte er tief in sein Gesicht gezogen und grinste mich in einer frechen Selbstgefälligkeit an.

Ich ignorierte ihn und blickte zur Tür. Sie schwang auf, aber niemand kam herein. Sie stand eine kurze Zeit offen, dann schlug sie wieder zu, als wenn der Wind mit ihr spielen würde. Doch die Luft in dem Raum war regungslos und warm. Ich schüttelte irritiert den Kopf und drehte mich zu Katja, um eine Bemerkung über die seltsame Situation fallen zu lassen. Doch Katja ignorierte mich und lächelte zu dem Mädchen mit den Zöpfen rüber. Die erwiderte keinesfalls mit Skepsis, sondern grinste frech zurück. Irgendwie haben es Mädels einfacher Freunde zu finden.

Mit einem Mal strich ein sanfter Wind um meine Ohren und ein feiner Hauch von Citrusblüten umspielte meine Nase. Ich blickte zurück zur Tür und sie stand wieder offen. Ein Junge mit blauen Augen stand in ihr und lächelte mich amüsiert an. In seinen unschuldigen, himmelblauen Augen reflektierte mein Geist eine Erinnerung an eine Zeit, weit vor meiner Abreise.

Es war eine der besten Partys meines Lebens gewesen und der Beginn einer Geschichte, an die ich mich nur als 'Augenblick' erinnere. Katja tanzte neben mir zu der Musik einer Ethno-House-Kombo, die ihre Trommeln auf magische Weise zu nutzen wussten. Eine Soulsängerin umfasste die Seelen der Leute und trug sie fort, bis nur noch ihre Füße auf den Boden schlugen. Die Tanzfläche war gerammelt voll. Neben uns tanzte ein recht süßer Junge: jung – um die Fünfzehn, relativ klein, blonde kurze Locken und himmelsblaue Augen, ein sanftes Gesicht und einen weichen Tanzstil. Er war wahrlich nicht zu verachten. Katja bemerkte meinen Blick und fragte keinesfalls kleinlaut: »Süß?«

»Und schwul«, antworte ich. Katja schaute mich überrascht an. Ich deute auf den Hosenrock, den der Junge trug. Klarer Fall. Mein Gaydar, verlieh dem Kandidaten das Prädikat 96.7%'ig. Ich schaute ihn mir interessiert an und irgendwann fragte mich Katja: »Was gibst du ihm?«

»4«, sagte ich ohne zu überlegen.

»Nur? Der ist doch sooo süß?«

»Eindeutig. Doch, zu jung. Ich habe kein Handy, also worüber soll ich mich bitte sehr mit ihm unterhalten?«

»Jung? Du bist vielleicht gerade mal fünf Jahre älter und ich kann dir mein Handy leihen«, meinte Katja.

»Alte Kupplerin«, sagte ich und schüttle verneinend meinen Kopf, um klar zu machen, dass da nichts zu machen sei. Frauen begreifen solche Sachen einfach schlechter, insbesondere Katja. Sie verdrehte enttäuscht die Augen und sagte: »Du bist echt schwierig, so wird das nie was!«

Sie hat wie immer Recht behalten.

Seit unserem ersten Treffen mögen mehr als drei Jahre vergangen sein und sein Gesicht war der Kindheit größtenteils entwachsen und hatte kräftigeren, kantigeren Zügen Platz gemacht. Seine stürmischen Locken, hatten sich in sanften Wellen gelegt und ein kleiner Bart zierte sein Kinn. Nur seine frischen, blauen Augen hatten die Jahre nicht gewagt anzutasten. Er blickte immer noch so wie ein freches, kleines Engelskind – an der Oberfläche herausfordern, doch in seiner Seele von einer unerschütterlichen Unschuld. Unwillkürlich senkte ich meinen Blick.

»Oh du hattest Recht«, stellte Katja fest und riss mich aus meiner Erinnerung.

»Womit?«

»Damit, dass er schwul ist.«

»Wieso denkst du, dass er schwul ist?«, fragte ich.

»Ehm … na so wie er dich anschaut«, plapperte Katja weiter und fragte dann auch gleich »Was hattest du ihm damals gegeben?«

»4«, antwortet ich, ohne mich besinnen zu müssen.

»Und heute?«

Ich wollte schon ›9‹ sagen, als mit bewusst wurde, dass ich der letzten Person mit dieser Nummer unrecht getan habe. Alexander, war mehr als nur eine Nummer gewesen. Ich blickte zurück zu Katja und antwortete: »Das ist vorbei. Ich gebe keine Nummern mehr.«

Katja zuckte verständnislos mit der Schulter und ich blickte zu dem Jungen mit den blauen Augen. Er setzte sich gerade auf einen Stuhl mir gegenüber und als wenn er wusste, dass ich ihn ansah, blickte er amüsiert auf. Wieder überfiel mich eine Erinnerung.

Es dürfte ein halbes Jahr nach unserer ersten Begegnung gewesen sein. Es war noch warm und die Leute trugen kurze Sachen. Ich war allein in der Neustadt unterwegs, wahrscheinlich gerade auf dem Heimweg von irgendeinem Biergarten. Ich achtete nicht weiter auf die Leute an denen ich vorbei zog. Es muss meine Sehnsucht gewesen sein, die mich auf zwei dunklen Gestalten in einem Hauseingang aufmerksam machte. Sie lachten und tuschelten, wie es nur frisch Verliebten eigen ist. Etwas zwang mich, stehen zu bleiben. Es war der Junge mit den blauen Augen, der einen anderen Jungen in die Ecke gedrängt hatte und offensichtlich mit ihm flirtete, sofern man es noch ›flirten‹ nennen kann, wenn die Hände bis zu den Ellbogen im Hosenbund verschwinden. Es war mir peinlich sie zu beobachten und ich wollte gerade weitergehen, als sich der Junge mit den blauen Augen zu mir umdrehte. Er zeigte sich nicht überrascht mich zu sehen, sondern legte seine im Mondschein schimmernden Augen in einem feisten Lächeln auf mich. Er fasste sich an seine weite Hose und schwang sie, als ob es einen Rock wäre. Schnell senkte ich meinen Blick und ging meiner Wege.

Heute hatte er wieder dieses wissende Lächeln und ein bemessen, zufriedenes Erkennen lag in seinen Augen. So als ob er bereits vorher über unsere Treffen wusste. Es war immer so, wenn wir uns sahen. Obwohl wir nie ein Wort miteinander gewechselt haben, sind mir unsere Treffen immer eine starke Erinnerung geblieben.

Der Junge mit den blauen Augen drehte sich zur Tür und ein alter dicker Herr um die 70 ging auf ihn zu. Sein Gang war behäbig und langsam, doch waren seine Augen umso schneller und stechender. Er taktierte mich scharf, als er sah, dass ich sie beobachte. Mir war, als würde ich ihm in seinem Blick meine ganze Seele offenbaren. Schnell schaute ich weg. Ich fühlte mich wie ein beim Schummeln entdeckter Schüler. Als ich nach einem Moment vorsichtig aufsah, belächelte er mich überheblich, so wie ein Oberstudienrat seinen schlechtesten Schüler.

Ich unterdrückte das unangenehme Gefühl und bleckte meine Zähne zu einem Feixen. Der alte Mann setzte sich keuchend neben den Jungen mit den blauen Augen. Er lehnte sich zu ihm rüber, faste ihm auf das Knie und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Als ob sie über mich sprechen würden, blickte der Junge mit den blauen Augen zu mir herüber.

Die Situation beschwor eine weitere Erinnerung. Es war unser letztes Treffen gewesen, im vergangenen Sommer, kurz vor meiner Abfahrt. Damals sind wir uns vor der Semperoper begegnet. Ich war mit Maik auf der Suche nach etwas Essbarem gewesen, nachdem wir die halbe Nacht in der Neustadt durchgesumpft hatten. Im Nachhinein gab es keinen ersichtlichen Grund inmitten des teuersten Touristenviertels nach preiswertem Essen zu suchen. Wahrscheinlich hatten wir beschlossen nach Hause zu laufen und auf dem Weg Hunger bekommen. Eine absolut idiotische Idee, da man zu Fuß mindestens anderthalb Stunden braucht. Wir dürften also recht betrunken gewesen sein.

Entsprechen anfällig war ich für Stimmungen. Es dauerte nicht lange, bis mich die Semperoper mit ihrer feierlichen Melancholie eingefangen hatte. Es ist etwas ganz Besonderes, spät abends über die Brühlsche Terrassen zu flanieren. Ein jeder der prachtvollen Barockbauten wird von kolorierten Scheinwerfern angestrahlt und hüllt sie in ihren eigenen charakteristischen Charme. Traut man sich in die Vergangenheit einzutauchen, so verleiht man ihr Ewigkeit. Dann erscheinen im Schimmer der Nacht die Leute in Gehröcke und Barockkleider gehüllt. Das Licht der Scheinwerfer beginnt zu flackern wie leichtes Fackellicht. Aus der Münzgasse erklingt die Violine eines Musikus und taucht alles in romantische Farben. Die Elbe rauscht im Hintergrund, wie ein Mysterium. Um den Turm der Schlosskirche kreisen die Vögel wie Engelskinder. Voll Ehrfurcht treten der Zwinger und die Semperoper nach hinten zurück und öffnen vor sich dem Schlossplatz. Durch den Abstand gewinnen sie selbst an Annmut.

Inmitten dieser Erhabenheit die mich befangen hatte, entstiegen der Semperoper jene namenslosen Augen. Der Junge mit den blauen Augen trug einen alten, dunkelblauen Anzug und ein weißes Hemd mit riesigem Kragen. Als ich ihn erkannte, beobachtete er mich bereits mit seinem geckenhaft Lächeln. Hinter ihm folgte jener dicke, alte Herr. Er berührte die Schulter von dem Jungen mit den blauen Augen und sprach ihn an. Im selben Moment zog mich Maik zu einer Dönerbude, die er zwei Ecken weiter entdeckt hatte. Als ich mich umblickte, war der Junge mit den blauen Augen verschwunden. Der große Schlossplatz lag leer vor mir. Die Semperoper wirkte fade und einsam im Mondlicht.

Seitdem hatte ich den Jungen mit den blauen Augen nie wieder gesehen. Nun saß er hier vor mir, mit diesem alten Mann von damals. Ich überlegte in welcher Beziehung die beiden zueinander standen, waren sie Verwandte oder Bekannte. Doch bevor ich näher darüber nachdachte, schreckte ein Zirpen in meinen Gehörgängen mich auf.

»challo tzaetzchen, tschoen, tass chier vieder alle taa tseid. chachgottchen ta ist ja tsogar ter jean-pierre, tschoen tass tu uns mal beehrst.« 7, begrüßte mich die nasale Realität namentlich. Ich blickte aus meinen Gedanken auf und sah eine bunte Blümchentapete vor mir stehen, die nur Stefan sein konnte. Damit kein Zweifel aufkam, stellte sie sich auch gleich vor. »vuer challe tie mich tnoch tnicht chennen, ich pinn ter stephan unt chier tseid chier pei tem tschwul-lespischen-hochschwulrepherat. cheute chist ter themenchapent tzu ›tschwule im chauslant‹ unt tanach choennen vier noch ein chappochino trinken chehen, tass ist ja tso richtich auslaendisch. chach, am pesten vier fangen mit Jean-Pierre an, ter chist jerade aus Singapur tsurueck chund ich chab tinge gehchoert…« 8

Ich sagte gar nichts. Ich war gar nicht fähig irgendwas von meinem Auslandsaufenthalt zu erzählen, denn irgendwie, auch wenn ich in Deutschland war, verstand ich nur Bahnhof. Das lag nicht an Stefans Ausdrucksweise, an die hatte ich mich schon gewöhnt. Es lag ganz elementar an seiner Anwesenheit, die ich bis eben überhaupt nicht realisiert hatte. Ich hatte auch gar nicht mitbekommen, dass der Seminarraum in der Zwischenzeit voll geworden ist. Dafür bemerkte ich äußerst treffend, dass mich momentan 80 Augen anstarrten und auf ein Wort aus meinem Mund warteten. Es war klar, dass diese Aufmerksamkeit nicht gerade dazu beitrug, dass ich irgendetwas sagte. Sie hemmte vielmehr meine Denkprozesse, die sich krampfhaft an eine Frage klammerten: »Ich dachte, das ist ein Vortrag über Auslandsbeziehungen?«

Es dauerte etwas, bevor ich das schallende Gelächter im Raum in Zusammenhang mit meinen letzten Gedanken brachte. Es dauerte noch etwas länger bis ich bemerkte, dass ich meinen letzten Gedanken laut ausgesprochen hatte. Es ging umso schneller, bis mir mein komplettes Blut in den Schädel schoss und meine Ohren nahezu zum platzen brachte.

Es war dumm von Katja gewesen, dass sie in diesem Moment meinte, mir auf meine Frage eine Antwort zu geben: »Im Großen und Ganzen, ist es genau das, worum es hier geht.«

Im Großen und Ganzen bereue ich heute, was dann passierte. Doch in diesem Moment bereute ich nur, Katja jemals getroffen zu haben. Meine komplette peinliche Berührtheit wandelte sich schlagartig und vollständig in Wut. Eine explosive, exotherme Reaktion, die mich tiefrot färbte. Wenn ich eben noch Probleme hatte nachzuvollziehen, was hier abging, so war mir nun augenblicklich klar, wo ich war. Was hier für Leute waren. Und welche hinterhältige Person mich hier hergelockt hatte. Hierhin, wo ich beschlossen hatte, unter keinen Umständen hinzugehen. Meine Dankbarkeit hielt sich, wie bei dem Mädel im Bus, in Grenzen und zeigte eine vergleichbare Wirkung. Ich schleuderte herum und knallte Katja rechts und links eine.

Der komplette Saal geriet in Aufruhr. Wo eben noch Gelächter erklang, schrieen die Leute nun entsetzt. Mehrere Lesben sprangen auf mich zu, um mich vor Schlimmeren zurück zu halten. Die Schwuppen zuckten überrascht zurück. Stefan hätte nur noch kreischen müssen, um die Panik perfekt zu machen. Doch stattdessen, war es nicht seine Stimme, die mein Ohr als erstes erreichte, sondern sein Fuß, der mir zielgenau und machtvoll gegen das Kinn knallte.

In diesem Moment schaltete ich aus.

In das Dunkel hinnein

Ich wachte erst 20 Minuten später wieder auf. Meine Wut hatte sich tief in mich zurückgezogen und eine oberflächlich, pochend schmerzende Leere zurück gelassen.

Es wäre romantisch gewesen, wenn diese Leere blaue Augen widergespiegelt hätten oder im dunkeln scheinende goldengrüne Smaragde. Doch war es in Wirklichkeit eine profane Sonnenbrille in die ich blickte und in deren Gläsern sich mein eigenes schmerzverzerrtes Gesicht spiegelte. Ich versuchte mit blinzelndem Blick durch die Gläser die Augen der Person dahinter zu sehen, doch erkannte ich sie nicht, nur ihre blendend weißen Zähne grinsten mich an, wie ein Schimpanse die Kamera.

»Chaárrr…«, machte der Unbekannte. Ich lag vor ihm auf dem Fußboden, wobei meine Füße jemand auf einem Rucksack höher gelegt hatte. Der Unbekannte mit der Sonnenbrille kniete neben mir und seine Finger ruhten auf meiner Brust, vielleicht um den Herzschlag zu prüfen. Ich hoffte zumindest, dass sie die ganze Zeit dort gelegen haben und nicht zwischendurch, meine Ohnmacht ausnutzend, tiefer gewandert waren. Entsetzt von der Vorstellung schüttelte ich seine Hand von mir ab und versuchte aufzustehen. Das Klappte irgendwie nicht ganz so gut, weil sich bei der kleinsten Bewegung alles zu drehen begann und stechende Schmerzen meinen Kopf durchzuckten. Der Unbekannte wollte mir wohl helfen und griff mir schiebenden an den Arsch.

»Lass das!«

»Es tut mir leid«, sagte der Unbekannte wirklich leidvoll und ließ von mir ab. Als ich endlich stand und mich mit einem Stuhl auch recht zuverlässig in dieser Position halten konnte, betrachtete ich ihn interessiert. Nachdem er aufgestanden war, besaß er so gar nichts mehr eines Schimpansen, sondern war recht dünn und einen Kopf größer als ich. Er hatte schwarzes, krausiges Haar und eine sommerliche Hautfarbe. Was ich als Sonnenbrille ausgemacht hatte, war eine normale Brille mit dicken, stark getönten Gläsern. Seine Augen waren dadurch nur schemenhaft zu erkennen und wirkten doppelt so groß. Er wich meinem forschenden Blick aus und ging sogar ein paar Schritte nach links und rechts. Seine Hände bewegten sich dabei nervös und machten irgendwelche Zeichen. Dann schlug er sie auf einmal an seiner Hose sauber und reichte sie mir.

»Chaárr. Ich bin Brian«, sagte er recht fließend, mit englischem Akzent im Deutsch.

»Ich bin Jean-Pierre«, stellte ich mich vor und schüttelte seine Hand.

»Ich weiß«, sagte er und setzte amüsiert sein kernweißes Grinsen auf. Peinlich berührt schaute ich zu Boden. Brian schien mich zu verstehen, denn er imitierte mein säuerliches Gesicht wie ein Spiegelbild.

»Es tut mir leid«, sagte er, wieder in dem gleichen leidenden Tonfall.

Ich schaute ihn verwirrt an, da ich keinen Grund sah, dass er sich bei mir entschuldigte.

»Du brauchst dich nicht entschuldigen.«

»Oh. Es tut mir leid«, wiederholte er als Entschuldigung dafür, dass er sich entschuldigte.

»Das brauchst du nicht.«

»Ich bin Britte. Ich muss mich entschuldigen«, erklärte er daraufhin entschuldigend.

Ich schüttelte nur meinen schmerzenden Kopf und stammelte: »Nein, ich muss mich entschuldigen.«

»Du brauchst das nicht. Katja hat alles erklärt.«

»Was hat sie erklärt?«

»Das es ein Versehen war und du hast diese Anfälle manchmal. Du kannst nichts dafür; du bist einfach nur undankbar.«

Ich antwortete nicht und tastete nach meinem schmerzenden Kinn. Undankbar? Jetzt war ich also undankbar. Erst lockt mich Katja hierher, obwohl sie genau wusste, dass ich hier nie hin wollte und als sich herausstellt, dass es mir wider erwarten trotzdem nicht gefällt, heißt es, ich sei undankbar. Und scheinbar auch noch Irre. Anfälle! Ha! Also wenn dem so ist, dann könne sie bis zu meinem nächsten wahnsinnigen Anfall warten, bevor ich beschloss, dass mein Ausrutscher ein Versehen war. Frustriert schaute ich mich im leeren Seminarraum um.

»Wo sind die Anderen?«

»Die sind schon in die Kneipe. Sie waren alle recht aufgeregt und Stefan sagte, er bräuchte unbedingt einen Cappuccino.«

Stefan! Jetzt wusste ich wieder warum mir mein Kinn so verdammt wehtat. ›… ganz harmlos … kann keiner Fliege was zu leide tun…‹, sagt Martin immer. Von wegen, er hatte mir den halben Schädel weggesprengt. Ich nahm meine Hand von meinem Kinn, da es unter der Berührung noch mehr wehtat.

»Und mich haben sie hier so liegen lassen?«

»Ja, die Mädels wollten dir erst Tüte über Kopf ziehen und dich in Elbe versenken. Aber ich hab gesagt ihnen, dass ist nicht richtig. Sie sind gegangen und ich bin geblieben.«

»Danke.«

»Es tut mir leid«, entgegnete er, als wenn es die gängige Antwort sei. Wenn er redete, machte er immer seltsame Zeichen mit seinen Händen. Es war scheinbar eine Zeichensprache, denn ich konnte in einigen Zeichen seine Worte wieder erkennen. Brian selbst schien gar nicht mitzubekommen, dass er alles in Zeichensprache übersetzte. Er wuselte durch den Raum und schien irgendetwas zu suchen. Dann blieb er auf einmal stehen, schaute mich mit seiner Sonnenbrille und diesem gigantischem Grinsen an und sagte, als ob es nichts Schöneres auf dieser Welt gebe: »Das sieht Scheiße aus.«

Ich griff mir automatisch an das Kinn. Es schmerzte.

»Aber nicht so bad, wie Beule an deinem Kopf«, ergänzte er und ruderte mit seinem Finger über seinem Schädel, um die bezeichnete Stelle anzudeuten. Sie ummaß scheinbar meinen ganzen Hinterkopf.

Ich tastete danach und zuckte schmerzhaft zusammen. »Was ist das?«

»Stefan knocked you out und du gefallen gegen Tisch. – Es tut mir leid.«

Ich nickte nur. Jetzt wusste ich auch, woher das Brummen in meinem Schädel kam. Mein Kiefer schmerzte je wacher ich wurde und erleichterte nicht gerade das Sprechen. Ich begann meine Sachen zusammenzusuchen.

»Was machst du?«, fragte Brian wieder das Offensichtliche.

»Ich gehe.«

»Wohin?«

»Nach Hause.«

»Das geht nicht!«

»Warum?«

»Weil Katja gesagt hat, dass sie dich nicht sehen will die nächsten Stunden. She was really ill tempered. Sie bekommt bestimmt schwarzes Auge. – Es tut mir leid.«

Ich drehte mich zu Brian um. Er grinste mich wieder mit seinem blenden weißen Zähnen an, während ich ihm nicht in die Augen blicken konnte. Es ging mir auf die Nerven. Erschöpft ließ ich mich auf einen Stuhl plumpsen. Das letzte wofür ich jetzt noch Kraft besaß, war eine zur Furie gewordene Katja.

»Scheiße!«, fasste ich meinen momentanen Zustand zusammen. Ich gab ja zu, dass ich sie nicht hätte schlagen sollen, aber sie hätte mich auch nie hierher locken dürfen. Sie hat ja gesehen, wohin das führte. Jetzt waren wir beide Halbinvaliden und Katja würde die nächsten Tage sicher keine einziges Wort mehr mit mir wechseln. Während ich eher impulsiv war, war sie nachtragend in ihrer Wut.

»Es tut mir leid«, sagte Brian wieder mit seiner leidenden Stimme.

Ich blickte aus meinem Selbstmitleid auf und sah in Brians grinsendes Gesicht. Es war das erste Mal, dass ich diesen verrückten Briten irgendwie mochte. Ich wusste nicht, was ihn dazu verleitet hatte, nach diesem heutigen Abend mir als Letzter noch Gesellschaft zu leisten, doch war ich ihm sehr dankbar.

»Wollen wir einen trinken gehen?«, fragte Brian.

»Ich will nicht gerade auf die anderen treffen«, sagte ich ehrlich.

»Not so bad. We will go somewhere else«, sagte Brian mit einem freudigen Grinsen und begann begeistert loszulaufen. Ich hatte gar keine andere Wahl als ihm hinterher zu trotten.

Auf dem Weg zur Kneipe redete ausschließlich Brian. So wie er eben mir noch ruhig und abwartend erschien, so plapperte er nun, wie ein Waschweib. Dabei war er recht unspezifisch in seiner Themenwahl und lamentierte über sein Studium, das Wohnheim und den Typen den er gestern getroffen hatte. Er hielt sich keinesfalls mit Details seines Tête-à-têtes zurück und erklärte mir detailliert, wie gut bestückt der Fremde war und welche sexuellen Präferenzen er hatte. Er erzählte mir alles im Detail, ohne sich daran zu stören, dass ich ihn nicht recht verstand. Seine hohe Sprechgeschwindigkeit reduzierte er nie. Fand er nicht schnell genug ein deutsches Wort, verwendete er einfach das Englische. Sein Akzent war irgendwie girlyhaft, energiegeladen und leicht quiekig. Dabei bewegte er agil seine Hände. Sie rannten synchron zu seinen Worten, hielten nie inne. Seltsamer Weise war mir, obwohl er unablässig redete, so, als ob er mir dabei zuhören würde. Als wenn seine Worten die Fragen in meinem eigenen Geist reflektieren würden. Er erzählte von seinem Leben, so als ob es auch das meine währe. Ich bewunderte ihn für seine Offenheit.

Es störte mich nicht, dass er auch in der Studentenkneipe weiter redete. Es schien ihn zu beruhigen, auch wenn er dadurch nicht langsamer sprach. Eher nebenbei schüttete er ein paar Wodka-Lemon hinunter. Ich merkte gar nicht, wann er pausierte, um zu trinken. Ich trank gar nichts. Mein Kinn schmerzte genauso wie mein Hinterkopf und mein Hirn dazwischen brodelte in einer betäubenden Leere. Das Rauschen von Brians Stimme füllte diese Leere mit etwas kontinuierlich Simplen. Während er redete, war das Bummern in meinem Kopf nur noch halb so schlimm. So wie easy listening Katerstimmung erträglich machen kann.

Nach zwei Stunden hörte Brian von alleine auf zu reden, so urplötzlich wie er begonnen hatte. Zufrieden grinste er mich an und lehnte sich in seinem Stuhl in die dunkle Ecke hinter ihm zurück. Sein breites Grinsen leuchtete wie die Milchstraße daraus hervor. Er erinnerte mich an Suhas und mein Bauch zog sich unwillkürlich zusammen. Seltsamer Weise konnte ich nun, wo Brians Kontur im Dämmerlicht verschwand, seine Augen durch die Brille leuchten sehen. Unsicher lächelte ich ihn an, da ich nicht wusste, ob ich jetzt genauso offenherzig über mich berichten sollte. Doch Brian erwartete es wohl nicht, sondern sagte: »Es tut mir leid.«

»Was?«

»Dass ich so viel geredet habe.«

»Ist ok.«

»Danke.«

»Wofür?«

»Dafür, dass du mich hast so viel reden lassen.«

»Ist doch selbstverständlich.«

»Nein, ist es nicht«, entgegnete mir Brian betrübt. Dass reine Lächeln, das eben noch sein Gesicht erhellte, schien nie da gewesen zu sein. Er wendete sein Blick von mir ab und versenkte ihn traurig in sich selbst. Seine Hände blieben bei seinen Worten still auf seinem Schoß liegen. So regungslos verschwand er in der dunklen Ecke, die ihn wie ein Teil ihrer grenzfrei aufsog. Es war nur ein kurzer Moment, in dem er so versunken verharrte. Sofort war wieder das Grinsen da. Er setzte sich auf und seine Hände begannen wieder synchron zu seinen Worten fliegen. Der rasche Wechsel überraschte mich so sehr, dass ich überlegte, ob ich mir diese Unterbrechung nur eingebildet hatte. Ich versuchte seine Augen zu erkennen, doch spiegelte sich nun die Tischlampe in seiner Brille und beschönigte das Grinsen. Brian monologisierte wieder so wie eben. Dennoch waren seine Worte banal und ich hörte ihm kaum zu. Er selbst schien sich nicht zuzuhören. Seine Hände stockten von Zeit zu Zeit. Seine Augen blieben für mich nicht erkennbar. Wie uns seine Erzählung eben noch vereinte, so trennten uns seine Worte nun. Ihre Intonation hallte in meinem Kopf wieder, wie ein Pfiff in einem engen Tal. Meine Kopfschmerzen verstärkten sich und nach einer halben Stunde verabschiedete ich mich von ihm. Brian nahm meine Verabschiedung kommentarlos hin. Er lächelte noch nicht einmal, sondern schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein. Er lehnte sich zurück in die dunkle Ecke und verharrte dort, bis ich gegangen war.

Als ich Zuhause ankam, war keiner da. Katja hatte sich wohl bereits bei Maik verkrochen und es war mir ganz recht. Ich war müde und mein Schädel wummerte. Ich hatte nicht die Kraft bei Katja anzurufen. Das würde bedeuten, dass ich mich zuerst ungefähr hundertmal bei Maik entschuldigen musste, bevor Katja mich überhaupt sprechen wollte und dann noch einige weitere hundert Mal bei Katja, bevor sie irgendwann theatralisch nachgeben würde. Es war zu erwarten, dass ich bis dahin längst eingeschlafen bin. Es würde ausreichen, wenn ich sie morgen anrufen würde, da würde sie noch sauer genug sein.

Ich fiel in mein Bett und schlief nur schlecht ein. Egal wie ich mich legte, irgendwie lag ich immer entweder auf meinem Kinn oder meinem Hinterkopf. Ich stand auf, um im Kühlschrank nach den Kühlpäckchen zu suchen. Doch waren alle fort. Wahrscheinlich hatte Katja sie geklaut. Bis der Schlaf über den Schmerz siegte, überlegte ich, warum ich mich eigentlich bei ihr entschuldigen sollte, immerhin hatte sie uns die ganze Sache doch eingebrockt. Ich kam zu keinem Ergebnis.

Am nächsten Morgen wurde ich wach, als ich das Kramen in der Küche hörte. Irgendjemand wühlte in unseren Küchenschränken herum und war nicht gerade leise dabei. Ich war mir sicher, dass es niemand aus der WG war, denn bei uns räumt keiner so energisch am frühen Morgen auf, noch nicht einmal Katja. Also konnte es nur noch ein Einbrecher sein, der nach der Haushaltkasse suchte. Ich überlegte, ob ich den alten Hockeyschläger hinter dem Schrank hervorkramen sollte, bevor ich nachschauen würde. Doch dann entschied ich mich dagegen und ließ ihn in seiner staubigen Ecke. Immerhin war ich ein mutiger und vor allem fauler Mann. Völlig unbewaffnet, mit schlafverquollenen Augen und in Unterwäsche schlich ich in die Küche.

Dort fand ich Maik wie er gerade eine Bratpfanne in eine Sporttasche werfen wollte. Ich begrüßte ihn schlaftrunken und er zuckte überrascht zusammen und war kurz davor die Bratpfanne nach mir zu werfen.

»Oh ich dachte du bist schon in der Uni«, entschuldigte sich Maik.

Ich glubschte Maik nur müde an. Etwas das Frühaufsteher wahrscheinlich nie verstehen werden, ist, dass Spätaufsteher nicht früh aufstehen. Maik interessierte dieser logische Widerspruch auch nicht weiter, sondern er holte einen Topf aus dem Schrank und packte ihn zu der Bratpfanne.

Ich war am frühen Morgen, es war gegen 11.00 Uhr, nun war ich wirklich nicht in der Lage, komplexe Zusammenhänge zu erfassen und fragte leicht irritiert, was Maik da machen würde. Maik jedoch wich meiner Frage und meinem forschenden Blick aus und packte weiterhin still Geschirr in die Tasche. Ich beobachtete ihn dabei eine Weile. Ich bin morgens grundsätzlich nicht an längeren Gesprächen interessiert und wartete darauf, dass sich mir mit der aufkeimenden Wachheit auch der Sinn seiner Handlung erschloss. Als er letztendlich auch das Emaillesieb mit dem sechziger Jahre Blümchenmuster zu den restlichen Sachen packte ging mir ein Licht auf.

»Das sind Katjas Sachen.«

Maik schulterte die Sporttasche und die Töpfe klapperten revoltierend. Er drückte sich an mir vorbei durch die Tür und ging stumm in Richtung Ausgang.

»Maik was machst du da mit Katjas Sachen«, fragte ich und rannte ihm hinterher. Doch Maik beachte auch mein wiederholtes Fragen nicht weiter, sondern lief schnurstracks zu seinem Auto vor dem Haus. Ich stellte erschrocken fest, dass der ganze Wagen bis unter das Dach mit Katjas Sachen vollgestopft war. Schockiert beobachte ich, wie Maik in das Auto einstieg. Er startete den Motor und schaute mich noch einmal an. Stumm formulierten meine Augen die Frage, was dies alles zu bedeuten hätte. Mitleidig wütend schaute mich Maik an und sagte: »Katja zieht für eine Weile zu mir.«

»Aber warum?«

Maik schaute mich nur ungläubig an, kurz bevor er fuhr sagte er: »Verdammt Jean-Pierre: bist du so begriffsstutzig oder tust du nur so? Katja bemüht sich ständig, etwas aus deinem Leben zu machen. Ich höre die ganze Zeit nur Jean-Pierre hier, Jean-Pierre dort. Ständig macht sie sich Sorgen um ihren kleinen Jean-Pierre. Sie wollte dir sogar das Kinderzimmer in unserer neuen Wohnung geben. Und was machst du? Du verpasst ihr ein fettes blaues Auge und es sieht nicht besser aus, wenn sie die ganze Nacht geheult hat. Und anstatt, dass du dich bei ihr entschuldigst, pennst du bis in die Puppen und verschwendest noch nicht einmal einen Gedanken daran, bei ihr anzurufen. Jetzt schau mich nicht so naiv an. Du weißt genau, wie Katja auf sowas reagiert. Sie hat den ganzen Morgen getobt. Glaubst du, ich tu das hier freiwillig? Als ich Katja gesagt habe, dass ich ihren Auszug für etwas kurzschlüssig halten würde, hat sie mich aus meiner eigenen Wohnung geschmissen. Meiner Wohnung! Weißt du was sie mir hinterher gerufen hat? ›Ich könne ihr gestohlen bleiben und ja bei meinen schwulen Freunden einziehen, wenn sie mir lieber währen.‹ Verdammt Jean-Pierre, ich hab kein Bock auf diesen ganzen Scheiß. Es lief gerade mal wieder etwas besser zwischen uns und jetzt kommst du daher und machst aus einer absoluten Nichtigkeit eine verdammte Katastrophe. Und nun tu nicht so, als ob du die nette Unschuld bist, du bist so ein verdammter Egoist und das einzige, was dich interessiert, ist ›Dein Leid‹.«


Fußnoten:

…chueperraschung :
Überraschung   (zurück)
…haben. :
Ach ich hab dich auch so was von vermisst mein Schatzi. Schön dich wieder hier zu haben.   (zurück)
…tamit? :
Eigentlich? Was meinst du damit?   (zurück)
…chenne! :
Szene? Ich? Ich bin einer der dezentesten Leute, die ich kenne!   (zurück)
…treffen. :
Ach Darling, dass ist ja eine Wonne, dich hier an der Uni zu treffen   (zurück)
…mich. :
Schön ich freue mich.   (zurück)
…beehrst. :
Hallo Schätzchen, schön, dass ihr wieder alle da seid. Oh, mein lieber Gott, da ist ja sogar der Jean-Pierre, schön das du uns mal beehrst.   (zurück)
…gehchoert… :
Für alle die mich noch nicht kennen, ich bin der Stefan und ihr seid hier bei dem Schwul-Lesbischen-Hochschulreferat. Heute ist der Themenabend zu ›Schwule im Ausland‹ und danach können wir noch einen Cappuccino trinken gehen, dass ist ja so richtig ausländisch. Am besten wir fangen mit Jean-Pierre an, der ist gerade aus Singapur zurück und ich habe Dinge gehört…   (zurück)

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