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Nr. 9

Teil 2 - Adagio cantabile con moto

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

In&Out

0

… durch den Kopf und raus …

1

… ich starre an die Decke,
sie dreht sich, verschwimmt,
wird langsam wieder klarer …

2

… etwas zu klar.

Sie kommt näher; stürzt auf mich zu, knallt mir ins Gesicht und zerquetscht meine Knochen. Tausende Tonnen ruhen auf meinen Gliedern, lasten auf meiner Seele. Ich bin unfähig mich zu bewegen, alles schmerzt.

Ich starre in das Raufasermuster und sehe es ganz scharf; folge den Konturen, sie formen seinen Kopf. Es ist nur eine groteske Maske, verzerrt von Verachtung und Hass. Feuer lodert in seinen Augen und Abscheu verzieht seinen Mund. Er öffnet sich ganz langsam, bildet einen Schlund und verschlingt mich; zieht mich hinab in die Dunkelheit, ins Vergessen. Ich möchte mich abwenden, fliehen, doch kann ich nicht. Mein Gewissen lähmt meine Kräfte, beschwert mich mit seiner Last. Ich falle …

3

und atme auf! Die Dunkelheit ist nicht so brennend wie das Sonnenlicht. Fordert keine Reinheit, keine Ehrlichkeit. Hier in der Finsternis kann sich alles verstecken - auch ich mich.

Nichts wird hier gefunden, begutachtet, hinterleuchtet. Nichts wird gefragt, keine Antwort verlangt. Nur pure, reine Einsamkeit. Nur ich und niemand anders.

Kein gesellschaftliches Allerlei. Niemand, der mich nervt. Niemand der sich um mich kümmert. Ich und nur Ich. Was brauche ich mehr. Ich möchte hier nicht fort, will hier bleiben, allein - für immer!?

4

Ich wache wieder auf und blicke an die Decke, suche nach seinem Kopf - seinem Blick - kann Ihn nicht finden. Auch er ist fort, hat mich verlassen!

5

Verlassen? Verlassen von allen guten Geistern liege ich hier. Ich weiß nicht, wie lange schon. Es ist mir auch egal. Mir ist alles egal. Ich hasse die Vögel mit ihrem Gezwitscher, das Pfeifen der Luft durch das angelehnte Fenster. Ich hasse diese Zeichen von Leben, voll mit all dieser Vitalität - diesem Glück.

Mir geht's schlecht! Warum interessiert das keinen? Mir ist kotzübel, alles schmerzt. Mein Kopf wummert. Meine Gliedmaßen gegossen in Blei. Doch ist mir das alles scheißegal.

Denn was wirklich schmerzt, ist der Schmerz da irgendwo tief drin. Da, wo ich ihn nicht fassen kann, ihn nicht rausreißen kann, sticht er langsam, lustvoll vor sich hin, bohrt in meinen Innereien, martert meine Seele, macht mir Vorwürfe - trifft mich damit.

Ich war selbst schuld, habe mich um mein Hirn gesoffen, wegen irgendeines blöden Idioten, irgendeines idiotischen, arroganten Arsches, der mir einfach mein Herz geklaut hat. Ich hab es ihm geschenkt und wofür? Dafür, dass er damit rumspielt? Macht, was er will? Mich ignoriert?

Mein Wecker knallt gegen die Tür - zersplittert.

Ich war solch ein Idiot! Warum passiert mir immer so was? Womit hab ich es verdient, immer bei irgendwelchen Trotteln zu landen? Warum kann ich nicht einfach so glücklich werden? Warum braucht mann jemand andern dafür?

Ich möchte allein sein! Ich will meine Ruhe! Für mich ist diese Welt gestorben, sie kann mich mal! Ich lasse mich doch nicht einfach so verarschen!

Ich drehe mich zur Wand, zeige der Welt meinen Rücken. Sie verschwimmt kurz und festigt sich wieder. Ich verschließe meine Augen vor der unwirklichen Masse und lausche dem stetigen Hämmern meines eigenen Pulses.

Ich höre, wie sich die Tür öffnet und leichte Schritte zu meinem Bett kommen. Katja setzt sich neben mich. Ich drehe mich aber nicht rum. Ich habe keine Lust. Ich will meine Ruhe!

Sie streicht mir durch die Haare, aber ich schüttle ihre Hand ab. Ich will nicht, dass sie mich berührt. Ich will meinen Schmerz!

»Wie geht's?«, fragt sie mich sanft.

Ich antworte nicht. Ich möchte, dass sie verschwindet, was interessieren sie schon meine Problemchen?

Ich bin allein in dieser Welt. Ich habe das akzeptiert, will es nicht anders, also soll sie gefälligst verschwinden. Ich will sie nicht mit meinen Nichtigkeiten belasten, mir nicht zeigen lassen, wie sie darüber steht, dass sie für alles eine Lösung hat. Ich will keine Lösung! Ich will nur Mich und Mein Selbstmitleid!

»Was ist los?«, fragt sie und berührt leicht meine Schulter.

Ich rücke weg, ganz eng an die Wand. Ich mag ihre Kühle, sie beruhigt mich, will nichts von mir, sie fasst mich nicht einfach an, sondern ist einfach nur da. Ich starre in die weiße Tapete und sehe ein Land voll eisigem Glück.

›Verschwinde endlich!‹

›Warum gehst du nicht?‹

›Willst du dich an mir weiden?‹

Sie antwortet mir nicht! Es interessiert sie nicht!

›Ach Scheiße!‹

Ich drehe mich rum und schaue sie an. Sie blickt mir mitleidig in die Augen, mein Selbstmitleid spiegelt sich darin. Es sind meine Tränen und mein verquollener Blick, den ich sehe, dabei will ich ihr Mitleid gar nicht. Stattdessen will ich aufwachen, möchte, dass alles ein Traum war. Ich möchte die Zeit zurückdrehen, machen das es ist wie früher: heimlich, unerreicht, fanatisch.

»Wie geht's deinem Kopf?«, fragt mich Katja.

»Baustelle! Überall Löcher und ein ständiges Hämmern und Brummen!«, flüstere ich; meine Stimme ist ein Stück Sandpapier - extragrob.

»Was weißt du noch?«

»Nix …«, sage ich und starre in seine glühenden Augen, spüre seine warmen Lippen, umschlinge seine heiße Zunge und alles verliert sich in eisiger Schwärze.

»… Nur, dass ich ihn geküsst habe.«, zwinge ich raus.

Katja lacht leise. Ich schaue sie an, bin zu schwach, um böse zu sein.

»Du hättest die Gesichter der Leute sehen sollen. Die haben vielleicht gestarrt.«

Ich versuche mir vorzustellen, wie die Leute geschaut haben, doch ist es mir eigentlich egal, mich interessiert nur eine Person.

»Was hat er gesagt?«

»Nicht viel. Er war wohl ziemlich überrascht, so stürmisch von dir angemacht zu werden. Er ist schnell gegangen. Wir haben dich nach Hause geschafft.«

Ich schaue an die Decke, starre durch sie hindurch in den Himmel und sehe die Wolken. Es sind keine Sturmwolken, kein dunkles, wütend wallendes Grau, nur ein lichtes Blau mit kleinen Schäfchenwolken, sie alle formen ihn.

»Ich habe seine Telefonnummer«, sagt Katja, kramt kurz in ihrer Hose und holt die Ecke eines Bierdeckels heraus.

Ich blicke auf die Nummer, die sich in krakeliger Schrift über den ganzen Deckel zieht. Schnell wurde sie hingekritzelt und unachtsam zurückgelassen. Es ist, als ob es eine Entschuldigung für das Weglaufen sein soll. Eine dahin geworfene weiße Fahne, beschmiert mit Bier, an den Ecken zerfetzt.

Katja drückt sie mir in die Hand und ich lese die Nummer: 360 9 342

Meine Nr. 9, immer und immer wieder.

Ich könnte ihn anrufen, müsste nur diese Nummer wählen. Es wäre ganz einfach und dann müsste ich mich nur noch entschuldigen, dafür, dass ich mich aufgeführt habe wie ein Idiot, mich ihm um den Hals geworfen habe wie der letzte Trottel und dann? Wäre es dann wie früher?

Früher? Was war schon früher gewesen?

Kim! Kim war früher gewesen! Ich muss es begreifen! Für uns gab es kein früher. Es gab nur Kim!

»Willst du ihn anrufen?«, fragt mich Katja.

Ich schüttle den Kopf. Es schmerzt nicht nur im dort, sondern auch im Herzen, doch welchen Sinn hätte es. Es ist vorbei, ohne je begonnen zu haben.

»Es ist hoffnungslos oder?«, frage ich Katja. Im gleichen Moment bereue ich die Frage auch schon, scheue die Antwort. Doch auch wenn es weh tut - muss mann die Wunde nicht ausbrennen, solange sie noch frisch ist?

»Er hat eine Freundin …«, der erste Stich - direkt ins Herz.

»… sie schienen glücklich zu sein …«, sie dreht langsam die Klinge.

»… äußerst!«, stößt noch ein letztes Mal tief zu und reißt das Messer mit Schwung wieder heraus.

»Tut mir Leid!«

Ich nicke nur. Mein Selbstmitleid tränkt das Laken.

Vorlesungsgeflüster

»Hey! Jean-Pierre!«, flüstert es mir von hinten zu.

»Hmpf?«

»Hey!«, klopft es von meinem Ohr noch einmal direkt ans Hirn. Gesellt sich zu einem Schmerz aus der Wirbelgegend, der über irgendetwas Spitzes zu berichten weiß, und läutet Sturm an meinem Schlafzentrum.

Eine kleine Klappe öffnet sich in meinem Bewusstsein und der Lauf einer Schrotflinte schiebt sich raus - das Antiaufweckprogramm.

Phase I: Sammeln

›Argghhh?‹, langsam erhebe ich meinen zentnerschweren Kopf von der Bank und drehe mich nach hinten um.

Phase II: Feind lokalisieren

Mein wutentbrannter, verschlafener Blick fokussiert auf Martin. Ein nahezu unbekannter Feind. Eigentlich nur ein Bekannter eines Bekannten einer Freundin, den mann immer auf irgendwelchen Partys trifft, mit dem mann aber nie mehr als paar Sätze wechselt. Eigentlich auch ganz nett - bis jetzt!

Phase III: Angriff

»WAS!«, feuere ich Martin sauer ins Gesicht! Das sollte jeden weiteren Kommentar im Keim ersticken.

Phase IV: Vernichten

Nun gut, ich habe mich etwas in der Pulverladung vertan und so quillt die Frage doch eher schüchtern träge heraus, blubbert etwas in der Gegend herum und verkriecht sich dann in der nächsten Ecke. Der vernichtende Effekt bleibt somit aus, wäre auch zu viel erwartet am frühen Morgen.

»Hast wohl ein schweres Wochenende gehabt?«, meint Martin mit siegesgewissem Grinsen.

Aber da hat er sich getäuscht! Mein Verteidigungsprogramm läuft immer noch! Und das wird Mir zum Verhängnis. Denn dummerweise wurde nicht bedacht, dass der Feind den Erstschlag überstehen kann, also lande ich im nächsten Zustand.

Phase V: Weiterschlafen

Ich drehe mich wieder rum und lasse meinen Kopf genussvoll auf die Bankplatte knallen. Diese Frage kann er sich auch selbst beantworten, ich bin jedenfalls zu müde dazu.

Ich weiß auch nicht, warum ich überhaupt aufgestanden bin. Mein Hirn ist immer noch voll Haferschleim und mein Körper ein Sack voll mit Wasser. Das ganze Wochenende war eigentlich nur ein großes Leiden gewesen. Ich war krank - schwer krank. Die Diagnose - gebrochenes Herz - vernichtend.

Den Sonntag habe ich genauso verbracht, wie den Samstag, im Bett liegend, die Decke anstarrend, auf der Suche nach Gründen Alexander als Idiot abzustempeln. Doch meine Nr. 9 - wich nicht von dem ihm angestandenen Platz.

Ich verstand nicht, wieso er mir so den Kopf verdrehen konnte und fand keinen Schalter, das abzustellen. Also musste ich es erdulden. Die Zeit heilt alle Wunden, sagt mann, aber diese Wunde wuchs mit jeder Minute, die ich ohne ihn war. Ich wollte nur noch schlafen, in der Hoffnung, dass, wenn ich aufwache, ich nicht mehr an ihn denken muss - zwecklos. Doch zumindest im Schlaf waren meine Gedanken an ihn glücklich. Warum bin ich nur nicht im schönen warmen, kuscheligen Bett geblieben?

Ach ja, jetzt fällt es mir wieder ein, Katja! Unsere lustige Frühaufsteherin hat mich heute mal wieder aus dem Bett geschleift. Eigentlich ist sie nur fröhlich in mein Zimmer stolziert und hat mich so lange mit ihrer guten Laune vollgelabert, bis ich eh nicht mehr schlafen konnte. Also dachte ich mir, dass zumindest die Vorlesung eine gute Chance böte, das wieder gut zu machen, weil Katja ja dann ruhig ist, sie ist ja so fleißig und der Prof. mich mit seiner monotonen Stimme immer sicher in den Schlaf wiegt. Gedacht, getan & durchschlafenden Erfolg gehabt. Ich habe in den Armen der Unschuld geruht, bis dieser Typ mich ihnen entrissen hat. Und jetzt textet er mich auch noch weiter zu, so dass ich wieder nicht zur Ruhe komme!

»Kann ich verstehen, hast dich im Zouk ja ziemlich zugeschüttet und an die halbe Männerwelt rangemacht und abgeknutscht!«

BING! Ich bin hell wach! Die ganze künstliche Helligkeit des Vorlesungssaales durchleuchtet mich. Meine Augen sind geweitet. Woher?

Aber klar, ich starre direkt in ihr Gesicht, wie sie so unschuldig auf ihrem Bleistift kaut, so als ob sie der Vorlesung folgen würde. Katja! Muss sie eigentlich immer alles gleich dem erstbesten Unbekannten auf die Nase binden? Ich bombardiere sie mit bösen Blicken und einem gut gezielten Radiergummi, während ich Martin mit einem unschuldigen: »Ja und?«, versöhne.

Ein weniger unschuldiges, sondern eher entsetztes Gekreische kommt von der Seite: »Was soll das?«

Ich funkel herüber. Sie weiß genau, was das soll, aber das klären wir später!

»Gibt's Krieg?«, fragt Michael lauernd. Er genießt sichtlich das Schauspiel von seinem Tribünenplatz aus.

»Wieso?«, frage ich unschuldig und funkel Katja an. Sie sieht mich überrascht an, blickt Martin an - der grinst zurück. Dann schaut sie genauso unklug wieder zu mir. Ich kontere mit kühlem Blick, mich kann sie nicht täuschen. Sie hingegen runzelt die Stirn und zuckt mit der Schulter.

»Männer!«, sagt sie und wendet sich wieder der wichtigen Vorlesung zu. Ja genau! Das klären wir später!

Martin grinst hingegen immer noch fröhlich vor sich hin. Na ja, wenn er meint, dass er mich mit so was aus der Defensive locken kann, hat er sich getäuscht. Ich will mich gerade wieder schlafen legen, als er meine Nachtruhe noch einmal unterbricht.

»Ich wusste gar nicht, dass du schwul bist?«

»Ich wusste gar nicht, dass dich das was angeht?«, grunze ich.

»Hm, dachte immer das ihr beide?«, er deutet auf Katja.

»Naaa …«, sage ich verächtlich und kuschle mich in meine Arme. Wie kommt er auf so einen Blödsinn? Wir sind nur gute Freunde, das sieht doch jeder!

»Ja, klar.«, meint er und beobachtet mich eine Weile.

Ich zweifle kurz an seinen Worten und genieße dann endlich die ersehnte Ruhe! Ich schließe meine Augen, gebe mich meinen Träumen hin und … kann natürlich nicht schlafen. Wie soll mann bitte sehr auch ein Auge zubekommen, wenn dich jemand anglotzt wie einen Schimpansen im Zoo? Dieser Typ nervt!

Was will er überhaupt von mir? Will er hier nur Gerüchte breittreten, den toleranten Samariter mimen, oder will er irgendwas beichten?

Beichten? Ich werde wieder wach, mein Gaydar springt an, der Test läuft zum ersten Mal für Martin.

Er war irgendwie immer jemand gewesen, der vom Test umgangen wurde. Ich habe nie darüber nachgedacht, ob er schwul ist. Komisch, das passiert eigentlich selten, da mein Gaydar immer vor sich hinrattert. Ständig empfängt es im Unterbewusstsein alle möglichen Signale, wertet aus, protokolliert, testet, stichelt nach, so lange, bis ich glaube, ein ziemlich sicheres Bild von jemanden zu haben und die entscheidende Kategorie feststeht Schwul/Hete/Bi.

Aber Martin? Er war einer der wenigen Leute, von denen ich so wenige Signale auffing, dass sie in keine Kategorie passten. Ein Dauerkandidat in der Kategorie Unbekannt. Ein Nobody wie ich, der so unbedeutend war, dass es mich noch nicht einmal interessierte, ob er schwul war. Doch jetzt?

Ich schaue ihn mir genauer an, analysiere sein Äußeres auf Anzeichen: Er ist ziemlich klein und kompakt; hat blonde verwurschtelte Haare, ein paar Bartstoppeln und ein freches Grinsen. Alles an ihm scheint leicht durcheinander, aber ist doch ausgewogen chaotisch. Eine verbogene Brille balanciert auf seiner Nase.

›DNÄT!‹, ertönt es in meinem Kopf, unterbricht meine Gedanken. Ah ja, der Test ist abgeschlossen, ich betrachte das Protokoll und das Ergebnis lautet ›???% ++‹ (Unbekannt, aber mit steigender Tendenz). Hm, nicht viel, da müssen wir halt mal aktiv testen.

Ich schaue Martin direkt in die Augen. Sie sind stahlblau und halten meinem Blick entsprechen sicher stand. Er fängt an, mich schelmisch anzugrinsen, so als ob er meine Gedanken lesen könnte, meine Auswertung ticken hört, weiß, dass er so eben der 100% Rate entgegenschnellt. Es scheint, ihn nicht zu stören - explodierende Tendenz!

»Alexander ist ganz süß oder?«, sagt er auf einmal.

»Was?«, stammle ich verwirrt. Ich merke noch kurz, wie etliche Alexanderprogramme starten, sich gegenseitig unterbrechen, mein Gedächtnis rödelt, mein Zwischenspeicher wird überladen. ›Sie verfügen über sehr wenig Systemressourcen … ‹ - bluescreen!

»Alexander!«, betont Martin.

»Hä?«, grunze ich, gerade am Neustart.

»Der Freund von Kim!«

»Äh?«, ich ordne noch ein paar Gedanken, diese ganzen verlorenen Dateien.

»Alexander, der Typ, den du abgeknutscht hast?«

»Ah ja?«, gerade wollen wieder ein paar Alexanderprogramme starten, das System flimmert, aber ich bin schneller und schmeiße sie rechtzeitig raus. Was passiert hier überhaupt?

»Du kennst Alexander?«

»Klar!«, sagt er und nickt bestätigend, so als ob jeder Alexander kennt.

Klar? Mir ist hier gar nichts klar. Irgendwie sind mir beim Absturz ein paar Dateien verloren gegangen, ich weiß echt nicht, was hier läuft. Das sieht mir Martin wohl auch an, denn wie das so ist, wenn der Geist nach innen gekehrt ist, kann das Gesicht nicht besonders intelligent aussehen. Will heißen, ich blicke ziemlich bedeppert aus der Wäsche und forme nur leere Sprechblasen.

»Ich bin ein Bekannter von Kim!«, hilft er mir aus der Misere und fügt noch ein paar Details zur Erklärung an. »Wir wohnten früher im gleichen Haus und da haben wir uns angefreundet. Mittlerweile ist der Kontakt eher spärlich, aber gestern hat sie mich dann doch angerufen.«

So langsam formt sich ein gewisses Bild: Also Kim ist der Grund für dieses Gerücht und nicht Katja. Da muss ich mich wohl bei Katja entschuldigen, aber das kann warten. Vorher bilde ich mir mein neues Feindbild noch etwas aus: Kim!

»Sie hat dir von mir erzählt?«, frage ich und kann dabei einen leicht aggressiven Unterton nicht unterdrücken.

»Ja, klar!«, sagt Martin und mir erscheint es ganz natürlich, dass mann Martin alles erzählt. Ich möchte mich schon beruhigt abwenden, als mir sein »klar« klar wird.

Es war ein Trick! Es war eine perfekte Halbbetonung! Ein Gehört&Vergessen. Ein unklares Glasklar! Durch diese Verschleierung kristallisiert die Bedeutung des Wortes »klar« erst direkt im Unterbewusstsein und blendet von dort bis ins Großhirn hinein. So klingt es weder ignorant noch überheblich, sondern schlicht, ehrlich und wahr. Kein Gedanke wird je daran verschwendet, dass dem nicht so ist!

Ich durchschaue sein Milchglasklar und ihn misstrauisch an. Er putzt sich die Brille und grient sicher zurück.

»Du darfst nicht falsch von ihr denken, normalerweise tratscht sie nichts aus, aber da sie wusste, dass wir zusammen studieren und mich das Thema interessiert, hat sie es mir erzählt«, er zwinkert und die Gedanken von vorhin kommen hoch.

»Dich interessiert?«

»Ja sie hat mich mit meinem ersten Freund im Treppenhaus erwischt - als wir uns gerade verabschiedeten. War mir schweinepeinlich gewesen, aber Kim meinte nur: ›Süß!‹ und ist abgezogen. Ich fand die Reaktion auch total süß. Ich war damals noch ungeoutet und sie wurde somit zu meinem ersten Outing, war echt Klasse!«

Das unterstützt mein Feindbild von Kim nun wieder nicht - Mist! Mann kann echt nicht schlecht von dieser Frau denken. Ich hasse sie dafür oder eben halt gerade nicht.

»Alexander hat's dir ziemlich angetan, oder?«, fragt Martin, der mich eindringlich beobachtet.

»Hmjm …«, seufze ich schuldig. Sein Bild schwebte mal wieder vor meinen Augen, ich bekomme ihn einfach nicht von dort weg. Das Martin schwul ist, ist mir komischer Weise völlig gleichgültig. Mir ist alles auf dieser Welt gleichgültig, solange es Nr. 9 gibt. Mist! Warum werde ich diesen Typen nicht los? Jetzt verfolgt er mich auch noch über sechs Ecken, vermasselt mir jede weitere Chance.

»Liebst du ihn?«

Ich muss bei dieser Frage grinsen. Glück durchströmt mich und füllt für einen Augenblick den Brunnen der Leere. Doch besitzt dieser kein Ende und saugt es in unendliche Tiefe. Ich starre in die Dunkelheit, erkenne in der Ferne zwei kleine flackernd gelbe Lichter auf grünen Grund.

»Ein Feuerwerk!«, beschreibt Martin leise.

»Ja!«, stimme ich ihm zu, bewundere das Schauspiel und lasse dann von Martin das Licht anschalten, wende mich ihm zu.

»Er hat voll den Killerblick, was?«, sagt Martin amüsiert.

»Da würde jede Kobra erbleichen!«, lache ich ihn an.

»Und sein Körper!«, himmelt Martin, schließt die Augen und träumt für einen Moment davon.

»Ein Adonis!«, bestätige ich.

»Besser! Der hätte keine Chance gegen ihn! Er ist ein Ass in Sport!«

»Ach so?«

»Klar!«

Auch mir erscheint es selbstverständlich. Das ist Nr. 9!

»Meine Nr. 9«, fasse ich zusammen.

»Wer?«, fragt Martin.

Ich lächle ihn an und erzähle ihm die Geschichte. Er hört mir gespannt zu, muss hier und da lächeln, gibt mir aber nie das Gefühl, das mir etwas peinlich sein muss. Am Ende lachen wir beide, als ich ihm von Dem ersten Kuss erzähle.


»Nr. 9! Ja gut genug sieht er aus!«, sagt Martin zum Abschluss und lächelt in sich hinein.

»Nr. 9!«, bestätige ich mir noch einmal.

»Und 10, wenn er auch noch einen guten Charakter hat!«, zieht mich Martin auf.

»Stimmt, eigentlich hat er schon eine 10 verdient!«

»Du kennst ihn schon so gut?«

»Ich liebe ihn!«

»Ach so, ja, die rosarote Brille, ich vergaß!«

»Ja, klar!«, sage ich sicher, doch klingt es nicht halb so halbklar wie bei Martin. Ich grinse ihn zuversichtlich an, dennoch mustert er mich forschend. Langsam zerbröckelt mein halbklar unter seinem eisklaren Blick. Mein Hochgefühl von eben löst sich in Erkenntnis auf.

»Es hat keinen Sinn oder?«

»Weißt du, ich kenne ihn schon seit Jahren …«, beginnt er ruhig. »Er hat mich von Anfang an so akzeptiert, wie ich bin. Er hat sogar einmal mit mir über Jungs diskutiert. Aber ich denke nicht, dass er jemals etwas auf sich bezogen hat. In all der Zeit währe mir irgendwas aufgefallen«, schließt Martin und schaut auf seine Hände, sucht in ihnen nach den nächsten Worten. Mit einem Lächeln führt er fort: »Die beiden sind jetzt seit 2 Jahren zusammen. Es ist unglaublich, wie sie zusammenpassen. Manchmal glaube ich, sie hätten sich erst gestern kennen gelernt, so turteln sie herum. Bei ihnen hat man das Gefühl, das Beziehungen ewig halten können«, erzählt Martin begeistert, sein ganzes Gesicht strahlt. Und ich sitze genau vor ihm, erhalte eine Überdosis. Ich fühle meine Haare ausfallen, meine Muskeln erschlaffen, ich merke nichts mehr von meinem Körper, sehe nur noch das Rot der geplatzten Blutkapillaren in meinen Augen.

»Super!«, presse ich raus und drehe mich zur Tafel. Idiot! Labert er mich mit diesem Schund voll. Wie glücklich die beiden doch sind! Ha! Ich wünschte ich wäre an Kims Stelle. Mit mir wäre er nicht weniger glücklich!

»Weißt du, Kim ist echt ein Schatz!«

»Ach so …«, ich will nichts Gutes über sie hören! Kann der nicht sein Maul halten!

»Sie würde alles für Alexander machen!«

»Würde ich auch!«, zische ich und würde am liebsten als Beweis hier und jetzt diesem Typen den Hals umdrehen.

»Warum hast du ihn dann nicht angerufen?«

»Was?«, frage ich schockiert.

»Warum hast du ihn nicht angerufen?«, wiederholt Martin ruhig.

»Du hast mir doch gerade von Kim vorgeschwärmt! Das ist seine Freundin!«

»Das hat dich aber nicht abgehalten, dich ihm um den Hals zu werfen?«

»Das wollte ich doch gar nicht!«

»Dann entschuldige dich bei ihm!«

»Ich? Warum? Kannst du mich nicht mal mit diesem Typen in Ruhe lassen!«, fauche ich ihn an.

»Schon gut! War nur so eine Idee von mir! Ich dachte du wolltest etwas von ihm.«

»Will ich auch!«

»Warum tust du dann nichts dafür?«

»Er ist eine Hete!«

»Ach so, ja!«, sagt Martin leiser werdend und blickt resigniert auf seine Hände. Dieser Typ verwirrt mich echt! Erst will er mir Nr. 9 ausreden und dann wieder nicht! Was will er überhaupt?

Er schweigt und starrt auf seine Hände, dreht sie hin und her, folgt mit seinen Fingern den Sehnen.

Auch ich schweige. Drehe mich wieder zur Tafel, wo der Prof. irgendwelche Diagramme aufmalt. Doch kann ich ihm nicht folgen. Dieser Typ hat mich total durcheinandergebracht. Warum verdammt nochmal soll ich Nr. 9 anrufen? Damit ich mich wieder peinlich mache?

Verdammt! Was sollte ich ihm sagen? Dass ich ein Idiot war und er mir bitte verzeihen soll?

Wofür?

Ich muss endlich Abstand von ihm gewinnen! Ich hatte es fast vergessen und jetzt kommt dieser Typ an und bringt alles wieder Hoch! Ach Mist!

Ich starre an die Tafel und sehe, wie der Prof. sie gerade abwischt.

'9 + ki m', lese ich in einem großen Herzen aus Funktionen, kurz, bevor es der Schwamm fortträgt.

Meine Nr. 9! Ich habe sie verloren. Nein, nie besessen und ich werde sie nie besitzen. Es ist klar und diese Einsicht schmerzt. ›Es ist der Schmerz der Heilung.‹, würde meine Mutter sagen, ›Es hilft!‹ und meine Vernunft bestätigt das. Sie sagt mir, dass ich ihm aus dem Wege gehen muss. Ihn vergessen muss.

»Nimm's nicht so hart!«, höre ich hinter mir Martin.

»Schon Ok!«, lüge ich. Ich packe meine Sachen und schiebe mich durch die Bankreihe zum Ausgang. Träge setze ich mich in die Bahn und müde werfe ich mich auf mein Bett.

Am nächsten Morgen bleibe ich einfach liegen.

Gene

Nachdem ich mich fertig gemacht habe, springt Katja noch kurz ins Bad, um sich frisch zu machen. Ich nutze derweil die Zeit, um Monika zu holen. Monika gehört zu einer ganz besonderen Spezies von Frau: Wenn mann mit ihr weggehen will, muss mann nie lange darauf warten, bis sie sich endlich für präsentationsreif hält.

Dies liegt an Monikas typischer Traveller-Kleidung: reißfeste Leinenhemden und verschlissene Jeans leisten eben nicht nur treue Dienste bei jedem Wetter, kühlen bei Hitze und wärmen bei Kälte, trocknen schnell und schützen vor übermäßiger Sonneneinstrahlung, nein mann kann sie auch wunderbar in der Disko tragen, denn wo bitte sehr - wenn nicht gerade dort - braucht mann genau diese Eigenschaften, um sich vor Überhitzung drinnen und vor Unterkühlung auf dem Nachhauseweg zu schützen?

So zumindest Monikas Einstellung! Ich will ihr in dieser Sache nicht widersprechen und kann den praktischen Nutzen nicht widerlegen, dennoch finde ich: ›Öko sieht einfach Scheiße aus!‹ Ich schwitze lieber wie ein Stier in meinen Polyamidkreationen, als schlecht in der Disko auszusehen! Immerhin bin ich ja schwul und stehe zu dem Motto: ›Wer schön sein will, muss leiden!‹

Ich öffne also den oberen Knopf an meinem Hemd - bevor ich ersticke - und klopfe an Monikas Tür. Ich höre Stimmen aus ihrem Zimmer und mache daher einfach auf.

Wie schon dargelegt, muss mann bei Monika nie darauf warten, bis sie sich herausgeputzt hat. Dennoch soll das auch nicht heißen, dass mann auf Monika gar nicht warten muss. Dies wäre eine völlig verquere Annahme, immerhin ist Monika, wenn auch artuntypisch, immer noch artzugehörig - eine Frau. Sie hat somit ihr artuntypisches Verhalten auf der einen Seite, mit einem übertriebenen arttypischen Verhalten auf der anderen Seite kompensiert!

Ich öffne die Tür und finde Monika in ihrer natürlichen Haltung vor - auf dem Bett liegend, mit dem Telefon am Ohr. Nicht, dass mann mich falsch versteht, ich möchte hiermit jetzt Monika nicht unterstellen, dass ihre natürliche Lage die Horizontale sei, sondern will stattdessen das Telefon fokussieren. Dieses befindet sich nämlich immer, wirklich immer an dieser Position, was auch leicht daran zu erkennen ist, dass ihre Arme sich nicht dort befinden müssen, sondern ausgestreckt auf dem Bett liegen, während sich das Telefon immer noch anhänglich an ihr Ohr kuschelt.

Wenn mann nun mit Monika weg will, besteht die große Aufgabe darin, dieses Ding dort rechtzeitig zu entfernen, denn wer möchte schon mit jemandem unterwegs sein, der die ganze Zeit mit einem unsichtbaren Dritten redet?

Monika jedenfalls hat damit keine Probleme, sie hat vielmehr ihre Fertigkeiten, zwei Gespräche mit voller Aufmerksamkeit parallel zu führen, perfektioniert und spricht mich jetzt auch direkt an:

»Hi Jean-Pierre! - aha - Wieder unter den Lebenden! - aha -«, sagt sie und winkt mir zu, dass sie gerade telefoniert. Wirklich!

»Geht schon danke! …«

»Nein! Wirklich! Hat er!«

»… Wie sieht's aus?«, frage ich sie und lasse mich von ihrem Zwischenruf nicht weiter stören, da dieser nicht für mich, sondern für die Person auf der anderen Seite des Telefons bestimmt ist.

»-aha- Ich brauche nicht mehr lange! -aha- Bin gleich fertig!«, sagt Monika zu mir und bleibt weiterhin entspannt auf dem Bett liegen. Das wird also noch dauern.

Dann müssen wir in die Trickkiste greifen. Zur Auswahl des passenden Leitungskappers gilt es als Erstes herauszufinden, wer in dieser ist.

»Deine Schwester?«, frage ich ins Blaue hinein. Eigentlich könnte es jeder auf dieser Welt sein, denn Monika scheint sie alle zu kennen, aber mit ihrer Schwester telefonierte sie dennoch am häufigsten, muss wohl an dem gleichen genetischen Ursprung liegen. Es ist schon interessant, was alles so in den Genen steckt.

»Ja. - Nein! - Nein, Ja. - Nein ich meine nicht dich. - Ja ist es! - Ja, ich meine Nein! -«, sagt Monika und scheint keinesfalls verwirrt über ihre Verknüpfung zu sein.

Ich hingegen grüble kurz, habe die gleichen Zuordnungsprobleme wie ihre Schwester, die es ja wohl scheinbar doch zu sein scheint - glaube ich oder doch nicht?

Ich stelle zum wiederholten Male fest, dass es für den Zuhörer keine geringere Leistung ist, im Gespräch mit Monika herauszufiltern, wann ein Satz für ihn bestimmt ist, als die für sie, zwei Gespräche gleichzeitig zu führen. Ich habe zwar nicht die Aufgabe zu bewältigen, auf jedem Ohr selektiv mitzuhören, getrennt mitzudenken und parallel zwei Antworten zu entwickeln, aber dafür weiß ich nicht, wann die andere Seite spricht, kann also nicht ableiten, wann eine Antwort für mich bestimmt ist. Somit hat sie ein Problem ihrer parallelen Gesprächsführung einfach auf mich ausgelagert und ich muss sagen, dass mich diese ungewollte Denkarbeit doch wirklich belastet.

»Ist sie immer noch in Australien?«, frage ich sie. Ihre Schwester hat, aufgrund der gleichen genetischen Basis, den gleichen Hang zum Reisen und befindet sich gerade mit ihrem Freund in Australien, seit einem dreiviertel Jahr. Als Nächstes planen sie, ein paar Jahre in Indien zu bleiben. Da es jedoch nicht feststeht, wann sie das Geld für ein Lastminute-Angebot zusammen haben, ist ihr derzeitiger Aufenthaltsort irgendwo zwischen Australien und Indien.

»- aha - Ja, Jean-Pierre. - aha -«, sagt Monika, hat offensichtlich dazugelernt und gibt den Adressaten bei ihrer Antwort mit an.

Ok, damit habe ich fast alle Informationen für einen finalen Leitungscut beisammen. Jetzt fehlt nur noch ein entscheidendes Detail. Ich schlendere zu der Basisstation ihres Telefons und schiele auf das Display. Dachte ich mir doch! Ich holte die Zange raus und …

»52 Minuten? Ist das nicht etwas teuer?«, frage ich ganz beiläufig. SCHNAPP!

»- … - Oh - … - Ich muss jetzt Schluss machen - wir müssen los! Also dann, ich rufe später nochmal an!«

Das Display erlischt - sie hat aufgelegt. Das ging aber schnell.

Jetzt gilt es für mich, genauso schnell zu sein! Ich gehe zu Monika und setze mich zu ihr aufs Bett, ganz zufällig direkt auf ihr Telefon. Sollte jetzt jemand anrufen, würde sie mich von diesem Schatz nicht mehr runter bekommen, denn sonst würde ich sie von diesem heute nicht mehr wegbekommen!

»Wie geht's?«, fragt mich Monika.

»Leb noch!«

»Ach komm, das wird schon! Wir werden schon nicht ewig Single bleiben!«, sagt sie und greift zu ihren Boots, schlüpft in den Ersten.

»Ich weiß.«

»Ach, vielleicht finden wir heute Abend jemanden?«, sagt sie munter, schlüpft in den Zweiten.

»So ich bin fertig!«

Abkommen

»Happy Birthday to you, happy Birthday to you, Happy Birthday dear Martin …«, erklingt es enthusiastisch im Chor von Katja und Monika. Ich hingegen brumme falsch im Hintergrund und drehe die Augen, um klarzustellen, dass dies keinesfalls meine Idee gewesen ist!

Sie stammt natürlich von Katja! Und Monika? Monika war sofort Feuer und Flamme - Frauen!

Aufgrund des grundlegenden Fehlers der Demokratie, dass, wenn mann die falschen Leute in die entscheidungsfähige Gruppe herein lässt, auch nur die falschen Beschlüsse rauskommen, wurde ich von den beiden natürlich knallhart überstimmt und zum Mitsingen gezwungen. Dies mag vielleicht nur als ein kleines Opfer angesehen werden, dennoch halte ich es für einen weiteren Schritt in eine frauenbestimmte Zukunft, in der es gesetzlich vorgeschrieben ist, lange Unterhosen und Pudelmützen zu tragen!

Dies muss verhindert werden! Doch können wir Männer diesen Kampf aufgrund der Genfer Konventionen nicht mehr mit autarkem Bestimmen und den 3K gewinnen. Stattdessen müssen wir uns im Waffenarsenal der Frau selbst bedienen und mit Gerissenheit und Falschheit zurückschlagen. Also stimme ich nach vertrauenserweckendem Zweifeln zu und sabotierte die Singsangaktion direkt mit gekonntem Falschsingen und unschuldigem Gutwillen-Blick! Ich habe Erfolg und entgehe nicht nur Katjas Bodenabwehr, ihren spitzen Ellbogen, sondern kann auch Martin sehr schnell auf meine Seite bringen.

»Hey, das ist ja eine tolle Überraschung! Los kommt rein!«, unterbricht Martin unsere Weise und hat es ganz eilig uns in die Wohnung und die Tür geschlossen zu bekommen. Ich begrüße natürlich ihn und sein Vorhaben und schubse Katja und Monika in die Wohnung, achte darauf, dass ich mit meinen Fäusten ihr Zwergfell erwische, um ihnen auch die letzte Luft zum Aufbegehren zu rauben. Somit können wir die Frauen schnell an der Garderobe verstauen und helfen ihnen versöhnend aus den Jacken. Ich feiere mit Martin unseren Triumph über die Frauenwelt in Blicken.

»Wir haben dir was mitgebracht!«, erklingt es von Katja als Versuch der Aussöhnung.

»Ein Geschenk, das ist doch wirklich nicht nötig!«

»Ach dann behalte ich es!«, springt Monika ein.

»Zu spät!«, lacht Martin und grabscht sich die Schachtel von Katja. Er knüpfte an dem Ding rum.

»Es ist schwer?«, fragte er neugierig und fingert weiter.

»Was mag das wohl sein?«, versucht er erneut uns einen Tipp zu entlocken, doch wir schweigen gehässig, sind mindestens genauso widerstandsfähig, wie das Klebeband um die Schachtel und genießen seine verzweifelten Versuche, dieses aufzureißen.

Irgendwann zeigt Katja erbarmen, zieht zweimal mit einem Fingernagel über die Schachtel und das Klebeband zerspringt. Ich erstelle noch schnell eine geistige Notiz, dass ich mich beim nächsten Streit von ihren Fingernägeln fernhalte, bevor Martin zum Inhalt des Päckchens hervordringt.

»Handschellen?«, entdeckt Martin überrascht und läuft rot an.

»Na ja, ich dachte die könntest du gebrauchen?«, sagt Katja unschuldig und klippt an ihrem Nahkampfarsenal herum, schärft die abgenutzte Klinge nach.

»Die sind wirklich praktisch, damit sie dir im Urlaub nicht deine Taschen klauen.«, fügt Monika zustimmend an.

Ich hingegen zucke Martin nur mit der Schulter zu. Ich habe in der Zwischenzeit schon drei Stück von den Dingern, finde sie eher weniger praktisch, aber Katja lebt in der Auffassung, dass jeder Schwule kalten Stahl geil findet.

»Danke! Vielen Dank!«, sagt Martin zweifelnd, schaut nicht uns an, sondern unsicher in der Gegend herum. Als er die Kommode raufschielt, leuchten seine Augen glücklich auf. Seine Hand verschwindet kurz und die Schachtel mit ihr.

»Schaut euch um. Es sind schon ein paar Leute da. Ich würde euch ja gerne rumführen, aber ich muss noch einige Sachen organisieren«, flüchtet er sich aus der Situation und lässt uns an der Tür stehen.

Ich folge seinem Vorschlag und schaue mich um, lasse Katja und Monika allein. Die beiden nutzen die seltene Gelegenheit ihre kommunikativen Fähigkeiten zu trainieren und stürmen auf die erstbeste Gruppe an Leuten zu. Mir ist jedoch nicht nach Smalltalk und auf etwas zu trinken bin ich seltsamerweise auch nicht scharf, erinnert mich doch allein der Gedanke noch zu real an letzte Woche.

Deshalb wende ich mich der Wohnung zu. Martin wohnt in einer geräumigen Zweizimmerwohnung. Ein großes Wohnzimmer geht durch eine Doppeltür in das Schlafzimmer über. Küche und Bad sind abgetrennt. Die Wohnung ist geschmackvoll eingerichtet. Sehr hell und großzügig, alles in weißen und schwarzen Tönen gehalten. Es erscheint mir etwas streng und Fotos an den Wänden verstärken noch diesen Eindruck. Er fotografiert? Ich schau mir die Bilder an.

Als erstes betrachte ich ein Foto des Märchenschlosses Neuschwanstein. Geschickt fotografiert aus Froschkönigperspektive ist es halb verborgen hinter einer Rosenhecke. Die dunklen Schatten der Dornen bildeten eine Wolke, aus der sich die Rapunzeltürme erheben. Verloren hängen die Fahnen im Wind und bilden die traurige Krone des verlassenen Dornröschenschlosses.

Im nächsten Bild steht wieder eine Hecke im Vordergrund. Kunstvoll verschlungen und wellig geschnitten formt sie das Inbild des romantischen Lustgartens. Durchstochen von spitzen Ecken, austreibenden Erkern, Einbuchtungen und Ausbuchtungen thront ein Haus dahinter. Verschlungen und verschachtelt ist es das geometrische Märchenschloss der späten Sechziger. Ein wundervoller Antipode zum vorigen Bild, gegensätzlich in den Formen, dennoch ähnlich ausgeglichen im Gesamteindruck. Ein wirklich schönes Haus, das ich gerne einmal sehen würde. Ich muss Martin einmal fragen, wo er das aufgenommen hat.

Es folgen ein paar Landschaftsaufnahmen. Wieder diese Schattenspielereien. Ein Foto zeigt einen romantischen Wald, weißer Nebel umspielt die dunklen Stämme der Bäume, gibt ihnen den Eindruck, als ob sie auf Wolken stehen.

Dann das Foto einer einsamen Blume. Auf einem spröden Felsen, keck der unwirklichen Umgebung trotzend, reckt sie sich der Sonne entgegen.

Daneben der Schatten eines einsamen Radfahrers, genauso mutig fährt er mit seinem Rad auf einem äußerst schmalen Grad einer Felsnadel. Ist das nicht Martin?

Jetzt kommt eine Gruppe von sechs Gesichtern. Ich bleibe stehen, betrachte die Bilder fasziniert im Detail.

Ein altes Männergesicht kommt als erstes. Not hat tiefe Falten ins Gesicht getrieben und Leid haucht aus zerfressenen Zähnen. Zweifel am Glück schweigt in toten Augen, wird dem Betrachter zum Vorwurf.

Dann ein Kindergesicht: Die Haare sind zerzaust. Dreck klebt ihm im Gesicht und lässt nicht erkennen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist. Der Mund ist in einer lautlosen Bitte geöffnet, die Hand zögernd nach der Kamera ausgestreckt. Furcht und Neugierde kämpfen in großen Rehaugen.

Dann das makellose Gesicht einer Frau. Es ist die Inkarnation der Schönheit. Die Nase ist perfekt geformt. Die Haut spannt sich faltenlos über das Gesicht. Wollüstige Lippen laden, roten Kirschen gleich, zum Anbeißen ein. Lange Wimpern beschweren die tiefen braunen Augen. Auf den ersten Blick eine Frau im Glanze ihrer Jahre, doch kann die Glätte der Haut, nicht über ihre pappige Dünne hinwegtäuschen. Schweiß und Altersflecke durchscheinen die aufgetragene Schminke. Ein kleiner Operationsfehler hat eine Narbe an der Seite der Nase hinterlassen. Schminke hat sich darin gesammelt und keimt vor sich hin. Zu sehr aufgebläht sind die Lippen, die angeklebten Wimpern hängen schief. Die Augen blicken traurig mit sich selbst in einen Spiegel.

Dann das Gesicht eines Mädchens - vielleicht gerade 14. Wasserstoffblondes langes Haar fällt ihr über die Schultern. Das Ergebnis großer Geduld und jahrelanger Pflege ist in den Spitzen gebrochen. Überall ragen abgebrochene Haare aus der einst glatten Frisur, machen aus dem Rapunzelhaar ein Ballen Stroh. Ein ausgedörrtes Gesicht wankt auf einem langen Hals, ihre großen Augen stecken den Betrachter an. Flimmern in einer Mischung aus Eitelkeit und Angst, flehen um garantierte Schönheit.

Dann das Gesicht einer alten Frau. Auch es ist voll Falten, doch scheinen sie sich in einem natürlichen Lächeln aufs Gesicht gelegt zu haben. In ihrem geöffneten Mund fehlen ein paar Zähne, doch betont gerade ihre Abwesenheit das herzhafte Lachen noch mehr. Ich muss mit ihr lächeln, worüber auch immer, ihre leuchtenden Augen stecken mich an.

Es folgt das Bild eines Jungen. Das Gesicht blickt schräg im Profil nach oben, der Körper verliert sich im Dunkeln. Es ist nicht perfekt und doch wunderbar erfüllend. Oval ist seine Form, vielleicht etwas kantig im Kiefer. Lachfalten zieren die Backen, die schon schmalen Lippen sind in einem Grinsen noch etwas stärker gespreizt. Frech gerümpft ist die Stupsnase. Zu kleine Ohren ragen aus den kurzen dunklen Haaren und geschwungene Brauen umspielen schelmisch die Augen. Geckig blickt er von unten dem Betrachter direkt ins Gesicht. Ein Spiel von Reflexionen, von hell und dunkel kokettiert in seinen Pupillen, verleiht ihnen eine magische Bewegung, pure Energie …


»ná ter iss aber tsuezz«, spricht mann mich von der Seite an. Die Stimme klingelt in meinen Ohren, mein Gehirn kämpft um realen Boden. Etwas schwindelig drehe ich mich vorsichtig zu der Quelle des Geräusches um und blicke auf eine Wand mit knalliger Blümchenmustertapete. Ich wunder mich über meine Zerstreutheit und will mich schon wieder zurückdrehen, als mein Hirn drauf hinweist, dass diese Wand vorhin noch nicht da war und Wände normalerweise nicht die Angewohnheit aufzeigen, einfach ihre Position zu wechseln. Ich gebe diesem logischen Standpunkt Recht und schaue noch einmal genauer hin und erkenne - Hemdknöpfe!

Auch dies erscheint mir untypisch für eine Wand, somit folge ich interessiert der Knopfreihe nach oben und entdecke fasziniert, dass die Wand in äußerst breiten Schultern und einem starken Hals abrupt ihren Abschluss findet. Ich muss mich nach hinten beugen, um in ein kräftiges Gesicht zu schauen, es lächelt mich an. Braune Augen blicken tief in meine …

KLIMPER - KLIMPER

Mein Hirn setzt kurz aus.

KLIMPER - KLIMPER

Und nimmt entsetzt wieder den Betrieb auf, läutet alle Alarmglocken, ich springe einen Schritt zurück. Hat dieser Hüne mich jetzt angeblinkert? Ich glaube schon. Aber?!

»chay ich bin stevan.«, sagt er zur Begrüßung, sichtlich entzückt über meine überraschte Reaktion, grinst er noch verführerischer. Klimpert noch einmal mit den Wimpern und schwingt mir kokett seine Hand entgegen, schafft es aber irgendwie nicht so richtig, dies galant mit seinen Schaufeln umzusetzen.

Oh mein Gott - da hast du aber verdammt viel Humor bewiesen, als du diesem Hünen so viel Östrogen verpasst hast.

»Hi, … äh …«, stottere ich hervor und suche mit meinem Blick einen Weg um dieses Etwas herum. Dummerweise hat mich meine Betrachtungstour hinter die Sitzgarnitur geführt, so dass ich jetzt eingezwängt zwischen drei Wänden, einer mit knalliger Blümchenmustertapete und einer hohen Sofalehne stehe.

»pist tu ein vreunt von martin?«, fragt mich das knallige Blümchenmuster und schwebt langsam auf mich zu.

»… äh … ja!«

Ich beäuge das Sofa noch einmal kritisch. So hoch scheint es mir jetzt gar nicht mehr zu sein. Doch bevor ich rettend hinüberhechten kann, ist das knallige Blümchenmuster so nah rangekommen, dass ich erschreckt noch weiter zurückweiche und mich an die Wand hinter mir presse. Das knallige Blümchenmuster nutzt den neuen Freiraum und kommt weiter auf mich zu.

»nú - tann izz aber ein wunter tazz ich tich kar nicht kenne.«

Ich starre in das knallige Blümchenmuster vor mir, es hebt sich unter schwerem Atem, heißer Dunst verweht meine Haare. Ich fühle mich, als wenn ich vor einem Drachen stehen würde. Ein Haps und mein Kopf ist weg.

»Hi Stefan! Machst du dich schon wieder an irgendwelche Gäste ran?«, ertönt Martins Stimme stark und mutig. Mein Prinz!

Das Ungeheuer lässt von mir ab, tritt einen Schritt zurück und dreht sich zu seinem neuen Herausforderer um. Seine rumschwingende Schulter enthauptet mich fast.

»t´u kennzt mich toch!«, meint es, keinesfalls bedrohlich klingend.

»Ah, die Tuckenmasche! Wer ist denn dein Opfer!«

»nen ganzz tsuezzer, tso richtich schuechtern. er hat tsich noch jarnich jetraut, tsich vortzzustellen, ter kleine.«

»Du hast ihm wahrscheinlich noch gar keine Chance gelassen. Lass mich mal schauen!«, die Wand klappt etwas zur Seite und Martins Kopf lugt um die Ecke, grinst mich an. Ich schlucke zurück.

»Stefan ich glaube das reicht jetzt erst mal, der arme Jean-Pierre muss doch sonst was von dir denken.«

»na ter hat tso janz alleine teine bilder so angestarrt, ta tachte ich mal, ich leiste ihm nen pissle jesellschaft.«

»Ja ich glaube, er hat sie sehr genossen und du holst ihm jetzt besser erst mal was Starkes zu trinken«, sagt Martin, seine Hand erscheint kurz auf der Mauer klopft drauf und dann setzt sich die Mauer schwingend in Bewegung.

»nù tazz iss ne gute itee, tzo ueber einem glaesschen wein tizzkutiert tsich gleich viel pesser, ta werte ich gleich mal pei euch in den keller jehen, vir vollen tiesem schnuckel ja nicht irgendwelchen phusel antrehen. ich pinn gleich wieter ta, pazz tu mir nur auf, tazz ter kleine nich wechlaeuft«, meint die knallige Blümchenmustertapete und schwingt sich in Richtung Ausgang.

Ich versuche die Situation zu nutzen, um genau das Gleiche zu machen und möchte mich an Martin vorbeischieben, doch hält er mich fest - es klickt! Kalter Stahl fesselt mein Handgelenk.

»Du willst doch nicht etwa mit meinem Bild abhauen?«, fragt mich Martin und grinst schelmisch.

»Was?«, frage ich ihn verwirrt.

»Mein Bild!«, sagt Martin und zeigt auf meine andere Hand.

Ich blicke runter und merke, dass ich das Bild des Jungen halte. Ich muss es wohl beim Betrachten abgenommen haben. Ich schaue es mir noch einmal an, blicke in diese Augen …


»Du kannst es behalten!«, sagt mit einem Male Martin und unterbricht meine Gedanken.

»Nein! Nein ich will es gar nicht!«, stammle ich automatisch und merke, dass ich damit richtig liege.

»Nein! Er gehört mir nicht!«, beschließe ich endgültig und hänge es wieder an seinen Platz. Ich blicke noch ein letztes Mal in diese Augen, fahre mit dem Finger den Rahmen runter und verabschiede mich damit von dem Bild - von Nr. 9.

Ich schaue hoch in Martins ehrliches Gesicht. Er grinst nicht, blickt nicht vorwurfsvoll oder gelangweilt, sondern wartet geduldig - Mut machend. Ich lächle ihn an und hebe meine Hand.

»Die Dinger sind manchmal doch ganz praktisch!«

»Ja wirklich nicht zu verachten! Wenn mal wieder jemand meine Bilder stehlen will, bin ich jetzt ja vorbereitet!«

»Komm, ich wollte nichts stehlen, also sind die doch überfällig!«, versuche ich Martin zu überzeugen und klimpere zur Erinnerung noch einmal mit meinen neuen Armreifen.

»Du wolltest mit einem meiner Bilder abhauen. Das nennst du nicht stehlen?«

»Ich wollte nicht mit dem Bild, sonder nur vor diesem Typen abhauen!«

»Ach du meinst Stefan, der ist ganz harmlos!«

»Harmlos? Er hat mich fast zerquetscht!«

»Er tat nur so. In Wirklichkeit kann er keiner Fliege was zu Leide tun. Er hat nur einen etwas komischen Humor.«

»Humor? Ich fand die ganze Sache wirklich nicht zum Lachen!«

»Aber er«, sagt Martin und grient mich an.

»Na Super! Können wir die Sache jetzt beenden?«, frage ich noch einmal. Mir wird langsam mulmig, dieser Typ muss bald wiederkommen!

»Ok, ich glaub dir ausnahmsweise«, gibt Martin nach und löst die Handschellen. Er wirft sie auf den Tisch hinter sich.

»Ausnahmsweise?«, hake ich nach und setze mein Unschuldsgesicht auf.

»Na ja, also …«, Martin fokussiert mich misstrauisch und beugt sich zu den Handschellen.

»hach tseit ihr noch ta? ihr klaubt mir ja niee, wen ich auf tem weg jetrophen chabe!«, erklingt es aus dem Flur in allerletzter Sekunde. Wenn mann vom Unheil spricht!

»Wen?«, fragt Martin interessiert.

»tiessen tsnuckel von tem photo mit tseiner freundin«, erklingt es kurz bevor sich eine knallige Blümchenmustertapete durch die Tür beugt, diese für einen Moment ausfüllt und den Blick frei gibt.

»Kim, Alex! Da seid ihr ja endlich!«, ruft Martin und rennt zur Haustür.

»Herzlichen Glückwunsch«, antwortet Kims warme Stimme. Sie beugt sich zu Martin und gibt ihm einen sanften Kuss auf die Wange.

»Danke Kim! Nicht so stürmisch! Was sollen die Leute von mir denken!«

Hinter ihr steht meine Nr. 9. Er trägt wieder die schwarze Hose und den engen Pullover vom letzten Mal. Er sieht einfach toll aus. Die Sachen betonen unglaublich seine Figur, zeichnen die Linien seiner Muskeln nach, betonen seine schlanken Beine, umschmiegen seinen knackigen Hintern.

»Herzlichen Glückwunsch und alles Gute, Gesundheit und Erfolg, etc. …«, sagt er mit einem zauberhaften Lächeln und umarmt Martin. Ich wäre so gerne Martin.

»Na tas reicht aber jetze. Loss ich muss tier unpetinkt noch jemanten vorstellen«, meint Stefan, greift sich Nr. 9 und führt ihn rein. Martin redet noch mit Kim, doch verstehe ich nichts. Ich habe nur Augen für meine Nr. 9, beobachte, wie er auf mich zukommt. Leicht verschlafen sieht er aus, matt und erschöpft. Doch straffen sich seine Schultern, als er mich sieht. Ich lächle ihn an und seine Augen fokussieren auf mich. Sie ziehen sich zusammen und glühendes Fegefeuer lodert in ihnen auf.

»Was machst du hier!«, zischt er mir entgegen und versenkt mit einem Satz jegliche Hoffnung auf Versöhnung, verbrennt jeden Traum auf Zukunft, äschert ein meine ganze Welt. Mit erstarrtem Lächeln blicke ich auf die verbrannten Ruinen meiner Träume, schaue in dieses hasserfüllte Gesicht. Ich begreife nicht, was ich sehe, weiß nicht, was mir geschieht, warum ich das verdiene. Ich möchte mich gegen diese Ungerechtigkeit wehren, doch bin ich zu schwach. Ich drehe mich einfach um, schleppe mich zur Sitzecke und lasse mich in einen Sessel fallen.

Tausende Fragen stürmen auf mich ein, beschweren meine Schultern. Ich spanne meine Muskeln und versuche die Ketten zu sprengen, möchte die Verzweiflung aus meinen Augen kratzen, ihn mit meinen Haaren rausreißen und doch - reicht es alles nicht aus! Er erfüllt mich weiterhin, treibt sein Unwesen in meinem Hirn, füllt mein Blickfeld mit seinem Lachen, bannt mich in seinen Augen. Alles erfriert in mir für diesen Augenblick. Den Augenblick?

Ich blicke auf und sehe sein Bild an der Wand. Der Augenblick, meine Nr. 9. Ich liebe ihn. Diesen leuchtenden Blick, das strahlende Lächeln, sein geckiges Gesicht, nur das erfüllt mich mit Glück. Das ist Nr.9 und nicht der Typ eben. Das war jemand anders!

»Ich bin es, Alexander«, sagt er leise und tritt in mein Blickfeld. Er setzt sich in das Sofa mir gegenüber und schaut mir unruhig in die Augen. Doch wende ich meinen Blick ab, streife das Bild und komme nicht obhin, sie zu vergleichen.

Auf einmal erfasse ich den Unterschied. Erkenntnis durchsticht mich und bringt den rosaroten Luftballon zum Platzen. Beide sind sie dieselben und doch ist mein Bild nur ein Augenblick - ein Moment. Und es war nur der Moment gewesen, den ich liebte; der Augenblick, den ich vernarrte. Und es war nur ein Bild gewesen, in das ich mich blind verliebte; ein Moment, in dem ich verharrte. Ich hatte nicht die Person dahinter beachtet, missachtet seine Gefühle.

Ich merke, wie meine Liebe von mir abfällt und mit ihr die rosarote Brille fortnimmt. Und ich sehe nun den Menschen vor mir sitzen: Alexander, eine Person mit eigenen Hoffnungen, mit eigenen Träumen, mit eigenen Problemen, mit großen Problemen. Ich sehe wie seine Schultern hängen, fühle mich auf ihnen lasten. Ich erkenne die tiefen Augenringe, bemerke, wie er auf seinen Lippen kaut. Erst jetzt durchschaue ich den Schleier auf seinen Augen, erfasse die Zweifel, die ihn treiben, und lasse mich einnehmen von seinem brennenden Blick. Dieser ganze Hass, diese Verachtung, die mich vorhin so getroffen haben, lassen mich nun völlig kalt. Der Sturm seines Blickes rauscht über mich hinweg und für einen Augenblick gewinne ich tief Einblick in das Auge des Sturms. Hier finde ich das wahre Ziel dieses Hasses. Ich sehe den kleinen Jungen vom Bild, wie er verloren in der Mitte seines eigenen Feuers steht und mich verzweifelt anfleht.

Was habe ich getan? Ich habe ihn mit meiner blinden Liebe vollgepumpt. Alles gelegt in einen vergessenen Kuss. Einen Kuss, der für mich nur ein verblasstes Bild, ein Flimmern auf meinem vertrunkenen Bewusstsein war, war für ihn eine neue Erfahrung; ein Liebesgeständnis der anderen Art. So anders, dass es ihn verstörte und ich habe mich die ganze Woche über mich selbst gegrämt, gedacht, ich sei der einzige wahre Leidende. Doch war ich nicht Opfer, sondern Täter. Und mein Opfer, das Opfer meiner Liebe, sitzt hier vor mir und versteht mich nicht. Doch verstehe ich.

»Es tut mir Leid«, sage ich leise.

Er fällt zurück in das Sofa und schaut mich überrascht an.

»Es tut mir Leid, dass ich nicht angerufen habe«, sage ich lauter und blicke ihn fest an. Seine traurigen, verzweifelten Augen ergründen mich und ich muss zugeben, ich mag seinen melancholischen Blick. Ja ich mag ihn wirklich! Ich möchte mehr darüber erfahren, wissen, wer dahinter steckt! Ich möchte ihn kennen lernen, diesen so genannten Alexander! Alexander, ja das ist er!

»Und es tut mir Leid, dass ich dich geküsst habe.«

Er starrt mich an und rümpft die Stirn, als ob er mich zum ersten Mal sieht. Ich blicke auf meine Hände, lasse seinen Blick über mich wandern.

»Es war schön«, sagt er leise, mehr zu sich selbst.

Die Sehnen meiner Hände schnellen hervor, doch halte ich sie fest umklammert. Ich will mich ihm nicht um den Hals werfen. Ich kann den anschwellenden Schmerz ignorieren, die Hoffnung besiegen. Ich muss hier etwas in Ordnung bringen und bin mir sicher, das Richtige zu tun. Meine Stimme ist fest und mein Blick begegnet ihm sicher.

»Weißt du, es war nur ein Kuss und es hat nichts zu bedeuten. Irgendein Kuss, nicht anderes als bei einer Frau. Da besteht anatomisch kein Unterschied, also warum sollte es anders sein?«, erkläre ich ihm und schlage meinen Kopf gegen die innere Bretterwand der Idiotie.

Alexander schmunzelt und schaut mich dankbar an.

»Es war aber anders!«, sagt er. »Und es war gut! Es hat mich angemacht! Du - hast mich angemacht!«, schließt er und geht.

Ich höre seine Worte nur mechanisch, besitze die vollkommene Kotrolle über meine rasende Hoffnung. Auch wenn meine Muskeln bersten, so kann ich mich zwingen sitzen zu bleiben. Erst als die Haustür zuschlägt, möchte ich aufspringen. Doch eine eisige Hand legt sich auf meine Schulter und drückt mich zurück in den Sessel.

»Hallo Jean-Pierre«, sagt Kims ruhige Stimme.

»Äh … hi?«

»Was ist passiert?«, fragt mich Kim und setzt sich mir gegenüber in das Sofa, in dem Alexander eben noch saß. Ich schaue in Ihre Augen und Ihre wohlwollende Kraft erfüllt mich. Sie kommt mir so viel weniger wie ein Feind, als viel mehr wie eine alte Freundin vor. Mir sehnt es, mit ihr über all dieses Durcheinander zu reden, es zu ordnen und zu klären und ich weiß, dass ich ihr dabei vertrauen kann. Ich möchte gerade ansetzen alles zu erklären, als mir die Stimme erstirbt. Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll.

»Du hast mit ihm gesprochen?«, rettet mich Kim aus der Stille. Ihre Stimme ist ruhig und gefasst. Mir wird klar, dass Sie gewusst hat, was geschehen ist, was mit Alexander los ist. In Ihren Augen erblicke ich Trauer und Mitleid mit mir, Alexander und Sich.

»Er ist durcheinander!«

»Ja.«

»Schon die ganze Zeit?«

»Seit dem Wochenende und es wurde von Tag zu Tag schlimmer. Er hat sich immer weiter zurückgezogen. Die letzten zwei Tage haben wir kaum noch gesprochen.«

Ich sehe Sie an und verstehe Ihr Leid. Die Teilnahme, die uns verbindet, ist nicht oberflächlich oder gar verächtlich, sondern ehrlich gemeint und der Blick, den wir austauschen, trägt Wahrheit.

»Warum tust du das?«, frage ich Sie.

»Was?«

»Die Sache mit Martin und der Einladung? Ich bin nicht aus Zufall hier. Ich sollte mit ihm sprechen!«

»Er hat sich gequält und irgendwann muss es ein Ende haben«, sagt Kim und zuckt mit den Schultern.

»Aber warum?«

»Warum was? Warum ich ihn mit seinen Zweifeln konfrontiere? Warum ich ihn, meinen eigenen Freund, den Wölfen vorwerfe?«, fährt Sie mich verbissen an. Ich spüre, wie mich Schuldgefühle knechten. Ich kann nur nicken.

Auf einmal sinken Ihre Schultern zusammen.

»Was habe ich davon, wenn er sich zu irgendwas zwingt. Mir Glück vorgaukelt, aber selbst nicht glücklich ist?«

»Es ist Glück?«

»Es mag als solches erscheinen, doch ist es vergänglich. Es wird ihn zerfressen und damit uns. Ich liebe ihn und will ihm dies nicht antun. Ich will keine halben Sachen. Ich will ihn ganz. Glaub mir, ich mache das bestimmt nicht für dich, weil du so nett bist.«

Ich starre Sie an. Könnte ich das? Könnte ich solch ein Opfer für Alexander vollbringen? Ihn aufgeben für sein eigenes Glück, könnte ich das? Ich glaube nein!

»Du liebst ihn sehr!«

»Er ist ein unglaublicher Mensch.«

»Ich kenne ihn gar nicht«, gebe ich zu.

»Lerne ihn kennen! Es lohnt sich.«, sagt Sie und lächelt leicht in sich hinein.

»Du gibst ihn frei?«

»Frei! Nein! Niemals! Gegen keine Frau!«, donnert Ihre Stimme, Ihre Augen blitzen. Doch dann erstirbt Ihr Sturm und verzweifelt flüstert Sie: »Aber kann ich ihn halten, wenn er sich für dich entscheidet?«

Ich denke über Ihre Frage nach und verstehe, was Sie meint. Wenn er nur Frauen liebt, so kann ich mir ein Bein ausreißen, ich kann ihn nicht für mich gewinnen.

»Ich werde ihn nicht halten, wenn er sich für dich entscheidet«, verspreche ich Ihr und reiche Ihr meine Hand dar.

Für einen Moment schaut sie mich überrascht an. Dann ergreift sie mit einem Nicken meine Hand. Mit einem schüchternen Lächeln besiegeln wir unser Abkommen. Es ist vollbracht.

Wir schließen einen Friedensvertrag, ohne den Krieg je begonnen zu haben. Und ich bin mir sicher, es wird nie Krieg geben. Dies mag zu keinem sportlichen Wettbewerb avancieren, es geht um zu viel, aber es wird auf keinen Fall in der Apokalypse enden. Denn es liegt schlicht und einfach nicht in unseren Händen. Dass wir uns hier gegenüberstehen, ist purer Zufall und nichts Persönliches. Und dass das möglich ist, liegt in dieser Frau. Ich bin überzeugt davon, dass sie ihr Wort halten wird, wie ich auch meines halten werde, komme was wolle. Ein Blick in ihre Augen genügt, um mir zu bestätigen, dass wir uns einig sind.

»Er ist im Stadtpark. Direkt an der Bushaltestelle gibt es eine Hecke. Wenn du von der Wiese darauf zugehst, wirst du einen kleinen Durchgang sehen. Wir haben dort immer als Kinder gespielt und er geht da immer noch hin, wenn er Ruhe sucht. Du wirst ihn dort finden«, sagt sie, steht auf und geht an mir vorbei.

»Danke - Kim!«, sage ich, ohne mich zu ihr umzuwenden.

»Wofür? Du hast noch nicht gewonnen!«, antwortet sie verspielt arrogant.

»Wer weiß!«, entgegne ich und schmunzel in mich hinein: »Dennoch. Danke - für die Chance! Du bist eine tolle Frau, er sollte glücklich mit dir sein!«

»Ich weiß! Ich weiß«, sagt Sie und verschwindet.

Dann stehe auch ich auf und gehe zur Garderobe. Ich greife mir meine Jacke und möchte gerade gehen, als mich Katja aufhält.

»Du gehst?«, fragt sie und hebt eine Augenbraue.

»Ja!«, sage ich und schlüpfe in meine Jacke.

»Warum? Nun sag schon, was läuft hier? Geht's wieder um Nr. 9«, stichelt Katja nach.

»Ja!«, antworte ich kurz. Ich schließe nacheinander die Knöpfe meiner Jacke, ordne meine Gedanken.

»Na toll? Also was habt ihr besprochen? Bist du über ihn hinweg?«

»Ja!«, sage ich, lächle Katja an und belächle doch mich selbst.

»Dann ist deine große Lovestory schon wieder vorbei?«, fragt Katja weiter.

Ich lache und drehe mich rum. Im Gehen sage ich über die Schulter:

»Nein! Ich glaube sie fängt gerade erst an!«

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