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Fernsehnen

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Es gibt nichts Interessantes im Fernsehen. Das ist keine revolutionäre oder berauschende Erkenntnis. Dennoch oder auch gerade deshalb sitze ich in meinem Sessel, liege fast drin und starre ununterbrochen auf die Glotze. Es ist offenkundig, dass ich nicht aus Genuss fernsehe, sondern meinen Intellekt trainiere.

Das hört sich profan an und ist heutzutage auch mit den dritten Programmen leider unmöglich. Deshalb versuche ich, die nicht vorhandene Qualität durch Quantität auszugleichen. Das heißt: Ich verfolge parallel zwei Musikkanäle, eine freudlose Comedyshow, den x-ten Ableger einer langweiligen Gameshow und eine Dokumentation über das Sexualverhalten von Erdmännchen.

Exakt alle 15 Sekunden wechsle ich durch meine vier Sendungen. Alle 3 Minuten zappe ich durch die restlichen 32 Kanäle und suche nach sehenswerten Sendungen. Auf diese Weise kann ich nicht nur die auserwählten Sendungen verfolgen, sondern mir entgeht auch nichts Neues. Die Zeiten habe ich mit viel Erfahrung bestimmt und sie bieten optimale Informationsaufnahme. Heute ist meine Aufmerksamkeit jedoch kaum ausgereizt, die Qualität ist außergewöhnlich schlecht. So schlecht, dass ich mir die aufgezählten Sendungen normalerweise nicht ansehen würde, aber es kommt nichts Besseres.

Bei dieser Aussicht muss ich gähnen und möchte eigentlich Schlafen gehen; ich bleibe jedoch sitzen und schalte weiter.

Dabei gab es einmal bessere Zeiten. Mein Rekord im Parallelfernsehen liegt immerhin bei neun Sendungen. Das war ein unglaublich guter Abend gewesen: intellektuell anspruchsvoll, sportlich herausfordernd und unterhaltsam vielseitig.

Und er hatte genauso dröge angefangen wie der heutige und verbarg dennoch so viel Ansehnliches. Es war die gleiche Zeit gewesen sein, als die Wende kam. Dreiviertel 12, also kurz vor 12. Die kritischste Zeit zum Fernsehen, die Zeit in der die letzten guten Filme anlaufen. Das habe ich damals nicht gewusst und dachte noch, die guten Filme laufen alle um 8 Uhr oder spätestens um 10 Uhr an. So wollte ich schon Schlafen gehen, doch dann wurde ich überrascht. Es war mein letzter flüchtiger Blick gewesen, der mich zum Zögern bewegte und daraus entwickelte sich mein bester Abend. Es ging alles so schnell und war so berauschend, dass ich gar nicht merkte, wie es auf einmal vorbei war.

Und nun ist es schon wieder so lange her. Bei der Erinnerung muss ich gähnen und möchte Schlafen gehen; bleibe jedoch sitzen und schalte weiter.

Wie viele gute Streifen habe ich auf diese Weise schon entdeckt? Keiner hätte meinen Abend versüßt, wenn ich nicht auf ihn gewartet hätte. Nicht einen möchte ich heute missen; es waren allenfalls zu wenige. Drei, vier mögen es gewesen sein – in 18 Jahren. Vielleicht doch keine gute Ausbeute für all die Zeit?

Doch was soll ich machen. Es ist nun bereits 5 nach 12, dunkel und aussichtslos. Ich kann nur warten, muss gähnen und möchte Schlafen gehen; bleibe jedoch sitzen und schalte weiter.

Ob andere auch fernsehen und warten?

Nein – sicherlich nicht. Andere ziehen durch die Stadt und feiern zusammen. Im wilden Diskolicht tanzen sie, der Ekstase nahe, trinken zusammen und sind glücklich. Ich kann ihr Lachen durch das angelehnte Fenster hören, ihr betrunkenes Grölen. Mir bleibt nur der Discotrack auf dem Musikkanal. Ich stelle ihn lauter.

In einem lautlosen Seufzer geht mein Gähnen unter und ich möchte Schlafen gehen; bleibe jedoch sitzen und schalte weiter.

Eine Weile bleibe ich bei der Gameshow hängen. In dieser versucht ein geschmalzter Typ, gute Laune und noch viel wichtiger, seine Waren zu verbreiten. Für einen kurzen Moment überlege ich wirklich, ob er eine gute Wahl ist.

Sein neongrünes Jackett beißt sich mit dem grellgelben-blau-roten Hintergrund und sein Grinsen ist so künstlich und tot, wie sein Toupet. Sagt man nicht immer, dass die grellen Vögel alle schwul sind? Also muss er es auch sein. Doch haben diese Gameshowfuzzies nicht alle auch eine glückliche Familie?

Ich versuche mir seine selige Familie vorzustellen und habe einen amerikanischen Werbespot für Frühstücksflocken vor Augen. In einer quietschbunten Ikea-Küche sitzt die nahezu vollständige, glückselige Idealfamilie am modisch verzerrten Küchentisch und grinst sich herzlichhohl an. Der Sohn, gekleidet mit einer neongrünen Strickjacke, sitzt seinem Zwillingsschwesterchen im neongrün-gelb-karierten Kleidchen gegenüber. Beide halten sie strahlende Löffel vor sich aufrecht und die leeren Schüssel vor ihnen, scheinen vor Vorfreude noch farbenprächtiger zu leuchten. Am Kopf der Tafel sitzt der Urvater der guten Laune. Sein Kopf ist in einer großen Drahtspange eingerüstet, die ihm seine Backen in einem großen Grinsen nach hinten zerrt. Doch noch bevor man sich der affektierten Starre bewusst wird, flattert im Vordergrund die freudestrahlende Ehefrau ein, mit einer übergroßen Cornflakespackung vor der neongrünen Brust. Gemeinsam stimmen alle vollkornknirschend in die Ode an die Frühstückscerialien ein.

Mir entweicht nur Gähnen und mein Unterkiefer beginnt zu schmerzen. Ich möchte eigentlich Schlafen gehen; bleibe jedoch sitzen und schalte weiter.

Wen interessiert schon, ob dieser Typ schwul ist und ob er eine Familie hat? Wer will schon eine Familie? Wer einen schwulen Typen? Können einem da nicht die Kinder leid tun?

Wieder muss ich gähnen und möchte Schlafen gehen; bleibe jedoch sitzen und schalte weiter.

Anstatt, dass auf dem Musiksender mein Lieblingslied gespielt wird, schwenkt ein weiß gekleideter Rapper seine Goldringe in der Kamera, während im Hintergrund ein paar leicht bekleidete Frauen ihre Ärsche schwingen.

Für eine Weile verfalle ich dem Taumeln und ich frage mich, inwieweit mich das vielleicht anmacht. Richtige Männer würden sicherlich den Rhythmus begleiten und sich einen runter holen. Ich stecke probeweise meine Hand in die Hose, finde das aber eher unbequem.

Vielleicht hab ich nicht genügend Rhythmus oder es sind die fett glänzenden Wallungen die taktlos sind. Möglicherweise wird mir meine Lust auch nur von diesem schwarzweißen Pomp ausgetrieben, der die ganze Zeit dumpf gegen die Kamera schlägt. Dabei müsste er mich doch als Inkarnation der Männlichkeit anmachen?

Doch stattdessen muss ich gähnen und möchte Schlafen gehen; bleibe jedoch sitzen und schalte weiter.

Ich bin asexuell. Diese revolutionäre Erkenntnis bei Erdmännchen überrascht mich persönlich nicht wirklich. Schon in meiner Pubertät hatte ich eine asexuelle Phase von zwei Wochen, habe sie jedoch aus Langeweile wieder aufgeben. Heutzutage, im Gegensatz zu damals, verfüge ich jedoch über ein gigantisches alternatives Beschäftigungspotential, mein völlig vernachlässigtes Berufsleben. Beruhigt ziehe ich meine Hand wieder aus der Hose und beginne mein zukünftiges, erfolgreiches, asexuelles Leben zu planen.

Noch einmal muss ich kurz gähnen und möchte Schlafen gehen; bleibe jedoch sitzen und schalte weiter.

Die Börsennachrichten eignen sich optimal als Aufklärungsmaterial zur asexuellen Lebensweise. Demnach brauche ich nur meine unsicheren, sozialen Investitionen umschichten in langfristige, festverzinste Überstunden, dann wird in kürzester Zeit mein Shareholder Value explodieren und mich in die Höhen eines Business Angels katapultieren.

Weiter erfahre ich, dass ich dafür zuerst meine Kernkompetenz eingrenzen muss. Hierfür analysiere ich meinen alten Freundeskreis unter rein ökonomischen Kriterien. Nach Ausschluss risikoreicher, emotionaler Bindungen reduziert er sich umgehend auf eine Person – meinen Chef.

Bisher hat uns noch keine eigentliche Freundschaft verbunden. Um ehrlich zu sein, er hat gar keine Freunde. Dafür sind sich alle Leute einig, dass er ein aufdringliches, cholerisches Arschloch ist. Ich möchte ihn vielmehr ab jetzt als verkannte Marktnische bezeichnen.

Wenn ich also meine freigesetzten Ressourcen an Zeit und Geld in ihn investiere, wird meine Karriere aufgrund meiner Monopolstellung boomen.

Damit ist mein neuer strategischer Fokus klar und ich entwickele meine Unternehmens-Visionen:

  1. Ich werde in der Welt zu Hause sein und alle Karrieregipfel erstürmen.
  2. Ich werde ungebunden und grenzenfrei sein.
  3. Ich werde eine Visacard besitzen.

Dann trifft mich der Schlag.


In einem Moment throne ich noch auf meinen berauschenden Karrieregipfeln celluloser Macht und im nächsten reißt mich ein celluloider Crash aus meinen asexuellen Phantasiewolken und wirft mich hart in die sexuelle Realität zurück.

Schuld ist der rebellierende Sohn eines ehrgeizigen, allein erziehenden und verständnislosen Vaters. Verloren – ohne eine männliche Führungsrolle – rutscht der Junge selbstverständlich in die Drogenszene ab, raubt Unschuldige aus und bedroht am Ende gar den eigenen Vater mit einer Waffe.

Doch es ist weder die biblische Dramatik der Handlung, noch das epochale Geschick der Schauspieler, die mich bekehren. Es ist die Ehrlichkeit eines für mich bestimmten Blickes des Jungen, dem ich bis zum Ende des Filmes verfolge.

Dabei ist der Junge gar nicht mein Typ: Zu zart und überstylt ist er, gerade für einen Straßenjungen. Doch, mag er es spielen oder kennen, er trägt eine faszinierende Leere in seinen Augen, vergleichbar mit dem letzten Flackern der Kerze, kurz vor dem Erlöschen.

In der letzten Szene des Films stehen sich Vater und Sohn gegenüber und richten ihre Waffen aufeinander. In schnellen Schnitten zielt die Kamera über den Lauf auf sich selbst. Dann senken sich die Waffen langsam und Vater und Sohn versöhnen sich.

In meinen Gedanken jedoch blitzt der Lauf einer Waffe und die nachblendende Dunkelheit füllt Rauch. Die Kerze ist erloschen.


Der Fernseher flimmert. Ich schaue auf die Fernbedienung, die neben mir liegt und muss gähnen. Ich könnte jetzt Schlafen gehen und im Dunkeln über seine Augen sinnieren – über unsere Gemeinsamkeit. Doch bleibe ich sitzen, greife zu der Bedienung und schalte weiter.

Ich ende auf dem Musikkanal. Mein Lieblingslied läuft auch dieses Mal nicht. Doch kommt es sicherlich als nächstes oder auch danach. Es wird bald kommen, denn auch heute kam es nicht.

Es folgt das Video einer Teeniegroup. Auch dieses ist schnell geschnitten und angereichert mit Bildfetzen einer Parallelgeschichte. In ihr lernt sich ein Paar in der Disko kennen, verliebt sich augenblicklich und fängt sofort an sich stürmisch zu küssen.

Diese Einfachheit ihres Lebens überrascht mich. Mein Leben hingegen stellt sich kompliziert dar. Mir ist, als ob es zu viele Sender gäbe, zu viele Sendungen parallel laufen würden. Dabei halte ich die Fernbedienung in meiner Hand und kann mich dennoch nicht entscheiden. Ich habe Angst etwas Schönes zu verpassen, Angst vor dem letzten guten Film. Doch kann mich das Gros nicht befriedigen, nur einzelne Blicke bleiben bestehen.

Noch immer starre ich auf den Fernseher und warte auf mein Liebeslied, doch folgt nur eine Trennungsballade, sich wiederholender Abschied. Am Ende sehe ich Fotos in Rauch aufgehen, den schwarzen Schnitt zum nächsten Stück.

Es ist mein Finger auf der Fernbedienung, ein Gähnen tief in mir drin. Ich bin müde und möchte nicht mehr warten; stehe auf und gehe schlafen.

Jean-Pierre, 26. Juli 2002; 21:57

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