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Abschiedsbriefe

Teil 1

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Inhaltsverzeichnis

Abschiedsbriefe

Es war kalt draußen, und ich war wirklich froh, als ich endlich unser Haus erreichte. Ich schloss langsam die Tür auf, schaute an unser Schlüsselbrett und fuhr mit prüfendem Blick über die Schlüssel. Endlich entdeckte ich den Schlüssel, der zum Briefkasten gehörte. Ich wartete auf den Brief von Jule, die mir eigentlich schon seit genau 2 Wochen mitgeteilt haben wollte, ob das mit unserem geplanten Urlaub in die Toskana nun klappte oder nicht. Jule war seit der Grundschule schon eine sehr gute Freundin von mir. Früher haben wir fast alles miteinander gemacht. Wenn wir abends zusammen gemümmelt auf dem Sofa bei uns zu Hause lagen, teilten wir uns die Chips und schauten gemeinsam das Fernsehprogramm. Wir waren immer ein Herz und eine Seele und untrennbar gewesen. Eines Tages, als wir beide 13 waren, bekam ihr Vater, der bei der Bank arbeitete, die Nachricht, dass er nach Karlsruhe versetzt werde. Für mich war das ein riesen Schock, denn das bedeutete für mich, dass ich Jule verlieren sollte. Wir versprachen uns, uns niemals zu vergessen und den Kontakt aufrecht zu erhalten. Nächstes Jahr in den Osterferien wollten wir zusammen in die Toskana fahren, das hatten wir uns überlegt, als ich das letzte Mal bei ihr gewesen war. Sie wollte mir nun mit einem Brief mitteilen, ob ihre Eltern es erlaubten oder nicht. Ich schob vorsichtig den Schlüssel ins Schloss und öffnete den Briefkasten. Als ich hinein sah, fing ich zunächst an zu strahlen. Da war ein hübsch verzierter Umschlag, der meinen Namen trug. Ich vermutete, dass es der Brief war, auf den ich schon seit Ewigkeiten gewartet hatte. Dann fiel mir auf, dass der Brief weder Stempel noch Briefmarke hatte. Er konnte unmöglich von Jule sein. Ich runzelte die Stirn ein wenig und schaute auf die Rückseite des Briefes, um zu erfahren, wer denn der Absender sein könnte. Im ersten Moment war ich erstaunt: Der Brief war nicht von Jule, wie ich es mir gedacht hatte. Er war von jemand, von dem ich noch nie einen Brief erhalten hatte: Stephan. Wieso sollte er mir auch Briefe schreiben? Wir waren beste Freunde und sahen uns jeden Tag in der Schule. Wir redeten und redeten. Da waren keine Briefe nötig. Ich zögerte, den Brief zu öffnen, denn plötzlich fiel es mir wieder ein: Er hatte mit mir reden wollen! Das Problem seiner Eltern. Ich hatte ihn zurück gewiesen, weil ich selbst Probleme hatte. Ich hab ihn hängen lassen, meinen besten Freund. Mich überkam ein Schuldgefühl. Total unschlüssig, ob ich den Brief öffnen sollte, ging ich langsam die Treppe zur Wohnung hoch. Von oben hörte ich, dass meine Schwester wiedermal Zoff mit meiner Mutter hatte. Sie hatte die Angewohnheit, bei Streit das ganze Haus zusammenzuschreien. Doch in diesem Moment war mir das egal. Angst? Hatte ich Angst? Angst diesen Brief zu lesen? Den Brief von meinem besten Freund? Was hatte er mir schon per Brief zu sagen? Und wieso gab er mir den Brief nicht persönlich, sondern warf ihn stattdessen bei uns in den Briefkasten? Es war merkwürdig. Vielleicht war er mir böse, dass ich einfach keine Zeit für ihn hatte. Ich hatte sonst immer für ihn Zeit. Es war das erste Mal, dass ich ihn hatte hängen lassen. Mit langsamen Schritten betrat ich mein Zimmer. Wieder und wieder las ich erst meine Anschrift, dann Stephans. Womöglich versuchte ich aus den Buchstaben den Grund zu lesen, warum er mir schrieb – aber ich konnte es nicht herausbekommen. Ich ließ mich aufs Bett fallen. Mit zittrigen Händen untersuchte ich den Brief und suchte eine geeignete Stelle, an der ich ihn öffnen konnte. Als ich eine Stelle gefunden hatte, riss ich den Brief auf. Langsam öffnete ich den sehr sorgfältig gefaltenen Brief. Er war so makellos, genau wie die Heftführung Stephans. Sauber und ordentlich. Er hatte sich beim Schreiben sehr viel Mühe gegeben, das sah man. Ich begann langsam zu lesen, bis mir jeder Kommentar im Halse stecken blieb.


 

Lieber Adrian,

ich weiß, du hattest es nicht immer leicht mit mir. Du hast mir immer zugehört, mich verstanden und mit mir gefühlt. Du bist der beste Freund, den ein Mensch sich nur wünschen kann. Ich danke dir hiermit für alles, was du mit mir durchgestanden hast und es tut mir aufrichtig Leid, wenn ich dich letzten Donnerstag überfordert habe. Es ging um meine Familie. Mein Vater ist abgehauen und meine Mutter steht jetzt alleine da mit mir. Für sie bin ich eine Art Ballast. Ich stehe ihr im Weg und koste Geld. Nichtmal einen eigenen Verdienst habe ich. Und zuviele andere Probleme. Die Liebe, verstehst du? Ich hab dir zuviel verschwiegen, was ich dir wohl besser erzählt hätte.

Adrian, bitte verzeih mir, dass ich so feige bin und das alles in einem Brief schreibe, aber ich konnte es dir nicht ins Gesicht sagen. Vermutlich hättest du mich aufgehalten, aber jetzt kannst du es nicht mehr. Den Brief werde ich bei dir einwerfen, wenn du beim Training bist. Jetzt, wo du ihn liest, ist alles zu spät.

Vergiss mich niemals. Ich jedenfalls, werde dich nie vergessen. Never..

Machs gut,

Stephan


 

Ich hatte verstanden und konnte die Tränen kaum zurückhalten. Er war mein bester Freund! Wieso war ich in diesem entscheidenden Augenblick nicht für ihn da gewesen? In meiner Magengegend spürte ich starke Stiche. Fürchterliche Angst war plötzlich in meinem Kopf. Ich las den Brief erneut. Immer wieder. In mir kamen mit einem Mal so viele Fragen hoch. Was meinte er mit dem, was er mir verschwiegen hatte? Hatte er vielleicht Gefühle für mich? Wenn ja, warum hatte ich es nie gemerkt? Ach Quatsch, er meinte sicher ein Mädchen. Svenja – von ihr hatte er doch immer erzählt. Sie meinte er sicherlich. Aber diese Sätze waren so persönlich. So, als ob ich doch etwas Besonderes für ihn war. Mehr als ein Freund. Schnell sprang ich vom Bett auf. Mit schnellen Schritten machte ich mich auf zum Telefon. Ich wollte ihn anrufen. Er würde das niemals tun, was er im Brief angekündigt hatte, dafür war er viel zu vernünftig. Trotzdem machte ich mir Sorgen. Schnell tippte ich die Tasten. Eine nach der anderen und schließlich den grünen Hörer. Um mich herum war plötzlich alles still. Meine Schwester und meine Mutter waren nicht mehr am Streiten. Wahrscheinlich war Silvia mal wieder einfach mitten im Streit aus der Wohnung gelaufen und zu ihrem Freund geflüchtet. Ich wartete auf das Freizeichen. Es waren nur wenige Zehntel oder Hundertstel, aber mir kamen diese vor wie Minuten. Dann hörte ich die Bandansage, die immer kommt, wenn man sein Handy aus hat. Stephan hatte sein Handy nie aus. Im Gegensatz zu mir sorgte er vor einem Ausflug dafür, dass sein Akku voll war und garantiert nicht ausging. „Naja, irgendwann ist immer das erste Mal“, dachte ich mir, um die Sorgen zu verdrängen. Doch insgeheim wusste ich bescheid. Stephan hatte nicht gelogen. Wieso sollte er mich auch belügen? Ich hielt das Telefon immer noch in der Hand und starrte aus dem Fenster. Insgeheim fragte ich mich, ob Stephan jetzt wohl auch noch in der Lage war, irgendetwas zu sehen. Instinktiv ging ich zum Schrank. Ich kramte ein wenig in meinen Klamotten rum, lief dann in die Küche, durchsuchte den Kühlschrank, obwohl ich gar keinen Hunger hatte. Mit einem lauten Knallen fiel die Kühlschranktür wieder zu. Ich hatte mit einem mal das Verlangen, nach Stephan zu schauen. Zuhause bei ihm zu sein. Mich selbst von dem überzeugen, was er da in diesem Brief erwähnt hatte. Einfach sicher gehen, dass ich damit Recht hatte, dass er, wenn ich bei ihm vorbei schaue, an seinem Schreibtisch sitzt und Aufgaben macht oder wenigstens vorm Fernseher sitzt. Schnell kramte ich meine Schuhe wieder hervor und war schon auf dem Weg nach draußen. Es war nicht weit zu ihm. Zu Fuß brauchte ich meist 5 Minuten. Mein Herz pochte fürchterlich, als hätte ich gerade einen Dauerlauf hinter mich gebracht. Seinen Brief trug ich fest in den Händen. Zum einen, weil ich nicht wollte, dass jemand auf die Idee kam, den Brief zu lesen, und zum anderen, weil dieser Brief für mich in den letzten Minuten vielleicht das Wichtigste auf dieser Welt geworden war. Als ich das Haus erreichte, merkte ich, dass meine Schritte immer schwerer wurden. Ich schleppte mich die Steintreppe vor dem Haus hoch und tastete nach der Klingel. Leicht zögernd, betätigte ich sie. Durch das leicht verriffelte Glas der Tür versuchte ich, etwas zu erkennen. Früher, als wir uns noch öfter gesehen hatten, konnte ich immer durch die Riffel sehen, wer mir die Tür öffnete. Ich hatte einfach Übung darin. Mein Herz pocherte noch lauter, als es vorher schon war. Ich sah eine Gestalt auf mich zu kommen und versuchte auszumachen, wer das war, doch es war mir unmöglich. Langsam schlenderte die Person zur Tür und öffnete sie. Den Boden absuchend senkte ich den Kopf. Man konnte mir ansehen, dass ich Angst hatte. Vorsichtig versuchte ich nach oben zu schauen. Was ich da sah, bestätigte alles: Frau Seiters hatte tränenrote Augen, versuchte aber freundlich zu wirken. Weil ich nicht anders konnte, fiel ich ihr in die Arme und drückte sie. Ich wusste, was geschehen war und fühlte mich für diese Sache irgendwie verantwortlich. Ich sah, wie auf ihren Wangen erneut Tränen runterliefen. In meinem Kopf entstand in diesem Moment wieder eine Menge von Fragen, die ich Frau Seiters unbedingt stellen wollte, aber ich wollte sie nicht überfordern. „Wie ist er…?“ stieß es aus mir raus. Frau Seiters wischte sich vorsichtig die Tränen aus dem Gesicht, schluchzte aber weiter: „Woher wusstest du?“ Sie schien verwirrt. Ich kam in arge Bedrängnis. Sollte ich ihr in dieser Situation von dem Brief erzählen? Erzählen, dass ihr Sohn vielleicht schwul war und etwas für mich empfunden hatte? Dabei wusste ich garnicht, ob er das mit den Sätzen ausdrücken wollte. Das allerschlimmste ist ja, dass ich das auch niemals mehr erfahren würde. Ich würde niemals mehr die Gelegenheit haben, ihn zu fragen, was der Brief eigentlich sollte, ob er etwas für mich gefühlt hatte und was er gefühlt hatte. Frau Seiters schaute mich hilfesuchend an. „Stephan hat mir einen Brief geschrieben“, seufzte ich. Erst jetzt fiel ihr der Brief auf, den ich schon die ganze Zeit in der Hand hielt. „Er hat dir was? Könnte ich den Brief bitte lesen?“ fragte Frau Seiters vorsichtig. Ich antwortete nichts, streckte ihr einfach den Brief hin. Sie begann zu lesen. Man konnte ihr ansehen, dass sie mit jedem Wort, das sie las entsetzter wurde. „War Papa also der Auslöser. Ich wusste es. Erst haut er ab und dann nimmt er mir auch noch meinen einzigen Sohn.“ Frau Seiters Augen wurden kleiner. Sie hatte anscheinend keine Anspielung in dem Brief erkannt. Vielleicht bildete ich mir das alles auch nur ein und es hatte ganz und gar nichts mit mir zu tun. „Wie ist er gestorben?“ fragte ich noch einmal, da ich beim ersten Mal keine Antwort erhalten hatte. „Tabletten. Er hat sich eine Überdosis verpasst“, sagte Frau Seiters so, als wollte sie in dieser Situation noch cool wirken. Doch sie wirkte alles andere als cool. Man konnte ihr anmerken, dass sie verzweifelt und am Ende war.


 

Ich saß lange in seinem Zimmer auf dem Bett. Frau Seiters hatte mich ins Haus gelassen, da sie erkannt hatte, dass die Sache für mich genauso schwer zu sein schien wie für sie. Sie saß wohl jetzt alleine in der Küche und starrte die Wand an. Meine Blicke schweiften durch das Zimmer und blieben am Regal hängen, wo auch die Fotoalben von Stephan waren. Ob er noch die ganz Alten hatte? Die, wo wir an Karneval als Marienkäfer verkleidet gefeiert hatten? Es zog mich vom Bett in Richtung Regal. Ich durchstöberte es und wurde bald fündig. Vorsichtig zog ich ein großes, verstaubtes Fotoalbum heraus und öffnete es. Mein Blick fiel direkt auf ein Foto, wo Stephan mit 8 Jahren halbnackt im Badezimmer steht. Plötzlich merkte ich, dass Stephan schon damals wunderschön aussah. Er hatte immer diese makellose Körperform gehabt. An ihm war eigentlich alles perfekt gewesen. Vorsichtig, damit nichts kaputt ging, blätterte ich die Seiten um und versank in Erinnerungen. Da waren Fotos von Stephans 9. Geburtstag. Der Tag war wunderschön. An diesem Tag war ich vom Baum im Garten der Seiters gefallen, was wohl weniger schön gewesen war. Aber Stephan hatte mir dann ein Pflaster auf mein Knie geklebt und sich rührend um mich gesorgt. Nach gut einer halben Stunde und vier weiteren Fotoalben, fand ich endlich das, was ich gesucht hatte: Die Marienkäferfotos. Sie waren so peinlich und süß zugleich. Wir hatten sogar schwarze Punkte im Gesicht. Als ich die Fotos gefunden hatte, die ich suchte, wollte ich die Alben wieder zurück an ihren Platz stellen. Ich schob das „Marienkäferbuch“ ins Regal und sah plötzlich, dass ein gefaltetet roter Zettel aus dem Einband flog. Er war genau so schön verziert, wie der Brief, der an mich ging, genauso fein gefalten. Ihn zu öffnen traute ich mich nicht. Ich wollte nicht seine Geheimnisse ausspionieren, doch irgendwie hatte ich den Drang danach zu erfahren, was in diesem Brief stand. Ich bückte mich nach dem Brief. Langsam und behutsam öffnete ich ihn. Als ich zu lesen begann, merkte ich, dass es gar kein Brief war. Einfach nur ein Blatt, auf dem sich ein paar seiner wirklich wunderschönen Zeichnungen befanden. Da war ein Teddy mit pechschwarzen Knopfaugen. Direkt daneben entdeckte ich etwas, was mich stutzig machte. Es waren eindeutig 2 Jungs, die sich küssten. Darunter stand in Krakelschrift etwas. Man konnte es kaum lesen und es sah so aus, als wäre Cola oder sonst etwas darüber gelaufen. Ich untersuchte den Zettel ganz genau und versuchte zu erkennen, was wohl dort geschrieben war. Plötzlich konnte ich eindeutig meinen Namen erkennen. Zumindest einen Teil davon. Das A von Adrian war unerkennbar gemacht. Mir schossen mit einem Mal wieder tausende Gedanken durch den Kopf. Dieser Zettel sprach für sich. Stephan hatte mich geliebt. Er war schwul, genau wie ich. Und ich hatte es nicht gewusst. Wir hatten jedes Geheimnis geteilt. Das Einzige, das ich ihm nicht gesagt hatte, war, dass ich auf Jungs stehe. Ich hatte immer Angst gehabt davor, dass er mich nicht verstünde. Die Angst, dass er denken könnte, ich empfände etwas für ihn, was über unsere Freundschaft hinausginge. Er hätte gewisse Dinge aus der Vergangenheit falsch deuten können. Jetzt wusste ich, dass er immer dasselbe gefühlt hatte. Nun war es zu spät. Alles drehte sich um mich herum. Erst jetzt realisierte ich, dass ich ihn verloren hatte. Er war tot. Er würde nie wieder zurückkehren. Ich würde ihm niemals sagen können, dass ich fühlte wie er, dass etwas aus uns hätte werden können. Ab diesem Moment würde ich alleine auf der großen, gefährlichen Welt sein. Niemand war da, dem ich meine Geheimnisse anvertrauen konnte. Na gut, es gab da noch Jule, aber die war über 200 km weit weg, wir hatten kaum Kontakt mehr. Ausserdem war Jule ein Mädchen. Ich konnte nicht stehen bleiben und lies mich in Stephans Bett sinken. Tränen quollen aus meinen Augen. Es war das erste Mal seit 3 Jahren, dass ich wieder weinte.


 

Mittlerweile war es draußen schon dunkel geworden. Frau Seiters war, soweit ich das erkennen konnte, eingeschlafen. Ich wollte sie nicht wecken, deshalb zog ich mir leise meine Schuhe an und verließ das Haus. Es war noch kälter geworden. Beim Ausatmen konnte ich meinen Atem sehen. Meine Hände hatte ich in den Jackentaschen vergraben. In der rechten Tasche waren außerdem der Brief und der Zettel. Beides hielt ich fest, denn ich wollte verhindern, dass die Sachen über irgendwelche merkwürdigen Wege verschwanden. Meine Gedanken drehten sich um Stephan. Nichts anderes ging mehr in meinen Kopf. Ich überlegte, mit wem ich hätte reden können, doch alle die mir in den Sinn kamen, wurden sofort wieder hinaus geschossen, denn ich hatte keine Lust auf ein spontanes Coming Out. Plötzlich kam mir Hendrik in den Sinn. Er war seit der 6. Klasse auf unserer Schule und immer der Außenseiter gewesen. Bei seinem Aussehen war das kein Wunder. Er trug hauptsächlich seinen Lieblingskilt, darunter eine seiner bunten Hosen, rote Chucks und merkwürdige Oberteile. Er machte von Anfang an kein Geheimnis darum, dass er schwul war. An seiner Stelle hätte ich mich in Grund und Boden geschämt, aber ihm schien das nichts auszumachen. Seine Stimme war mehr weiblich als sonst irgendetwas. Bis zu diesem Tage hatte ich auch kaum mehr als 3 Wörter mit ihm gewechselt, aber ich merkte, dass er vielleicht an diesem Tag der einzige wäre, der mich verstehen könnte und mir zuhören würde. Ich ging nun einen Schritt schneller.


 

Ich durchwühlte meinen Schreibtisch nach der Telefonliste unserer Klasse. Nachdem ich 6 Hefter durchwühlt hatte, wurde ich endlich fündig. Nach kurzem Überfliegen hatte ich die Nummer, die ich wollte. Ich zögerte. Sollte ich Hendrik wirklich anrufen? Würde er sich nicht ausgenutzt fühlen? Nie hatte ich wirklichen Kontakt zu ihm. Aber ich brauchte ihn jetzt. Schnell holte ich das Telefon. Kaum hatte ich die Nummer gewählt, ertönte auch schon das Freizeichen. Hoffentlich ging er direkt ran. Ich hatte keine Lust, irgendwie lange mit seiner Mutter zu diskutieren, wer ich denn sei und wo ich herkomme.

„Birnbaum, hallo?“ hörte ich eine Stimme.

War das jetzt Hendrik? Unschlüssig wie ich war, fragte ich nach.

„Hendrik? Bist du’s?“ fragte ich vorsichtig.

„Ja, wer ist denn da?“

„Hier ist Adrian. Du wunderst dich jetzt sicher, warum ich dich anrufe.“

„Das tu ich in der Tat“, fuhr er mir ins Wort, „Was gibt’s?“

„Du, ich muss mit dir etwas bereden. Es ist etwas Schreckliches passiert.“ Ich merkte, wie in mir alles bebte. Die Erinnerungen an Stephan kamen wieder. Der Abschiedsbrief, der Zettel, die Fotos. Alles drehte sich in meinem Kopf. Ich realisierte gar nicht, dass Hendrik mich etwas fragte.

„Hallo? Bist du noch da?“ hörte ich ihn auf einmal fragen.

„Ähh.. natürlich“, seufzte ich und spürte, wie mir eine Träne über die Wange lief.

„Kann ich bei dir vorbei kommen? Ich glaube, du bist der Einzige, der mich in der momentanen Situation versteht und ich kann das nicht am Telefon bereden.“

„Klar kannst du. So fern du das willst. Ich bin den ganzen Abend zu Hause. Willst du sofort?“

„Wenn’s geht ja.“

„Okay, ich warte auf dich.“

Schnell legte ich auf. Er hatte positiv reagiert. Das war doch schonmal etwas. Mit ihm würde ich sicher darüber reden können. Er würde Verständnis für mich haben, mich vielleicht in den Arm nehmen oder mir einfach nur zeigen, dass Schwulsein gar nicht so schlimm ist.

Nach einem Blick auf die Uhr fiel mir auf, dass wir schon fünf nach acht hatten. Trotzdem hatte Hendrik sich bereit erklärt, mit mir zu reden. Zum Glück wusste ich, wo er wohnte. Stephan und ich sind oft an diesem Haus vorbeigeschlendert und hatten uns überlegt, wie wohl das Zimmer der „Schwuchtel“ aussehen würde. Pink gestrichen mit lauter Herzchen und so. Damals ahnten wir ja beide noch nicht, dass wir überhaupt mal etwas für Jungs empfinden würden. Bei Hendrik war das immer anders. Als er neu zu uns in die Klasse kam, war er gerade mal 11 oder 12 Jahre alt und war sich schon sicher, dass er auf Jungs steht. Natürlich hatte er noch keinen Freund zu der Zeit – glaube ich zumindest. Es gingen des öfteren Gerüchte rum, dass er sich mit älteren Kerlen treffen würde, um mit ihnen irgendwelche Orgien zu starten oder sonst was, aber mittlerweile war ich so weit, dass ich mit Sicherheit sagen konnte, dass das damals alles gelogen war.

Da stand ich nun vor dem Haus der Birnbaums. Es sah schön aus von außen. In der Dunkelheit war es von dem von Innen herkommenden Licht hell erleuchtet. Es strahlte förmlich. Mein Blick fiel auf die Klingel. Sie hatte die Form eines Frosches auf dem in großen Buchstaben „BIRNBAUM“ aufgemalt war. Ich hatte noch nie eine solche Klingel gesehn. Bevor ich sie drücken konnte, wurde mir die Tür geöffnet. Hendrik schaute mir direkt ins Gesicht. Anscheinend hatte er am Fenster auf mich gewartet und gesehen, dass ich eingetroffen war.

„Hey Adrian, schön, dass du da bist, komm rein. Es ist doch kalt draußen“, sagte er stürmisch. Anscheinend hatte er gute Laune. Vielleicht lag es daran, dass er selten Besuch bekam. Und nun wollte ich auch noch mit ihm reden, ihm ein Geheimnis anvertrauen. Er lächelte mich an. Soweit ich denken kann, hatte ich ihn selten lächeln sehen. In der Schule war er meist ernst. Überhaupt war er anders. Erst jetzt fiel mir auf, dass er andere Klamotten trug. Er hatte einen Jogginganzug an.

„Na komm, gehn wir hoch in mein Zimmer. Da können wir reden“, schlug er vor. Mit einem Nicken machte ich ihm klar, dass ich nichts dagegen einzuwenden hatte. Schnell holte er aus der Küche noch 2 Gläser und eine Flasche O-Saft. Als ich sein Zimmer betrat staunte ich nicht schlecht. Nie im Traum hätte ich gedacht, dass Hendrik einen so guten Geschmack hat. Das Zimmer war blau-orange gestrichen. Allein damit konnte er bei mir schon doppelt punkten, da die beiden Farben meine absoluten Lieblingsfarben waren. Überall an den Wänden hingen selbst gemalte Bilder. „Hast du die gemalt?“ fragte ich und zeigte auf eines der Bilder. „Ja, ich male gerne. Das entspannt total“, sagte er und setzte ein schelmisches Grinsen auf. „Und nun verrat du mir doch mal, worüber du mit mir reden willst“, schnellte es aus ihm herraus.

„Es geht um Stephan...“, brachte ich langsam hervor.

„Du meinst Stephan Seiters?“

„Ja...“

„Was ist denn mit ihm?“

Tränen bildeten sich erneut in meinen Augen. Hendrik fragte nicht, er nahm mich einfach in den Arm. Fest drückte ich mich an ihn. Im Nachhinein war es mir peinlich, wenn ich darüber nachdachte, aber in diesem Moment tat es einfach nur gut. Langsam aber sicher, fand ich meine Stimme wieder.

„Er hat.... sich umgebracht.“ Ich brauchte Ewigkeiten bis ich den Satz ausgesprochen hatte. Man konnte erkennen, dass Hendrik blass im Gesicht wurde. Er brachte kein einziges Wort mehr heraus. Seine Hand bewegte sich zur O-Saftflasche. Mit einem leisen Geräusch öffnete er sie. Alles war ruhig. Man hörte nur das Einfüllen des Orangensaftes in die 2 Gläser. Hendrik nahm sofort einen riesen Schluck, er schien überfordert. „Warum hat er das getan? Hatte er einen Grund?“ fragte Hendrik zögerlich.

„Zu viele Probleme.“

„Inwiefern Probleme?“

Ich zögerte, wusste aber, dass ich Hendrik es anvertrauen konnte. Wieso sollte er es weitererzählen? Er hatte keinen Grund.

„Sein Vater ist abgehauen“, sagte ich. „Und er hat mich geliebt“, fügte ich leise, fast in Gedanken hinzu.

„Geliebt?“ hakte er nach.

„ Ja, geliebt.“

„Du ihn auch?“

Ich nickte. Meine Mundwinkel sanken nach unten. „Er hat es nie erfahren. Ich wusste ja auch nicht, dass er mich liebt. In einem Abschiedsbrief hat er es mir gestanden. Hätte ich das alles gewusst, wäre alles viel einfacher geworden, viel besser. Jetzt hab ich ihn aus eigenem Verschulden verloren“, seufzte ich.

„Nein, du darfst dir auf keinen Fall einreden, dass du Schuld an der Sache bist. Du bist kein Hellseher, Adrian. Du konntest das doch alles garnicht ahnen. Niemand konnte das ahnen.“ Hendrik fuhr mit seiner Hand über meine Schulter. Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter. Noch nie hatte mich ein Junge angefasst, von dem ich wusste, dass er genau so war wie ich. Es war ein tolles Gefühl. Nun war mir der Junge, den ich schon so lang kannte, aber über den ich doch nichts wusste, das erste Mal nah. Zwar nicht so nah, aber immerhin spürte ich, dass ich nicht allein war.

„Was soll ich denn jetzt machen?“ schluckte ich, „Ich kann ihm niemals mehr zeigen, was er mir bedeutet hat.“

Auf diesen Satz folgte eine ewige Stille. Hendrik wusste nicht, was er mir darauf antworten sollte. „Wie gehst du eigetlich damit um?“ versuchte ich das Thema zu wechseln. „Womit?“ fragte er mich.

„Na mit dem Schwul-Sein.“

„Ich war früher in einer Art Jugendgruppe. Das hat mir anfangs sehr geholfen.“

„Bist du immernoch dort?“ fragte ich neugierig.

„Nein.“

Ich erwartete, dass jetzt noch mehr kam, aber anscheinend war die Sache damit für ihn erledigt. Somit hakte ich auch garnicht weiter nach. Wir schwiegen eine lange Zeit.

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