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Die Stadt der Engel

Teil 3

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Paris, 2012 an der Universität Sorbonne ...

Es regnet wieder mal, wie so oft um diese Jahreszeit. Es klopft an der Tür:

»Monsieur Sievert?«

»Ja Mylene?«

»Vor zwei Stunden hat der Dekan angerufen, als sie beim Essen mit Madame Fabian waren. Sie sollen kommen, sobald ihre Zeit es zulässt Monsieur.«

»Ist gut Mylene, ich werde mich gleich auf den Weg machen. Bitte rufen sie im Dekanat an und sagen sie, dass ich komme. Hat er eigentlich selbst angerufen?«

»Seltsamerweise ja. Er klang ziemlich amüsiert.«

»Oh man, wer weiß was der alte Kauz sich dieses Mal hat einfallen lassen.«

»Tut mir leid Monsieur.«

»Kein Problem, ich werde es überleben; hoffe ich!«

Ich mache mich auf den Weg durch die Endlosflure der Uni. Der Dekan ist ein alter Mann, doch bei ihm ist alles anders als man es auf den ersten Blick erwarten würde. Normalerweise sagt man alten Menschen ja einen gewissen Hang zur Trägheit nach. Dieser hier ist genau das Gegenteil. Desto älter er wird, desto mehr gute Ideen sprudeln förmlich aus ihm heraus. Er soll es geschafft haben das Institut für Ostasienwissenschaften in nur fünf Jahren zu sanieren. Nun gut, dafür haben wir jetzt vier schmucke Werbetafeln auf dem Dach, aber wen stört das, wenn es für einen ausgeglichenen Haushalt sorgt. Das war eine von den Ideen, die er beim Kanzler durchgeboxt hat.

Ich betrete das Sekretariat.

»Ah, Monsieur Sievert schön sie zu sehen. Der Chef wartet bereits sie zu sehen.«

»Enchanté ma chère!«

Ich betrete das Büro des Dekans.

»Ah mon chèr, setzen sie sich.«

»Danke, aus welchem Grund möchten sie mich sprechen, wenn ich fragen darf?«

»Sie dürfen, ausnahmsweise. Ich habe einen neuen Job für sie!«

»Ich bin hier eigentlich ganz zufrieden Professor.«

»Sie werden trotzdem gehen, glauben sie mir. Wir brauchen einen Verbindungsmann an der Universität in Bangkok. Sie waren schon mal da, das spricht genauso für sie, wie die Tatsache, dass sie einer der wenigen sind, denen ich uneingeschränkt vertraue. Es geht dabei um ein wenig Geld müssen sie wissen. Sie sollen den Leuten dort auf die Finger schauen. Bis jetzt läuft alles reibungslos bei unserem Projekt, sie sollen dafür sorgen, dass das so bleibt und dass das Geld unserer Bürger nicht unnütz vergeudet wird. Als Senator für Finanzen fällt das in ihren Bereich. Ich würde ja auch gehen, aber man braucht mich hier, und außerdem vertrage ich das Klima dort nicht. Was sagen zu meinem Angebot?«

»Wie werde ich dort leben, und was noch wichtiger ist, für wie lange?«

»Angemessen, und auf unbefristete Zeit. Vergessen sie nicht, sie sollen eine der größten Universitäten der Union repräsentieren. Kann ich, können wir auf sie bauen?«

»Meine uneingeschränkte Loyalität gehört den Interessen Europas.«

»Wie immer sehr diplomatisch, und politisch korrekt. Sie hätten Politiker werden sollen Sievert!«

»Merci, monsieur le doyen«

»Aber bitte, und nun beeilen sie sich besser. In zwei Tagen starten sie mit unserem Jet in Richtung Bangkok. Ach ja, sie werden sich vielleicht über die Maschine wundern. Unsere Kollegen aus der Technologiefakultät haben ein wenig daran herumgebastelt!«

»Sie machen mir ja richtig viel Mut.«

Zum Abschied gibt er mir die Hand. Sofort danach sieht er so aus, als schwebten seine Gedanken schon zwischen Saigon und Hanoi.

Ich brauch nicht viel Zeit um meine Zelte abzubrechen. Die wichtigsten Sachen aus meiner Wohnung sind schnell zusammen gesucht. Ich bevorzuge es spartanisch, ohne viel Nippes. Den Rest können mir meine Eltern hinterher schicken.

Der Flug dauert vier Stunden. Es ist schon seltsam in einem zusammengeschusterten Prototyp die Schallmauer zu durchbrechen! Das Wetter in Bangkok ist schwül warm. Man bedenke, so ist es fast immer. Die Luftfeuchtigkeit ist so hoch, dass ich das Gefühl habe durch Wasser zu schwimmen. Das Auto, das mich abholt hat glücklicherweise eine Klimaanlage.

Man fährt mich zu einem recht großen Haus aus älterer Zeit. Über dem Eingang hängt die blaue Fahne mit den zwölf goldenen Sternen. Mein Gepäck wird von tausend fleißigen Händen ins Haus getragen. In der Eingangshalle steht eine Chinesin.

»Monsieur Sievert, im Namen der Universität von Bangkok möchte ich sie begrüßen. Wir freuen uns alle sehr über ihren Besuch. Mein Name ist Ying Wu.«

»Angenehm Fräulein Wu! Wie sie sehen habe ich eine lange Reise hinter mir und würde mich gerne etwas hinlegen«

»Aber natürlich. Ich habe hier unten ein kleines Zimmer. Wenn sie etwas benötigen rufen sie bitte. Den Rundgang durch das Haus können wir ruhig verschieben.«

Man führt mich durch meine Räume. Im Schlafzimmer angekommen teste ich gleich das Bett aus.

»Monsieur, wann wünschen sie morgen zu frühstücken?«

»So gegen acht wäre mir lieb.«

»Gut um acht im Esszimmer. Schlafen sie gut!«

»Ich werde mir Mühe geben, danke.«

Erschöpft lasse ich mich aufs Bett fallen. Den ganzen Tag auf den Beinen zu sein ist echt anstrengend. Schnell schlafe ich ein.

Am nächsten Morgen im Esszimmer:

»Ah, Guten Morgen Monsieur Sievert! Gefällt ihnen ihr Zimmer, oder sollen wir etwas verändern lassen?«

»Danke, alles ist in Ordnung und nach meinem Geschmack, wenn auch etwas zu viel Pomp für eine Person. Sie sollten das Geld lieber für das Projekt ausgeben.«

»Wir liegen sehr gut im Plan, es war Geld übrig und so haben wir es in eine etwas größere Immobilie gesteckt. Wir gehen mit fremdem Geld besonders gewissenhaft um!«

»Dann ist es gut.«

»Danke; Chang, bringen sie bitte das Essen herein! Es ist für heute eine Willkommensparty arrangiert worden.«

»Extra für meine Wenigkeit?«

»Sie sollen die Gelegenheit bekommen alle wichtigen Persönlichkeiten der Universität kennenzulernen.«

»Also viel Händeschütteln, wie?«

»Darauf wird es wohl hinauslaufen Monsieur.«

»Wie wäre es wenn sie mich mit meinem Vornamen ansprechen würden? Wir werden noch lange zusammen arbeiten müssen.«

»Wie sie wünschen Monsieur Justus«

»Gibt es eine Kleiderordnung?«

»Eigentlich nicht, aber etwas edles dürfte angebracht sein. Man wird sie vielleicht nicht direkt um Geld anflehen, doch alle werden wissen, sie sind derjenige, der über die Vergabe von Geldern entscheidet. Haben sie eine Uniform mitgebracht?«

»Bitte was? Ich bin Zivilist, was soll ich mit einer Uniform?«

»Das ist hier so üblich. Sie werden sehen, alle werden aussehen wie kleine Generäle. Nun wenn sie nichts passendes mitgebracht haben werden wir etwas anfertigen lassen müssen!«

»Bis heute Abend?«

»Das lassen sie besser meine Sorge sein.«

»Wann fahren wir in die Stadt rein?«

»So bald sie wollen.«

»Ok, gleich nach dem Frühstück.«

Am besten schmecken die exotischen Früchte, das ist alles was ich an diesem Morgen esse. Später fahre ich mit Ying nach Bangkok. Chang fährt uns in einer schwarzen Limousine. Wir halten im Chinesenviertel vor einem Schneidersalon.

»Ich habe das Gefühl, sie haben bereits alles gemanagt Ying?!«

»Das Schicksal hilft nur dem, der sich selbst zu helfen weiß! Der Schneider gehört zur Familie.«

Wir betreten den Laden und werden schon erwartet. Stundenlang muss ich mir Stoffe ansehen und Schnitte für einen Anzug auswählen. Wir einigen uns schließlich auf dunkel-blau mit Lilienmuster. Als alles ausgesucht ist werden meine Maße genommen, und wir können gehen. Der Anzug wird tatsächlich pünktlich abgeliefert werden. In der Zwischenzeit sind Ying und ich wieder in die Villa zurückgekehrt. Dort fange ich an mein Gepäck auszupacken. Ich habe auch etwas ganz besonderes mitgebracht. Die Kassette aus dem Schließfach mit den Fotos, den Blumen und dem Amulett ist unter meinen Gepäckstücken aus Frankreich. Nach Stunden kommt Ying in eines meiner Zimmer.

»Hallo Justus! Haben sie den Anzug schon ausprobiert? Die Gäste werden in spätestens einer Stunde kommen, eher früher.«

»Ist es schon so spät? Der Anzug passt mir wie angegossen, mit dem werde ich keine Probleme haben. Wenn ich noch mal etwas brauchen sollte werden wir wieder dorthin fahren.«

»Das freut mich! Dann lasse ich sie mal wieder in Ruhe, aber vergessen sie die Zeit nicht!«

»Werde ich nicht!«

Kurz nachdem sie gegangen ist, ziehe ich mich um. Der Schneider hat wirklich ganze Arbeit geleistet. Ich werde heute das Amulett tragen das Elise vor mehr als zwölf Jahren für mich geschnitzt hat.
Bald gehe ich die große Treppe hinunter. In der Empfangshalle wartet Ying bereits auf mich.

»Sie sehen gut aus Justus!«

»Schmeicheln sie mir nicht, sonst könnte es mir zu Kopfe steigen. Und den brauche ich noch für heute Abend.«

»Ich werde ihnen helfen, keine Angst!«

»Übrigens, für wen haben sie sich so chic gemacht, hoffen sie einen unverheirateten Professor zu erwischen?«

»Dies ist die Villa Sievert und ich bin ihr Attaché.«

»Ist ja schon gut.«

»Chang und die anderen Bediensteten haben bereits im Garten alles aufgebaut. Es kann losgehen. Bereit?«

»Es muss ja gehen.«

»Genießen sie es doch so lange sie können, lassen sie die Thais vor ihnen buckeln.«

»Das war eigentlich nicht meine Vorstellung von guter Zusammenarbeit!«

»Aber beklagen sie sich nicht, wenn sie sie nicht mehr loswerden. Bei uns zu Hause praktizieren wir schon seit sechs Tausend Jahren diese Praxis und es ist höchst effektiv.«

»Ich käme aber dennoch nicht auf den Gedanken ein paar Leute, die mir mächtig auf die Nerven gehen, mit grober Gewalt zur Raison zu bringen.«

»Lassen wir das, darüber können wir uns später unterhalten.«

»Aber nur wenn ich es so will, denn ich bin gespannt was passiert, wenn ich nach einem neuen Attaché verlange!«

Unter der vielen Schminke wird das Gesicht der Chinesin kalk-weiß.

»Sehen sie es als eine Kostprobe ihrer Praxis!«

Es läutet und Chang beeilt sich das Tor zu öffnen und den ersten Gästen die Kleidung abzunehmen.

»Ah, Monsieur Sievert wir freuen uns alle über ihre Anwesenheit. Wenn ich mich vorstellen darf: Professor Doktor Aviankul«

»Sehr erfreut Professor! Wenn sie sich bitte in den Garten begeben wollen, einer meiner Diener wird sie führen.«

Es folgt das obligatorische Händeschütteln. Und es wird nicht bei dem einem mal bleiben. Am Ende haben sich über fünfzig Personen im Garten versammelt. Die Lampions werden angezündet, Blumen verteilt, das Essen serviert. Ying erzählt mir zu jedem Gast die passende Geschichte.

»Ich warte aber noch auf eine gute Freundin von mir.«

»Was ist an ihr so besonders?«

»Sie ist nicht so aalglatt wie all die anderen Angehörigen dieser selbst ernannten Elite. Sie ist ihnen sehr ähnlich, sie wird ihnen gefallen!«

Das will ich schwer hoffen! Alle versuchen sie mich zu becircen. Meinen sie das ließe sich ändern?»

»Wenn sie sich einen heraussuchen und ihn zur Schnecke machen, wir das zumindest für viel Aufregung sorgen. Aber ob das hilft, keine Ahnung.«

»Da kommt ein Auto die Einfahrt herauf.«

»Das muss sie sein! Chang kümmern sie sich darum?!«

»Wie die Herrin wünscht!«

Chang öffnet das Tor. Herein kommt eine Thailänderin Mitte dreißig.

»Ich grüße sie Senator! Hatten sie eine angenehme Anreise?«

»Sehr erfreut Madame, ja hatte ich. Bitte kommen sie mit uns in den Garten.«

»Gern'«

»Darf ich fragen welchen Rang sie bekleiden?«

»Hat Ying sie nicht darüber informiert? Ich bin nur eine einfache Dozentin an der Universität. Ich heiße Samsamai Otrakul, aber sagen sie ruhig Justine zu mir. Das ist der Name den mein Schwager mir gegeben hat.«

»Bitte setzen sie sich an meinen Tisch, ich ertrage diese Speichellecker nicht mehr!«

»Klar, kein Problem. Wo sitzen sie? Ah ich sehe da oben ist ihr Platz. Das hast du so eingerichtet nicht wahr Ying?«

»Ja.«

»Setzen wir uns!«

»Möchten sie etwas trinken Justine?«

»Nein danke jetzt nicht. Dabei fällt mir auf, was haben sie den da für einen schönen Anhänger? Darf ich mal sehen?«

»Ich möchte ihn nicht so gerne ablegen, er bedeutet mir sehr viel. Haben sie so etwas ähnliches schon mal gesehen?«

»Mal? Ich sehe es recht häufig. Mein Schwager, den ich schon erwähnt habe trägt ihn.«

»Er hat ihre Schwester geheiratet? Haben die beiden Kinder? Sagen sie schon ...!«

»Ja und nein. Sie werden auch nie welche bekommen. Es war eine reine Zweckehe, mehr nicht.«

»Wo lebt ihre Schwester heute?«

»Hier in Bangkok, warum?«

»Ich glaube, ich kenne ihren Schwager. Ich kannte ihn mal sogar sehr gut, aber das ist schon über zehn Jahre her. Es wäre toll, wenn er es wäre. Können sie mir die Adresse geben?«

»Ja hier ...«

Justine schreibt sie auf eine Serviette. Gleich morgen werde ich hinfahren. Der Abend wird dank Justine doch nicht so grauenhaft wie befürchtet. Um zwei Uhr morgens bin ich die Gäste endlich wieder los. Mein Stab von Dienern räumt im Garten auf. Ich stürze mich in mein Bett, doch die ersehnte Ruhe ist mir nicht vergönnt. Ständig frage ich mich, ob er es sein wird oder nicht. Doch ich kann eigentlich nur gewinnen. Ist er es nicht lerne ich vielleicht jemand nettes kennen, und wenn doch ... Tja , besser könnte es nicht kommen.

Am Morgen bin ich total durcheinander, und erst ein ziemlich starker Tee kann mich wecken.

»Darf ich fragen woher sie sich kennen?«

»Wir lernten uns damals auf dem Flughafen kennen, Ying.«

»Und weiter?«

»Sie sind überhaupt nicht neugierig wie? Nun es war fast Liebe auf den ersten Blick, auch wenn wir ein paar Startschwierigkeiten hatten. Ich weiß nur nicht, ob ich mich wirklich in sein Leben einmischen sollte. Schließlich ist er heute verheiratet.«

»Ja, das ist er. Mit einer Frau die er nicht liebt, und die ihn auch nicht liebt. Wann fahren sie hin?«

»Gleich nach den Frühstück.«

»Ich wünsche ihnen viel Glück.«

»Hoffentlich werde ich es nicht benötigen, das Glück.«

»Ich habe den Anzug über Nacht reinigen lassen.«

»Danke Ying!«

»Das war nicht meine Idee, Justine hatte den Einfall sie könnten ihn heute benötigen.«

»Dann richten sie ihr einen schönen Gruß und meinen Dank aus.«

»Wird gemacht Justus!«

»Gut. Wir werden uns heute nicht mehr sehen wenn alles glatt geht. Bis morgen Ying!«

»Bis morgen Senator.«

Ich gehe nach oben in meine Räume und packe ein paar Sachen zusammen. Dann schlüpfe ich in den Anzug und lege mir das Amulett um, auf dass es mir Glück bringe. Chang kümmert sich schon um den Wagen. Die Kassette werde ich mitnehmen. Hoffentlich wird er mich wiedererkennen!
Die Fahrt scheint mir unendlich lange zu dauern. Wenigstens ist es nicht so heiß heute. Chang gibt sich alle Mühe. Nach einer Stunde hält der Wagen vor einem Anwesen etwas außerhalb. Ein gepflasterter Aufweg führt zum Haus. Es besteht ausschließlich aus zwei ersten Etagen. Es ist durchgehen weiß angestrichen, das Dach in traditionellem Stil gebaut. Chang steigt aus um mir die Tür zu öffnen, aber ich kann nicht warten, es zieht mich zu diesem Haus.

»Danke Chang, fahren sie zurück zur Villa.«

»Wie sie wünschen Monsieur«

Damit steigt er ein und fährt weg. Ich mache mich auf den Weg zum Haus. Als ich klingele, öffnet mir eine Hausangestellte. Sie hat einen Teller und ein Trockentuch in der Hand. Sie sieht mich an, lässt den Teller fallen und rennt schreiend weg. Eine etwas seltsame Begrüßung für einen Gast, aber egal, ich bin im Haus. Kaum ist die Frau weg, kommt ein alter Mann aus einem der Zimmer um zu sehen was hier vorfällt. Es ist der eigentliche Butler.

»Oh sie? Ich verstehe! Entschuldigen sie bitte die unhöfliche Reaktion der Kleinen, aber man ist in diesen ungebildeten Krisen noch ein wenig abergläubisch. Bitte kommen sie herein, darf ich ihnen etwas abnehmen? Möchten sie etwas trinken?«

»Nein danke, aber woher kennen sie mich? Ich kann mich nämlich nicht erinnern sie jemals gesehen zu haben. Und so alt bin ich noch nicht, als dass ich vergesslich wäre.«

»Ich werde es ihnen gerne erklären, bitte folgen sie mir.«

Wir gehen durch mehrere Zimmer, die alle sehr behaglich eingerichtet sind. Dann betreten wir einen ziemlich großen Raum, eher lang als breit. Eine Bibliothek voll mit Bücherregalen. An deren Kopfseiten hängen lauter Bilder, alle mit den verschiedensten Techniken gemalt. Ich schaue mir jedes genau an und jedes Mal sehe ich mich wie in einem Spiegel. Ich weiß ich bin im richtigen Haus. Der Butler steht steif wie eine Statue aus Marmor in der Ecke und wagt sich nicht zu rühren. Ich schreite jedes Bild ab, bis ich wieder an der Pforte stehe.

»Wo ist er?«

»Der Herr sitzt im Garten und arbeitet. Darf ich fragen woher sie sich kennen?«

»Nein, dürfen sie nicht! Sagen sie, wie komme ich in den Garten?«

»Ich werde sie hinführen.«

»Wieder falsch gehofft Butler. Sie werden es mir sagen!«

»Wie sie wünschen Sir.«

Er beugt sich, bis es knackt und beschreibt mir den Weg. Danach flüchtet er sich in den Angestellten-Trakt.

Der Weg ist ziemlich leicht zu finden. Eine Terrasse führt in den Garten. Der erstreckt sich ziemlich weit, und wird nur durch eine Hecke vom angrenzenden Grundstück getrennt. Louis sitzt mit dem Rücken zum Haus unter einem Pavillon aus geschnitztem Holz an einem Schreibtisch. Ich mache mich auf den Weg und versuche jedes Geräusch zu vermeiden. Das ist allerdings gar nicht nötig, denn Louis hört Musik über Kopfhörer. Ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, dass mich die Augen eines jeden Angestellten vom Haus aus verfolgen. Na sollen sie doch spionieren. Ich bin nicht mehr weit von meinem Ziel entfernt, da spielt es keine Rolle mehr. Ich glaube nichts spielt mehr eine Rolle in diesem Moment.

Ich streiche seine langen Haare von der rechten Schulter, beuge mich vor und küsse die freie Stelle. Louis springt vom Stuhl auf, weicht zwei Schritte zurück und schüttelt den Kopf.

»Nein, nein das kann nicht sein!«

»Kennst du mich nicht mehr Louis?!«

»Ich dich nicht mehr erkennen?!«

Langsam hebt er die Hand, berührt meine Schläfe, fährt mit den Fingerspitzen über die linke Wange.

»Du hast dich seit wir uns zum letzten Mal gesehen haben nicht sonderlich verändert Justus.«

»Du siehst auch noch so aus wie vor dreizehn Jahren. Aber du bist noch viel magerer geworden.«

»Ich weiß ... Möchtest du etwas trinken? Lass uns in mein Haus gehen.«

»Ja gehen wir.«

Wir schlendern den Weg zum Haus hinauf. In jedem der vielen Räume gibt es einen kleinen Gong. Louis schnappt sich einen Klöppel und schlägt zu, der alte Butler kommt sofort.

»Bringen sie uns einen Tee Bobby!«

»Jawohl, sofort Herr!«

Der Butler waltet seines Amtes, Louis und ich gehen in einen Salon, dessen Wände mit rotem Stoff bespannt sind.

»Setz dich Justus ...«

»Danke. Was ist, du bist so still? Soll ich besser später wiederkommen?«

»Nein, bleib! Bleib bitte bei mir! Ich weiß nur nicht wie ich dir alles erklären soll.«

Der Butler betritt den Raum, stellt uns die Tassen auf einen niedrigen Beistelltisch und reicht Louis eine Ampulle und ein Spritze.

»Wofür brauchst du die denn?!«

Louis wirft mir das kleine Fläschchen hinüber.

»Morphium? Du nimmst Drogen?«

»Ja nehme ich, aber nicht zum persönlichen Vergnügen. Ich könnte ohne sie nicht mehr klar denken, die Schmerzen wären viel zu groß. Es ist ein Golfball-großer Tumor in meinem Hypothalamus. Ich bin ein lebender Toter Justus!«

»Wieso hast du mir nie etwas erzählt?«

»Ich wollte mich nicht in dein Leben einmischen, es ist schließlich deins.«

»Wie lange noch? Wie lange haben wir noch Louis?«

»Keine Ahnung, medizinisch bin ich schon seit langem tot. Ich habe gehofft du würdest kommen, ich habe sogar dafür gebetet, dass es bald geschehen möge. Und nun bist du wirklich hier in meinem Haus! Ich habe alles bereits geordnet. Ich muss nur noch auf den Augenblick warten.«

»Noch bist du nicht am Ende Louis!«

»Mach dir keine Hoffnungen Justus. Aber ich habe noch eine Bitte.«

»Was immer du willst, ich werde es tun. Die Hoffnung stirbt zu Letzt, alter Freund.«

»Bleib bei mir bis es so weit ist. Das ist alles was ich von dir verlange.«

»Natürlich, gleich morgen lasse ich meine Sachen kommen. Ich denke das Haus dürfte groß genug sein für uns zwei.«

Louis bricht die Spitze der Ampulle ab, zieht die Spritze auf und rammt sie sich in den Arm. Langsam verschwindet die honigfarbene Flüssigkeit.

»Gleich geht es mir auch wieder besser Just; wie wäre es wenn wir ein bisschen spazieren gingen?«

»Von mir aus gerne, wenn du willst.«

»Klar komm! Ich will wissen was du so in der Zeit gemacht hast!«

Ich stütze Louis am Arm.

»Hey lass das Justus! Ich bin kein Greis!«

»Dann gib mir wenigstens deine Hand, wir waren viel zu lange getrennt.«

»Das fällt dir spät ein Just, aber hier.«

Wir verlassen das Haus, und gehen den Weg langsam hinunter.

»Nun erzähl' schon!; Wie ist es dir ergangen?«

»Ach da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich habe die Schule beendet, und habe angefangen zu studieren. Ein alter Prof wurde mein Mentor und hat sich wo es nur ging um meine Kariere gekümmert. Kurz bevor er starb hat er dafür gesorgt, dass ich eine Stelle in Paris bekam. Mein Mentor hat mich wahrlich viel gelehrt. Man hat mich erst als Buchhalter eingesetzt und dann in den Senat der Uni gewählt. Und jetzt bin ich hier um den Aufbau des Großrechners hier an der Universität zu überwachen. Ich bin noch nicht einmal eine Woche hier.«

»Muss ich dich jetzt immer mit Senator anreden?«

»Natürlich nicht! Berichte lieber von deinem Werdegang.«

»Ich habe gar nichts gemacht. Das Geld hat für mich gearbeitet. Ich müsste nur manchmal eingreifen, sonst hat sich alles selbst verwaltet. So hatte ich viel Zeit für mich selbst und die Kunst. Zwei ganze Jahre hat es gedauert bis ich über dich hinweggekommen war. Danach ging es mir viel besser. Ich habe das Haus gekauft, von Grund auf renoviert und eingerichtet. Meine Kopfschmerzen wurden mit der Zeit immer stärker und dann kam die Diagnose. Das ist nun schon fünf Jahre her. Am Anfang war es schon schwierig für mich, doch jetzt kann ich damit leben.«

»Deinen makaberen Humor habe ich eigentlich nicht vermisst!«

»Leben natürlich nicht, aber ich komme wieder ganz gut klar.«

Hand in Hand schlendern wir noch ein wenig den Weg entlang. Ich weiß nicht wie man es beschreiben soll ... Die Nähe ist wieder da, aber dennoch finde ich es irgendwie kalt. Ich hatte mir unser Wiedersehen ein wenig anders vorgestellt. Das Feuer von einst ist vollkommen erloschen. Nichts ist mehr übrig, nichts!

»Ich habe bereits alles für den Tag vorbereitet. Alles wird wie von selbst Laufen.«

»Louis hör auf! Ich will es gar nicht wissen!«

»Ist gut. Lass uns umkehren, ich hab Hunger. Du nicht?«

»Nicht sonderlich großen! Aber natürlich gehen wir zurück.«

Es wird dunkel um uns. Als wir das Haus betreten steht alles schon bereit. Ein riesiger Tisch üppig mit allem Teuren und Edlem was das Land aufzubieten hat.

»Was ist Just? Greif zu!«

»Ich weiß nicht, isst du immer so bombastisch?«

»Man muss das Leben genießen solange man kann, Süßer! Den Champagner Bobby!«

Der Butler spurtet los und bringt Champagner so schnell er kann. Louis trinkt viel und gefällt sich anscheinend in der Rolle des Gastgebers.

»Zum Wohle Justus!«

»Ich finde das gar nicht witzig!«

Louis kriegt sich vor Lachen kaum noch ein. Stunden sitzen wir beisammen. Louis stopft sich mit allem voll was auf dem Tisch steht.

»Der Tag war anstrengend, ich gehe schlafen. Kommst du mit?«

»Ich bring dich noch nach oben.«

Langsam steigt Louis die Treppe hinauf. Er will sich nicht helfen lassen. Erst recht nicht von mir. Das Schlafzimmer ist mit grüner Stofftapete tapeziert worden, wie fast alles andere auch von grüner Farbe ist. An einer Wand steht ein Bett. Riesig, also ganz im Stil des Hauses! Louis zieht sich aus und legt sich ins Bett.

»Ok, ich gehe dann mal. Bis morgen Louis.«

»Du willst gehen? Bin ich so hässlich geworden?«

»Nein, natürlich nicht!«

»Na also! Ich will mit dir zusammen sein. Darauf habe ich so lange gewartet. Steh nicht so doof rum, komm schon!«

Auch ich entledige mich meiner Kleider und lege mich zu ihm. Es ist ja in Bangkok so gut wie nie ''kälter'' als 25° Grad. Decken erübrigen sich somit. Ich fühle mich unwohl, was soll ich machen? Louis enthebt mich der Entscheidung. Er nimmt meine Hand und streicht mit ihr über seine Haut. Schließlich lässt er sie los. Ich drehe mich auf die Seite und mache weiter. Jede Stelle des meines Geliebten küsse ich. Nach einiger Zeit versiegt das Verlangen wieder. Wir liegen uns in den Armen und hängen in unseren Gedanken der alten Zeiten nach.

»Ich liebe dich Louis«

»Ich weiß. Ich dich auch.«

Die Balkontüren stehen offen. Ein seichter Wind bläht die Gardinen auf. Der Vollmond steht im Zenit. Eng aneinander gekuschelt liegen wir dort. So hätte es immer sein sollen.

»Wir werden uns wiedersehen Justus. Ganz sicher.«

Ein letzter Kuss. Keine Tränen, keine Trauer, Glückseligkeit.

Am Morgen scheint die Sonne. Ein wunderschöner neuer Morgen. Ich fühle mich wie wiedergeboren. Louis' Kopf liegt auf meiner rechten Schulter, seine kalte Hand auf meinen Bauch. Sein Körper ist eiskalt. Es wird wieder warm werden, der Frost von meiner Seite weichen. Sicher, todsicher ...

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