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Jan - Jan oder anders anders

Teil 2

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Inhaltsverzeichnis

Der Neue

Der Sportunterricht war eindeutig das Schlimmste, was die Schule zu bieten hatte. Diesmal fing er wieder damit an, dass Hannes seine Sportsachen vergessen hatte und zum Gespött mancher Klassenkameraden in Unterhose daran teilnehmen musste.

Nach dem "Aufwärmtraining" stand Fußball auf dem Programm. Wie üblich war nach dem Aufstellen der Mannschaften Hannes übrig, den niemand in der Mannschaft haben wollte. Meistens bestimmte der Sportlehrer dann die Mannschaft, die es auf sich nehmen musste, ihn aufzunehmen, doch diesmal durfte sich Hannes auf die Bank setzen und zusehen. Er hasste Fußball und war froh darum, nicht mitspielen zu müssen.

"Hallo Jan", hörte er plötzlich neben sich, "magst du weiße Schokolade?"

Es war Len; Hannes war völlig irritiert, wieso saß Len neben ihm? Er hatte seinen Parka an und sah genauso aus wie vor vier Jahren, als sie sich im Supermarkt begegnet waren.

"Ich heiße Len", hörte Hannes ihn in Gedanken sagen, "Lennart Adrian", und hörte seine Stimme immer wieder diesen klingenden Namen aussprechen, "Lennart Adrian";

er hörte Len sagen, "Jan ist eine Abkürzung für Johannes", "Jan", und auch immer wieder diesen unbeschreiblichen Klang, "Len - Jan."

"Weiße Schokolade ist meine Lieblingsschokolade", antwortete Hannes nach einer Weile; es war, als wenn diese Antwort von alleine käme, in einem einstudierten Dialog, der schon zigmal geprobt wurde. Len reichte ihm eine geöffnete Tafel Schokolade und ließ ihn ein Stück abbrechen.

Hannes war fasziniert von Lens Gesicht, seinen blonden Haaren, seinen Augen, die zu Hannes sprachen; sonst sprachen keine Augen zu ihm, faszinierte ihn kein Gesicht.

Sie saßen nebeneinander auf dieser Bank und aßen zusammen die Schokolade, während Hannes alles andere dabei vergaß, den Sportunterricht, den Fußball. Stattdessen war er von Lens Gegenwart völlig eingenommen und musterte ihn genau, vor allen Dingen auch den Parka, den er anhatte.

"Lass' uns gehen", sagte Len, nachdem Hannes das letzte Stück Schokolade genommen hatte.

"Das geht nicht", sagte Hannes, "Es ist doch Unterricht, da kann ich nicht einfach gehen."

"Was für ein Unterricht?", fragte Len, "Hier ist doch niemand; wir sind alleine."

Hannes schaute sich in der Turnhalle um: Da war tatsächlich niemand, außer Len und ihm, die beide auf der Bank saßen. Dann war es wohl wirklich Zeit zu gehen.

Hannes stand auf und mit ihm Len, und sie gingen zusammen in den Umkleideraum, wo sich Hannes anzog.

"Ist das alles was du anhast?", fragte Len, nachdem sich Hannes Hose und Pullover angezogen hatte.

"Ja, wieso?"

"Das ist viel zu wenig; es ist kalt draußen."

Hannes fiel auf, dass Len tatsächlich sehr winterlich gekleidet war und einen dicken Wollpullover unter dem Parka trug.

"Ich leih' dir meinen Parka; ich habe ja noch einen dicken Winterpullover an und eine Mütze habe ich auch."

Len holte seine Mütze aus einer Parkatasche und zog den Parka aus, um ihn Hannes zu geben. Hannes zog sich Lens Parka über und spürte ein angenehmes Prickeln auf seiner Haut, als das Fell über seinen Pullover glitt. Es war ein unbeschreiblich gutes Gefühl, Lens Parka zu tragen, ein Gefühl, das Hannes völlig einnahm.

"Steht dir gut", sagte Len, "du siehst richtig gut aus mit dem Parka. Jetzt komm; gehen wir."

Er setzte seine Mütze auf, und Hannes folgte ihm nach draußen. Es lag knöcheltief Schnee; Len hatte Recht, es war kalt, es war Winter, wie damals, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Hannes streifte sich die Kapuze über den Kopf und genoss dabei jeden Augenblick, den er die Fellkapuze spürte; was für ein unbeschreibliches Gefühl.

Sie stapften nebeneinander durch den Schnee, Hannes in Lens Parka mit der Kapuze auf dem Kopf, Len in seinem dicken Wollpullover mit Mütze. Hannes durchströmten angenehme, erregende Gefühlsschauer und nahmen ihn völlig ein, und immer wieder hörte er ihn Gedanken Lens Stimme, "Hallo Jan", und den unbeschreiblich schönen Klang, "Len - Jan."

Plötzlich mischte sich etwas Fremdes in diesen Klang, etwas Disharmonisches. Hannes wachte auf, es war der Wecker. Was für ein eigenartiger Traum, dachte er, und sah in Gedanken Lens Gesicht, so klar und deutlich, als hätte er ihn gerade eben wirklich gesehen, klar und deutlich, wie er sonst nie ein Gesicht gesehen hatte, wie nur Lens Gesicht sein konnte.

Er sah, wie Len sich seine Mütze aufsetzte und die Kapuze seines Parkas darüber zog, und spürte den Schauern von Erregung nach, die bei diesen Gedanken durch seinen Körper gingen. Langsam, sehr langsam verblassten diese Bilder und ließen die wirkliche Welt durchscheinen; die wirkliche Welt, die eindeutig sagte, dass die Ferien zu Ende waren und die Schule wieder anfing.

Ein neues Schuljahr, eine neue Klasse, die natürlich die alte war, aber einen neuen Namen bekam: "9a" statt "8a".

"Johannes, du musst jetzt aufstehen, sonst kommst du zu spät in die Schule", riss ihn seine Mutter aus den Gedanken.

Schuljahresanfang war für gewöhnlich der traurigste Tag im Jahr. Hannes hasste die Schule, hatte aber dennoch gute Noten in den meisten Fächern; bis auf Sport. Er hasste es, wieder derjenige zu sein, neben den sich niemand setzen mochte; egal wie die Sitzordnung ausfiel, klar war immer, dass er alleine an einem Tisch saß.

Erleichterung als die Klassenlehrerin kam; während des Unterrichts fühlte Hannes sich einigermaßen sicher vor seinen Klassenkameraden und ihren abfälligen oder unverständlichen Bemerkungen. Alleine schon, dass Hannes Sachen trug, die er schon viele Jahre hatte und die er eben deswegen auch mochte, lieferte fast täglich Anlass zum Spott oder zu blöden Witzen.

Die Lehrerin sagte, "Eigentlich seid ihr jetzt einer mehr, aber der Neue scheint nicht hier zu sein."

Dann ging schon die Tür auf und zum Erstaunen der ganzen Klasse kam ein kräftig gebauter Junge herein, der mit zwei T-Shirts und Mütze bekleidet war.

Es war zwar noch nicht kalt, aber zu kalt, um nur im T-Shirt herumzulaufen, allerdings auch nicht kalt genug für eine Mütze. Zwei T-Shirts, aber Mütze, das wirkte schon reichlich cool; Hannes mochte das Wort "cool", auch wenn er nicht genau wusste, was es bedeutete.

"Bist du Jan Meier?", der Junge nickte, "dann komm her; wir haben dich schon vermisst."

Der Junge ging zur Lehrerin, die ihn offiziell vorstellte und erzählte, dass Jan aus Berlin hierher gezogen sei. Jan grinste die ganze Zeit dabei. Er war groß und wirkte kräftig, auf jeden Fall älter als der Klassendurchschnitt.

Hannes träumte vor sich hin und lauschte dem Klang der Namen, die ihm plötzlich wieder durch den Kopf gingen: "Len - Jan".

Plötzlich zeigte die Lehrerin auf den Tisch, an dem Hannes saß,

"Da, neben Hannes ist noch ein Platz frei."

Hannes erschrak, er war wie versteinert, als dieser kräftige Junge kam und sich neben ihn auf den Stuhl setzte.

"Die Mütze kannst du jetzt ausziehen", sagte die Lehrerin, "so kalt ist es hier nicht."

Die Klasse lachte und Hannes blickte gebannt auf die kurzen dunklen Haare, die zum Vorschein kamen, als Jan sich die Mütze von seinem Kopf nahm. Was für ein starker, kräftiger Junge, dachte sich Hannes; so wollte er auch sein.

Plötzlich schaute Jan ihm in die Augen; Hannes fühlte sich ertappt dabei, dass er Jan eine ganze Weile regelrecht angestarrt hatte, und drehte hastig seinen Blick in Richtung Tafel.

"Jan", sagte Jan, "und wie heißt du?"

"Johannes", murmelte Hannes,

"Was, Hannes?"

"Jo-hannes", erwiderte Hannes und ein allgemeines Gelächter brach aus.

Nachdem es abgeebbt war, sagte Jan, "Hannes finde ich aber besser."

In der Schule wurde Hannes von allen "Hannes" genannt, obwohl er es nicht mochte, sogar von den Lehrern. Es ärgerte ihn sehr, dass dieser Junge, der neu in die Klasse gekommen war, so schnell etwas gefunden hatte, womit er ihn aufziehen konnte.

Hannes konnte nicht anders, als ihn sich immer wieder anzusehen, den Neuen neben ihm. Er konnte es kaum glauben, dass er jetzt nicht mehr alleine an seinem Tisch saß und sein neuer Tischnachbar obendrein ein Junge war, der soviel Stärke ausstrahlte und vor allen Dingen auch noch Jan hieß. Er war verwirrt darüber, dass ihn dieser Junge derartig faszinierte, und kam sich vor wie in einem Traum.

So verträumte Hannes den restlichen Unterricht und bemerkte nur sehr entfernt, dass die anderen Jungs sich scheinbar gut mit dem Neuen verstanden und dass Jan einen von ihnen fragte, ob denn "dieser Johannes" immer so komisch sei.

Als der Unterricht zu Ende war, sprang Hannes wie üblich sofort auf, warf sich seine Jacke um und rannte nach Hause.

Jan blieb das ganze Schulhalbjahr über neben Hannes sitzen. Er war wirklich nett, stellte Hannes nach einigen Wochen fest, aber er liebte es auch hin und wieder, über Hannes "witzige" Bemerkungen zu machen. Danach sagte er immer, es wäre ja nicht so gemeint gewesen oder "Hannes" sollte doch nicht so humorlos sein.

Vor allen Dingen, dass Jan ihn beharrlich "Hannes" nannte und nicht akzeptierte, dass er lieber "Johannes" genannt werden wollte, fand er nicht so schön. Aber es war irgendwie auch verständlich, denn schließlich nannten ihn alle anderen ja auch "Hannes".

Es fühlte sich gut an, nicht mehr alleine an einem Tisch zu sitzen, sondern neben so einem faszinierenden Jungen.

An einem Morgen, nach einigen Wochen, war Hannes völlig überrascht, als er zur Schule kam. Vor der Tür standen wie immer die Jungs aus seiner Klasse und unterhielten sich angeregt miteinander. Jan war von Anfang an auch immer dabei, auch an diesem Morgen, aber: diesmal trug er einen Parka.

Hannes dachte zuerst, er würde träumen, aber es war klar und deutlich zu sehen: Jan trug einen olivgrünen Parka mit Kapuze.

Die Kapuze hatte er unten und stattdessen wie üblich seine schwarze Mütze auf. Die schien er immer zu tragen, im Sommer, im Winter, draußen, drinnen; außer im Unterricht, das duldete die Klassenlehrerin nicht.

Bis zu diesem Tag ging Hannes morgens immer schnurstracks an der Jungsgruppe vorbei gleich in das Klassenzimmer. Er wusste nicht, was er mit den anderen Jungs aus seiner Klasse reden sollte, und wollte auch keine Anlässe für dumme Bemerkungen über sich liefern. Die bekam er auch schon so oft genug zu hören.

Diesmal aber blieb er bei den Jungs stehen; er überlegte sich zuerst, er könnte ja Jan etwas fragen, wegen der Hausaufgaben vielleicht, aber ihm fiel dann keine Frage ein. So stand er nur da, sagte nichts und starrte auf das olivgrüne Kleidungsstück, das dieser starke, kräftige Junge trug.

In Gedanken sah er plötzlich Len, hörte er diesen Klang, "Lennart Adrian", "Len - Jan". Ihm fiel auf, dass Jans Parka anders war als der, den Len trug; nicht viel anders, aber anders: vor allen Dingen hatte er innen kein braunes Fell.

"Ich glaube, der Hannes, der träumt mit offenen Augen", sagte Jan plötzlich und zusammen mit dem prompt folgenden Gelächter hatte er Hannes tatsächlich aus seinen Gedanken gerissen.

"Idiot", sagte Hannes und ging in das Klassenzimmer.

Jan kam ihm gleich darauf hinterher und sagte, als er sich neben Hannes setzte, "Sei doch nicht immer gleich beleidigt. Das ist doch nichts Schlimmes; du bist halt ein bisschen verträumt, ist doch in Ordnung"

Hannes war ganz darauf konzentriert nachzuspüren, wie Jan den Parka auszog, nachdem er das gesagt hatte; er war so sehr fasziniert von diesem Kleidungsstück, dass er kaum mehr an etwas anderes denken konnte.

Seit diesem Tag blieb er jeden Morgen bei den Jungs stehen, um Jan in seinem Parka zu bewundern. Jan zog sich nie die Kapuze auf, aber egal, es war ja so schon stimulierend genug; oft spürte Hannes dabei diesen Druck in der Hose, was ihn reichlich irritierte.

Auch wenn Jan es nicht lassen konnte, manchmal blöde Bemerkungen oder Witze über ihn fallen zu lassen, wurde er ihm immer sympathischer. Dennoch war er aber für Hannes unnahbar; er war stark und obendrein bei den anderen Jungs in der Klasse beliebt, während Hannes in der Klasse die Außenseiterrolle einnahm; das passte nicht zusammen, glaubte Hannes.

Manchmal allerdings glaubte er zu spüren, wie etwas von der Stärke, die Jan ausstrahlte, auf ihn abfärbte. Das war dann ein wirklich gutes Gefühl.

Der Parka

Es war Ende November, als diese Ohrenschmerzen das erste Mal auftauchten; es fing damit an, dass seine Ohren plötzlich anfingen heftig zu schmerzen, sobald er eine Weile draußen herumlief und sie kalt geworden waren.

Hannes war eigentlich sehr "winterhart", trug nie eine Mütze oder eine Kapuze, schwamm manchmal auch im Freien, selbst wenn das Wasser sehr kalt war.

Die erste Zeit ignorierte er die Schmerzen, die auch nach kurzer Zeit wieder vergingen, wenn er wieder im Warmen war; bis sie nach einigen Wochen so heftig wurden, dass er mit seiner Mutter einen Arzt aufsuchte.

Das war Anfang Januar, noch bevor die Weihnachtsferien zu Ende waren und der Schulunterricht wieder anfing. Es war zu einer ausgewachsenen Mittelohrentzündung geworden, und Hannes bekam Medikamente und Bettruhe verordnet.

Nach einer Woche waren die Schmerzen weg und Hannes fühlte sich wieder deutlich besser. Er war aber ganz froh darüber, dass er noch eine Woche zuhause bleiben sollte.

Als er ein paar Tage später das Haus das erste Mal wieder verließ, begannen seine Ohren wieder, kaum dass er ein paar Minuten in der Kälte war, heftig zu schmerzen, und hörten auch nicht damit auf, als er wieder im Warmen war. Die Schmerzen waren so heftig, dass sich Hannes noch eine ganze Zeit lang die Ohren mit seinen Händen zuhielt.

Das war auch die nächsten Tage so, jedes Mal, nachdem er draußen war; seine Mutter fuhr schließlich mit ihm wieder zum Arzt. Der sagte, dass es gut möglich wäre, dass Hannes an seinen Ohren jetzt empfindlicher geworden wäre und empfahl ihm, eine Mütze zu tragen.

Auf dem Rückweg dachte Hannes an Len, an das Bild, in dem er sich die Mütze aufsetzte und die Kapuze darüber zog. Bis sie zuhause waren, hatte er sich entschlossen, seinen Eltern zu unterbreiten, dass er sich zu seinem Geburtstag angesichts seiner empfindlichen Ohren eine Jacke mit Kapuze wünschte, die er sich selbst aussuchen wollte.

Das war das Wichtigste, denn die Jacke sollte ein Armeeparka sein, so wie Jan einen hatte - und Len.

Seine Eltern schienen ganz angetan gewesen zu sein, wahrscheinlich, weil er üblicher Weise nie wusste, was er sich zum Geburtstag wünschen sollte, und seine Eltern oft das Gefühl hatten, ihm Geschenke geradezu aufdrängen zu müssen.

Bis zu seinem Geburtstag waren es noch gut zwei Wochen hin, aber seine Mutter kam sofort auf den Gedanken, dass man am Besten gleich am nächsten Tag ins Kaufhaus gehe.

Hannes war glücklich, diese Idee gehabt zu haben, und vor lauter Aufregung, dass er sich einen Parka bekommen würde, konnte er die ganze Nacht nicht schlafen. Es war klar, dass es so einer sein musste, wie Len ihn hatte, auf jeden Fall einer mit Fell innen.

Den nächsten Tag erlebte er auch fast wie einen Traum; wahrscheinlich wird das der eigenartigste Tag in meinem Leben sein, dachte er sich. Am Nachmittag fuhr er endlich mit seiner Mutter zu einem Warenhaus in einer nahegelegenen Stadt. Hannes' Gefühle probten den Aufstand, so schien es ihm.

Mit seiner Erregung mischte sich eine immer stärker werdende Beunruhigung, man könnte ihm etwas anmerken; und vor allen Dingen: die Jacke, die er jetzt trug, hatte er schon sein einigen Jahren, und es war unklar, wie schwierig eine Umgewöhnung wohl werden würde.

Aber er dachte auch an Len, an "Lennart Adrian", und stellte sich vor, wie Len ihm seinen Parka gab, wie er sich die Kapuze über den Kopf zog und das weiche Fell spürte.

Hannes schaute sich im Kaufhaus um und entdeckte nach kurzer Zeit einen Parka, von dem er sich geradezu magisch angezogen fühlte.

Er war erstaunt über die Klarheit, die er plötzlich verspürte; es war so, als wenn dieser Parka das einzige Kleidungsstück in dem Kaufhaus wäre, so deutlich gab er sich zu erkennen. Er war mit einem braunen Fell gefüttert, genau wie Lens, und Hannes war ganz eingenommen von diesen verwirrenden Gefühlen, die in ihm ausgelöst wurden, als er mit seiner Hand über das Fell strich.

Er sah sich selbst in seinen Gedanken, wie er den Parka anzog, wie er sich die Kapuze über den Kopf zog, und spürte den zunehmenden Druck in seiner Hose.

"Gefällt er dir? Dann probier ihn doch mal an", hörte er seine Mutter sagen.

Er spürte regelrecht, wie sich sein Gesicht errötete, und versuchte sich jetzt ganz darauf zu konzentrieren, sich nichts anmerken zu lassen.

Er zog seine Jacke aus und schlüpfte in den Parka. Er passte; Hannes sah sich im Spiegel an, in diesem olivgrünen Parka mit dem braunen Fell gefüttert.

"Ich finde, der passt gut; Kapuze hat er auch und ist sicher auch warm mit dem Fell", sagte seine Mutter und zog dabei den Reißverschluss hoch und Hannes die Kapuze über den Kopf.

Hannes war es extrem unangenehm, so öffentlich seinen intimsten Gefühlen ausgesetzt zu sein. Er zog sich schnell die Kapuze wieder herunter, sagte:

"Den nehm’ ich" und fing an, sich den Parka wieder auszuziehen.

"Behalt ihn gleich an, ich nehme dafür deine Jacke", sagte seine Mutter und sprach eine Verkäuferin an, die gerade vorbei kam.

"Wir wollen den Parka; der Junge darf ihn doch gleich anbehalten, oder nicht?"

Die Verkäuferin sagte, dass das natürlich ginge und wir gleich zur Kasse mitkommen sollten.

Hannes' Mutter fing dann an zu erzählen, dass der Parka sein Geburtstagsgeschenk sei, und von der Ohrenentzündung erzählte sie auch. Hannes war es peinlich, dass seine Mutter so freimütig über ihn redete; er entschied sich, ab jetzt nur noch alleine einkaufen zu gehen.

"Ich möchte noch gerne eine Mütze dazu kaufen", sagte dann seine Mutter und flüsterte ihm zu, "Die schenke ich dir noch dazu."

Hannes war einverstanden und die Verkäuferin sagte auch gleich, "Ja, natürlich. Kommen Sie mit."

Der Parka legte sich wie eine Haut um Hannes' Körper, eine wirklich erregende Haut. Doch er konnte dieses Gefühl kaum genießen, weil er zu sehr verwirrt war über das, was dieses Kleidungsstück in ihm auslöste, und er obendrein voller Angst war, seine Erregung könnte auffallen. Womöglich konnte man seine Gedanken lesen; nichts war beunruhigender als das.

Sie kamen dann zu einem Regal, in dem verschiedene Mützen waren.

"Ein Junge in seinem Alter kann doch ruhig eine Mütze tragen", sagte seine Mutter.

Hannes war das Gerede seiner Mutter ziemlich unangenehm und er verspürte einen starken Wunsch, diesen Einkauf möglichst schnell zu Ende zu bringen.

"Ja, natürlich kann er das", sagte die Verkäuferin und nahm eine beigefarbene Wollmütze mit braunem Rautenmuster.

Sie reichte sie Hannes und sagte, "Die ist doch schick und passt auch farblich gut zu dem Parka."

Hannes nahm sie in die Hand; sie fühlte sich angenehm weich an.

"Los setz' sie auf", sagte seine Mutter.

Hannes setzte sich die Mütze auf; der Druck, den er in seiner Hose spürte, wurde langsam unerträglich.

Die Verkäuferin wandte sich dann an seine Mutter: "Sie hat oben keinen Trottel; wenn es richtig kalt ist, kann er sich noch die Kapuze darüber ziehen"

Dabei tippte sie mit einem Finger auf die Mütze, an die Stelle, wo normalerweise der "Trottel" gewesen wäre.

Hannes wäre am liebsten einfach weggelaufen. Er zog sich die Mütze vom Kopf und reichte sie wortlos seiner Mutter.

"Trottel", was für ein eigenartiges Wort. Er wusste aber auch kein anderes Wort dafür; er hatte nie darüber nachgedacht, wie das wohl heißt, was normalerweise an den Mützen dranhing. Dass es extra Mützen gab, an denen nichts hing, damit man eine Kapuze darüber ziehen konnte, erstaunte ihn zunächst, kam ihm nach ein paar Überlegungen dennoch plausibel vor.

Die Verkäuferin, seine Mutter und er gingen dann schnurstracks zur Kasse, um zu bezahlen.

"Hier die Mütze, und mach deine Jacke zu", sagte seine Mutter nachdem sie bezahlt hatten.

Sie versicherte sich noch einmal, ob ihm die Mütze auch wirklich gefallen würde und ob er sie auch tragen würde. Hannes bejahte und sah in Gedanken - wie in Zeitlupe - wie sich Len die Kapuze seines Parkas über die Mütze zog, damals im Supermarkt.

Er versuchte sich zu erinnern, ob denn Lens Mütze einen "Trottel" hatte, und musste angestrengt nachdenken, bis er zu dem Schluss kam, dass sie wohl einen gehabt haben musste. Er war sich aber nicht sicher.

Schließlich setzte er sich die Mütze auf, zog den Reißverschluss des Parkas hoch und knöpfte ihn zu.

In Gedanken sah er sich und Len zusammen Schokolade essen, beide mit einem olivgrünen Parka bekleidet, Len mit seiner rot-braun gemusterten Mütze und er, Jan, mit seiner beigefarbenen; "Len - Jan".

Er hörte Len sagen, "Die ist echt warm die Kapuze, das fühlt sich gut an", und sah, wie er sie sich überstreifte.

Als Hannes und seine Mutter vor die Tür des Warenhauses traten, zog sich Hannes die Kapuze über die Mütze, genauso wie es Len tat, und dachte, ja, das fühlt sich wirklich gut an.

"Ja, zieh' die Kapuze drüber, es ist wirklich sehr kalt", hörte er - sehr entfernt - seine Mutter sagen.

Obwohl er noch nie eine Fellkapuze auf dem Kopf hatte, schon gar nicht mit einer Mütze darunter, fühlte es sich sehr vertraut an, genauso wie er es sich immer vorgestellt hatte.

Er setzte auch im Auto die Kapuze nicht ab und genoss dieses unbeschreibliche Gefühl der Fellkapuze auf dem Kopf, bis sie zu Hause ankamen. Er saß dann eine Weile in seinem Zimmer und träumte vor sich hin, von seinem neuen Parka, und von Len, diesem Jungen, der für ein paar Minuten nur in seinem Leben auftauchte und dennoch einen so nachhaltigen Eindruck hinterließ.

Er dachte auch an Jan und daran, dass er jetzt wie Jan einen Parka hatte. In Gedanken sah er sich neben Jan stehen, beide in einem olivgrünen Parka. Er dachte, dass jetzt etwas Neues in sein Leben gekommen war, etwas wirklich aufregend Neues.

Nicht nur dieses magische Kleidungsstück mit Kapuze, sondern auch noch, dass er durch seine Ohren dazu gezwungen war, sich die Kapuze aufzusetzen, wenn es so kalt war, wie zu dieser Zeit, sogar mit seiner neuen Mütze darunter.

Was für ein merkwürdiges Zusammentreffen: der neue Parka und dann auch noch Jan, der in der Schule neben ihm saß, "Len - Jan".

Nach einiger Zeit hörte er seine Mutter sagen, dass sie noch einkaufen gehen würde. Nachdem er gehört hatte, wie sie das Haus verließ, kam Hannes sofort aus seinem Zimmer und nahm sich den Parka, um ihn anzuziehen. Im Flur war ein großer Spiegel, in dem er sich genau beobachten konnte, während er den Parka zuknöpfte.

Er beobachtete sich, wie er sich die Mütze aufsetzte, und fand, er sah darin gut aus. Farblich passte das wirklich gut zusammen, die dunkelbraune Hose, der Parka in olivgrün, dessen Fellfutter fast den gleichen Braunton hatte wie die Hose, und die allerdings hellere Mütze.

Mit Genuss zog er sich dann die Kapuze über die Mütze und betrachtete sich dabei ausgiebig, mit Mütze und Kapuze: Er fand, er sah jetzt Len zum Verwechseln ähnlich.

Am nächsten Morgen wurde Hannes seit Langem wieder von seinem Wecker geweckt. Die Zeit, die er krank war, konnte er immer ausschlafen, doch jetzt, nachdem die Mittelohrentzündung auskuriert war, musste er wieder in die Schule.

Er war ganz schön aufgeregt; wenn Jan nicht gewesen wäre, wäre er am Liebsten gar nicht mehr zur Schule gegangen. Auch wenn er in den meisten Fächern gut war - bis auf Sport; es war nicht schön, ein Außenseiter zu sein und irgendwie nicht dazu zu gehören.

Es war ihm allerdings nicht klar, was es heißen, sollte, "dazu zu gehören". Mit diesen Cliquen konnte er nicht viel anfangen, auch nicht mit den Jungs in seiner Klasse, die sich ständig nur über Mädchen und "Möpsen" unterhielten und über die neusten Gerüchte, wer es auf wen abgesehen hat. Das alles interessierte ihn überhaupt nicht.

Umso weniger, als kein einziger seiner Klassenkameraden eine Jacke mit Kapuze trug; außer Jan - und er selbst, seit heute. Bestimmt wird sein neuer Parka auffallen, dachte er und trug sich mit dem Gedanken, vielleicht doch seine alte Jacke ohne Kapuze anzuziehen. Aber das war ausgeschlossen, schon alleine seiner Ohren wegen.

Während er frühstückte stellte er sich selbst in Gedanken vor, wie er mit dem Parka bekleidet an der Schule ankam. Er überlegte sich, ob er die Mütze tragen würde, ohne Kapuze darüber oder mit, oder vielleicht nur die Kapuze ohne die Mütze.

"Beeil dich, sonst kommst du zu spät", rief seine Mutter und als er sich den Parka anzog, kam sie in den Flur und reichte ihm seine Mütze:

"Vergiss nicht die Mütze; es ist kalt draußen" Hannes nahm die Mütze, setzte sie sich auf und warf sich mit einem Schwung die Kapuze über.

So ging er los. Es war wirklich sehr kalt, aber eingehüllt in diesen Parka fühlte Hannes sich behaglich warm; und von einer Erregung durchflutet, die ihm sehr angenehm, wenn auch etwas unheimlich war.

Er hatte etwa 20 Minuten Fußweg zur Schule und noch eine halbe Stunde Zeit; daher konnte er gemütlich laufen und dabei vor sich hinträumen.

Kurz bevor er die Schule erreichte, zog er sich die Kapuze wieder herunter; mit aufgesetzter Kapuze wollte er doch nicht von seinen Klassenkameraden gesehen werden. Die werden auch so bestimmt irgendwelche Bemerkungen zu seiner neuen Kleidung machen.

Die Jungsclique aus seiner Klasse stand schon auf dem Schulhof zusammen, als er dort ankam, und auch Jan, mit Parka.

Der rief gleich, "Das ist doch der Hannes, den hätte ich ja fast nicht wiedererkannt."

Die anderen lachten.

"Wenn du mich meinst, ich heiße Johannes", sagte Hannes und ging an Jan vorbei.

Doch Jan fasste ihn am Arm und sagte,

"Hey, war doch nicht böse gemeint. Sieht echt cool aus, dein neuer Parka, viel besser als diese alte Skijacke, die du sonst immer anhast. Zeig mal!"

Er stellte sich vor Hannes, der Jans Kraft und Stärke wirklich bewunderte. Jan war schon einmal sitzen geblieben und obendrein spät eingeschult worden; daher auch gut zwei Jahre älter als die anderen in der Klasse.

Alle musterten jetzt Hannes aufmerksam, vor allem auch sein neues Kleidungsstück; er dachte, jetzt darf er auf keinen Fall rot werden, oder sonst sich etwas anmerken lassen. Die Mischung aus Scham und Erregung, die ihn durchströmte, war kaum mehr auszuhalten. Er bekam dann noch ein paar anerkennende Worte für seinen neuen Parka zu hören, dann gingen sie zusammen zum Klassenzimmer.

Als er den Parka auszog und über den Stuhl hing, fragte ihn Jan, ob er seinen Parka mal anziehen dürfte und sagte,

"Das fühlt sich bestimmt gut an, mit dem Fell."

Jan zog seinen Parka aus - er war wie üblich mit zwei T-Shirts bekleidet - und nahm sich Hannes' Parka von der Stuhllehne. Seine Mütze hatte er noch auf und Hannes beobachtete gebannt, wie Jan sich die Jacke anzog, mit Schwung, sodass er gleich auch die Kapuze auf hatte, über seiner Mütze.

Kaum dass er sich den Reißverschluss zugezogen hatte, kam dummerweise schon die Lehrerin und Jan zog den Parka wieder aus.

Jan - Jan

Während des Unterrichts konnte Hannes an nichts anderes mehr denken als an Kapuzen. Wie Jan in seinem Parka ausgesehen hatte, wie ihm gleich beim Anziehen die Kapuze über die Mütze fiel und mit welcher Selbstverständlichkeit er die Kapuze aufbehielt.

Hannes dachte auch über diese unheimliche Erregung nach, die Kapuzen in ihm auslösten, darüber, dass es anderen Jungs offensichtlich nicht so ging, und über die beunruhigende Frage: Warum ausgerechnet Kapuzen?

Er studierte ausgiebig das Bild, das er noch genau in Erinnerung hatte, von diesem Jungen, mit diesem klangvollen Namen: "Lennart Adrian", den er vor vier Jahren im Supermarkt traf. Er musterte ihn genau, als sie zusammen an der Supermarktkasse standen; vor allen Dingen seinen olivgrünen Parka mit der Knopfleiste über dem Reißverschluss, den Taschen, die man alle zuknöpfen konnte, den aufgenähten Abzeichen und mit dieser Kapuze, in der das Fellfutter zum Vorschein kam.

Er fragte sich, ob es etwas zu bedeuten hätte, dass er vor ein paar Tagen in dem Warenhaus genau so einen Parka gefunden hatte, genau so, wie Len einen anhatte. Er fragte sich auch, warum ihm dieser Junge nicht mehr aus dem Kopf ging; schließlich ist diese Begegnung schon einige Zeit her.

Und immer wieder dachte Hannes an Jan, diesen unerreichbaren, starken Jan mit seinem Parka, der neben ihm saß und ihm gleichzeitig so nah war und weit entfernt.

So verging der Unterricht und plötzlich war schon die "große Pause" erreicht. Hannes sah aus dem Fenster: Es schneite inzwischen.

"Los, raus an die frische Luft", sagte die Lehrerin; Hannes war noch als einziger im Klassenzimmer. Er schlüpfte in den Parka, setzte sich die Mütze auf und ging Richtung Ausgang. Er war versucht, sich die Kapuze aufzusetzen, es schneite ja schließlich, traute sich aber nicht; da hörte er seine Klassenlehrerin sagen,

"Setz die Kapuze auf, Hannes, du musst mit deinen Ohren jetzt sehr vorsichtig sein."

Das war ein gutes Argument; Hannes zog die Kapuze über die Mütze, knöpfte sie zu und ging nach draußen.

Die meisten Jungs hatten Mützen auf, ein paar eine Kapuze ohne Mütze und manche hatten gar nichts auf dem Kopf; zu denen gehörte er bis vor kurzem auch. Nur ein einziger Junge an dieser Schule hatte eine Mütze auf und eine Kapuze darüber gezogen, das war Hannes.

Als ein Mädchen aus seiner Klasse ihn ansprach und fragte, was denn mit seinen Ohren sei, erzählte er, dass er eine Mittelohrentzündung hatte und seine Ohren seitdem sehr empfindlich gegen Kälte waren.

Was für eine eigenartige Fügung, dachte er immer wieder, dass er jetzt sozusagen aus gesundheitlichen Gründen gezwungen war, Kapuzen zu tragen. In solchen Momenten dachte er, die Welt könnte gar nicht merkwürdiger sein, als sie tatsächlich war.

Als der Unterricht zu Ende war, setzte er, schon während er zum Ausgang lief, die Mütze auf und zog gleich danach die Kapuze darüber; draußen schneite es immer noch.

Nach einigen Metern holte ihn Jan ein und lief neben ihm.

"Hannes, sag mal, das mit deinen Ohren, stimmt das, dass du deswegen jetzt mit Kapuze herumläufst?"

Es hatte also wirklich die Runde gemacht. Hannes wusste nicht, was er dazu sagen sollte; das einzige, was ihm herausrutschte, war,

"Nenn' mich nicht immer Hannes. Du weißt doch, dass ich das nicht mag."

"Wie soll ich dich sonst nennen?", fragte Jan und wirkte ein wenig ärgerlich, "Jo-hannes klingt doch ziemlich blöd, oder?"

Dabei betonte er das "Jo" so, dass es wirklich blöde klang.

"Ich kann nichts für meinen Namen", antwortete Hannes, "Wenn er dir nicht gefällt, brauchst du einfach nicht mit mir reden", und lief weiter.

Es tat ihm leid, dass er so abweisend reagiert hatte; Jan rief ihm noch hinterher.

"Ich finde Hannes ok", sagte er dann, "besser als Johannes auf jeden Fall. Ich finde auch deinen Parka ok; überhaupt finde ich dich ok. Du hast nur keinen Humor, das ist das Problem."

Dann lief er auf die andere Straßenseite und bog dort in einen kleinen Weg ein.

Hannes lief einen Moment lang einfach weiter, bis ihm klar wurde, dass es ihm ganz und gar nicht gleichgültig war, dass Jan jetzt einfach so ging.

Er dachte darüber nach, warum er sich von Jan irgendwie angezogen fühlte und warum dieses Gefühl jetzt in diesem Moment viel deutlicher hervortrat als bisher. Er fand keine Erklärung dafür; aber es war eindeutig, er fühlte sich von Jan angezogen und mochte in seiner Nähe sein, warum auch immer.

Er zögerte noch kurz und rannte dann Jan hinterher, "Jan, warte."

Jan blieb stehen und drehte sich um. Hannes war ein wenig außer Atem und brachte nur stockend hervor, was er eigentlich sagen wollte.

"Ich will dir sagen, ich finde dich auch ok."

Jan grinste, "Vielleicht können wir dann Freunde werden, wenn wir uns beide ok finden?"

Hannes kam dieser Gedanke ein bisschen absurd vor, der starke Jan, der "Insider" schlechthin und er, der Außenseiter, sollen jetzt Freunde sein?

"Vielleicht", sagte Hannes vorsichtig und Jan sagte,

"Jedenfalls siehst du wirklich cool aus in dem Parka, so mit Mütze und Kapuze drüber. Viel besser als mit deinem alten Anorak. Darf ich dich jetzt Hannes nennen?"

Hannes war einverstanden. Inzwischen war er sich selbst nicht sicher, ob er "Hannes" nicht doch besser fand als "Johannes"; es nannten ihn ohnehin fast alle schon "Hannes", bis auf seine Eltern.

"Ok, Hannes", bekräftigte er und betrachtete diesen starken Jungen mit der schwarzen Mütze und dem Parka.

Jan fragte ihn dann, ob er ihn nicht ein Stück begleiten wollte, und überraschte ihn, indem er sagte, "Es ist ja wirklich ganz schön kalt heute", und dabei ebenfalls die Kapuze über seine Mütze zog.

Hannes ging mit ihm und spürte, wie sich mit Macht dieses erregende Gefühl in seinem Körper ausbreitete. Neben Jan zu gehen, der - wie er selbst - die Kapuze aufhatte, das hätte er sich wirklich nie zu träumen gewagt und nun war es wirklich so.

Sie liefen eine Weile schweigend nebeneinander her und, um irgendetwas zu sagen, sagte Hannes, "Ich habe eine Mittelohrentzündung gehabt, das war ganz schön unangenehm" Er erklärte auch, dass er jedes Mal Ohrenschmerzen bekam, wenn seine Ohren kalt wurden, und dass er früher weder Mütze noch Kapuze anhatte, auch wenn es richtig kalt war.

"Dann hatte das ja auch eine gute Seite mit deinen Ohren", bemerkte Jan, "Sonst würdest du wahrscheinlich immer noch in diesem Skianorak herumlaufen."

Damit hatte er wohl Recht.

"Hier wohne ich", sagte dann Jan, "Das heißt, eigentlich wohnt meine Tante hier und mein Vater und ich sind hier mit eingezogen"

"Und deine Mutter?", fragte Hannes.

"Ich habe keine Mutter mehr; meine Eltern sind geschieden und ich lebe bei meinem Vater", erklärte Jan, "Aber das ist eine lange Geschichte; die erzähle ich dir ein andermal."

Er schob sich die Kapuze wieder vom Kopf und ging ins Haus. Hannes ging weiter; zu sich nach Hause war es von hier nicht mehr weit.

Auf dem Weg dachte er darüber nach, was Jan genau damit meinte, als er sagte, er sähe "cool" aus mit Mütze und Kapuze darüber; ob Jan vielleicht auch ein, wie soll man es nennen, besonderes Verhältnis zu Kapuzen hatte? Hannes fand diesen Gedanken sehr reizvoll.

Jan sah wirklich gut aus mit seinem Parka, ganz besonders natürlich, wenn er seine Kapuze auf hatte. Er hatte seine Unnahbarkeit verloren; Hannes stand morgens immer bei den Jungs, neben ihm, verbrachte mit ihm die großen Pausen und ging mit ihm nach der Schule zusammen nach Hause.

Er ging jetzt mit Kapuze über der Mütze in die Schule und setzte sie erst wieder ab, wenn er ins Schulgebäude ging. Nach der Schule begleitete er Jan bis zu dem Haus seiner Tante, der sich allerdings nicht mehr die Kapuze aufsetzte.

Jan erzählte, dass er nicht gerne mit seinem Vater zu seiner Tante gezogen war; Berlin gefiel ihm viel besser als dieses Dorf. Aber seine Tante war schwer krank, und sein Vater hatte ursprünglich damit gerechnet, dass sie bald sterben würde.

Deswegen waren sie hier, weil seine Tante sonst niemanden hatte, der sich um sie kümmern würde. Anders als er wollte sein Vater auch für immer bleiben und nicht mehr nach Berlin zurückkehren, vor allem, weil bei seinem Vater die Geschäfte nicht mehr gut liefen und es nichts kostete, bei der Tante zu wohnen. Aber seiner Tante ging es langsam wieder besser und Jan hoffte, dass er mit seinem Vater wieder zurück nach Berlin gehen konnte.

Hannes fand das, was Jan über sich erzählte, ziemlich spannend; er war zweifellos ein besonderer Junge, nicht nur seines Parkas wegen. Er war sehr glücklich darüber, Jan begegnet zu sein, und noch viel mehr darüber, dass sie Freunde geworden waren, der starke Jan und er.

Seit dem letzten Herbst waren diese Erinnerungen wieder da; die Erinnerungen an diesen Jungen in seinem Parka, dem er vor ziemlich genau vier Jahren begegnete, an Len, Lennart Adrian. Hannes erinnerte sich nicht mehr genau, an welchem Tag es war, nur, dass es wenige Tage nach seinem 11. Geburtstag gewesen sein musste.

Letzten Herbst gab es auch die Wiederbegegnung, mit Len, der nun Jan hieß aber auch einen Parka mit Kapuze hatte; Hannes dachte darüber nach, wie Len ihm sagte, dass Jan eine Abkürzung für "Johannes" war.

Ausgerechnet "Jan"; ausgerechnet Kapuzen.

Die Zeit der Wiederbegegnung mit Len/Jan ließ sich genau bestimmen; es war letztes Jahr, am 19. Oktober ungefähr um 7 Uhr 40 morgens. Nie würde Hannes dieses Datum vergessen, diesen Moment, als er vor dem Schulgebäude inmitten der Jungsclique, die wie gewöhnlich dort stand, einen Parka sah, mit einem Jungen drin, von dem er im ersten Moment dachte, es sei Len.

Aber es war Jan, der neu in seine Klasse gekommen war und seitdem neben ihm saß, auf dem Platz neben Hannes, der bis dahin normalerweise leer gewesen war.

Die Bilder von Len und Jan überlagerten sich, als er wach wurde - es war noch sehr früh am Morgen seines 15. Geburtstages. Er dachte an den fellbesetzten Parka, der sein vorgezogenes Geburtstagsgeschenk war, an den Arzt, der sagte, dass er sich wohl damit abfinden musste, dass seine Ohren gegen Kälte empfindlicher geworden waren, an seine Entscheidung, sich von seinen Eltern einen Parka als Geburtstagsgeschenk zu wünschen, an die Fahrt in die Stadt, um ihn zu kaufen.

Auch wenn die Entzündung in seinen Ohren inzwischen vollständig abgeklungen war, markierte sie dennoch einen Wendepunkt in seinem Leben: Er musste jetzt im Winter seine Ohren schützen und hatte deswegen einen Parka mit fellbesetzter Kapuze - genau so einen, wie Len ihn hatte.

Die Erinnerungen an Len waren erstaunlich deutlich; Hannes sah ihn vor sich, als wenn er ihn gestern erst gesehen hätte, in seinem olivgrünen Parka mit der Kapuze auf und der braunen Mütze darunter. Er fragte sich, ob Len wohl auch empfindliche Ohren gehabt hatte und deswegen Mütze und Kapuze trug.

Hannes fragte sich auch, wieso er nicht schon eher die Idee hatte, selbst einen olivgrünen Parka zu tragen, mit braunem Fell; wieso diese Idee erst auftauchte, nachdem Jan auftauchte mit seinem Parka und schließlich die Mittelohrentzündung.

Der Arzt hatte zwar eine Mütze empfohlen, aber Hannes war davon überzeugt, dass eine Fellkapuze viel besser sei, um die Ohren warm zu halten, und überhaupt, dass jetzt die Zeit gekommen war, einen Parka zu tragen.

All diese bedeutsamen Veränderungen in den letzten drei Wochen. Der Kreis würde sich damit schließen, dachte er, Len, Jan und er hätten dann alle drei einen Parka, das Merkmal an dem sie sich erkennen würden.

Während er im Bett lag und sich seinen Gedanken über Len und Jan und den Parka hingab, kam ihm diese seine Welt ziemlich merkwürdig vor. Vor allen Dingen, dass er sie mit niemandem teilte, außer mit ganz wenigen besonderen Jungs, und mit ihnen auch in einer Weise, die er sehr schwierig fand, vor allem weil sie so unwirklich wirkte.

War Jan so ein besonderer Junge, weil er wie Len einen Parka trug? War Kay ein besonderer Junge, weil er mit ihm das Geheimnis von den Fesselungen teilte, das er schließlich doch verraten hatte?

Oder war das alles ein Missverständnis und Hannes lebte in Wirklichkeit ganz alleine in seiner eigenen, eigenartigen und abgeschlossenen Welt - wie früher, bevor ihm Len begegnet war?

Hannes empfand diesen Gedanken als den beunruhigendsten, den er überhaupt hatte.

Dass ihn Kapuzen "anmachen", wie Kay es wohl genannt hätte, dass Jan in seine Klasse kam und seitdem neben ihm saß, dass Jan wie Len einen Parka hatte, dass Hannes dann diese Ohrenschmerzen bekam und es sich geradezu aufdrängte, auch einen Parka zu tragen - mit Kapuze - konnte das alles ein Missverständnis sein, ein Traum? Konnte das wirklich sein?

Hannes wurde aus seinen Gedanken gerissen, als seine Eltern in sein Zimmer kamen, um ihm zu seinem Geburtstag alles Gute zu wünschen. Dieses Jahr fand sein Geburtstag an einem Samstag statt, sodass er nicht in die Schule musste. Er konnte sich beim Waschen und Anziehen Zeit lassen und mit seinen Eltern zusammen frühstücken.

Hannes mochte keine Geburtstage; am Liebsten wäre ihm gewesen, wenn dieser Tag wie jeder andere auch gewesen wäre.

"Dein Geburtstagsgeschenk hast du ja bereits bekommen", sagte seine Mutter, als sie mit frühstücken fertig waren,

"Zeig' es uns doch mal; ich glaube dein Vater hat dich noch nicht mit deiner neuen Jacke gesehen."

Hannes stand auf, holte seinen Parka und zog ihn sich über; sein Vater wirkte nicht sonderlich interessiert.

"Mach' ihn ruhig zu", sagte seine Mutter und erklärte,

"Draußen kann er sich dann die Kapuze aufsetzen, damit seine Ohren nicht kalt werden."

Nachdem ihn seine Eltern begutachtet hatten, zog Hannes den Parka wieder aus und ging in sein Zimmer - die eigentliche Geburtstagsfeier mit seinen Eltern war erst für den Nachmittag geplant.

Er dachte an den Tag, an dem er mit seiner Mutter in die Stadt ging, den Parka zu kaufen. Es war ein wahrhaft mystischer Tag, der nach einem von vornherein festgelegten Drehbuch abzulaufen schien.

Schon bevor sie das Kaufhaus ansteuerten, war sich Hannes sicher, hier fündig zu werden. Als sie im Kaufhaus waren und auf der Rolltreppe in die Jungenabteilung fuhren, war es für ihn, als würden sie in eine riesige, gleißend hell beleuchtete Halle hinaufschweben.

Oben angekommen mussten sich seine Augen erst an das Licht gewöhnen, bis sich immer deutlicher die Konturen des Parkas, der an einem Kleiderständer hing, abzeichneten. Hannes wunderte sich darüber, aber es war tatsächlich so, als wäre er mit seiner Mutter in einer leeren, unglaublich hellen Halle gewesen, in der als Einziges der Parka an einem Kleiderständer hing.

In seinen Gedanken tauchte wie aus dem Nichts plötzlich Len auf, der den Parka vom Ständer nahm und Hannes überreichte. Er schlüpfte in den Parka und Len zog ihm den Reißverschluss zu:

"Setz' die Kapuze auf; dann sind deine Ohren wunderbar warm", sagte Len und streifte ihm die Kapuze über den Kopf.

"Johannes, wir gehen Einkaufen; sollen wir dir etwas mitbringen?"

Hannes schreckte aus seinen Träumen auf und sagte, "Nein, ich gehe selbst noch einmal los" Er entschied sich spontan, eine Tafel Schokolade kaufen zu gehen, so wie vor vier Jahren, als er Len begegnete.

Er wartete, bis seine Eltern weg waren, bevor er aus seinem Zimmer kam. Er beobachtete sich im Spiegel, wie er sich den Parka überstreifte und zuknöpfte, seine Mütze aufsetzte und die Kapuze darüber warf.

Es lag zwar kein Schnee mehr draußen, aber es war trotzdem kalt genug für Mütze und Kapuze.

Er dachte daran, wie aufgeregt er war, als er das erste Mal in seinem neuen Parka in die Schule ging, und dass er, kurz bevor er die Schule erreichte, die Kapuze wieder absetzte. Diese Aufregung legte sich allerdings schnell und bereits beim zweiten Mal traute er sich, mit der Kapuze über der Mütze den Jungs aus seiner Klasse - und vor allem Jan - vor dem Eingang der Schule zu begegnen.

Er hatte sich sehr schnell an seinen neuen Parka gewöhnt; schon nach kurzer Zeit kam es ihm vor, als wenn er ihn schon immer getragen hätte. Die Jahre zuvor hatte er im Winter immer einen Skianorak ohne Kapuze getragen und er hatte nie den Wunsch gehabt, eine andere Jacke zu haben. Auch, dass seine Mutter immer wieder der Meinung war, dass er ruhig auch mal etwas Neues tragen konnte, änderte nichts daran, dass er am Liebsten immer das trug, was er eben immer getragen hatte.

Hannes nahm nicht den üblichen Weg zum Supermarkt, sondern genoss zuerst einen ausgiebigen Spaziergang durch den nahegelegenen Wald und vor allem die Kapuze, die er dabei auf seinem Kopf spürte.

Im Supermarkt kaufte er sich schließlich eine Tafel Schokolade, weiße Schokolade, und träumte von einem Jungen, der seinen Parka anstarrte und mit dem er die Schokolade teilen konnte.

Nachdem er bezahlt hatte, zog er seine Mütze wieder auf und streifte sich die Kapuze darüber. Er ging an den Rand des Parkplatzes, ungefähr dorthin, wo er Jahre zuvor mit Len stand, um die Schokolade zu essen; alleine.

"Ich muss dir was sagen", fing Jan an, als sie am Montag nach Hannes' Geburtstag nach der Schule zusammen nach Hause gingen, "Ich werde wieder zurück nach Berlin gehen."

Für Hannes war es wie ein Schock; sie waren doch erst vor ein paar Tagen Freunde geworden und jetzt sollte es wieder vorbei sein? Die Verzweiflung, die in Hannes aufkam, kannte keine Grenzen - Berlin war für ihn weit weg, unvorstellbar weit weg.

"Wann?", fragte er, "Wann gehst du nach Berlin?"

Jan sagte, dass er wohl schon in der folgenden Woche fahren würde.

Ende der Woche gab es Zeugnisse und dann war das Schulhalbjahr ohnehin zu Ende.

"Warum?", fragte Hannes,

"Wir sind doch gerade erst Freunde geworden; warum gehst du jetzt wieder?"

Jan erklärte, dass sein Vater in Berlin einen Auftrag erhalten hatte und deswegen wieder zurück musste.

"Wenn ich ganz ehrlich bin", sagte er, "bin ich auch froh darüber. Das ist nichts für mich, in so einem kleinen Dorf zu wohnen."

Hannes wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Auch er hatte das Gefühl, an einem falschen Ort zu leben, wo er nicht hingehörte; auch er wünschte sich oft, weit weg zu gehen, am Besten für immer.

Aber jetzt, wo er gerade dabei war, eine Freundschaft zu beginnen mit einem Jungen, der Jan hieß und einen Parka trug, schien dafür überhaupt nicht die richtige Zeit zu sein.

"Hey, nicht traurig sein", sagte Jan,

"Ich finde es ja auch schade, weil ich dich irgendwie mag. Ich werde dich bestimmt auch vermissen, glaub mir."

Als der Tag schließlich gekommen war, an dem es die Zeugnisse gab, war Hannes sehr aufgeregt. Es würde vermutlich der letzte Tag sein, an dem er Jan sehen würde - er hatte sich genau überlegt, was er Jan zum Abschied sagen würde.

Doch als er morgens zur Schule kam, stand Jan nicht bei den Jungs am Eingang; auch als der Unterricht begann und die Klassenlehrerin kam, war er nicht da.

Die Klassenlehrerin erzählte, dass Jan gar nicht mehr kommen würde, und erklärte, dass Jan und sein Vater wieder nach Berlin gezogen waren, weil sein Vater aus beruflichen Gründen umgehend zurück musste.

Jan war einfach nicht mehr da und sie hatten sich noch nicht einmal verabschiedet; gestern hatte sich Jan noch mit "Bis morgen" verabschiedet und jetzt war er einfach nicht mehr da.

Ab jetzt saß Hannes wieder alleine an seinem Tisch, blieb nicht mehr bei den Jungs morgens vor der Schule stehen, verbrachte er wieder alleine die Pausen und ging nach der Schule wieder alleine nach Hause.

Jans Verschwinden kam sehr plötzlich; diese Freundschaft, die nur wenige Tage andauerte, bekam dadurch etwas sehr unwirkliches, ähnlich wie die Begegnung mit Len.

Der Horizont um Hannes schloss sich, schloss ihn wieder ein in seine Einsamkeit, in seine Welt. Als er nach der Schule seinen Parka anzog, war es für ihn, als wenn er sich Jans Haut, Lens Haut, überstreifte, als wenn Jan ihn begleiten würde und er nicht alleine nach Hause ging.

Er versuchte sich vorzustellen, er wäre Jan, hätte seine Stärke, sein einladendes, freundliches Lächeln - aber es gelang nicht. Was für eine grausame Welt, dachte Hannes, die ihn dazu verurteilt hatte, sein Leben lang sein zu müssen, was er war: Hannes, nicht Jan, nicht Len.

An diesem Tag war Hannes sehr verstört, so sehr, dass seine Mutter besorgt war, als er aus der Schule zurück nach Hause kam. Hannes saß auf seinem Bett und starrte in sein Zimmer: Sein Kopf war leer und in dieser Leere breitete sich die unheimliche Verzweiflung immer weiter aus.

Hannes hörte, wie seine Mutter durch die Tür sagte, dass sie noch einkaufen gehen müsse, aber bald wieder zurück sei. Nachdem er hörte, wie sie das Haus verließ, ging er aus seinem Zimmer in den Flur, in dem der große Spiegel hing.

Während er sich im Spiegel betrachtete, kam er sich richtig fremd vor. Er fragte sich ob das, dieser merkwürdige Junge, der diesen merkwürdigen Gesichtsausdruck hatte, wenn er versuchte zu lächeln, ob das das sein soll, was er "ich" nannte?

Ihm fiel dabei das erste Mal auf, dass es Lens Lächeln war, was ihn an seinem Gesicht so fasziniert hatte. Auch Jan hatte dieses faszinierende Lächeln und damit - wie Len - ein Gesicht, das sich deutlich von allen anderen Gesichtern abhob.

Er, Hannes, konnte nicht lächeln - so sehr er sich bemühte, diesen Gesichtsausdruck bekam er nicht zustande. Hing das miteinander zusammen? Hatte es etwas zu tun mit dem Verschwinden der besonderen Jungs, dem Verschwinden Lens und Jans zumindest? Das mit Kay war ja doch eine etwas andere Geschichte.

Hannes nahm seinen Parka von der Garderobe und sah sich im Spiegel zu, wie er ihn anzog und zuknöpfte. Er sah sich zu, wie er die Kapuze überstreifte; es war nicht Len, auch nicht Jan; es war Hannes.

Er entschied sich, in den Wald spazieren zu gehen. Es war ein kalter Tag, die Landschaft verschneit. Hannes zog einen Pullover unter den Parka, einen Schal und die Schuhe an. Vor dem Spiegel betrachtete er sich noch einmal ausgiebig und zog seine Mütze aus der Jackentasche. Er setzte sie sich auf, streifte die Kapuze darüber und ging nach draußen.

"Siehst du, das ist doch viel besser mit Kapuze", hörte er Len sagen, "Deine Ohren werden nicht mehr kalt, und es fühlt sich überhaupt viel besser an."

Im Wald gab es einen Ort, an dem sich Hannes sehr gerne aufhielt. Es war ein Jägerhochsitz, der an einer Lichtung aufgebaut war. Der Hochsitz war recht tief im Wald, sodass Hannes über eine Stunde lief, bevor er dort ankam. Er kletterte die Leiter hinauf und setzte sich oben auf den Absatz.

Kaum saß er, überfiel ihn ein Gefühl unendlicher Traurigkeit und er fing an, heftig zu weinen. Es ging eine ganze Weile, bis Hannes seine Tränen wieder unterdrücken konnte, und dann wurde es ganz still. Hannes lauschte dem Nichts an Geräuschen und fragte sich, ob sich auf diese Weise ein Wechsel im Leben, eine nicht wieder rückgängig zu machende Wendung ankündigt?

Jan hatte ihn immer "Hannes" genannt, was ihm zuerst überhaupt nicht gefallen hatte. Jetzt, auf dem Hochsitz, inmitten der Stille, beschloss Hannes, ab jetzt endgültig "Hannes" zu heißen und nicht mehr "Johannes"; das war der Name, den er haben wollte, weil Jan ihn ihm gegeben hatte.

Len gab ihm bereits einen Namen, "Jan", aber "Jan" ging nicht; zum einen, weil es bereits einen Jan gab, zum anderen war der Name Jan für Hannes undenkbar, weil er war zu stark war, viel zu stark - dafür war die Zeit nicht reif; noch nicht.

Aber "Hannes" war gut; dieses eigenartige ich sollte "Hannes" heißen.

Hannes war zum ersten Mal wirklich zufrieden mit seinem Namen, "Hannes".

Nach einiger Zeit wurde ihm kalt, und er streifte sich die Kapuze ab, um sich den Schal über Mund und Nase zu wickeln. Er genoss das Gefühl, die Kapuze anschließend wieder über seiner Mütze zu spüren, das angenehm warme und zugleich erregende Gefühl, das seinen Körper durchströmte.

Hannes war sehr gerne auf dem Hochsitz im Wald, wo ihm keine Menschen begegneten; besonders auch im Winter, wenn alles wie festgefroren war und der Schnee die Landschaft in Stille tauchte.

Es war das erste Mal, dass ihm die Frage in den Sinn kam, ob das, was er für Jan empfand, und vielleicht auch das, was er auch für Kay empfunden hatte, ob das etwas mit Liebe zu tun hatte.

"Liebe", wie auch "Freundschaft" waren für ihn rätselhafte Dinge; offensichtlich hatten sie nicht sehr viel mit seinen Empfindungen zu tun, nichts mit Fesselungen und schon gar nichts mit Kapuzen oder Parkas.

Und was war mit Len, liebte er ihn wirklich? Oder liebte er seinen Parka mit der fellbesetzten Kapuze oder seinen klingenden Namen, "Lennart Adrian"?

Liebte er Jan oder liebte er es einfach nur, neben einem starken Jungen zu sitzen?

Hannes fühlte sich oft einsam; oft wünschte er, Freunde zu haben, aber er wusste nicht, was er mit Freunden anfangen sollte, nicht mit den Jungs aus seiner Klasse und schon gar nicht mit den Mädchen.

Es war für ihn klar, dass als Freunde nur besondere Jungs in Frage kamen, Jungs, die mit ihm Geheimnisse, wirkliche Geheimnisse, teilen konnten. Len, Kay und Jan waren die einzigen, die diesem Kriterium auch nur nahe gekommen waren. Aber Len hatte er nur ein einziges Mal gesehen, Kay hatte ihn am Ende verraten und Jan war jetzt einfach verschwunden.

Hannes war davon fasziniert, dass ihre Namen dem Alphabet folgten: J, K, L. Was das wohl bedeutet, eine "richtige Freundschaft"? Ist es das gleiche wie "Liebe"?

Am meisten empfand Hannes ein Gefühl von "richtiger Freundschaft" gegenüber Len. Aber ihm war er nur ein einziges Mal vor vier Jahren begegnet - eigentlich war es eine Freundschaft, die sich nur in seiner Phantasie abspielte. Dennoch war es genau die Art von Freundschaft, die er sich wünschte.

Mit Jan fing es gerade erst an, eine Freundschaft zu werden, sogar eine richtige, "reale" Freundschaft.

Dass er verschwand, ohne sich von ihm zu verabschieden, fand Hannes ziemlich irritierend. Jan schien die Freundschaft nicht so viel bedeutet zu haben; bestimmt wäre er sonst noch einmal gekommen, um sich zu verabschieden und zu sagen, dass sie wirklich Freunde waren.

Vielleicht sollte er sich auf die Suche nach Len begeben, ihn wiederfinden und die Freundschaft mit ihm real werden lassen. Vielleicht aber hatte er ihn bereits wiedergefunden: in sich.

Als es anfing, dunkel zu werden, ging Hannes wieder nach Hause. Seine Mutter zeigte sich verwundert über sein Verschwinden und war wohl besorgt, weil er so lange wegblieb. Er ignorierte ihre Vorhaltungen und seine Mutter sagte,

"Johannes, ich möchte, dass du mich ernst nimmst, wenn ich dir etwas sage; ich erwarte ja wirklich nicht zu viel von dir."

"Ich heiße Hannes", antwortete er; beinahe hätte er sich versprochen und "Ich heiße Len" gesagt - "Lennart Adrian", warum war seinen Eltern nicht auch so ein besonderer und klingender Name eingefallen?

Seine Mutter schüttelte den Kopf.

Die Fellkapuze

Hannes war begeistert, als er aus dem Fenster sah: Es gab den ersten Schnee dieses Jahr. Es hatte auch schon im Dezember geschneit, aber der Schnee war nicht lange liegen geblieben; heute aber war draußen alles mit Schnee bedeckt.

Er beeilte sich an diesem Morgen, damit er auf dem Schulweg Zeit hatte, den Schnee zu genießen, und konnte es kaum erwarten, sich seinen Parka anzuziehen, die Mütze aufzusetzen, Kapuze darüber und loszugehen.

Der Winter war schon immer Hannes' liebste Jahreszeit gewesen, was gut dazu passte, dass er im Winter geboren wurde. Seit er den Parka hatte, hatte der Winter einen zusätzlichen Reiz erhalten: Er war jetzt die Jahreszeit, in der Hannes nicht nur die Kapuze aufsetzen konnte, sondern auch noch eine Mütze darunter trug.

Und das war gleich in doppelter Hinsicht reizvoll: Zum einen war es ein angenehmes, erregendes Gefühl, die Kapuze auf dem Kopf zu spüren, ein Gefühl, das durch die Mütze darunter deutlich gesteigert wurde; zum anderen war es für Hannes, wie wenn er Lens Haut tragen würde.

Als er schließlich durch den Schnee in Richtung Schule stapfte, fühlte er sich ungewöhnlich gut und zufrieden. Nach dem Unterricht zog er sich wieder den Parka über, setzte Mütze und Kapuze auf und ging aus dem Schulgebäude.

Kaum hatte er die Schule verlassen, fiel ihm auf, dass er seine Sporttasche vergessen hatte, und ging wieder zurück, um sie aus dem Klassenzimmer zu holen. Dabei kam ihm ein Junge entgegen, der zwei oder drei Jahre jünger gewesen sein mochte als er und der eine auffällige, knallrote Mütze mit einem riesigen weißen "Trottel" trug und einen blauen Anorak mit Kapuze.

Genau in dem Moment, als Hannes an ihm vorbei ging, zog er sich die Kapuze über die Mütze.

Hannes blieb stehen und beobachtete diesen Jungen in der Hoffnung, dass er sich umdrehte und Hannes ihn noch einmal mit Mütze und Kapuze sehen konnte, was aber nicht geschah.

Es war das erste Mal, dass er einen anderen Jungen mit Mütze und Kapuze in der Schule sah; mit Ausnahme natürlich von Jan - das eine Mal, damals.

Soweit er sich erinnern konnte, hatte Lens Mütze auch etwas obendrauf, einen "Trottel", allerdings keinen so großen wie der Junge, den er gesehen hatte, sondern einen, wie er für Mützen üblich war.

Hannes' Mütze hatte dagegen oben nichts drauf, weswegen sie von der Verkäuferin empfohlen wurde, damit er die Kapuze darüber ziehen konnte. Die Verkäuferin nannte das, was der Mütze fehlte, "Trottel", was für Hannes nach wie vor sehr eigenartig klang.

Während er auf dem Nachhauseweg darüber nachdachte, beschloss er, sich eine solche "Trottelmütze" zu kaufen, um auszuprobieren, ob sie sich überhaupt für Kapuzen eignete.

Er fuhr am Nachmittag in die Stadt und fand in dem Kaufhaus, in dem seine Mutter ihm den Parka kaufte, schnell eine, die ähnlich wie Lens Mütze rot-braun gemustert war. Nachdem er mehrmals dort hingegangen war, um diese Mütze genau zu begutachten, entschied er sich schließlich zum Kauf.

Als er mit der neuen Mütze zu Hause ankam, zog er seinen Parka gar nicht erst aus, sondern begutachtete zuerst die Mütze vor dem großen Spiegel im Hausflur, nachdem er das Preisschild entfernt hatte.

Seine Eltern waren beide nicht zu Hause, sodass er sich ungestört der neuen Mütze widmen konnte. Er fand, es sah gut aus, er mit der "Trottelmütze", es sah nach Len aus.

Zum Vergleich zog er sich seine alte Mütze auf und, automatisch, ohne nachzudenken, gleich die Kapuze darüber. Dann zog er sich die Kapuze wieder herunter und probierte wieder die neue, die Len-Mütze an.

Als sich mit einem Schwung die Kapuze überziehen wollte, blieb sie tatsächlich an dem "Trottel" hängen; Hannes musste ihn mit der Hand drunter schieben, aber es ging. Er spürte, wie die Kapuze den "Trottel" an seinen Kopf drückte, und fand dieses Gefühl ziemlich erregend.

Als es dunkel wurde, entschied sich Hannes spazieren zu gehen, um die neue Mütze ausgiebig zu testen. Er ging mit seiner alten Mütze los, damit seine Eltern nicht mitbekamen, dass er eine neue Mütze hatte. Er lief dann kurze Zeit, bis er sich vergewissern konnte, dass niemand in der Nähe war, tauschte die Mütze und zog wieder die Kapuze darüber.

Er musste dabei wieder den "Trottel" unter der Kapuze zurechtrücken. Durch den "Trottel" spürte er deutlich die Mütze unter der Kapuze, was ihn ziemlich erregte, umso mehr, weil es die Len-Mütze war.

Zufrieden kehrte er zurück; die Mütze - und der Gerechtigkeit halber seine alte Mütze auch - durfte diese Nacht mit ihm im Bett schlafen.

Der Parka hatte eine neue Zeitordnung in Hannes' Leben gebracht. Es gab nun vier verschiedene Zeiten im Jahr: Die Zeit, in der er keinen Parka trug, die Zeit, in der er den Parka ohne Fell trug, die Zeit, in der der Parka das Fell hatte und Hannes in der Regel die Kapuze aufsetzte, wenn er draußen war, und schließlich die Zeit, in der er zusätzlich seine Mütze darunter trug.

Hannes hatte sich die Übergänge genau gemerkt: Letztes Jahr trug er Mitte März zum letzten Mal Mütze und Kapuze und Anfang Mai kam das Fell aus dem Parka; Mitte Oktober kam es wieder hinein. Mitte Oktober bis Anfang Mai war also seine Jahreszeit, die Zeit, in der er den Parka mit Fell tragen konnte. Zumindest letztes Jahr war es so und das Jahr davor auch.

Natürlich hing das auch von den Temperaturen ab, sodass Hannes die Temperaturen ermittelte, zu denen ein jeweiliger Jahreszeitenwechsel anstand. Die Grenze von Fell und Nichtfell legte er auf etwa 10 bis 12 Grad Tagestemperatur fest.

Am Besten war es, jeweils ein paar Tage abzuwarten und, wenn im Frühjahr an ein paar Tagen hintereinander die Temperaturen über 12 Grad liegen, das Fell heraus zu nehmen.

Umgekehrt, wenn sie im Herbst mehrmals hintereinander unter 10 Grad liegen, knöpfte er es wieder ein.

Die Temperatur, ab der er zusätzlich seine Mütze tragen sollte, musste irgendwo zwischen 0 und 4 Grad liegen; bei feuchtem oder windigem Wetter war auf jeden Fall schon bei 4 Grad die Mütze fällig, bei angenehmerem Wetter eher ab 0 Grad oder manchmal auch deutlich darunter, wenn die Sonne schien und es windstill war.

Das Thema hatte durchaus das Potenzial, zu einer Wissenschaft ausgebaut zu werden. Hannes überlegte sich immer wieder Formeln, mit denen er genau bestimmen konnte, was er auf seinem Kopf tragen sollte, unter Berücksichtigung aller relevanten Parameter.

Letzten Herbst wurde es am 12. Oktober im Vergleich zu vorher deutlich kühler; die 12 Uhr mittags Temperatur fiel von 16 Grad am 11. auf nur noch 10 Grad am 12. Oktober. Der Parka hatte noch kein Fell und mit der felllosen Kapuze auf dem Kopf war es eindeutig zu kalt.

Am 13. und 14. Oktober half sich Hannes daher damit aus, dass er seine Mütze trug, und nachdem es auch am 14. Oktober kaum über 10 Grad warm war, kam schließlich das Fell zum Einsatz.

Dies war der spannendste Tag in der zweiten Jahreshälfte letzten Jahres; nach mehrmonatiger Abstinenz war es für Hannes sehr erregend, die Fellkapuze auf seinem Kopf zu spüren.

Etwa zwei Wochen vor Weihnachten war es dann soweit, dass die Temperatur morgens, als er zur Schule ging, unter 0 Grad lag. Es schneite sogar ein wenig, aber der Schnee schmolz sofort wieder.

Als Hannes das nach dem Aufwachen sah, wurde er ganz aufgeregt: Die Mützenzeit war angebrochen; das war so eindeutig, dass auch seine Mutter beim Frühstück anmerkte, dass er seine Mütze tragen sollte, um nicht wieder Probleme mit seinen Ohren zu bekommen.

Nachdem er an diesem Tag das Haus verlassen hatte, kam auch gleich die Fellkapuze über die Mütze. Nachmittags, auf dem Weg von der Schule nach Hause, war es nicht mehr kalt genug für Mütze und Kapuze, und nur wenige Tage später auch morgens nicht mehr.

Aber die beste Zeit des Jahres hatte sich bereits angekündigt und ließ dann auch nicht mehr lange auf sich warten; seit Ende der Weihnachtstage war es jeden Tag kalt genug für Mütze und Kapuze.

Nachdem Hannes aufgewacht war, schaute er gleich aus dem Fenster, um sich zu vergewissern, dass der Schnee immer noch lag. Über Nacht war sogar noch mehr dazugekommen. Am Liebsten hätte er die Len-Mütze mit dem "Trottel" getragen, aber er traute sich dann doch nicht und zog sich, als er zur Schule aufbrach, wie gewohnt seine alte, hellbraune Mütze auf den Kopf.

Zwei Tage später war wieder Geburtstag, der siebzehnte diesmal.

Siebzehn war eigentlich eine gute Zahl: Sie war eine Primzahl, die obendrein die 7 enthielt und auch noch zu einem pythagoreischen Zahlentripel gehörte: 8*8 + 15*15 = 17*17. Pythagoreische Zahlentripel gab es viele, unendlich viele, wie Hannes wusste.

Das Tripel mit der 17 als größte Zahl war das Dritte, genau genommen das dritte echte Tripel, das sich nicht kürzen ließ. Vorher gab es noch die 5 mit 3*3 + 4*4 = 5*5 und die 13 mit 5*5 + 12*12 = 13*13.

Als nächstes würde dann die 25 kommen mit 7*7 + 24*24 = 25*25; interessanter Weise war die 25 zugleich auch die größte Zahl in einem unechten Tripel, nämlich 15*15 + 20*20 = 25*25.

Gekürzt durch 5 ging dieses Tripel wieder in das mit der 5 über; die 25 war die kleinste Zahl, mit der sich so gleich zwei pythagoreische Tripel bilden ließen. Die kleinste Zahl, mit der sich auf diese Weise zwei echte Tripel ergaben, war die 65 (16*16 + 63*63 = 65*65, 33*33 + 56*56 = 65*65); mit ihr konnte man sogar zwei weitere unechte Tripel bilden.

Am meisten faszinierte Hannes, dass jede Zahl ihre individuellen Eigenheiten hatte; keine Zahl war wie die anderen, jede war etwas besonderes. Das unterschied offensichtlich Zahlen und Menschen voneinander.

Menschen waren alle einander gleich, zumindest sehr, sehr ähnlich, bis auf ganz wenige Ausnahmen, zu denen auch Hannes gehörte.

Dass er zu den Ausnahmen gehörte, bekam er auch jeden Tag zu spüren, nicht nur, dass er gerne verspottet oder gehänselt wurde - daran hatte er sich längst gewöhnt; er war vor allen Dingen deswegen auch sehr alleine und auf sich selbst gestellt.

Er fragte sich oft, ob es außer ihm noch weitere Menschen gab, die ähnlich anders waren, so wie er; darüber konnte er nur Vermutungen anstellen, wissen konnte er es nicht.

Hannes konnte sich nicht so recht entscheiden, ob dieser Tag ein besonderer Tag war; er hoffte es insgeheim. Er hoffte eigentlich jeden Tag, dass er sich als besonderer Tag herausstellen würde, dass er Jan wieder treffen würde oder sogar Len.

Nach einigen Überlegungen beschloss er einfach, dass dieser 17. Geburtstag ein besonderer Tag sein sollte, nämlich der Tag, an dem er seine neue Len-Mütze trug. Nicht versteckt, dass es niemand sah, sondern ganz regulär, so wie er sonst seine alte Mütze auf hatte.

Das Geburtstagsritual gestaltete sich an diesem Morgen recht kurz: Sein Vater musste zur Arbeit und er in die Schule.

"Hast du eine neue Mütze?", fragte seine Mutter, als er sich die Mütze mit "Trottel" aufsetzte.

Hannes wollte sich längere Erklärungen dazu sparen und sagte,

"Nein, die habe ich schon länger."

"Das ist ja merkwürdig, ich habe die jedenfalls noch nie gesehen."

Hannes ließ sich aber auf keine Diskussion ein und sagte nur, "Ich muss jetzt los", schob die Kapuze über die Mütze und ging.

Auf dem Weg zur Schule spürte er die ganze Zeit den "Trottel", den die Kapuze an seinen Kopf drückte. Für eine kurze Zeit fühlte sich das sehr spannend an, aber nach einer Weile fand er es doch etwas irritierend, die Mütze so deutlich auf seinem Kopf zu spüren.

Es war vielleicht doch das Beste, die neue Mütze nur zu besonderen Anlässen zu tragen, so wie heute, und ansonsten wie gewohnt die alte, die für Kapuzen wohl doch besser geeignet war.

Als er nach der Schule nach Hause kam, konnte er seine alte Mütze aber nicht finden.

"Ich habe sie gewaschen", sagte seine Mutter, als er sie danach fragte,

"Du hast ja jetzt noch eine Mütze, die du tragen kannst, bis sie trocken ist."

Hannes hatte es noch nie gemocht, dass seine Mutter sich immer in sein Leben einmischte; jetzt musste er doch noch ein paar Tage lang die Len-Mütze tragen, bis die andere wieder trocken war.

Er war erstaunt, wie schnell er sich daran gewöhnte, den "Trottel" unter der Kapuze zu spüren, und trug die neue Mütze sogar länger als notwendig, mehr als eine Woche lang, bevor er wieder zu seiner gewohnten Mütze wechselte.

Inzwischen war es zu einem festen Bestandteil seiner Geburtstage geworden, in den Supermarkt zu gehen, um sich dort eine Tafel weiße Schokolade zu kaufen und sie auf dem Parkplatz zu essen.

Auch an diesem Geburtstag erschien niemand, kein Junge mit Parka und Fellkapuze, der mit ihm die Schokolade teilen wollte.

Er fühlte sich dennoch richtig gut, wenn er - mit Mütze und Kapuze - die Schokolade aß. Durch seinen Parka war er ihnen nahe, Len und Jan; es war, als wenn er in ihre Haut schlüpfen würde, wenn er ihn anzog.

In Gedanken hörte er Jans Stimme, "Willst du nicht die Schokolade mit mir teilen?", und kaum, dass er seine Augen geschlossen hatte, sah er ihn vor sich, in seinem Parka und mit seiner schwarzen Mütze auf.

Er sah, wie er seine Kapuze mit einem Schwung über Mütze warf, und hörte, wie er sagte,

"Du siehst cool aus mit dem Parka, mit Mütze und Kapuze."

"Hallo Hannes, was machst du denn hier?"

Hannes erschrak; es war ein Mädchen aus seiner Klasse.

"Sag mal, hast du nicht heute Geburtstag?"

Hannes fühlte sich ein bisschen ertappt und versuchte, sich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass sie unmöglich wissen konnte, woran er gerade dachte. Ihm war überhaupt nicht danach zu Mute, sich mit ihr länger zu unterhalten, weswegen er nur knapp antwortete,

"Ich feiere meinen Geburtstag nicht und muss jetzt nach Hause."

Er ging aber nicht nach Hause, sondern in den Wald, zu dem Jägerhochsitz, auf dem er oft stundenlang saß, um seinen Gedanken nachzugehen. Zwei Jahre war es her, dass Jan aus seinem Leben verschwunden war. In dieser Zeit dachte er oft an ihn; er ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.

Er fing an, ihn zu zeichnen, wie er in seinem Parka vor dem Schulgebäude stand, wie er mit zwei T-Shirts und Mütze ins Klassenzimmer kam, wie ihm die Kapuze über den Kopf fiel, als er Hannes' Parka anzog.

Hannes war mit den Zeichnungen allerdings nicht zufrieden; hauptsächlich, weil es ihm überhaupt nicht gelang, Jans Gesichtszüge treffend darzustellen. Dadurch, dass im Gegensatz zu dem Gesicht alles andere auf den Zeichnungen sehr realistisch wirkte, hatten sie eine etwas merkwürdige Ausstrahlung.

Er zerriss die Zeichnungen wieder, nachdem er sie ein paar Wochen lang ausgiebig studiert hatte. Er zerriss sie in so kleine Stücke, dass es unmöglich war, das Bild aus den Schnipseln wieder zusammenzusetzen, nicht einmal erahnen sollte man es können.

Dennoch erkannte er Jans Gesicht immer noch sehr klar, wenn er an ihn dachte. Auch Lens Gesicht; es waren die beiden einzigen Gesichter, die er sich in Gedanken klar und deutlich repräsentieren konnte, wie Photographien.

Alle anderen Gesichter, erst recht sein eigenes, erschienen ihm dagegen sehr undeutlich und verschwommen. Selbst wenn er sie häufig sah, wie die seiner Eltern oder seiner Klassenkameraden; auch Kays Gesicht war nur verschwommen in seiner Erinnerung.

Aber zeichnen konnte er Lens und Jans Gesicht dennoch nicht. Es war, als wenn Len und Jan nur in dieser unwirklichen Welt in seinem Kopf leben wollten und sich verloren und quasi verschwanden, sobald er versuchte, sie in der wirklichen Welt wiederzufinden.

Dass es sie gab, die besonderen Jungs, mit denen er auf eine besondere Weise verbunden war, war dennoch mit Abstand das stärkste Argument dafür, dass er doch nicht ganz alleine war.

Hannes überlegte, dass es dann auch umgekehrt so sein müsste, dass Len und Jan sein Gesicht klar und deutlich erinnern könnten und dass sie gegenseitig ihre Gesichter deutlich erinnern würden, wenn sie sich einmal begegnen würden.

Es müsste dann auch so sein, dass sie nach ihm suchen würden, wie er nach ihnen suchte und hoffte, sie wieder zu treffen, und dass sie ihn erkennen müssten, nicht zuletzt an seinem Parka.

Das allerdings widersprach seiner Erfahrung, dass er ihnen bisher nicht wieder begegnet war und dass überhaupt die ersten Begegnungen von sehr kurzer Dauer waren.

Immerhin: Er war ihnen begegnet. Er war nicht nur einem besonderen Jungen begegnet, sondern gleich zweien, und fast sogar noch einem dritten, Kay, aber das hatte sich ja dann doch als Missverständnis herausgestellt.

Es war sehr schön, in Gedanken bei Jan und bei Len zu sein, und dabei auch den Gefühlen nachzuspüren, die die Kapuze auf seinem Kopf auslöste. Verstärkt noch durch den "Trottel" der Mütze, die Hannes darunter trug, und der Erregung und dem Druck in der Hose. Die Momente, die er im Winter auf dem Hochsitz verbrachte und seine Gedanken gehen ließ, waren die einzigen Momente, die ihm das Gefühl vermittelten, ganz bei sich zu sein.

Das war seine Welt: Alleine in der gefrorenen Stille, da fühlte er sich zuhause.

Nachdem Jan wieder nach Berlin gegangen war, war er oft hier gewesen, um sich treiben zu lassen von seinen Gefühlen und Gedanken.

Einer der erregendsten Gedanken war der, in dem Len zu ihm sagte, "Es ist kalt; zieh dir doch die Kapuze über", die Kapuze seines Parkas nahm und ihm über den Kopf zog.

Es war schon einige Zeit her, dass ihm diese Phantasie das erste Mal in den Sinn kam. Die Erregung, die ihn erfüllte, während er spürte, wie die Kapuze über seinen Kopf glitt, steigerte sich dabei ins Unermessliche, so sehr, dass er - ohne weiteres Zutun - ejakulierte und gleich darauf bemerkte, dass seine Unterhose feucht wurde.

Es irritierte und faszinierte ihn zugleich und so entschied er sich, diesem Phänomen auf den Grund zu gehen und sozusagen Forschung in diesem Feld zu betreiben. Er nutzte oft die Zeit, die er alleine zu Hause war, sich selbst ausgiebig mit dem Parka vor dem Spiegel zu betrachten; nachts tauchten diese Bilder dann in seiner Phantasie auf und manchmal ejakulierte er dabei.

Dabei an sich selbst zu denken, funktionierte sogar besser, als an Len oder an Jan.

Hannes dachte daran, wie er letzten Sommer Kay getroffen hatte, zufällig auf dem Weg von der Schule nach Hause. Er hatte ihn zunächst gar nicht erkannt, bis Kay sagte,

"Hallo Johannes, dich habe ich ja schon lange nicht mehr gesehen."

Hannes erschrak im ersten Moment, da ihm sofort diese unsägliche Begebenheit in den Sinn kam, als die Pfadfinder ihn an einen Baum gebunden hatten um festzustellen, ob es ihn wirklich erregen würde, gefesselt zu sein.

Doch Kay war sehr nett und sagte, dass er sich freuen würde, ihn wieder zu sehen. Sie verabredeten sich für den Nachmittag und verbrachten ein paar Stunden bei Kay auf dem Bauernhof. Kay erzählte, dass er inzwischen die Schule abgeschlossen hatte und eine Lehre machen würde, in einer Bank.

Eine Freundin hatte er auch. Überhaupt schien er sich ziemlich verändert zu haben und wirkte - Hannes musste unwillkürlich an dieses Wort denken - sehr "normal".

Hannes sprach auch dieses Ereignis auf dem Pfadfinderfest an und sagte, dass es sehr gemein war, anderen Pfadfindern zu erzählen, welches Verhältnis er zu Fesselungen hatte.

"Das waren doch Dumme-Jungen-Geschichten", wiegelte Kay ab, "Das hat doch niemand wirklich ernst genommen. Jungs in dem Alter sind doch alle so."

Hannes empfand es anders; er hatte es sehr ernst genommen. Doch er sah auch keinen Sinn darin, mit Kay darüber zu diskutieren und, als Kay dann noch nachfragte, ob es ihn immer noch "anmachen" würde, gefesselt zu werden, schüttelte er den Kopf.

Tatsächlich erregte ihn es immer noch; das einzige, was sich geändert hatte, war, dass er sich seitdem nicht mehr fesseln ließ und sich auch nicht mehr selbst fesselte. Aber ihm kamen nach wie vor immer wieder Phantasien, wie er gefesselt wurde, und diese Phantasien waren nach wie vor außerordentlich erregend.

Das Treffen mit Kay führte ihm deutlich vor Augen, dass Kay, wie vermutlich alle anderen oder zumindest fast alle anderen, eine Normalität leben konnten, die ihm im Wesentlichen unzugänglich war. Es blieb daher auch bei diesem einen Treffen.

Hannes fand es ziemlich rätselhaft, dass ihn Fesselungen und der Parka mit Fellkapuze offenbar in ähnlicher Weise erregten, "anmachten" - wie Kay es nannte. Wie hing das miteinander zusammen, gab es überhaupt einen Zusammenhang?

Hannes' Gedanken verloren sich in dieser Frage und machten nach einiger Zeit wieder Platz für das Gefühl, das ihm die Kapuze vermittelte, über der Len-Mütze. Er schob sie herunter, um sie dann gleich wieder aufzusetzen; dabei dachte er daran, wie er die Schokolade kaufte, bevor er hierher, zu seinem Hochsitz, ging.

Hannes streckte der Kassiererin ein Markstück für die Schokolade hin und bekam elf Pfennig wieder. Er zog dann seine Mütze aus der Parkatasche, die Len-Mütze, zog sie sich auf und schob die Kapuze darüber. Dann nahm er die Schokolade und ging auf den Supermarktparkplatz, um die Schokolade zu essen.

"Hallo Hannes, was machst du denn hier? Sag mal, hast du nicht heute Geburtstag?"

Hannes drehte sich um und sah Jans Gesicht, Jan in seinem Parka mit seiner schwarzen Mütze auf.

Er starrte regelrecht in sein Gesicht und beobachtete, wie er seine Kapuze über die schwarze Mütze zog. Während er ihn gebannt ansah, ihn mit Mütze und Kapuze, sein Gesicht, sah er darin auf einmal Lens Gesicht, dann wieder Jans Gesicht und wieder Lens; es war ein Gesicht, das sowohl zu Len als auch zu Jan passte.

"Weiße Schokolade ist meine Lieblingsschokolade, willst du sie nicht mit mir teilen?", fragte Jan und Hannes gab ihm ein Stück.

"Du erkennst mich doch, oder?", fragte Jan, weil Hannes noch mit keinem Wort geantwortet hatte.

"Ja, natürlich; du bist Jan, du warst mal bei mir in der Klasse und wir saßen nebeneinander", antwortete Hannes.

Doch Jan sagte, "Denk mal genau nach. Ich denke, wir haben uns schon früher getroffen. In Wirklichkeit heiße ich nämlich gar nicht Jan"

Hannes zögerte und fragte dann, "Len?"

"Ja, Lennart Adrian ist mein wirklicher Name"

"Wieso sagst du dann, dass du Jan heißt? Das ist doch ein ganz anderer Name"

"Naja, weißt du", Jan überlegte kurz und erklärte dann,

"Das ist jetzt schon ein paar Jahre her, sechs Jahre, da stand ich hier mit einem Jungen und hatte mit ihm Schokolade gegessen. Und der hieß Jan, eigentlich Johannes, aber Jan passte viel besser zu ihm. Ich habe gemerkt, dass wir zusammengehören, und wollte ihn auch unbedingt wieder treffen. Ja, und weil er mich so fasziniert hatte, hatte ich beschlossen, dass ich so heißen will wie er, nämlich Jan."

Jan nahm sich ein weiteres Stück von der Schokolade, "Nimm den Rest, dann gehen wir, ok?"

Hannes nahm das restliche Stück und fragte, "Dann haben wir uns jetzt wieder getroffen?"

"Ja. Und ich heiße wieder Len und du heißt Jan."

"Len - Jan" klang es in Hannes' Gedanken; der Klang nahm ihn völlig ein, erfüllte seinen Körper bis in jeden Winkel.

Als das Len - Jan Gesicht in seinen Gedanken langsam verblasste, bemerkte Hannes, dass es inzwischen dunkel geworden war und er angefangen hatte zu frieren. Es war Zeit, den Hochsitz wieder zu verlassen und nach Hause zu gehen.

Erste Liebe

Mehr als drei Jahre nachdem er Jan das letzte Mal gesehen hatte, es war im Mai, hörte Hannes plötzlich, dass sein Name gerufen wurde, als er auf dem Weg von der Schule nach Hause war. Er erkannte sofort, dass es Jans Stimme war und erschrak kurz, bevor er stehen blieb und sich umdrehte.

Jan kam auf ihn zu und rief, "Den kenn' ich doch, dass ist doch der Hannes mit dem coolen Bundeswehrparka."

Jan sah aus wie ein Punk; er hatte seine Haare blondiert, trug Sachen voller Löcher, Armbänder und ein Hundehalsband.

Hannes brauchte einen Moment, um sich zu vergewissern, dass tatsächlich Jan vor ihm stand. Diese unerwartete Begegnung kam ihm wie ein Traum vor.

Sie verabredeten sich für den Nachmittag, um zusammen spazieren zu gehen. Jan war mit seinem Vater zu Besuch bei seiner Tante, die ihren sechzigsten Geburtstag feierte, und übermorgen schon würde er aber wieder nach Berlin zurückfahren.

Nachdem Jan das alles erzählt hatte, eröffnete er Hannes, dass sie sich nicht zufällig getroffen hätten, sondern dass er ihn abgepasst hatte.

"Du bist der einzige aus der Klasse, der mich wirklich noch interessiert", sagte er und Hannes war ziemlich überrascht, so etwas zu hören.

"Wirklich?", fragte er, "Was ist denn an mir so interessant?"

"Du bist einfach anders; du machst einfach dein eigenes Ding, das hat mich schon früher beeindruckt."

"Ich soll dich beeindruckt haben? Du machst Witze. Es war ja eher so, dass du alle anderen beeindruckt hast; gleich schon als du das erste Mal in die Klasse kamst. Erinnerst du dich, wie die Lehrerin sagte, dass du deine Mütze im Unterricht absetzen solltest?"

Jan lachte und fragte dann unvermittelt,

"Ich darf dich doch Hannes nennen? Ich erinnere mich, dass du es früher nicht so mochtest"

Hannes antwortete, "Nein, darfst du nicht" und lachte.

"Wie dann?", fragte Jan, "Jo-hannes?"

"Hör auf mit dem Unsinn; ich heiße Hannes, das ist ok."

"Ja, Hannes finde ich auch wirklich ok", sagte Jan und Hannes antwortete,

"Naja, geht so. Ich habe mich halt damit abgefunden."

"Wie würdest du denn sonst gerne heißen?", fragte Jan und ohne nachzudenken sagte Hannes, "Jan."

"Jan?"

"Ist mir gerade so eingefallen."

"Warum nicht; wenn du willst, heißt du für mich Jan. Jan und Jan, das hat doch was"

Jan lachte.

"Jan ist auch eine Abkürzung für Johannes", sagte Hannes, "aber nenn mich trotzdem einfach Hannes; alle nennen mich so, ich habe mich wirklich daran gewöhnt."

Doch Jan bestand auf "Jan".

Hannes war überrascht, wie vertraut und freundschaftlich diese Begegnung war; Jan hatte es wohl doch ernst gemeint mit der Freundschaft, damals.

Jan sagte nach einer Weile, er müsse wieder gehen und fragte dann, "Sehen wir uns wieder?"

"Ja, ich würde dich gerne wiedersehen", sagte Hannes.

"Ich geb’ dir meine Telefonnummer, ruf mich morgen einfach an, wenn du Lust hast."

Jan holte einen Zettel und einen Kugelschreiber aus seiner Jackentasche. Er schrieb "Jan" und eine Telefonnummer drauf und gab den Zettel Hannes.

"Ich schreib dir meine Nummer auch auf", sagte dann Hannes, nahm Jans Stift und riss ein Stück von dem Zettel ab, den Jan ihm gegeben hatte. Er schrieb seine Telefonnummer darauf und dann "Hannes"; nach kurzem Zögern strich er den Namen durch und schrieb "Jan" auf den Zettel. Jan lachte, als er den Zettel nahm.

Hannes ging sofort in sein Zimmer, nachdem er nach Hause kam. Er konnte an nichts anderes mehr denken als an Jan. Seine Armbänder, die zerrissenen Klamotten, das Hundehalsband, Hannes war mehr als fasziniert. Den Parka trug Jan nicht; dafür eine Bomberjacke und - wie immer - zwei T-Shirts übereinander.

Als Hannes abends im Bett lag und immer noch an Jan dachte, war er auf einmal verwundert und beunruhigt über die Erregung, die die Gedanken an Jan in ihm auslösten, und über dieses heftige Bedürfnis, in Jans Nähe zu sein, das er spürte.

Er dachte daran, dass bei ihm das alles scheinbar vollkommen anders funktioniert als bei den anderen; Freundschaften, Zuneigungen, Sex, nichts schien bei ihm auch nur ansatzweise normal zu sein. Er fragte sich, ob Jan sein Anderssein akzeptieren würde und ob er vielleicht auch so jemand ist, bei dem alles anders funktioniert.

Hannes lag noch lange wach und dachte über solche Fragen nach; Jans überraschendes Auftauchen hatte ihn völlig aufgewühlt.

Am nächsten Morgen war das Bett, wie häufig, völlig zerwühlt und nassgeschwitzt und Hannes hatte Kopfschmerzen. Der Unterricht verging wie im Halbschlaf; Hannes saß immer noch alleine an einem Tisch und träumte von einem starken, blondgefärbten Jungen mit Armbändern und zwei zerrissenen T-Shirts an, der die Klassentür öffnete und sich neben ihn an den Tisch setzte.

Als er wieder zu Hause war, fühlte er sich sehr munter; der Gedanke, jetzt gleich Jan anzurufen, versetzte ihn in helle Aufregung.

Als sich am Telefon eine Frau, wohl Jans Tante, meldete, brachte Hannes nur ein Stammeln heraus; er war unglaublich aufgeregt. Als sich dann schließlich Jan meldete, sagte Hannes "Jan?" und fing wieder an zu stottern.

"Hannes, ich habe gerade überlegt, ob du wohl schon zu Hause bist und ich dich anrufen kann. Hast du Zeit heute?"

Hannes war froh, dass er nur "Ja" sagen brauchte und Jan auch das restliche Gespräch übernahm. Sie verabredeten sich an der Schule. Es war ein sehr warmer Tag und Hannes beschloss, sich eine kurze Hose anzuziehen.

Jan war wie gestern mit einer völlig zerrissenen Jeans und zwei löchrigen T-Shirts bekleidet, nur ohne die Bomberjacke.

"Du hast mich Hannes genannt vorhin am Telefon", begrüßte ihn Hannes,

"Oh, Entschuldigung. Jan. Ich muss mich daran auch erst noch gewöhnen."

Sie gingen dann in den nahegelegenen Wald spazieren und erzählten sich, wie sie so lebten: Jan erzählte erstaunliche Geschichten aus Berlin und Hannes davon, dass er viel alleine war, wie ihn die Schule anödete und auch von seinen Schlafproblemen. Hannes fühlte sich ganz und gar nicht wohl in seiner Haut, warum sollte er dann auch etwas anderes erzählen. Plötzlich wurde Jans Tonfall ernst, als er sagte:

"Da ist noch was, was ich dir erzählen möchte. Ich bin mir aber unsicher, wie du darauf reagieren wirst."

Er zögerte und Hannes war ganz gespannt auf das, was er ihm jetzt wohl eröffnen würde.

"Ich bin schwul", sagte Jan, ohne es weiter zu erläutern.

Hannes war verwirrt, was wollte Jan damit sagen?

"Wie meinst du das?", fragte er.

"Naja, ich stehe auf Jungs; ich finde eben Jungs erotisch anziehend, nicht Mädchen"

Hannes war verwirrt; was meinte er mit "erotisch anziehend", meinte er etwa jene Erregung, die auch er verspürte, wenn er an Jan dachte?

"Du meinst, es erregt dich, wenn du an Jungs denkst?"

Jan schaute ihn verblüfft an, "Du weißt doch was schwul bedeutet, oder nicht?"

Hannes fühlte sich ertappt und beeilte sich zu sagen, dass er es natürlich wusste.

"Um genau zu sein", setzte Jan mit einem Grinsen fort, "erregt es mich, wenn ich an dich denke."

Hannes blieb stehen; er war wie gelähmt und starrte regungslos die Bäume an. Er dachte an gestern Abend, an die Gefühle, die in ihm aufkamen, als er an Jan dachte, an seine Sehnsucht, Jan wiederzusehen.

"Habe ich was Falsches gesagt?", weckte ihn Jan wieder aus seinen Gedanken.

"Nein, nein", stotterte Hannes, "Es ist nur so: Ich bin auch erregt, wenn ich an dich denke."

"Das meinst du jetzt nicht ernst", sagte Jan verdutzt, "Das kann ich dir jetzt nicht abnehmen."

Hannes war inzwischen richtig verwirrt und stammelte, "Ich weiß nicht."

"Da vorne ist eine Lichtung; lass' uns dort in die Sonne setzen", sagte Jan und löste die Situation damit erst einmal auf.

Jan setzte sich gleich auf den Boden; Hannes zögerte noch einen Moment und entschloss sich dann, sich so dicht neben Jan zu setzen, dass er ihn berührte. Jan legte seinen Arm um ihn; das fühlte sich richtig gut an, fühlte sich geborgen an.

Hannes dachte an Len, ob es möglich war, dass auch Len schwul war und es das war, was sie miteinander verband, Len, Jan und auch ihn? Vielleicht war das tatsächlich das ganze Geheimnis: Hannes war auch schwul, genau so wie Len und wie Jan.

"Meintest du das wirklich ernst eben? Bist du auch schwul?"

Hannes nickte, warum nicht?

"Weißt du das schon länger?"

"Seit gerade eben."

Jan lachte laut auf, "Du bist ja wirklich ein eigenartiger Typ, weißt du das?"

Hannes spürte, dass er jetzt etwas erklären musste; er wollte schließlich nicht wieder als Idiot dastehen.

Er erzählte, wie er Jan bewundert hatte, als er in seine Klasse kam, und wie er von ihm fasziniert war und ihn mochte, obwohl er auch ab und zu blöde Bemerkungen über ihn fallen ließ. Dann erzählte er von gestern, dass er den ganzen Tag an ihn denken musste, und auch von dieser Erregung, die er am Abend spürte, und seiner Sehnsucht, ihn wiederzusehen.

"Du hast aber noch nie mit einem Jungen geschlafen, oder?", fragte Jan.

"Geschlafen?" Hannes wusste nicht genau, worauf Jan hinaus wollte.

"Ja, geschlafen. Oder hattest du schon einmal Sex mit jemandem?"

"Was meinst du damit, Sex?"

Jan schaute ihn fragend an und Hannes befürchtete, Jan glaubte ihm nicht, dass er schwul wäre.

Daher wartete er erst keine Antwort auf die Frage ab, sondern erzählte gleich von Kay, dass er mit Kay auch erregende Erlebnisse hatte.

"Erregende Erlebnisse", wiederholte Jan mit einem Grinsen, "Das klingt ja spannend."

Hannes dachte immer noch darüber nach, was Jan wohl genau meinte, wenn er von "Sex" sprach. Um Kinderkriegen wie im Sexualkundeunterricht ging es bestimmt nicht; dann wohl eher um jene unheimlichen und oft auch zugleich angenehmen, erregenden Gefühle, die in den eigentümlichsten Situationen seinen Körper durchfluteten. Die ihn durchfluteten, wenn er an Len mit seinem Parka dachte oder an Jan oder wenn er selbst die Fellkapuze auf seinem Kopf spürte.

Oder auch dann immer, als Kay ihn gefesselt hatte oder sich selbst fesselte. Ob Jan ihn wohl auch fesseln würde, wenn er ihm erzählte, dass ihn das erregen würde, kam Hannes in den Sinn, doch solche Gedanken gingen ihm doch zu weit. Er mochte eigentlich weder von Jan noch von überhaupt jemand anderem wieder gefesselt werden.

Jan hakte nach, "Darf ich fragen, was das für Erlebnisse waren?"

"Naja", Hannes zögerte einen Moment, "er hat mich manchmal festgebunden."

"Wie, festgebunden?"

"Naja, gefesselt halt, die Hände auf den Rücken zum Beispiel."

"Ich meine, wieso hat er das gemacht; wolltest du das?"

Hannes war von Jans Reaktion etwas überrascht und rang vergeblich um eine Antwort.

Doch bevor er etwas sagen konnte, sagte Jan, "Entschuldigung. Ich wollte dich jetzt nicht in Verlegenheit bringen. Ich bin manchmal vielleicht ein bisschen zu neugierig."

Er setzte sich dicht hinter Hannes, der sich an ihn lehnte und seinen Kopf nach hinten auf Jans Schulter legte. Was für ein tolles Gefühl, dachte Hannes. Jan umarmte ihn und presste dabei seine Arme dicht an seinen Körper.

Hannes wurde von einem wohligen, prickelnden Schauern in seinem Körper erfüllt, war davon völlig eingenommen, so sehr, dass er kaum noch spürte wie sich Jans Backe an seine schmiegte. Er schloss die Augen und gab sich ganz diesen warmen angenehmen Gefühlen hin, die ihn durchfluteten.

Ihm kam das alles sehr unwirklich vor; dass er Jan wieder getroffen hatte, dass Jan ihm dieses Geständnis machte, dass er in ihm solche unvorstellbar schönen Gefühle auslöste.

Eigenartiger Weise beängstigte diese ihn Situation kaum, eigentlich gar nicht. Das einzige, was er befürchtete, war, dass er aufwachen würde und feststellen müsste, dass es doch nur ein Traum war.

"Ich muss dir noch etwas gestehen", sagte ihm Jan leise ins Ohr.

Er ließ Hannes los und begann, über seine Arme zu streichen.

"Es war nicht ganz zufällig, dass wir uns gestern getroffen haben. Ich bin schon ein paar Tage hier bei meiner Tante. Vor ein paar Tagen hatte ich mir überlegt, mal zu sehen, wen ich denn von meinen alten Klassenkameraden wiedererkenne, und ging zur Schule, morgens als ihr alle gekommen seid. Ich hatte aber keine Lust euch zu treffen, ich wollte euch nur einfach mal sehen, so von weitem.

Dann habe ich dich kommen gesehen, wie früher in deinem Parka, und dachte, ja der Hannes, den habe ich ja schon fast wieder vergessen. Dieser eigenartige, bildhübsche Junge, neben dem ich gesessen bin."

Hannes wurde hellhörig; konnte es sein, dass Jan damals schon solche Gefühle für ihn hatte?

"Irgendwie hast du mir von Anfang an gefallen; ich fand dich einfach schön", setzte Jan fort, "Aber an dem Tag, als du mir hinterher gelaufen bist - erinnerst du dich? - da war ich hin und weg, wirklich. Blöderweise ging ich ja kurz danach wieder zurück nach Berlin und hatte ich mich nicht getraut, dir zu sagen, dass ich dich mochte."

"Len - Jan" klang es in Hannes' Kopf.

Jan legte seine Arme wieder um ihn und flüsterte ihm ins Ohr, "Jan".

"Len - Jan" "Jan - Jan".

"Lass uns gehen; es ist schon ziemlich spät, glaube ich."

Hannes fühlte sich, wie aus einem Traum aufgeweckt; es kam ihm vor, als wäre die Zeit stehen geblieben. Jan stützte sich auf seine Schultern und stand auf.

"Ich würde dich ja gerne zu mir einladen; du weißt ja, ich fahre morgen früh wieder nach Berlin", sagte Jan, "Aber bei meiner Tante geht das nicht; das verkraftet sie bestimmt nicht, wenn ich Besuch mitbringe. Ich glaube, ich bin auch alleine für sie eine ziemliche Belastung."

Hannes wollte auf jeden Fall noch den Abend mit Jan verbringen. Eigentlich mochte er sich überhaupt nicht mehr von ihm trennen; nie mehr.

"Wir können zu mir gehen", schlug er vor, "Meine Eltern haben bestimmt nichts dagegen; im Gegenteil, sie sagen ja immer, ich soll doch mal Freunde mit nach Hause bringen. Und jetzt habe ich ja einen Freund, den ich mitbringen kann."

Sie hatten noch einen langen Weg zurück ins Dorf. Jan erzählte von seinem Coming-out, dass der Auslöser dafür unter anderem auch der war, dass er sich nicht getraut hatte, Hannes zu sagen, wie attraktiv er ihn fand - vor über drei Jahren.

"Als ich wieder in Berlin war, ist mir erst deutlich geworden, wie sehr du mir gefallen hast. So ist mir klar geworden, dass ich schwul bin", sagte er.

Er erzählte auch, dass er in Berlin mit seinen Klassenkameraden überhaupt nichts anfangen konnte. Stattdessen war er oft bei den Punks, die waren ganz anders und nicht so blöd.

"In der Stadt geht das, da hat man viele Möglichkeiten, Leute zu finden, die in Ordnung sind, aber hier auf dem Land, das ist doch völlig beschissen"

Hannes fand diesen Gedanken ziemlich faszinierend. Gab es in Berlin vielleicht auch Jungs, die - wie er - Kapuzen mochten und die man einfach treffen konnte? Über solche Möglichkeiten hatte er noch nie nachgedacht.

"Sind die Punks auch schwul?" Hannes wusste nicht, wieso ihm diese Frage in den Sinn kam.

"Schön wär's ja", lachte Jan.

Hannes war fasziniert von Jans zerrissenen Klamotten, der zerrissenen Jeans, den beiden T-Shirts; noch mehr gefielen im die Armbänder und vor allen Dingen das Hundehalsband.

Jans offensichtliche Gleichgültigkeit darüber, wie andere über ihn dachten, fand Hannes bewundernswert. Er dachte, vielleicht ist das das Geheimnis von Jans Stärke. Je mehr er über alles das nachdachte, desto deutlicher tauchte vor ihm die Frage auf, was es denn mit diesem "Coming-out" auf sich hatte.

Er hatte jetzt gelernt, dass er schwul war; aber es war ihm eigentlich auch schon immer klar, dass ihn Jungs faszinierten, vor allen Dingen, wenn sie Jacken mit Kapuzen trugen, vor allem Parkas, oder wenn sie ihn festhielten oder gar fesselten.

Dass er sich überhaupt nicht für Mädchen interessierte, war ihm auch schon vor langer Zeit aufgefallen. Dass es dafür ein Wort gab, "schwul", das war ihm allerdings neu; wozu aber dieses "Coming-out"?

Jan fühlte sich hinterher offenbar besser und hatte vor allen Dingen dadurch den Mut, Hannes zu sagen, was er für ihn empfand.

"War das jetzt schon mein Coming-out?", fragte Hannes.

"Dein Coming-out? Ich habe ja noch nicht einmal den Eindruck, dass du dir wirklich sicher bist, schwul zu sein; es kommt mir eher so vor, als wüsstest du gar nicht so genau, was das heißt."

"Wie meinst du das?"

Das fragte Hannes immer, wenn er etwas überhaupt nicht verstand und auch nicht wusste, was er dazu passendes sagen könnte.

Da standen sie schon vor dem Haus, in dem Hannes und seine Eltern wohnten.

"Gehen wir erstmal rein", sagte Jan und Hannes holte den Haustürschlüssel aus der Tasche.

Seine Mutter war gerade dabei, das Abendessen vorzubereiten und lud auch Jan gleich ein, mitzuessen. Mit seiner weltläufigen und witzigen Art schien Jan bei Hannes' Eltern gut anzukommen. Sie unterhielten sich auf jeden Fall sehr rege miteinander, während Hannes darüber nachdachte, was Jan wohl mit dem gemeint hatte, was er über ihn und sein Coming-out sagte. Nach dem Abendessen gingen sie in Hannes' Zimmer.

Jan setzte sich auf Hannes' Bett und Jan setzte sich neben ihn.

"Die sind echt in Ordnung, deine Eltern."

Hannes war aber an etwas anderem interessiert: "Du hast da doch vorhin etwas gesagt, wegen meinem Coming-out; wie meintest du das?"

Jan schaute ihn mit ernstem Blick an, "Darf ich ehrlich sein?"

Hannes war sich unsicher, ob er ja sagen sollte, aber Jan wartete eine Antwort gar nicht erst ab.

"Du bist ein bildhübscher, aber etwas verschrobener Typ und ich glaube, dass du hier, in diesem Kaff, verdammt einsam bist."

Hannes schaute ihn mit großen Augen an; ja, so konnte man es auch sehen.

"Da kommt dann jemand wie ich, der dich wirklich mag, und - schwupp - bist du schwul", er schnippte mit den Fingern.

"Das glaube ich nicht so richtig, es wäre dann doch zu einfach. Sei mir nicht böse."

Hannes schwieg; und wenn es so ist, was soll daran verkehrt sein?

Jan legte seinen Arm um ihn, "Ich mag dich ja trotzdem. Nicht nur weil du so gut aussiehst, ich mag dich auch, ja, weil du eben anders bist."

Hannes hasste es, anders zu sein. Immer war es bei ihm anders, jetzt ist auch sein Schwulsein anders und sein Coming-out.

"Ich will aber gar nicht anders sein. Ich will sein wie", Hannes musste einen Moment nachdenken, "wie du will ich sein."

Jan lachte, "Glaubst du, dass ich nicht anders bin, schau mich doch an, sehe ich aus, wie alle aussehen?"

Das war ein berechtigter Einwand; Jan mit seinen zwei T-Shirts, seinen Armbändern und dem Hundehalsband sah wirklich nicht wie alle aus.

Hannes begann zu verstehen, worauf er hinaus wollte: Menschen, die anders sind, ziehen sich gegenseitig an und Menschen, die nicht anders sind, wohl auch; das klang plausibel.

Er dachte dabei auch an Len: Len war anders, weil er einen Parka hatte mit Fellkapuze und die Kapuze über seiner Mütze trug. Keiner der Jungs sonst hatte einen solchen Parka und zog sich die Kapuze über die Mütze, das wäre ihm ansonsten mit Sicherheit aufgefallen. Vielleicht hatte Len auch Ohrenschmerzen?

"Lennart Adrian", klang es in seinen Gedanken, was für ein Klang, was für ein unglaublich voller Klang. Hannes war, als wäre er kurz davor, ein großes Geheimnis zu enträtseln.

"Das Problem ist vielleicht", fuhr Jan fort, "dass die, die anders sind, alle eben anders anders sind"

Hannes gefiel dieses Wortspiel "anders anders sein"; er war nicht nur anders, sondern auch anders anders - warum nicht?

"Du meinst, ich bin anders anders als du?", versicherte er sich.

"Wahrscheinlich schon. Du bist eher schüchtern und still und ein bisschen, naja, ich sage mal verschroben, das ist jetzt nicht negativ gemeint. Und ich bin vorlaut, schwul und eben ein bisschen ausgeflippt."

"Verschroben", wiederholte Hannes.

"Ja", sagte Jan, "anders halt. Ist doch völlig in Ordnung."

Hannes beobachtete beunruhigt, wie die unterschiedlichsten Gedanken und Gefühle durch ihn strömten und sich zu einem unauflösbaren Knäuel verdichteten; es war alles in allem ein wirklich aufregender Tag.

Jan legte sich auf das Bett und streckte die Arme von sich. Hannes betrachtete ihn gebannt, wie er da lag mit ausgestreckten Armen, seinen Körper in der zerrissenen Hose und den zerrissenen T-Shirts. Er konnte seine Blicke nicht mehr lösen von diesem Körper, der da auf seinem Bett lag, den Armbändern, den blondierten Haaren und - vor allem - dem Halsband.

Jan hatte die Augen geschlossen, sodass Hannes ihn hemmungslos anstarren konnte. Er ist wirklich schön, dachte Hannes und das Wort "bildschön" schoss ihm durch den Kopf. Sein Blick klebte regelrecht an Jans Hundehalsband.

Nach einer Weile sagte Jan, "Leg dich doch auch hin"

Hannes zögerte nicht lange und streckte wie Jan seine Arme aus. Jan drehte sich zur Seite und fasste mit seiner Hand unter Hannes' T-Shirt und streichelte ihn. Zuerst den Bauch, dann die Brust; Hannes zuckte jedes Mal leicht, wenn Jans Hand über seine Brustwarzen fuhr.

Es fühlte sich ansonsten aber sehr angenehm an, von Jan gestreichelt zu werden. Hannes fühlte sich wie elektrisiert und schloss die Augen, um die Gefühle zu genießen, die Jans Berührungen in ihm auslösten. Nach einer Weile begann Jan, Hannes' Beine zu streicheln,

"Das gefällt mir wirklich gut, mit der kurzen Hose."

Als er seine Hand in ein Hosenbein zwängte, fuhr es Hannes wie ein Stromschlag durch den Körper und er zuckte heftig zusammen.

Jan zog die Hand zurück und fragte, "Was war denn das?"

"Es hat gekitzelt"

Hannes war etwas erschrocken über diese heftige Reaktion seines Körpers.

"Kitzeln will ich dich ja nicht", sagte Jan und legte seine Hand auf Hannes' Bauch.

Hannes versank mehr und mehr in einem chaotischen Strom unterschiedlichster Gefühle und Gedanken. Er bebte innerlich und fühlte sich zunehmend wie gelähmt.

"Was hältst du davon, wenn ich bei dir übernachte?", fragte Jan.

Hannes erschrak, er wusste nicht, wie er das Gefühlschaos in ihm noch bändigen sollte und wollte sich am liebsten unter seiner Bettdecke verkriechen.

Er wusste nicht, was er sagen sollte, und nach einer Weile fragte ihn Jan, "Ist dir nicht gut?"

Er versuchte etwas zu sagen, brachte aber nichts heraus.

"War wohl alles ein bisschen viel für dich", Hannes nickte.

Kurze Zeit später hatte er sich wieder ein wenig gefasst und sagte, "Du kannst hier übernachten, aber ich will jetzt gleich schlafen, ich bin völlig fertig."

Jan sagte, er sei auch müde und fing gleich an, sich auszuziehen.

Schließlich lag er nackt neben Hannes und fragte, "Du schläfst in Klamotten?"

Hannes zog sich auch die Hose und das T-Shirt aus und nach kurzem Zögern auch die Unterhose. Er schlüpfte dann sofort unter die Bettdecke, wobei er Jan den Rücken zudrehte. Jan schob sich auch darunter und schmiegte sich eng an Hannes.

"Schlaf gut", flüsterte er ihm ins Ohr.

Hannes studierte Jans Körper ausgiebig, den er an seinen Körper geschmiegt spürte; er lag noch nie nackt mit einem anderen Jungen unter einer Bettdecke.

In Gedanken sah er Jans nackten Körper; es war ein unwirkliches, erhebendes Gefühl, ihn zu spüren, Jans Stärke zu spüren, die jetzt in ihn strömte; Jan.

Als nach einer Weile Jan seinen Arm um Hannes' Bauch und Arm legte und dabei seinen Arm eng an den Körper drückte, gewann wieder das warme, angenehme Fluten Oberhand in seinen Gefühlsregungen.

In Gedanken hörte er Jans Stimme, "Jan", und drehte sich um. Jan kam ihm entgegen und trug seinen Parka, die Kapuze auf seinem Kopf und seine schwarze Mütze darunter.

Kurze Zeit später schlief Hannes schließlich ein. Als er am nächsten Morgen aufwachte, war er alleine im Bett; Jan war schon gegangen. Neben dem Bett fand er einen Zettel, auf dem stand, "Bis bald, Jan" und eine Telefonnummer mit Berliner Vorwahl.

Jan musste sehr früh gegangen sein; Hannes' Eltern hatten es jedenfalls nicht mitbekommen und dachten, Jan wäre am Abend schon nach Hause gegangen.

Der Unterricht ging wie ein belangloser Traum an Hannes vorbei; auch die Zeit mit Jan kam ihm vor wie ein Traum; es war, als ob sich ein Schleier des Unwirklichen über ihm ausgebreitet hätte. Seine Gedanken verdichteten sich einzig auf den Wunsch, Jan anzurufen; in Berlin.

Das tat er auch, gleich nachdem er von der Schule zurück war. Am Telefon meldete sich eine unbekannte Stimme und erklärte, dass Jan noch verreist wäre. Berlin war weit weg; für Hannes unendlich weit.

Jan sagte, dass er in nächster Zeit wahrscheinlich nicht wieder kommen würde, dass ihn Hannes aber jederzeit in Berlin besuchen konnte. Hannes dachte darüber nach und versuchte sich vorzustellen, wie er nach Berlin fuhr, wie Jans Wohnung wohl aussehen würde.

Jan lebte in einer Wohngemeinschaft, war schwul und traf sich mit Punks; er lebte in einer ganz anderen Welt als Hannes. Hannes entschied sich, gleich zu Beginn der Sommerferien zu fahren, das schien eine gute Idee zu sein.

Als gegen Abend das Telefon läutete und seine Mutter rief, "Da ist ein Jan am Telefon", war Hannes zuerst ganz aufgeregt.

Es kam ihm merkwürdig vor, Jans Stimme zu hören, die von so weit weg kam - Hannes dachte über das Wunder der Telefonie nach. Doch Jans lockere Art gab ihm sehr schnell ein Gefühl von Vertrautheit wieder.

Während er einschlief, dachte er, er fühlte sich wirklich glücklich; er fühlte Jans Stärke, die Stärke, die ihm alleine schon der Gedanke gab, jetzt einen richtigen Freund zu haben.

"Jan - Jan", klang es in seinen Gedanken; es klang gut, harmonisch, stark, wirklich stark. Und dieses Gefühl der Stärke blieb auch die nächsten Tage.

Coming-out

Seit vielen Tagen fieberte er schon diesem Ereignis entgegen, und jetzt war es soweit: Morgen würde er nach Berlin fahren. Hannes lag im Bett und dachte darüber nach, ob er auch alles eingepackt hatte, was er brauchen würde, ob Jan ihn wie versprochen vom Bahnhof abholen würde, was ihn überhaupt erwarten würde in Berlin.

Er tat die ganze Nacht kein Auge zu und stieg am nächsten Morgen völlig übermüdet in den Zug. Er hatte sich zwar gleich drei Bücher zum Lesen während der Fahrt mitgenommen, aber er träumte die ganze Fahrt über vor sich hin und las kein einziges Mal.

Sechs Wochen war es her, dass er Jan das letzte Mal gesehen hatte; jener denkwürdige Tag, als Jan sein Leben verändert hatte, dachte er, das war wirklich nicht übertrieben. Die Fahrt war sehr lang und es war später Nachmittag, als er in Berlin ankam, "Bahnhof Zoo"; er war sehr aufgeregt, als er ausstieg.

Der Bahnsteig war voll mit Menschen und er fragte sich, wie Jan und er sich jemals in dieser Menschenmenge finden sollten. Er stand eine ganze Weile verloren auf dem Bahnsteig, als er plötzlich Jans Stimme hörte, "Jan"

Er schloss die Augen und sah Jan auf sich zukommen, im Parka mit Kapuze auf.

"Jan", hörte er noch einmal, "Hannes", dann drehte er sich um.

Jan kam auf ihn zugelaufen, mit dieser zerrissenen Hose und den gleichen beiden T-Shirts wie beim letzten Mal. Diesmal trug er, anders als vor sechs Wochen, seine schwarze Mütze, obwohl es sehr warm war. Er umarmte Hannes lange und ausgiebig, der in diesem Moment von Glücksgefühlen regelrecht durchflutet wurde.

Sie fuhren mit der U-Bahn zu Jans Wohnung, was Hannes ziemlich aufregend fand. Aber er war viel zu müde und erschöpft, um die vielen Eindrücke alle aufzunehmen.

Jan wohnte mit drei anderen Mitbewohnern in einer Wohngemeinschaft; die saßen auch alle drei in der Küche, als sie ankamen.

"Das ist der Jan", stellte Jan ihn vor.

"Jan und Jan, das passt doch gut", witzelte einer der Mitbewohner.

Dann stellten sie sich der Reihe nach mit Namen vor, aber Hannes bekam das vor lauter Müdigkeit gar nicht mehr richtig mit.

"Du siehst ja ziemlich fertig aus", wandte sich einer von ihnen an Hannes.

"Er hat eine lange Reise hinter sich", sagte Jan und lachte dabei, "ich glaube, ich bring ihn besser gleich ins Bett."

Er war überhaupt sehr vergnügt, pfiff schon in der U-Bahn vor sich hin, in der Wohnung auch.

Hannes staunte, als er Jans Zimmer sah. Nicht nur weil es riesig war, sondern auch weil Jans Sachen alle auf dem Boden verstreut herumlagen. Es gab da keine Möbel, kein Tisch, keinen Stuhl, nicht einmal ein Regal. In einer Ecke stand ein Einkaufswagen voll mit Kleidungsstücken, auch die Matratze lag auf dem Boden.

Hannes war das jetzt aber alles gleichgültig; er ließ sich von Jan zur Matratze bringen und legte sich hin.

"Wir werden dir was vom Abendessen aufheben", sagte Jan und gab ihm einen Kuss auf den Mund, bevor er wieder in die Küche ging.

Hannes schlief sofort ein. Jans Pfeifen drang bis in seine Träume hindurch und gab ihm ein Gefühl von Vertrautheit und Wärme.

Als er wach wurde, weil er pinkeln musste, war es schon mitten in der Nacht: Jan lag nackt neben ihm und schlief; für eine Bettdecke war es zu warm. Er selbst war noch angezogen; bis auf die Schuhe, die Jan ihm ausgezogen haben musste. Erst als er das Klo nicht fand, realisierte er, dass er in einer fremden Wohnung war; so richtig geheuer war ihm das nicht.

Nach dem Klogang stand er eine Zeit lang vor der Matratze und betrachtete Jans nackten Körper. Dabei ging ihm immer wieder dieses Wort, "bildschön", durch den Kopf.

Er zog sich dann aus - bis auf die Unterhose - und zögerte; die Frage, ob er die Unterhose ausziehen soll oder nicht, lähmte ihn regelrecht für einige Momente. Er entschied sich schließlich, sie auszuziehen, und legte sich dann hinter Jan.

Eine ganze Weile betrachtete er Jans Rücken und seinen Kopf, während er hinter ihm lag; dann erst fiel ihm auf, dass Jan seine Haare ganz kurz geschoren hatte. Er strich mit der Hand über Jans geschorenen Kopf; es fühlte sich richtig aufregend an.

Als er sich dann an Jan herankuschelte, war er sehr glücklich über seine Entscheidung, ohne Unterhose zu schlafen.

Ein Schauer nach dem anderen jagte Hannes durch den Körper, als ihm Jan mit einem Schergerät die Haare abrasierte. Nachdem Jan damit fertig war, duschte er sich die losen Haare vom Körper.

Als er aus der Dusche kam, hatte Jan seinen Parka an und sagte, "Los beeil dich"

Hannes zog sich schnell an, schlüpfte in seinen Parka und zog den Reißverschluss hoch. Jan zog sich die Kapuze über seine kurz geschorenen Haare und griff dann zu seiner Kapuze und zog sie ihm auf. Es war unbeschreiblich, was er fühlte, als die Fellkapuze über seine frisch geschorenen Haare glitt.

"Hey, guten Morgen", Hannes erschrak kurz und öffnete die Augen. Er sah direkt in Jans Gesicht, direkt in seine Augen, und er sah, wie seine Hand über Jans Kopf strich.

"Fühlt sich Klasse an", sagte Jan, "Ich bin noch nie so schön geweckt worden"

Er legte dann seinen Arm um Hannes, drückte ihn an sich heran und gab ihm einen sanften Kuss auf den Mund. Hannes war etwas verwirrt über den Traum, den er hatte, genoss aber dennoch, Jans Körper so dicht an seinem zu spüren und seine kurzgeschorenen Haare mit seiner Handfläche.

"Hast du Lust auf Sex?", flüsterte Jan plötzlich und schreckte Hannes aus seinen Träumen auf.

"Wie meinst du das?"

"War 'ne blöde Idee, ich weiß", wiegelte Jan ab, "Ich koche uns lieber einen Kaffee."

Bevor er aufstand, strich er mit seiner Hand durch Hannes' Haare, "Du bist wirklich ein unglaublich hübscher Junge."

"Ich finde dich auch", Hannes zögerte einen Moment und sagte dann, "bildschön."

Jan lachte und wiederholte, "bildschön…"

Er gab ihm wieder einen Kuss auf den Mund und hielt dabei Hannes' Kopf mit seiner Hand; diesmal küsste er ihn länger und befühlte ausgiebig Hannes' Lippen mit der Zunge.

Gebannt registrierte Hannes die Bewegungen der Zunge aufs Genaueste.

"Bildschön", flüsterte Jan, stand auf und ging nackt in die Küche. Nach einer Weile kam er mit zwei Tassen Kaffee wieder.

Es war sehr heiß in der Zeit, als Hannes in Berlin war. Sie gingen jeden Tag an einen Badesee, der nicht gar so überfüllt war. Abends liefen sie durch die Stadt und Jan zeigte ihm die vielen und spannenden Seiten der Großstadt. Hannes war begeistert: hier schien es wirklich alles zu geben; er konnte gut verstehen, dass Jan gerne in Berlin lebte.

Die Tage vergingen wie im Flug, abends fielen sie müde ins Bett, schliefen aneinander gekuschelt, träumten voneinander. Hannes war überwältigt davon, wie schön es war, mit Jan zusammen zu sein, wie entspannt und aufregend zugleich, und das Tag und Nacht.

Es muss am dritten Tag gewesen sein, den Anreisetag nicht mitgerechnet, als Jan vorschlug, zu einem anderen Badesee zu fahren. Hannes hatte nichts dagegen einzuwenden.

"Kevin kommt auch mit."

Kevin war einer von Jans Mitbewohnern.

"Nur, wenn ich die beiden Jans nicht störe in ihrer Zweisamkeit", rief er von draußen.

"Kevin ist übrigens auch schwul", sagte Jan plötzlich, als sie in der S-Bahn saßen.

Hannes fragte sich, was das genau heißen soll, und war ein bisschen beunruhigt, dass dieses Thema wieder aufkam.

"Du hast wohl noch nicht viele Schwule gesehen?", fragte Kevin und Hannes erklärte,

"Ich wohne auf dem Land."

Jan eröffnete Hannes, dass sie zu einem Badesee fuhren, an dem sich Schwule treffen würden.

Hannes war auf eine solche Konfrontation überhaupt nicht vorbereitet und fühlte sich überrumpelt. Er sagte aber nichts und überlegte sich, wie er dieser Situation am Besten entkommen konnte.

Es gab aber kein Entrinnen und schließlich erreichten sie eine Badewiese an einem See auf dem nur Männer zu sehen waren, fast alle nackt. Hannes fühlte sich ziemlich unbehaglich, als sie ankamen, noch viel mehr, als er den Eindruck hatte, dass alle Blicke auf ihn und Jan gerichtet waren.

Er legte seinen Arm um Jans Hüfte, um deutlich zu machen, dass er bereits einen Freund hatte. Jan hatte sich schnell für einen Platz entschieden, legte das große Handtuch auf den Boden und zog sich aus.

Kevin zog sich auch aus und nach der Aufforderung, "Das hier ist ein FKK Strand", Hannes auch. Die Unterhose wollte er aber nicht ausziehen, was Jan mit der Bemerkung kommentierte, "Hier kann dir wirklich nichts passieren."

Als Kevin daraufhin sagte, "Du, dein Jan ist wohl noch ein bisschen verklemmt", war Hannes richtig ärgerlich.

"Verschroben, verklemmt", ging es ihm immer wieder durch den Kopf, und nach kurzem Zögern sagte er schließlich, "Ich will wieder gehen."

"Das war doch nicht böse gemeint. Manchmal rede ich halt dummes Zeug", versuchte Kevin zu beschwichtigen, aber es half nichts.

Jan zuckte mit den Achseln und packte die Sachen wieder zusammen; Kevin zog es vor zu bleiben. Als sie gingen, legte Jan seinen Arm um Hannes' Hüfte. Hannes fühlte sich ziemlich schlecht, vor allen Dingen wütend und auch verzweifelt über sich selbst, dass es ihm nicht möglich war, die Unterhose auszuziehen, dass er Jan vor den Kopf stieß und dass überhaupt wieder einmal nichts zu passen schien.

Sie fuhren wieder zu Jans Wohnung zurück, wo sich Hannes gleich auf die Matratze legte und seine Tränen nicht mehr zurückhalten konnte; das mit dem Coming-out hatte er wohl wieder gründlich verpatzt, dachte er und schämte sich auch dafür. Jan saß neben ihm auf der Matratze und streichelte sanft seinen Rücken.

"Vielleicht bin ich gar nicht schwul", wimmerte Hannes und fing dann richtig an zu weinen.

Es war ihm ziemlich peinlich, sich vor Jan so eine Blöße zu geben; doch Jan sagte nichts, sondern streichelte ihn weiter, was ihm ein angenehm beruhigendes Gefühl gab.

"Das ist manchmal nicht so einfach, schwul zu sein", sagte Jan nach einer Weile in einem sehr sanften, beruhigenden Ton.

Hannes hatte sich inzwischen gefasst und genoss es einfach, von Jan gestreichelt zu werden.

"Ich muss dir noch etwas sagen", setzte er nach einer Pause fort, "Ich habe den Wunsch, wenigstens einmal mit dir zu schlafen, solange du hier bist. Und ich glaube, heute ist der richtige Tag dafür."

Hannes erstarrte; er hatte eigentlich kaum eine Vorstellung davon, wie das mit dem Sex funktionieren sollte, aber er war sich sicher, er würde daran genauso kläglich scheitern wie an seinem Coming-out.

"Ich bin auch vorsichtig; da passiert nichts, was du nicht auch willst, da kannst du sicher sein."

Hannes versuchte, sich von dem sanften Streicheln und Jans sanfter Stimme beruhigen zu lassen.

"Jan hat nichts Böses im Sinn und er wird dir auch bestimmt nicht weh tun", sagte er sich in Gedanken.

Er war ein wenig überrascht, dass ihm ausgerechnet jetzt die Situation in den Sinn kam, als ihm im Kindergarten die Arme festgebunden wurde und er mit Erleichterung feststellte, dass es nicht weh tat, sondern im Gegenteil sich als angenehm herausstellte, festgebunden zu sein. Vielleicht verhielt sich das mit dem Sex genauso und es stellte sich am Ende als genauso einfach heraus.

"Jetzt gleich?", fragte er.

"Wenn du magst, gerne."

Hannes fand Gefallen daran, von Jan zärtlich gestreichelt und geküsst zu werden; es war ein schönes, erhebendes Gefühl, von einem starken und zärtlichen Jungen wie Jan so ausgiebig berührt und gestreichelt zu werden. Dass Hannes jedes Mal zucken musste, wenn Jan seine Leisten berührte, minderte seinen Genuss nur wenig.

Doch dann hörte Jan damit auf und starrte auf Hannes ohne etwas zu sagen.

Dann sagte er, "Ist ein bisschen eintönig so, findest du nicht?"

Hannes war ein wenig überrascht von Jans Reaktion.

"Ich meine, zum Sex gehören schließlich mindestens zwei", deutete er weiter an und erklärte, dass er ihn als viel zu passiv empfand und das ständige Zucken wohl auch ziemlich befremdlich fand.

Es war offensichtlich, dass Jan Bedürfnisse gegenüber Hannes verspürte, die er ihm nicht angemessen erwidern konnte. Obwohl Jan abwiegelte und Hannes beschwichtigte, dass das ja alles nicht so wichtig sei, war Hannes' Verzweiflung grenzenlos.

Immerhin konnte er sich zusammenreißen und brach nicht noch einmal in Tränen aus. Sie blieben den restlichen Tag in der Wohnung. Hannes lag die ganze Zeit auf der Matratze und fühlte sich krank, während Jan ihn liebevoll umsorgte.

Er liebte es, wenn Jan ihn mit "Jan" ansprach, und das tat er an diesem Tag sehr oft.

Die folgenden Tage gingen sie wieder an den gewohnten Badesee, ließen sich von den vielen Eindrücken der Stadt berauschen - zumindest Hannes - und kuschelten sich abends erschöpft unter Jans Bettdecke.

Auch dass Hannes Jan morgens weckte, indem er ihm über die geschorenen Haare strich, wurde zur Gewohnheit. Nach einer Woche fuhr Hannes wieder zurück. Er konnte nicht länger bleiben, weil er mit seinen Eltern wegfuhr, ans Mittelmeer.

Den Urlaub am Mittelmeer konnte er allerdings kaum noch genießen; die Sehnsucht nach Jan, die er verspürte, war unerträglich. Während des Urlaubs wurde ihm bewusst, dass ein neues Wort in sein Leben gekommen war: Liebe.

Er liebte Jan; und Jan liebte ihn.

Jan hatte das zwar nie gesagt, aber er war so zärtlich, so liebevoll zu ihm, und nannte ihn außerdem "Jan", "Jan - Jan". Warum sonst sollte er das tun, wenn er ihn nicht liebte?

Hannes lies diese Frage nicht los und kaum, dass sie wieder zu Hause waren, ging er zum Telefon, um Jan anzurufen.

"Jan, hallo, wie war dein Urlaub?", klang es vertraut aus dem Telefon.

Hannes brannte es aber unter den Nägeln und er fragte sofort, "Jan, liebst du mich?"

Jan bejahte und sagte, dass er oft an ihn gedacht hatte.

Hannes erklärte ihm, dass er im Urlaub bemerkt habe, dass er ihn lieben würde, und bekräftigte dabei, "wirklich lieben".

Jan war ein wenig verdutzt und wusste nicht so richtig, was er sagen sollte. Er sagte dann, dass er Hannes am liebsten gleich heute wieder sehen wollte. Doch das war erst in den Herbstferien möglich, wenn Hannes wieder nach Berlin fahren konnte.

Jan konnte endgültig nicht mehr zu Hannes fahren, denn seine Tante war in ein Pflegeheim gekommen und er hatte in dem Dorf keinen Platz mehr zum Übernachten. Bei Hannes' Eltern zu übernachten, kam nicht ernsthaft in Betracht, das hätten beide als sehr merkwürdig empfunden.

Es war der letzte Schultag vor den Herbstferien und am nächsten Tag würde Hannes nach Berlin fahren und Jan besuchen.

Es war auch der letzte Tag, etwas zu erledigen, was vorher noch unbedingt erledigt werden musste: Hannes musste seine Eltern noch mit seinem Schwulsein konfrontieren. In Berlin mochte er schließlich nicht noch einmal als "einer vom Land" auffallen. Das schob er schon seit einiger Zeit vor sich hin, da er eigenartiger Weise überhaupt nicht einschätzen konnte, wie seine Eltern wohl darauf reagieren würden. Je mehr er darüber nachdachte, desto unschlüssiger wurde er.

Beim Abendessen war es endlich soweit, "Da ist etwas, was ich euch sagen sollte: Ich bin schwul"

"Das ist nicht dein Ernst", reagierte seine Mutter sofort.

Sein Vater führte das noch aus:

"Ich glaube, du solltest überprüfen, ob du dir da wirklich sicher bist. Du bist ja noch jung und in dieser Beziehung noch überhaupt nicht erfahren."

"Ich wollte es euch lediglich mitteilen und nicht darüber diskutieren; ich habe mir genügend Gedanken darüber gemacht", antwortete Hannes und ging in sein Zimmer.

Nach einer Weile kam sein Vater zu ihm und sagte, "Es ist ja für uns kein Geheimnis: Du magst ihn sicherlich sehr, diesen Jan."

Hannes bestätigte, "Ja, er ist mein Freund."

"Er ist dir ganz bestimmt ein guter Freund; und ich finde das auch gut - damit du mich nicht missverstehst, gerade weil du bisher nur sehr selten Freunde gehabt hast. Aber, darüber solltest du nachdenken, Schwulsein hat in erster Linie etwas mit Sexualität zu tun. Alleine, dass du jetzt einen Freund hast, muss nicht zwangsläufig heißen, dass du schwul bist."

Hannes fühlte sich wie vom Blitz getroffen: Was wusste sein Vater über seine Sexualität? Er konnte sich nicht vorstellen, woher seine Eltern wissen konnten, wie es um seine Sexualität bestellt war. Vielleicht hatte sein Vater auch nur zufällig mit seiner Argumentation ins Schwarze getroffen. Hannes hielt dies allerdings für unwahrscheinlich und war sehr beunruhigt.

Immerhin hatte er sich über genau diesen Einwand schon reichlich Gedanken gemacht und glücklicher Weise eine Argumentation gefunden, die ihn überzeugend entkräftet: In seinen erotischen Phantasien ging es vielleicht nicht direkt um schwulen Sex, aber ganz bestimmt auch nicht um Mädchen.

"Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht", antwortete Hannes nach einer Weile. Daraufhin erklärte ihm sein Vater, dass er in einem liberalen Elternhaus lebte und dass, wenn es wirklich so wäre, es auch akzeptiert würde.

Als er ging fragte Hannes' Vater, "Ist Jan homosexuell?", und Hannes nickte und sagte, "schwul."

Hannes ging das Argument mit dem schwulen Sex nicht aus dem Kopf. Mit dem gleichen Argument war er allerdings auch nicht hetero, und irgendetwas musste er ja sein. Er fand es schließlich sehr angenehm, Jans Körper zu spüren, auch wenn ihm ansonsten die Vorstellung, mit irgendeinem Jungen oder gar irgendeinem Mädchen in einem Bett zu schlafen, eher unheimlich war.

Hannes war trotz dieser Irritation zufrieden mit dem Verlauf, den sein Gespräch mit seinen Eltern nahm; er war sich sicher, dass ihn das seinem Coming-out entschieden näher gebracht hatte.

Es war kurz nach fünf Uhr nachmittags, als der Zug in Berlin ankam; er hatte mehr als eine Stunde Verspätung. Hannes war sehr beunruhigt. Jan wollte ihn zwar abholen, aber er würde bestimmt nicht eine ganze Stunde auf dem Bahnsteig warten, dachte er.

Hannes zog sich seinen Parka über und sprang aus dem Zug, gleich nachdem er anhielt. Er lief den Bahnsteig mehrmals in ganzer Länge ab, konnte aber Jan nicht entdecken. Selbst, wenn er da gewesen wäre, der Bahnsteig war so voll mit Leuten, dass Hannes kaum eine Chance gehabt hätte, ihn zu finden.

Er entschied sich dann, eine Telefonzelle zu suchen, und rief bei Jan an. Am Telefon war einer seiner Mitbewohner, der sagte, "Ich dachte, er ist mit dir unterwegs."

Jan war offenbar noch nicht zurückgekehrt. Hannes ging noch einmal zum Bahnsteig; dabei fiel ihm ein, dass er den Mitbewohner ja hätte fragen können, wie er zu der Wohnung käme. Er entschied sich also, die Telefonzelle noch einmal aufzusuchen.

Plötzlich wurde er von hinten an beiden Schultern gehalten und eine Stimme flüsterte in sein Ohr,

"Jugendliche ohne Begleitung ihrer Eltern leben gefährlich an einem Ort wie diesem"; es war Jans Stimme.

Er drehte sich um und umarmte Jan voller Erleichterung.

"Ich bin so froh, dass ich dich gefunden habe."

"Ist ja auch nicht ganz einfach hier."

Jan hatte tatsächlich die ganze Zeit gewartet, "damit du mir hier nicht verloren gehst."

Er nahm Hannes' Tasche und sie gingen zur U-Bahn Haltestelle. Er trug seine schwarze Mütze und die Bomberjacke; Hannes war sehr neugierig, ob Jans Haare so kurz waren wie das letzte Mal, als er in Berlin war. Hannes' Haare waren ziemlich lang, so lang, dass sie zur Hälfte die Ohren bedeckten, was er gar nicht mochte; es war überfällig, sie wieder schneiden zu lassen.

Als sie aus der U-Bahn ausstiegen, zog sich Hannes die Kapuze darüber. Jan kündigte an, dass er vorhatte, an diesem Abend zu einem Punkkonzert zu gehen, und Hannes gerne mitnehmen würde.

Hannes dachte nur noch an Jans kurzgeschorene Haare und überlegte sich, ob er seine Idee, sich von Jan die Haare auch scheren zu lassen, wirklich umsetzen sollte. Was würden dazu wohl seine Eltern sagen und seine Klassenkameraden?

Gleich nachdem sie in Jans Wohnung ankamen, zog Hannes Jan die Mütze vom Kopf und strich ihm mit der Hand über die Haare, die tatsächlich ganz kurz geschoren waren.

"Das gefällt dir, was?", Hannes nickte und Jan antwortete, "Mir auch."

"Ich habe mir überlegt, ob du nicht mir die Haare auch scheren willst?", fragte Hannes dann vorsichtig, "Die sind viel zu lang."

"Wirklich?", fragte Jan, "Bist du sicher, dass du es willst?"

Hannes war alles andere als sicher und schwieg, da ihm keine adäquate Antwort dazu einfiel.

"Ich meine", setzte Jan nach kurzer Pause fort, "mir würde das auch gefallen, keine Frage, aber, ob kurzgeschorene Haare so deinem Typ entsprechen, da bin ich mir nicht so sicher", und fing an laut zu lachen.

"Jetzt habe ich mich wieder zum Deppen gemacht", sagte Hannes und war tatsächlich auch ein wenig beleidigt, aber Jan antwortete sofort,

"Nein, gar nicht. Entschuldige, das ist mir einfach so herausgerutscht. Ich fände das wirklich geil: Du mit geschorenen Haaren, wirklich. Wann wollen es machen?"

"Jetzt gleich?"

"Ok, dann zieh du dich mal aus und ich hole das Schergerät."

Hannes zog sich aus - bis auf die Unterhose - und folgte dann Jan ins Badezimmer. Dort stand auch schon ein Stuhl bereit, auf den er sich setzte.

Schon als Jan das Gerät anschaltete, fing es unter Hannes' Kopfhaut an zu kribbeln; ein Kribbeln, das sich über den Nacken entlang der Wirbelsäule in seinem ganzen Körper verbreitete.

Als Jan das Gerät ansetzte, wurde das Kribbeln unerträglich. Hannes zuckte immer wieder und klammerte sich mit beiden Händen am Stuhl fest. Es fühlte sich an, wie eine Überdosis erotischer Gefühle, die sich überall unter seiner Haut breit machten.

"Wenn du so zappelst, schneide ich dir noch aus Versehen ein Ohr ab", sagte Jan,

"Kannst du nicht ein bisschen ruhiger sitzen?", und nach einer kurzen Pause,

"Oder muss ich dich womöglich am Stuhl festbinden?"

Hannes war zu sehr mit dem Kribbeln beschäftigt, als dass er darauf hätte antworten können. Er mochte es gar nicht, wenn Jan sich über ihn lustig machte. Er versuchte, sich ganz darauf zu konzentrieren, ruhig zu sitzen, und schloss die Augen.

Dabei sah er sich auf dem Holzstuhl sitzen, daran festgebunden, die Hände hinter der Lehne, mit Seilen um Brust und Bauch, während Jan ihm mit dem Schergerät die Haare rasierte.

Er spürte, wie seine Haare von seinem Kopf auf die Schulter fielen und auf seinen Schoss, und auch, dass sich seine Unterhose ausbeulte, was ihn ein wenig beunruhigte.

"So, fertig", sagte Jan nach einer Weile und strich mit seiner Hand über Hannes' Kopf.

Hannes war wie elektrisiert von diesem unglaublichen Gefühl; er war so benommen von der Prozedur, dass er erst nach einer Weile bemerkte, dass Jan auf seine Unterhose sah, die immer noch ausgebeult war.

"Sieht richtig gut aus", sagte Jan nach einer Weile, "Willst du nicht duschen?"

Hannes genoss das Gefühl, das warme Wasser auf seiner Kopfhaut zu spüren; die Gefühle der Erregung schienen gar nicht mehr vergehen zu wollen.

Als er aus der Dusche in Jans Zimmer kam, war seine Unterhose immer noch ausgebeult. Jan lag nackt auf seinem Bett und grinste ihn an.

"Magst du dich noch ein bisschen zu mir aufs Bett legen? Nur zum Kuscheln."

Hannes legte sich neben Jan auf das Bett. Nach kurzem Überlegen zog er sich die Unterhose aus.

"Das hat dich ganz schön angemacht, das Haarescheren", sagte Jan und fing an, Hannes auf dem Kopf zu streicheln.

Hannes fühlte sich vor Erregung unfähig zu bewegen. Nach einer Weile fing er sich wieder ein wenig und begann, Jan zu streicheln. Jan drückte ihn ganz eng an sich und auch Hannes kuschelte sich eng an Jans Körper heran.

Er war erstaunt, wie geborgen er sich an Jans Seite fühlte und versank allmählich in seinen Gedanken. Er dachte daran, wie er zuckte, als Jan ihn scherte, und hörte dann in Gedanken Jan sagen,

"Das geht so wirklich nicht, ich muss dich festbinden."

"Nein, nicht festbinden", rief Hannes und wollte aufstehen, doch Jan drückte ihn auf den Stuhl zurück und rief seine Mitbewohner.

Die hielten ihn dann fest, während Jan ihm die Hände hinter der Stuhllehne zusammenband. Nachdem er ihn festgebunden hatte, setzte Jan das Schergerät an seinem Ohr an und schaltete es ein, um es abzuschneiden.

Hannes schreckte auf und sah, dass Jan, der neben ihm lag, ihn fragend ansah.

"Ich habe wohl schlecht geträumt", sagte er.

Jan sagte, es sei jetzt ja auch Zeit, sich für das Konzert vorzubereiten. Hannes stand auf und zog sich die Unterhose an.

Als er seine Hose anzog, sagte Jan, "Das geht nicht, eine braune Cordhose. Sei mir nicht böse, aber heute Abend ziehst du Klamotten von mir an, einverstanden?"

Hannes fand seine Hose eigentlich ganz in Ordnung, aber die Vorstellung, Sachen von Jan zu tragen, fand er ziemlich reizvoll. Jan holte eine oliv farbige Armeehose und einen schwarzen Pullover aus dem Einkaufswagen,

"Die Hose passt gut zu deinem Parka."

"Du hast noch gar nicht gesehen, wie du jetzt aussiehst", sagte Jan, nachdem sich Hannes angezogen hatte, "Du hast dich in den letzten Stunden doch ziemlich verändert, finde ich."

Hannes ging in den Flur, um sich im Spiegel zu betrachten. Im ersten Moment erschrak er ein wenig, so fremd war ihm die Vorstellung, dass dieser Junge mit kurzgeschorenen Haaren und Armeehose, den er im Spiegel sah, dass das er sein sollte. Nach einer Weile aber fand er Gefallen daran; er sah jetzt aus wie Jan - fast, die Armbänder fehlten noch und das Hundehalsband.

"Was hast du denn geträumt, vorhin?", fragte Jan.

"Ich weiß es nicht mehr genau. Das mit dem Haare Scheren, das hat mich wirklich ganz schön angemacht."

"Das war auch wirklich nicht zu übersehen", ergänzte Jan und Hannes nickte und grinste dabei.

Sie aßen dann ein paar Brote.

Bevor sie gingen, musterte sich Hannes noch einmal im Spiegel - diesmal mit Parka; ihm war, als hätte er sich spontan in sich selbst verliebt. Als er vor dem Spiegel stand, umarmte ihn Jan von hinten und flüsterte ihm ins Ohr,

"Du bist wirklich ein ganz besonders Hübscher. Überhaupt bist du ein ganz Besonderer; es ist wirklich ein unglaubliches Glück, dass ich dich kennen gelernt habe."

Hannes sagte, er müsse sich erst noch an sein neues Aussehen gewöhnen.

Nachdem sie aus dem Haus gegangen waren, zog sich Hannes die Kapuze über den Kopf; über den kurzgeschorenen Haaren fühlte sie sich unbeschreiblich gut an. Hannes befürchtete, aus dieser Dauererregung, in der er sich befand, nicht mehr herauszukommen.

Das Konzert fand im Freien statt und Hannes konnte die Kapuze die ganze Zeit über aufbehalten. Die Musik dröhnte so laut, dass er sich mit niemanden hätte unterhalten können, selbst wenn er es gewollt hätte. So konnte er sich ganz seinen Gedanken und Träumen über Haare Scheren, Kapuzen etc. hingeben.

Jan kannte viele von den Punks; das schien tatsächlich seine Clique zu sein. Da waren einige mit geschorenen Haaren, sogar auch ein paar, die Parkas trugen, aber Hannes nahm das alles kaum wahr.

Nach einigen Bieren wurde ihm ernsthaft schwindelig, und er ließ sich von Jan nach Hause führen, wo er, ohne sich auszuziehen, ins Bett fiel und einschlief.

Als er nachts aufwachte, hatte er sogar noch die Kapuze auf; und ziemliche Kopfschmerzen. Jan schnarchte - er hatte sich wenigstens noch die Jacke ausgezogen, bevor er einschlief. Hannes zog sich aus und legte sich wieder neben Jan ins Bett.

Hannes fühlte sich krank, den ganzen nächsten Tag über; dass es Jan nicht anders erging, war nur ein schwacher Trost. Ein stärkerer Trost war dann schon, dass sie beiden - bis auf kurze Unterbrechungen - den Tag zusammen im Bett verbrachten.

Hannes fühlte sich, von seinen Kopfschmerzen abgesehen, so gut, wie er sich noch nie in seinem Leben gefühlt hatte, jedenfalls nicht, dass er sich daran erinnern konnte. Er hat sich wirklich sehr verändert seit gestern Nachmittag, dachte er, nicht nur äußerlich.

"Ich bin auch richtig glücklich, dass ich dich kennen gelernt habe", sagte er Jan, der ihm als Antwort den Kopf streichelte.

Abends sahen sie sich noch ein einen Videofilm an, den Jans Mitbewohner mitgebracht hatte und legten sich früh schlafen. Als Hannes am nächsten Morgen aufwachte, hielt ihn Jan so fest an sich, dass er sich kaum bewegen konnte.

Jan wurde wach, als Hannes versuchte, sich aus seinen Griffen zu befreien, und bat ihn, liegen zu bleiben, aber Hannes musste auf Klo, legte sich jedoch anschließend wieder zu ihm ins Bett.

Nach kurzer Zeit fing Jan an, ihn zwischen den Beinen zu kraulen; Hannes gingen dabei die merkwürdigsten Dinge durch den Kopf, und er bemerkte gar nicht, dass er stocksteif wurde.

"Hey, werd wieder locker; ich tu dir doch nichts", flüsterte ihm Jan ins Ohr und streichelte ihm den Rücken, "Was ist denn das Problem?"

Hannes war verlegen; ihm fiel keine Antwort auf diese Frage ein. "Es klappt irgendwie nicht", sagte er schließlich.

"Kuscheln ist ja auch schön", sagte dann Jan; das taten sie dann auch recht ausgiebig, was Hannes auch sehr gefiel.

Allerdings beunruhigte ihn der Gedanke, dass Jan scheinbar mehr von ihm wollte; ihm war Kuscheln eindeutig nicht genug.

"Darf ich mir einen 'runterholen?", fragte Jan plötzlich. Hannes nickte nach kurzem Zögern; während Jan sich an ihm schmiegte und sich dabei einen 'runterholte, überlegte sich Hannes, was mit seinem Schwulsein nicht in Ordnung war.

Warum konnte er keinen schwulen Sex, obwohl er ganz klar und eindeutig schwul war? Hannes hatte das Gefühl, dass diese Frage auf etwas sehr Grundsätzliches verwies, ein bizarres Geheimnis, das weder er noch andere zu lösen in der Lage waren.

Tagsüber führte ihn Jan an interessante Orte in Berlin, besetzte Häuser und einen Bauwagenplatz; aber Hannes war so mit den Fragen zu seiner Sexualität, die ihn aufwühlten, beschäftigt, dass er nur wenig davon wirklich wahrnahm. Selbst das Gefühl der Kapuze auf seinem Kopf trat in den Hintergrund.

Am Abend gingen sie zu einem Treffen einer Schwulengruppe. Diese Treffen fanden wöchentlich statt und Jan ging da regelmäßig hin. Hannes fand die Vorstellung, auch mal mit anderen Schwulen als mit Jan zu reden, recht spannend und überlegte sich auch schon ein paar Fragen, die er stellen könnte.

Vor allen Dingen überlegte er sich auch Antworten, um sie auf Fragen zu geben, die dort möglicher Weise aufkamen. Vor allen Dingen das mit seinem Coming-out bei seinen Eltern wollte er erzählen; er hatte es ja noch nicht einmal Jan erzählt.

Sie kamen dort ein wenig zu spät an, sodass bereits eine Diskussion zum Thema "Schwule Sexualität und Aids" begonnen hatte. Hannes wurde schnell klar, dass in der Gruppe weithin die Meinung vertreten wurde, es sei Ausdruck eines freien Schwulseins, mit möglichst vielen Männern möglichst oft sexuelle Abenteuer zu erleben. Eine Vorstellung, die ihm ziemlich unbehaglich war. Er verzichtete darauf, etwas zur Diskussion beizusteuern, zumal auch die Fragen und Antworten, die er sich vorher ausgedacht hatte, nicht zum Thema passten.

"Kommen die zwei Jans noch mit?", hieß es zum Schluss, und sie gingen anschließend in eine Schwulenkneipe, in der laute Discomusik dröhnte.

Hannes klammerte sich an sein Glas Orangensaft, in der Hoffnung, nicht von irgendjemanden angesprochen zu werden, während sich Jan angeregt mit den ein oder anderen Schwulen aus der Schwulengruppe unterhielt.

Plötzlich fragte ihn eine Stimme, "Gehörst du auch zu den verklemmten Politschwuchteln?"

Hannes war verwirrt; sah man es ihm tatsächlich an, dass er "verklemmt" war, wie ja schon Jans Mitbewohner anmerkte? Er schaute den Fragenden verwundert an.

"In den Schwulengruppen sammeln sich doch die Schwestern, die es mit dem Sex nicht richtig hinbekommen. Warum soll man sonst über Politik labern, wenn nicht aus Frust?"

Hannes war erstaunt, so etwas zu hören; hieß das womöglich, dass Jan das mit dem Sex auch nicht hinbekam und etwa auch "verklemmt" war? Auf dem Nachhauseweg fragte Hannes Jan, ob er denn auch mit vielen Männern sexuelle Abenteuer erleben würde.

Jan verneinte, "Bestimmt nicht mit vielen", und fügte hinzu, dass Sex für ihn auch nicht das Wichtigste war.

Hannes beschäftigte sich die folgenden Tage noch sehr viel mit dem Thema Sexualität. Er sprach auch immer wieder mit Jan darüber und es war eine unumgängliche Tatsache: Seine sexuellen Vorstellungen - was immer sie waren - unterschieden sich ziemlich von den "typisch schwulen" Vorstellungen, und auch von Jans.

Jan machte allerdings immer wieder deutlich, dass für ihn andere Dinge wirklich wichtig waren. Dennoch fehlte ihm etwas in seinem Verhältnis mit Hannes, das ließ sich nicht verschweigen.

Am meisten beunruhigte Hannes, dass es nicht Jungs an sich sind, die ihn erregten, sondern, dass sie Kapuzen trugen oder dass sie ihn fesselten; zumindest früher - inzwischen war ihm die Vorstellung, gefesselt zu werden, eher unheimlich geworden.

Dennoch, so aufregend wie sie war, so schön und wohltuend empfand er die Zeit mit Jan; die Zeit der zwei Jans. Er hatte mehrmals mit Jan besetzte Häuser besucht, die Punks getroffen und vor allen Dingen viel gekuschelt.

Dabei trug er immer Jans Armeehose, passend zu seinem Parka, und fühlte sich selbst so stark wie er früher Jan empfunden hatte.

Als er zuhause ankam, waren seine Eltern erschrocken, als sie ihn mit den geschorenen Haaren sahen. Auch in der Schule blieben die Reaktionen nicht aus, aber das war Hannes vollkommen egal.

Er hatte sich schon zwei Tage nach seiner Rückkehr wieder mit Jan verabredet, für Weihnachten, da hatte er nämlich wieder Schulferien. Es fiel ihm so deutlich auf wie noch nie, dass das Dorf, in dem er wohnte, wesentlich enger war als eine Stadt wie Berlin und dass er hier auch nicht hingehörte.

Hannes war in seiner Freizeit oft alleine; auch in der Schule fand er es immer schwieriger, mit den anderen Schülern in Kontakt zu kommen; er war allerdings daran auch zunehmend desinteressiert.

Bei Jan war er nicht alleine, im Gegenteil, er war immer mit Jan zusammen, Tag und Nacht. Bei Jan war er Jan, glücklich, geborgen, stark; hier war er Hannes, schüchtern und "verschroben". Hier gab es keine Punks und auch keine Schwulen, keine besetzten Häuser, keine Punkkonzerte und keine Schwulenkneipen.

In Hannes wuchs der Gedanke, zu Jan nach Berlin zu ziehen. Am Besten gleich nachdem er nächstes Jahr die Abitursprüfungen hinter sich gebracht hatte und die Schule endlich vorbei war.

Dann würde er endgültig Jan sein - niemand würde ihn mehr "Hannes" nennen.

Die Armeehose hatte er bei Jan gelassen, es war ja auch Jans Hose. Aber er hätte sie gerne getragen, um zu zeigen, dass er in Wirklichkeit nicht mehr Hannes war, nicht mehr der Hannes, wie ihn alle und auch er selbst kannten. Dafür zog er zwei T-Shirts übereinander an, so wie es Jan oft trug, und knöpfte früher als üblich das Fell in seinen Parka, damit er keinen Pullover tragen brauchte.

Irgendwann wurde es schließlich zu kalt, um nur T-Shirts zu tragen, woran Hannes erinnert wurde, als er eine richtige Erkältung bekam und deswegen eine Woche lang nicht in die Schule ging. Gleich danach bekam er auch noch eine Mittelohrentzündung, zum Glück nur eine leichte, die nach wenigen Tagen wieder abgeklungen war.

Seit er den Parka bekommen hatte, war es das erste Mal, dass mit seinen Ohren wieder Probleme hatte. Wahrscheinlich kam es daher, dass seine Haare erheblich kürzer waren als sonst und seine Ohren dadurch auch ungeschützter. Hannes nahm sich daher vor, immer die Fellkapuze aufzuziehen, wenn er draußen war.

Seine Mutter drängte ihn aber regelrecht, seine Mütze zu tragen, weil sie ihrer Meinung nach die Ohren besser schützte als die Kapuze. Mit den kurzen Haaren kratzte seine Mütze aber auf seiner Kopfhaut, sodass er einen guten Grund hatte, die Kapuze vorzuziehen.

Die Diskussionen, die er mit seiner Mutter zu diesem Thema hatte, lösten in ihm wieder die unterschiedlichsten Gedanken zum Thema Kapuzen aus. Irgendwie war ihm seine Vorliebe für die Fellkapuze seines Parkas zwar unheimlich, aber er mochte auch nicht wirklich darauf verzichten, dieser Vorliebe nachzugehen, indem er sie aufsetzte, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot.

Jan dagegen hatte seinen Parka offenbar nicht mehr. Er hatte es auch früher schon vorgezogen, seine schwarze Mütze zu tragen, und Hannes hatte ihn nur selten mit aufgesetzter Kapuze gesehen; genau genommen ein Mal und das war fast vier Jahre her.

Hannes entschied sich nach einigen Tagen der Überlegungen und der Diskussionen mit seiner Mutter, eine Mütze zu kaufen, die nicht kratzte. Das war nicht einfach, da fast alle Mützen zumindest teilweise aus Schafswolle waren, und es die Schafswolle war, die auf der Haut unangenehm kratzte. Bislang war es kein Problem gewesen, da Hannes' Haare lang genug waren, sodass er die Wolle nicht spürte; das war jetzt anders.

Noch schwieriger wurde der Mützenkauf dadurch, dass Hannes sich in den Kopf gesetzt hatte, eine schwarze Mütze zu kaufen, so eine, wie Jan sie hatte. Hannes verbrachte mehrere Nachmittage in den Kaufhäusern der nahegelegenen Stadt, bis er eine schwarze Mütze fand, die ganz aus Kunstfaser war und genauso wie Jans Mütze nichts dran hatte, keinen "Trottel".

Er entschied sich sofort für den Kauf und trug die folgende Zeit nur noch diese Mütze, wenn er draußen war, und nicht die Kapuze.

Die Weihnachtsferien rückten immer näher und Hannes' Vorfreude, bald Jan wiederzusehen, ließ ihn regelrecht aufblühen; noch eine Woche, dann würde er wieder nach Berlin fahren.

Seine Eltern waren überhaupt nicht damit einverstanden, dass er Weihnachten nicht zu Hause sein wollte; aber er war ja alt genug, das selbst zu entscheiden.

In der Nacht gab es den ersten Schnee und es war das erste Mal in diesem Winter kalt geworden. Die "Mütze-und-Kapuze-Zeit" war angebrochen; Hannes hatte sie bereits sehnsüchtig erwartet, denn er hatte seit Wochen keine Kapuze mehr auf seinem Kopf gespürt.

Bevor er sich an diesem Morgen auf den Weg zur Schule machte, beobachtete er sich in dem Spiegel, der im Flur des Hauses hing, wie er sich die Mütze aufsetzte und anschließend die Fellkapuze des Parkas darüber. Er war sehr zufrieden; es passte gut mit der schwarzen Mütze.

Der Schnee schmolz schon während des Vormittags und die Temperaturen wurden die folgenden Tage wieder ein wenig milder, aber Hannes zog sich dennoch immer die Kapuze über die Mütze. Er dachte viel darüber nach, wieso ihm das Gefühl der Kapuze auf seinem Kopf so sehr gefiel, es ihn "anmachte", so sehr, dass er sich dem nicht entziehen konnte.

An einem Morgen traf er auf dem Weg zur Schule einen der Jungs aus seiner Klasse, der ihn dann den restlichen Weg zur Schule begleitete. Der Junge sagte, dass er es übertrieben fand, Mütze und Kapuze zu tragen, und wies darauf hin, dass er selbst weder Mütze noch Kapuze auf hatte, selbst wenn es richtig kalt war nicht.

Hannes anfängliche Verunsicherung verschwand allerdings schnell wieder, als er sich an seine empfindlichen Ohren erinnerte; bei ihm war es eben anders als bei den anderen Jungs.

Der Zug nach Berlin fuhr am nächsten Morgen schon sehr früh los. Hannes war darüber sehr froh, denn seine Eltern versuchten bis zuletzt, ihn noch davon abzuhalten, nach Berlin zu fahren; so früh morgens war der Abschied kurz und ohne viel weitere Diskussion vollzogen.

Jan holte ihn wieder vom Bahnhof ab; er trug wieder seine Bomberjacke und seine schwarze Mütze. Als sie aus dem U-Bahnhof gingen und Hannes sich sogleich die Fellkapuze über die Mütze zog, sagte Jan,

"Du und deine Kapuze; so kalt ist es doch gar nicht"

Hannes erzählte, dass er wieder eine Mittelohrentzündung gehabt hätte und erinnerte Jan daran, dass es für ihn gute Gründe dafür gab, seinen Kopf warm zu halten. Jan witzelte, dass er ihn ohne Parka und Kapuze wahrscheinlich gar nicht wiedererkennen würde.

Die Tage mit Jan waren wieder sehr vertraut und nah; Hannes trug auch wieder Jans Armeehose und war wirklich glücklich mit seiner neuen Identität. Jan scherte ihm auch die Haare wieder ganz kurz, gleich am zweiten Tag, und Hannes verzichtete danach auf die Mütze, um die Fellkapuze auf seiner Kopfhaut ausgiebig spüren zu können.

Sein Glück war ungebrochen, bis zum diesem denkwürdigen Abend am ersten Weihnachtsfeiertag, an dem wieder ein Treffen der Schwulengruppe stattfand.

Nachmittags hatte es wieder angefangen zu schneien und war auch deutlich kälter geworden, sodass Hannes wieder seine Mütze unter der Kapuze tragen konnte. In der Schwulengruppe wurden die beiden sogleich begrüßt, "Jan wieder im Doppelpack", und Hannes hatte diesmal sogar Gelegenheit, ein wenig von sich zu erzählen.

Als er die Geschichte von seinem Coming-out bei seinen Eltern erzählte, schaute Jan ihn erstaunt an:

"Das hast du mir ja noch gar nicht erzählt." Hannes spürte mit Genugtuung, dass in der Gruppe nicht der leiseste Zweifel an seinem Schwulsein aufkam; er war sogar ein wenig stolz, es geschafft zu haben, ein "wirklicher Schwuler" zu sein.

Das Thema Sex war weitgehend aus seinem Bewusstsein verschwunden, zumal es von Jan diesmal überhaupt nicht angesprochen wurde. Es war zu einer Selbstverständlichkeit geworden, dass es beim Kuscheln blieb, und das taten sie - wie sonst auch - sehr ausgiebig.

Nach dem Treffen ging es wieder in diese Schwulenkneipe mit der lauten Discomusik. Anders als beim letzten Mal fühlte sich Hannes klar genug, um dort alles ausgiebig wahrzunehmen.

Er hielt sein Glas Orangensaft fest und betrachtete neugierig die Schwulen in der Kneipe, wie sie miteinander redeten, sich manchmal auch küssten und tanzten.

Dabei bemerkte er, dass sich Jan mit einem Jungen unterhielt, der einen grün gefärbten Irokesen Haarschnitt trug. Seine Kleidung war noch viel mehr zerrissen als Jans; durch die Löcher seiner Jeans konnte man sehen, dass er eine zweite darunter trug. Dazu noch einen Nietengürtel und ein Hundehalsband mit Nieten.

Immer wieder schweifte sein Blick zu Jan herüber und dem Punk, mit dem er sich unterhielt. Irgendwann hatte Jan seinen Arm um dessen Hüfte gelegt; die beiden unterhielten sich den ganzen Abend über.

Bis Hannes sich entschied, zu Jan zu gehen und ihm zu sagen, dass er gehen wollte.

"Ist ja auch schon spät; lass' uns zusammen gehen", sagte Jan,

"Das ist übrigens Lasse", und zu dem Punk gewandt,

"Das ist Jan, den kenne ich schon sehr lange."

"Jan und Jan? Das ist ja Klasse", sagte der Punk, der jetzt einen Namen hatte, "Lasse".

Hannes hatte diesen Namen noch nie gehört; es faszinierte ihn, wenn jemand einen so seltenen Namen hatte. "Lasse", dachte er immer wieder und versuchte herauszufinden, welchen Klang dieser Name für ihn hatte. Später erzählte ihm Jan, dass er in Wirklichkeit "Lars" hieß, aber ihn alle "Lasse" nennen würden; "Lars" hatte aber auch einen Klang, der nicht weniger interessant war als der von "Lasse".

Auf dem Weg nach Hause lief Hannes schweigend neben Jan, und war in Gedanken mit der Frage beschäftigt, ob Jan diesen Lasse womöglich auch so mochte wie ihn.

Ihm fiel auf, dass Lasse es mit seinem Iro gar nicht genießen konnte, Mütze oder Kapuze auf seinem Kopf zu spüren.

Kurz bevor sie zu Hause ankamen, fragte Jan, "Ist was mit dir oder bist du einfach nur müde?"

"Müde bin ich nicht", sagte Hannes, "Es ist nur…"

Hannes wusste nicht, was er sagen sollte; seine Gedanken waren sehr durcheinander.

"Wegen Lasse?", fragte Jan. Hannes nickte, "Du magst ihn, oder?"

"Es ist nicht, wie du denkst", sagte Jan, "Er ist nett und ich finde ihn auch sehr attraktiv, ja, aber es hat nichts mit dir zu tun. Du weißt, dass ich dich ganz besonders mag."

"Wirklich?", fragte Hannes unsicher.

"Ja, wirklich, ich würde dich doch nie belügen."

Hannes legte einen Arm um Jans Hüfte und Jan blieb stehen, um Hannes zu umarmen. Er schob Hannes die Kapuze herunter, schmiegte seine Wangen an Hannes' und flüsterte ihm ins Ohr, "Du weißt, dass ich dich liebe."

Dann zog er Hannes die Kapuze wieder über die Mütze und sagte, "Wir sind gleich zu Hause; dort können wir kuscheln."

Jan machte dann noch den Vorschlag, sich mit Lasse zu verabreden, damit ihn Hannes auch kennen lernen würde. Am nächsten Morgen rief ihn Jan auch gleich an und Lasse kam zum Frühstück. Er erzählte unentwegt von seinem Leben auf dem Bauwagenplatz, den Demonstrationen, an denen er teilnahm, dass er den Kontakt zu seinen Eltern abgebrochen hatte und auch die Schule.

Hannes musterte währenddessen fasziniert seinen grünen Iro und fragte sich, wie das wohl ging, dass die Haare immer gerade nach oben standen. Als Jan in die Küche verschwand, um neuen Kaffee zu kochen, zog Lasse Hannes an sich heran und flüsterte ihm ins Ohr,

"Im Bett ist er ja wirklich großartig; ich habe noch nie so geilen Sex erlebt, wie mit Jan."

Hannes war wie versteinert. Die Unterhaltung riss abrupt ab, und als Jan mit dem Kaffee aus der Küche kam, sagte Lasse,

"Ich glaube, ich habe da gerade etwas Falsches gesagt."

Jan schaute die beiden fragend an.

"Ich wusste ja nicht, dass ihr beiden", versuchte Lasse zu erklären.

Jan fiel scheinbar auch nichts weiter ein zu sagen und war sichtlich erleichtert, als Lasse die Situation auflöste, indem er sagte, dass er jetzt gehen wollte.

Nachdem er gegangen war, schaute Jan sehr ernst und besorgt und fragte Hannes, was denn Lasse gesagt hatte. Hannes schwieg. Ihm war, als würde ein Tornado durch seinen Kopf ziehen; er war gar nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn, etwas zu sagen. Jan machte schließlich den Vorschlag, spazieren zu gehen.

Hannes zog sich wortlos Schuhe und den Parka an, setzte sich die Mütze auf und die Kapuze darüber, während Jan noch dabei war, seine Sachen zu suchen. Mütze und Kapuze gaben ihm ein angenehmes Gefühl von Geborgenheit, während in seinem Kopf gerade alles in sich zusammenfiel, seine Träume, seine Sehnsüchte, seine Gefühle.

Draußen lag Schnee, es war ein unwirklich schöner Tag, der in einem ziemlichen Kontrast zu dem Gefühlschaos stand, in dem sich Hannes befand.

Nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinanderher gingen, sagte Jan schließlich, "Er hat dir bestimmt erzählt, dass wir zusammen geschlafen haben."

Hannes nickte.

"Und du bist jetzt eifersüchtig", setzte Jan fort.

Hannes verstand nicht ganz, was er damit meinte; was ihn verwirrte und verunsicherte war, dass das mit dem Sex offenbar mit Lasse klappte, mit ihm aber nicht.

"Lasse ist nicht so verklemmt wie ich, stimmt's?", fragte er.

"Ja", antwortete Jan, "Lasse ist überhaupt nicht verklemmt. Er ist halt anders als du; in vielerlei Hinsicht. Mit ihm habe ich sehr spannenden Sex erlebt, das stimmt. Aber trotzdem: Dich liebe ich wirklich; Lasse könnte ich gar nicht lieben. Glaub' mir, unser Verhältnis ist etwas ganz Besonderes."

Hannes schwieg. Was sollte er dazu sagen; Jan hatte eindeutig ein Bedürfnis nach "richtigem Sex", und das konnte er ihm nicht geben. Daher war es eigentlich auch in Ordnung, wenn er jemanden kannte, der es ihm geben konnte.

"Lasse", klang es immer wieder in Hannes' Kopf; es war eindeutig ein neuer Klang, einer den Hannes bis dahin nicht kannte. Er fand Lasse auch irgendwie attraktiv; der grüne Iro, der Nietengürtel, die zwei löchrigen Hosen, die er übereinander trug und dann dieser Name, "Lasse".

Ihm kam wieder der Gedanke in den Sinn, dass Lasse wohl mit seinen Haaren niemals eine Kapuze aufsetzen würde, nicht einmal eine Mütze. Was für eine eigenartige Vorliebe, das mit der Kapuze, dachte er, und dann kam ihm Len in den Sinn; "Lennart Adrian" und "Lasse Lars" - das klang dissonant zusammen, das passte nicht.

Was für eine eigenartige Begegnung mit diesem Jungen, mit Len, was für eine eigenartige Bedeutung, die das alles hatte.

Jan riss Hannes aus seinen Gedanken, indem er anfing zu erzählen, wie er Lasse kennen gelernt hatte.

Lasse lebte auf dem Bauwagenplatz, den Hannes auch schon zweimal mit Jan besucht hatte. Jan erzählte, dass Lasse ihn vor ein paar Wochen angesprochen hatte, als er dort war, um mit den Leuten zu essen; das tat er ab und zu, da musste er nicht selbst kochen.

Plötzlich, erzählte er, sagte Lasse zu ihm, "Hast du Lust mit mir zu schlafen?", und sie gingen in Lasses Bauwagen, um sich ins Bett zu legen. Jan war fasziniert, wie prickelnd und unverkrampft es war.

"So guten Sex hatte ich noch nie", sagte er.

"Mit mir ist es nicht prickelnd und unverkrampft", hielt Hannes fest, aber Jan erwiderte, "Dafür aber kuschelig" und lachte.

Hannes war nicht so richtig zum Lachen zumute und Jan legte ihm seinen Arm um die Hüfte. Sie gingen noch eine Weile spazieren und Hannes entschloss sich, hart daran zu arbeiten, das mit dem schwulen Sex zu lernen. Er erzählte Jan von diesem Vorhaben und bat ihn, wie ein Lehrer ihm alles zu zeigen.

Im ersten Moment fand Jan diese Idee amüsant, willigte aber schließlich ein und bemerkte dazu, "Das wäre doch gelacht, wenn wir das nicht hinbekämen."

Hannes war über diese Entwicklung ein wenig beunruhigt; er hatte aber großes Vertrauen in Jan. Tatsächlich hatte Jans "Unterricht", der noch am gleichen Tag begonnen hatte, schon nach kurzer Zeit deutliche Effekte; Hannes wurde wesentlich unverkrampfter und sein Zucken verschwand sogar ganz.

Bevor Jan mit seiner "Lektion" anfing, erklärte er immer genau, worum es darin gehen würde, was er vor hatte zu tun und was er von Hannes erwartete. Hannes war von sich selbst überrascht, wie gut es klappte und fand nach den ersten Malen sogar Gefallen daran, mit Jan diese Spiele zu spielen.

Eine Hürde überwand er allerdings nicht: Nicht ein einziges Mal hatte er dabei eine Erektion, nicht ansatzweise. Ihn selbst störte das nicht, aber es war Bestandteil des Unterrichts und gehörte vor allem auch zu dem, was Jan von ihm erwartete.

Ganz stimmte das allerdings nicht; einmal kam es doch dazu, dass Hannes eine Erektion hatte. Das war, als Jan nach einigem vergeblichen Bemühen plötzlich sagte, "Jetzt kitzle ich dich so lange, bis du einen steifen Schwanz hast", und anfing, Hannes zu kitzeln.

Hannes wehrte sich mit Händen und Füssen, aber Jan war eindeutig stärker, warf Hannes schließlich auf den Rücken und setzte sich auf ihn. Dabei drückte er seine Arme mit den Beinen fest an seinen Körper, dass er sie nicht mehr bewegen konnte.

Hannes spürte, wie sein "Schwanz" sich augenblicklich aufrichtete und dachte dabei darüber nach, warum es wohl "Schwanz" hieß; ihm kamen Katzen in den Sinn, die mit steil nach oben aufgerichteten Schwänzen herumliefen.

"Was ist das?", sagte Jan und lehnte sich ein Stück nach hinten, um den Schwanz mit seinen Pobacken zu berühren.

Hannes spürte, wie er zucken musste und versuchte, es mit aller Kraft zu unterdrücken. Dabei half es ihm zuerst, dass Jan auf ihm saß und seine Arme fest an seinen Körper drückte, dass er sich kaum bewegen konnte, aber am Ende zuckte er doch mehrmals.

Jan stand schließlich auf, legte sich neben Hannes und streichelte ihn, seinen "Schwanz", der nicht mehr erregiert war.

Wie ein Echo wiederholte sich dieses Wort in Hannes Kopf', "Schwanz".

Jan grinste ihn an, "Geht doch; ich muss dich wohl nur öfter mal kitzeln."

"Bitte nicht", erwiderte Hannes; angenehm oder entspannend war es wirklich nicht, so kräftig durchgekitzelt zu werden.

Am zweiten Januar fuhr Hannes wieder zurück, nachdem er fast zwei Wochen bei Jan gewesen war. Er hatte jetzt auch ein Armband aus Leder um sein linkes Handgelenk; Jan hatte es ihm auf einem Flohmarkt gekauft.

Als er schließlich im Zug saß, quälte ihn die Vorstellung regelrecht, wieder in sein "normales Leben" zurückzukehren. Er beschloss, ab jetzt Jan zu sein; schließlich hatte er sich bereits sehr daran gewöhnt, "Jan" genannt zu werden. Im Geiste stellte er sich vor, wie er seinen Eltern, seinen Klassenkameraden und seinen Lehrern sagte, "Übrigens, ich heiße jetzt Jan, nicht mehr Hannes."

Hannes beschloss noch einiges mehr, nämlich richtig schwul zu werden und nach Berlin zu ziehen, sobald er mit den Abitursprüfungen fertig war, zu Jan. Er beschloss auch, das mit den Kapuzen zu beenden; seitdem trug er nur noch seine Mütze im Winter, ohne Kapuze darüber.

Als er zu Hause ankam, rannte ihm seine Mutter entgegen, "Johannes, wie wir uns freuen, dass du wieder hier bist."

"Ich heiße jetzt Jan, nicht mehr Hannes", erwiderte Hannes und seine Mutter sagte erstaunt, "Du heißt Johannes, das weiß ich genau." Dabei betonte sie das "Jo" so, dass es richtig komisch klang, "Jo-hannes".

Hannes, das heißt, Jan, spürte eine unüberbrückbare Kluft zwischen ihm und seinen Eltern.

Hannes fing an, Jan Briefe zu schreiben. Er schrieb über die Enge, die er hier verspürte, über die Entfremdung von seinen Eltern, über seine Einsamkeit. Er schrieb auch, dass er nach Berlin ziehen wollte, zu Jan, sobald das mit der Schule vorüber war.

Jan schrieb schon im ersten Brief zurück, dass er kein "großer Briefe Schreiber" wäre. Er beantwortete aber jeden Brief, den ihm Hannes schrieb, auch wenn seine Antworten recht kurz und allgemein ausfielen. Oft schrieb er, "Da müssen wir drüber reden, wenn du wieder in Berlin bist."

Nach Berlin zu fahren war allerdings so schnell nicht möglich; Hannes hatte bis Ostern keine Schulferien mehr. Ende Februar meldete sich Hannes für ein paar Tage in der Schule krank und fuhr nach Berlin.

An dem Tag, als Hannes fuhr, war es richtig kalt geworden. Obwohl er seine Mütze trug, schmerzten seine Ohren, kaum dass er das Haus verlassen hatte, um zum Bahnhof zu gehen. Seine Eltern missbilligten seine Fahrt wie die letzte auch schon und brachten ihn daher nicht zum Bahnhof, sodass er den Bus nehmen musste. Das war ihm auch ganz recht so.

Seit seiner letzten Rückkehr aus Berlin war es das erste Mal, dass er wieder die Kapuze aufsetzte. Hannes war überwältigt davon, wie sehr es ihn erregte, die Fellkapuze über seiner Mütze zu spüren, und wie vertraut und geborgen sich das anfühlte, in Mütze und Kapuze eingepackt zu sein. Er war darüber auch ein wenig beunruhigt.

Als er auf dem Bahnsteig im Bahnhof Zoo die vertraute Stimme hörte und in die Richtung blickte, aus der sie kam, erstarrte er vor Überraschung. Jan trug den Parka, den er früher schon hatte, und hatte die Kapuze auf, über seiner schwarzen Mütze.

Hannes dachte, dass Jan den Parka gar nicht mehr hatte, denn er hatte ihn nie bei Jan gesehen. Jan umarmte Hannes sehr herzlich und Hannes befühlte ausgiebig die Kapuze auf Jans Kopf.

"Den hattest du früher schon, den Parka", bemerkte Hannes.

Jan sagte, dass er in dieser Kälte das Wärmste war, was er anzuziehen hatte.

"Mir gefällt er", sagte Hannes, aber Jan erwiderte, dass er ihn inzwischen gar nicht mehr gerne anzog und nur trug, weil es so kalt war.

"Dir steht das aber gut, mit Parka, an dir gefällt mir das", beschwichtigte er Hannes.

Der zog sich dann auch die Kapuze über die Mütze und war sehr verwirrt über das Chaos an Gefühlen und Gedanken, das auf ihn einströmte, während sie zu Jan gingen.

Jan setzte auch in der U-Bahn die Kapuze nicht ab; Hannes behielt sie auch auf.

Er war so verwirrt, dass auch Jan bemerkte, "Du bist ja ziemlich durch den Wind."

Er legte sich erst einmal für ein paar Stunden auf das Bett, um sozusagen wieder zu sich zu kommen. Hannes hatte nur wenige Tage in Berlin, die auch anders als gewohnt verliefen, weil Jan keine Ferien hatte und vormittags in die Schule musste.

Jan hatte einen kurzen Iro, was Hannes eigentlich noch besser gefiel als die geschorenen Haare. Hannes bekam seine Haare wieder geschoren, nicht ohne dass sich Jan darüber amüsierte, wie sehr ihn diese Prozedur erregte.

Immer wieder sprach er seine Idee an, zu Jan nach Berlin zu ziehen. Jan sagte zwar, dass er die Idee, dass Hannes nach Berlin käme, gut fände, er aber auch einige Bedenken deswegen hatte. Er meinte, es wäre vielleicht nicht gut für ihre Beziehung, wenn Hannes zu ihm in die Wohnung ziehen würde.

Es war das erste Mal, dass Jan davon sprach, dass sie eine Beziehung hätten. Hannes gefiel das sehr, allerdings fand er dieses Wort, "Beziehung", ziemlich eigenartig.

Die Gespräche, die sie über Hannes' Umzugsabsichten führten, endeten jedes Mal damit, dass Jan sagte, "Du kannst auf jeden Fall erst mal hierher kommen. Dann können wir ja weitersehen" Hannes konnte sich damit schließlich anfreunden.

Zunächst war er schon enttäuscht, weil er erwartet hatte, dass Jan begeistert wäre von der Idee, mit ihm zusammenzuwohnen. Doch er konnte auch Jans Bedenken verstehen, vor allen Dingen, dass es auch wichtig für ihn wäre, sein eigenes Leben zu leben, wenn er nach Berlin käme. Jan sollte ja schließlich nicht Ersatz für seine Eltern werden.

Den Unterricht zum Thema Sex nahm Jan nicht wieder auf und Hannes wollte nicht danach fragen, weil er das Gefühl hatte, Jan sonst etwas aufzudrängen, was er eigentlich nicht so spannend fand.

Dafür kuschelten sie viel und ausgiebig. Und sie gingen oft spazieren - mit Mütze und Kapuze, beide. Die ganze Zeit war es in Berlin sonnig aber eiskalt und windig. Es lag Schnee und im Kanal schwammen Eisschollen; Jan liebte solche Wintertage, genauso wie Hannes.

Am Samstagabend stand Lasse vor der Tür. Es war Hannes' letzter Tag in Berlin, am nächsten Tag musste er wieder zurückfahren.

Lasse wollte mit Jan in die Kneipe gehen, in die Schwulenkneipe. Jan fragte Hannes, ob er denn auch noch mitkommen wollte, doch Hannes zog es vor, nicht mitzugehen.

Lasse hatte selbst bei diesen eisigen Temperaturen nichts auf dem Kopf.

Hannes beobachtete genau, wie sich Jan den Parka anzog, seine schwarze Mütze aufsetzte und die Kapuze darüber zog, bevor er mit Lasse ging.

Er legte sich dann auf Jans Bett und gab sich seinen Gedanken hin. Als er müde wurde, war Jan noch nicht zurückgekommen, und so schlief er ohne Jan an seiner Seite ein.

Als er am nächsten Morgen aufwachte, war Jan immer noch nicht da; Hannes war darüber verwirrt. Schließlich fuhr bald sein Zug und Jan war nicht da, um sich zu verabschieden? Das konnte er sich überhaupt nicht vorstellen.

Als er in die Küche ging, um Kaffee zu kochen, saß dort einer von Jans Mitbewohnern, Kevin. Während Hannes schweigend den Wasserkessel beobachtete, fragte er, "Jan ist nicht hier, oder?"

Hannes schüttelte den Kopf.

"Ich finde es ja nicht fair, dass er dir davon nichts erzählt; das habe ich ihm schon gesagt, als du das letzte Mal hier gewesen bist."

Hannes schaute ihn fragend an, wovon sollte ihm Jan erzählen?

"Na, Lasse, da funkt es ganz schön zwischen den beiden"

Hannes dachte an den Iro, den Jan sich jetzt wachsen ließ; ob das mit Lasse zu tun hatte?

Er fand es allerdings nicht ganz so schlimm, wie es Jans Mitbewohner offenbar darstellte. Bei den beiden klappte es halt mit dem Sex ganz gut und warum sollte Jan das nicht auch genießen können? Hannes fühlte sich dadurch im Gegenteil sogar von dem Gefühl entlastet, Jan etwas schuldig zu sein, was er ihm nicht geben konnte.

Was er aber schlimm fand, war, dass Jan nicht rechtzeitig kam, um ihn zu verabschieden. Er nahm den Zug auch nicht, sondern entschied sich, erst am nächsten Tag nach Hause zu fahren, da er unmöglich gehen konnte, ohne Jan noch einmal zu sehen. Es war schon ziemlich blöde, dass er den Montag unentschuldigt in der Schule fehlte, aber er dachte, das würde sich bestimmt einrenken lassen.

Jan war die Situation sichtbar unangenehm, als er kam. Er kam erst am Nachmittag und es blieb ihm nichts anderes, als mit Hannes offen über Lasse zu reden.

Er erzählte, dass der Sex mit Lasse unglaublich war und er eine berauschende Nacht mit Lasse erlebt hatte. Auch dass er Lasse regelmäßig traf und sie sich beide sehr mochten.

Als er das sagte, stiegen in Hannes Befürchtungen auf, irgendwann nicht mehr so gemocht zu werden von Jan, oder womöglich für ihn langweilig geworden zu sein. Da halfen auch Jans Erklärungen nicht viel, dass das mit Lasse etwas ganz anderes war als mit ihm, und dass Hannes ihm ja auch viel geben würde, was Lasse ihm nicht gab.

Als sie abends aneinandergekuschelt im Bett lagen, sagte Jan, "Bei dir fühle ich mich zu Hause, so werde mich ich bei Lasse nie fühlen."

Ja, genauso fühlte sich Hannes bei Jan auch, zu Hause. Das war genau das, was er hören wollte; in Gedanken fühlten sich diese Worte an wie ein wohliges, warmes Bad, "Bei dir fühle ich mich zu Hause".

Am Montag standen sie sehr früh auf, weil Jan Hannes zum Zug bringen wollte, bevor er in die Schule ging. Während der Zugfahrt ging Hannes dieser letzte Tag bei Jan nicht aus dem Kopf; vor allen Dingen auch nicht dieser Satz, "Bei dir fühle ich mich zu Hause", den er in Gedanken immer wieder wiederholte.

Er dachte an Lasse mit seinem Iro, daran, dass Jan ihm etwas verheimlicht hatte, dass es keine Lektionen mehr zum Thema Sex gab, und dass Jan seinen Parka von früher trug mit Kapuze auf.

Er versuchte zu verstehen, was Jan meinte, als er immer wieder sagte, es sei wichtig, dass er sein "eigenes Leben" lebte, wenn er nach Berlin ziehen würde. In Berlin war er Jan, nicht Hannes; er wollte Jans Leben leben, nicht Hannes' Leben. Er konnte aber verstehen, dass Jan auch seine eigenen Bedürfnisse und Wünsche hatte, dass er mit Lasse "spannende Nächte" verbringen wollte, auch wenn er sich überhaupt nicht vorstellen konnte, was genau in diesen Nächten geschah.

Überhaupt konnte er sich überhaupt nicht vorstellen, wie Jans Leben war, ohne ihn, ohne "Jan - Jan". Er lauschte den Klängen der Namen, "Jan - Jan", "Len - Jan", "Adrian", "Lasse". Es war offensichtlich, dass es bei diesen Klängen auch Dissonanzen geben konnte; Hannes hatte sogar den Eindruck, dass es nur eine wirkliche Harmonie gab, nämlich den Gleichklang.

Der Umzug nach Berlin

Die Schule am nächsten Tag fing damit an, dass man ihm eröffnete, erfahren zu haben, dass er gar nicht krank, sondern in Berlin gewesen war. Er erhielt dafür sogar einen Verweis vom Schulrektor.

Das frostige Wetter hielt noch über zwei Wochen an und damit auch die Mütze-und-Kapuze-Zeit. Immer wieder tauchte Jan auf in Hannes' Gedanken, wie er am Bahnsteig stand in seinem Parka, die Kapuze über seine schwarze Mütze gezogen.

Hannes erinnerte sich dabei sehr genau, wie sich die Kapuze anfühlte, als sie sich zur Begrüßung umarmten, wie sich Jans Kopf anfühlte, durch die Kapuze und die Mütze hindurch.

Hannes dachte viel über seinen bevorstehenden Umzug nach Berlin nach und über sein "eigenes Leben". In regelmäßigen Briefen schrieb er Jan von seinen Überlegungen.

Der antwortete wie gewohnt auf jeden Brief und ermahnte Hannes, nicht zu viel zu erwarten und auf die unterschiedlichsten Schwierigkeiten vorbereitet zu sein. Hannes hatte nur vage Vorstellungen von den Schwierigkeiten, die Jan andeutete.

In den Osterferien hatte Hannes vor, noch einmal nach Berlin zu fahren, vor allen Dingen, um sich zu vergewissern, dass sein Umzug zu Jan auch wirklich stattfinden würde. Doch Jan erklärte, dass er in dieser Zeit wegfuhr und Hannes ihn deswegen nicht besuchen konnte.

Hannes war darüber ziemlich verunsichert; umso mehr, weil Jan nur vage Andeutungen machte, wohin er vorhatte zu fahren - und mit wem. Immer wieder tauchte der Gedanke auf, Jan würde die Zeit mit Lasse verbringen, aber Hannes verwarf ihn jedes Mal gleich wieder.

Jan und er - da war er sich sicher - hatten ein besonderes Verhältnis; eines, das Jan mit niemandem sonst haben könnte, auch nicht mit Lasse.

Die Verunsicherung wich dennoch nicht, auch wenn Hannes sie nicht zulassen wollte; sie wurde vor allen Dingen auch durch die Bedenken genährt, die Jan in seinen Briefen zu der Idee, nach Berlin zu ziehen, äußerte. Die restliche Schulzeit ging an Hannes vorbei, wie ein uninteressanter Film, an dessen Inhalt er sich hinterher gar nicht mehr erinnern konnte.

Die Aufregung über den bevorstehenden Umzug nach Berlin wuchs ins Unermessliche, je näher er rückte; am Ende so sehr, dass er ernsthafte Zweifel bekam, ob er diesen Schritt auch wirklich vollziehen sollte. Aber die Entscheidung stand fest, so fest, dass sogar seine Eltern sie inzwischen akzeptierten, auch wenn sie keinen Hehl daraus machten, dass sie sie nicht gut fanden.

Vor dem Umzug telefonierte er fast täglich mit Jan und war von seiner zögerlichen Haltung zunehmend irritiert. Aber Jan sagte immerhin zu, dass Hannes erst einmal bei ihm wohnen konnte, und sie dann ja "weitersehen" konnten, was dann geschehen sollte. Hannes verstand nicht, was es da "weiterzusehen" gab; für ihn war klar, dass er bei Jan bleiben würde, da gab es kein "weiter".

Wahrscheinlich war Jan, genauso wie er selbst auch, einfach aufgeregt, weil etwas Neues sich anbahnte und mit solchen Neuerungen auch immer Unsicherheiten verbunden waren.

Der Umzug selbst verlief sehr unproblematisch. Was Hannes benötigte, passte gut in eine Reisetasche, bis auf den Parka, den er extra getragen hatte.

Seine Mutter weinte, als sie sich am Bahnhof verabschiedeten; das war eigentlich das Einzige, was diese Fahrt nach Berlin von den vorangegangenen unterschied.

Jan erwartete ihn bereits am Bahnhof in Berlin. Er erzählte, dass ihn Hannes' Mutter angerufen hatte, um ihn aufzufordern, gut auf ihn aufzupassen. Das fand Hannes ein wenig peinlich; aber so war eben seine Mutter.

"Ist das alles, was du an Gepäck hast?", Jan blickte verwundert auf Hannes' Tasche.

"Ich dachte, das soll ein Umzug sein"

"Ich brauche nicht mehr", sagte Hannes, aber er war durch Jans Bemerkung noch mehr verunsichert: Es fühlte sich tatsächlich wie immer an, in Berlin anzukommen; es fühlte sich eigentlich gar nicht so an, als würde ein neuer Lebensabschnitt für ihn beginnen.

"Ich habe ja dich" sagte Hannes und war verwundert, dass ihm diese Bemerkung herausrutschte.

Jan rang spürbar um eine Erwiderung und sagte dann, "Du bist wirklich unglaublich", wobei er seinen Arm um Hannes' Schultern legte.

Jans Iro war inzwischen länger geworden; nicht viel, aber immerhin soviel, dass es auffiel. Das irritierte Hannes, weil ihm gleich auch Lasse in den Sinn kam, aber er fand, dass es sehr gut zu Jan passte und dass ihm Jan mit Iro wirklich besser gefiel als mit ganz rasierten Haaren.

Er hatte sich eigentlich darauf eingestellt, dass ihm Jan wieder die Haare scheren würde, die inzwischen schon ziemlich gewachsen waren. Jetzt war er aber vor die Frage gestellt, ob ihm Jan nicht auch einen Iro rasieren sollte. Der wäre dann zwar noch ein bisschen kürzer als Jans, aber nur ein bisschen.

Als sie in Jans Wohnung, zu Hause, ankamen, sagte Jan in einem ernsten Ton, "Ich denke, wir müssen jetzt erst einmal darüber reden, wie das mit deinem Umzug überhaupt funktionieren soll."

Hannes beschlich ein ungutes Gefühl. Er hatte keine Idee, was Jan damit meinen könnte, aber seine Stimme klang, als wenn es nichts Gutes wäre. Sie setzten sich auf Jans Bett und Jan fing an,

"Ich bin mir ja wirklich nicht sicher, ob das so eine gute Idee ist, dass du hier einziehst. Das einzige, was du hier hast, bin ich, und lebe hier mein Leben und kann nicht die ganze Zeit für dich da sein."

Hannes fühlte sich, wie von einem Blitz getroffen; in Gedanken sah er sich in einen Trichter fallen, in dem es nach unten hin immer dunkler wurde.

Dann fühlte er Jans Arm auf seiner Schulter, "Ich meine ja nicht, dass du nicht hier wohnen kannst, sondern nur, dass du dir auch überlegen musst, was du hier willst, in Berlin."

Das einzige, was Hannes wollte, war bei Jan zu sein, aber er spürte, dass er das jetzt besser nicht sagen sollte.

"Willst du mich rasieren? Vielleicht auch einen Iro, so wie du einen hast?"

Jan schwieg und Hannes lehnte seinen Kopf an seine Schulter.

"Na gut. Dann gehen wir am Besten ins Bad", antwortete Jan nach einigem Zögern.

Hannes konnte das Gefühl, wie das Schergerät über seine Kopfhaut glitt, kaum genießen; zu sehr beschäftigten ihn Jans Andeutungen.

Er ahnte, dass es wohl um Lasse ging; dass Jan und Lasse sich mochten, war schon bei seinem letzten Besuch kaum zu übersehen. Nach dem Scheren betrachtete sich Hannes im Spiegel und war ganz beeindruckt, wie sehr er sich selbst gefiel mit Iro.

Er dachte daran, dass er früher immer richtig unzufrieden über sein Aussehen war; aber schon mit ganz geschorenen Haaren gefiel er sich viel besser, aber jetzt mit Iro - das war kaum zu steigern. Bestimmt würde er auch Jan gut gefallen, besser als Lasse.

Jan strich ihm über den Iro, während er vor dem Spiegel stand, "Du bist wirklich unglaublich schön."

Jan eröffnete ihm, dass er später noch verabredet war, "Das ist doch in Ordnung, wenn du heute Abend alleine hier bist, oder?"

Er sagte noch, dass er vorher aber gerne mit ihm kuscheln wollte. Bevor sie sich in Jans Bett legten, aßen sie noch ein paar Brote.

Hannes spürte der eigenartigen Mischung aus Verunsicherung und tiefer Zufriedenheit nach, die ihn überkam, während sie nebeneinander lagen und er Jans Körper fühlte. Es war deutlich anders als sonst, das drängte sich Hannes regelrecht auf, obwohl er alles versuchte, dieses Gefühl zu unterdrücken.

"Liebst du mich?", rutschte es ihm plötzlich heraus; noch bevor er sie richtig ausgesprochen hatte, fand er die Frage ziemlich blöd:

Was sollte das schon heißen, "Liebst du mich", entscheidend war doch, dass sie zusammen in Jans Bett lagen und einander spürten.

"Ich mag dich wirklich sehr gerne", antwortete Jan;

Hannes hakte nach, "Und Lasse?"

"Lasse mag ich auch; er ist auch ein faszinierender Mensch. Du wirst ihn bestimmt auch mögen, wenn du ihn erst näher kennen gelernt hast."

Hannes fand es eigentlich in Ordnung, wenn Jan nicht nur ihn, sondern auch Lasse gerne mochte. Schließlich gab es auch für ihn neben Jan noch Len, der zwar nicht so real war wie Lasse, aber für Hannes dennoch sehr wichtig.

Das Kuscheln war nicht so ausgiebig wie gewohnt, aber dennoch sehr schön. Es war ein wahrer Genuss, mit der Hand über Jans Iro zu streichen und umgekehrt Jans Hand auf seiner empfindlichen, frisch geschorenen Kopfhaut zu spüren.

"Ich muss jetzt langsam losgehen, sonst verpasse ich meine Verabredung", sagte schließlich Jan und stand auch gleich auf.

Hannes blieb liegen und sah zu, wie Jan sich anzog. Zum Abschied legte sich Jan noch einmal neben ihn, gab ihm einen Kuss und drückte ihn an sich, "Bis später."

Nachdem Jan eine Weile schon weg war und Hannes sich von seinen Gedanken treiben gelassen hatte, entschied er sich, aufzustehen. Er hatte vor, Jans Sachen anzuziehen, die in dem Zimmer verteilt herumlagen, und schon der Gedanke daran erregte ihn sehr.

Er suchte sich zwei T-Shirts aus, die er sich übereinander anzog, eine Unterhose und schließlich die Armeehose, die er schon öfter trug. Er betrachtete sich im Spiegel, und es kam ihm vor, als würde er Jan sehen, in ihm, in diesem Jungen, der Jans Kleidung trug und - wie Jan - einen Iro hatte. Das einzige, was fehlte, war das Hundehalsband.

Plötzlich hörte er Stimmen vor der Wohnungstür und dann gleich, wie die Tür aufgeschlossen wurde. Jans Mitbewohner kamen und hatten Besuch mitgebracht. Sie hatten einen Videoabend geplant und luden Hannes ein, mit ihnen Videofilme zu sehen.

Von den Filmen bekam Hannes kaum etwas mit, dafür hatten ihn die Geschehnisse des Tages zu sehr beschäftigt, der Abschied von seinen Eltern, das schwierige Ankommen hier, in seinem neuen Zuhause.

Er wurde früh müde und legte sich dann in Jans Bett, ohne sich auszuziehen. Als er am nächsten Morgen aufwachte, lag er immer noch alleine im Bett; Jan war nicht zurückgekommen.

Hannes blieb noch eine Weile im Bett liegen, bevor er sich entscheiden konnte, aufzustehen. Er versuchte, Erklärungen dafür zu finden, dass Jan nicht da war und ihn gleich in der ersten Nacht alleine gelassen hatte, damit er sich sagen konnte, dass er keinen Grund hatte, verletzt zu sein.

Je mehr er aber darüber nachdachte, desto stärker wurde dieses Gefühl, verletzt zu sein. Seine Begegnung mit Jan, der Umzug, es war alles sehr anders, als er sich es vorgestellt hatte.

Er hörte, dass Jans Mitbewohner in der Küche waren, und entschied sich nach einigem Zögern, zu ihnen in die Küche zu gehen.

"Guten Morgen Jan", sagte Kevin, "Ich habe gehört, du wohnst jetzt hier?"

Hannes nickte und nahm den Kaffee, den er ihm anbot.

"Willst du mit uns frühstücken? Wir haben gerade erst angefangen."

Der andere Mitbewohner, dessen Namen Hannes immer noch nicht kannte, fragte, ob Jan (der andere) auch schon wach wäre.

"Mit zwei Jans, das wird nicht einfach werden", merkte er an.

Hannes sagte, dass Jan gar nicht da war.

Die beiden sahen ihn an und Kevin sagte nach einer Weile, "Du liebst ihn so richtig, nicht wahr?"

Hannes nickte und merkte, dass ihm inzwischen regelrecht zum Heulen zumute war.

"Das ist ja bitter", sagte dann Kevin, "Ich mag ihn ja gerne, den Jan, er ist wirklich ein Guter, aber zu dir ist er nie ganz ehrlich gewesen, und das finde ich nicht in Ordnung. Ich habe ihm immer wieder gesagt, dass er es nicht soweit kommen lassen darf, dass du hier einziehst, aber er ist der Meinung, das wird sich finden. Das sieht man ja jetzt schon, wie es sich finden wird."

Hannes starrte in die Kaffeetasse und kämpfte gegen die Tränen an.

Kevin hatte Recht, wenn er sagte, dass Jan nicht ehrlich war; auch Hannes war sich sicher, dass er die Nacht bei Lasse verbracht hatte, aber gesagt hatte es Jan nicht. Überhaupt hatte Jan kaum etwas von Lasse erzählt, und ihn ganz seinen Vermutungen und Ahnungen überlassen. Warum?

Als Hannes schließlich zu weinen anfing, nahm ihn Kevin in den Arm und sagte, "Wir werden dich hier nicht hängen lassen. Das gibt sich schon wieder; du wirst sehen, Berlin hat auch dir einiges zu bieten."

Für Hannes war das allerdings kaum tröstlich. Er aß ein Brot und ging dann wieder in Jans Zimmer, wo er sich auf das Bett legte.

Seine Gedanken überschlugen sich, als er darüber nachdachte, ob er überhaupt länger hier bei Jan bleiben konnte. Er fragte sich, ob er besser wieder zu seinen Eltern zurückgehen sollte, oder ob es vielleicht noch weitere Möglichkeiten gab; etwas anderes, was sein Zuhause werden könnte.

Zurückgehen kam eigentlich nicht in Frage, diese Blöße konnte er sich vor seinen Eltern nicht geben; in Jans WG bleiben, während Jan eine Beziehung mit einem anderen hatte, den er vermutlich mehr liebte als ihn, war für ihn allerdings auch schwer vorstellbar.

Am frühen Nachmittag hörte er, dass jemand kam, und dann gleich Kevins Stimme, "Das Häuflein Elend liegt da drin; kümmer’ dich mal darum."

Hannes spürte Jans Zögern, bevor er ins Zimmer kam und sich auf das Bett setzte, in dem Hannes immer noch lag.

"Hallo Jan", sagte er, und Hannes drehte sich auf die Seite, von ihm weg, damit er nicht sah, dass er ganz verheult war.

Jan strich ihm mit der Hand über den Kopf, "Hey, ist jetzt ein bisschen blöd gelaufen; eigentlich wollte ich gestern Abend wieder kommen, aber dann lief das dann doch anders als geplant."

"Du warst bei Lasse", schluchzte Hannes, "Warum hast du nicht gesagt, dass du zu Lasse gehst? Warum bist du nicht ehrlich gewesen?"

"Ich habe dich nicht belogen", antwortete Jan, "Ich habe dir doch gesagt, dass Lasse und ich uns mögen; ich glaube, ich habe dir sogar auch gesagt, dass ich ihn liebe."

"Und ich?"

"Dich liebe ich auch, wirklich, aber es ist anders als mit Lasse; ziemlich anders sogar"

Sie schwiegen dann beide eine ganze Zeit lang; eine Zeit, die Hannes ewig vorkam.

Dann sagte Jan, "Es ist vielleicht ein Fehler gewesen, dass du zu mir gezogen bist. Ich finde es gut, dass du weg bist aus diesem Dorf und jetzt hier in Berlin wohnen willst; aber hier bei mir, das wird nicht einfach."

"Warum? Du hast gesagt, du liebst mich, und du hast mir auch geschrieben, dass du es nicht erwarten kannst, mich wieder zu sehen. Warum ist das schwierig?"

"Weil ich eben auch andere Bedürfnisse habe. Natürlich freue ich mich, dass du hier bist; ich mag dich auch wirklich mehr, als du es dir vielleicht vorstellen kannst. Aber es ist auch so, dass ich mit dir bestimmte Sachen machen kann und andere nicht. Ich habe schließlich auch gemerkt, dass du dich nicht so wohl fühlst, wenn ich unterwegs bin und mich mit Schwulen oder mit den Punks treffe, aber das ist halt auch mein Leben.“

"Und", Jan zögerte, "und ich will halt auch nicht auf Sex verzichten. Es ist schön mit dir zu kuscheln und mit dir im Bett zu liegen und sich einfach gut zu fühlen, aber es reicht halt nicht. Hast du dir denn mal überlegt, wie ich mir vorkomme, wenn ich merke, wie dir einer abgeht, wenn ich dir die Haare schere, und dann alles vorbei ist, wenn ich deinen Schwanz anfassen will und du nur zuckst?"

Jan legte sich dann neben Hannes ins Bett und legte seinen Arm um ihn.

"Ich will dich nicht verlieren, Jan, wirklich nicht. Ich finde, wir sollten Freunde sein, gute Freunde; aber du musst akzeptieren, dass ich jetzt eine Beziehung mit Lasse habe und er mir auch sehr wichtig ist."

Jetzt war es ausgesprochen. In der ganzen Verzweiflung, in der Hannes das Gefühl hatte zu ertrinken, verspürte er jetzt fast eine Erleichterung darüber, dass das, was er am meisten befürchtete, seine schlimmsten Ahnungen, jetzt ausgesprochen war.

Sie lagen noch eine ganze Zeit lang aneinander geschmiegt im Bett. Hannes gelang es, sich wieder zu beruhigen, indem er sich ganz darauf konzentrierte, Jans Körper zu spüren.

Was sollte das bedeuten, dass Jan mit Lasse eine Beziehung hatte? Was hieß das, gute Freunde zu sein, was würde dadurch anders sein als sonst? Hatten sie bisher eine Beziehung und Jan hatte sich jetzt getrennt, oder waren sie schon immer gute Freunde gewesen?

Dass Jan Lasse mochte, weil sie guten Sex miteinander hatten, wusste Hannes ja bereits - das hatte ihn auch eigentlich nicht gestört; im Gegenteil fühlte er sich dadurch entlastet von seinem Anspruch, Jans Bedürfnisse zu befriedigen. Doch was bedeutete das mit der Beziehung?

"Lass' uns nach draußen gehen", schlug Jan dann vor, "Ich glaube, frische Luft tut uns beiden jetzt gut"

Draußen war bestes Sommerwetter; es war geradezu heiß. Sie gingen in einen Park, der nicht weit von Jans Wohnung entfernt war, und setzten sich dort auf eine Wiese.

"Wir haben noch ein Zimmer über", sagte Jan, "Das ist zwar nicht groß und wir verwenden es zum Wäschetrocknen, aber da könntest du einziehen; das habe ich auch schon mit den anderen abgesprochen. Ich finde, du solltest dein eigenes Zimmer haben."

Hannes blieb wohl nichts anderes übrig, als damit einverstanden zu sein, vor allem weil Jan auch sagte, dass er sich keine Sorgen machen sollte; es würde sich bestimmt alles einrenken.

Nachdem sie abends vom Park zurückgekommen waren, räumten sie zusammen das kleine Zimmer leer, in dem zwei Wäscheständer und ein paar Kartons standen, die Jans Mitbewohner zu sich nahmen.

Die Wäscheständer kamen ins Badezimmer. Kevin hatte noch eine Matratze und ein paar Decken über, die er vom Dachboden holte und Hannes gab. Als letztes stellte Hannes seine Tasche in das Zimmer; das war jetzt also sein neues Zuhause.

Danach gab es ein WG Essen zusammen mit Jans Mitbewohnern, die jetzt auch Hannes' Mitbewohner waren. Sie kochten zusammen und saßen nach dem Essen zusammen und unterhielten sich.

Hannes fühlte sich inzwischen wesentlich besser als noch am Nachmittag; seit er am Tag zuvor gekommen war, spürte er Jan gegenüber das erste Mal wieder das Gefühl von Vertrautheit, das er gewohnt war.

Es war schon einigermaßen spät, als Jan sagte, dass er sich ins Bett legen würde, und ins Badezimmer ging.

"Ich bin auch schon müde", sagte dann Hannes und ging in sein neues Zimmer. Es kam ihm sehr merkwürdig vor, alleine in seinem neuen Zimmer auf seiner neuen Matratze zu liegen, und nach einigen Überlegungen entschied er sich, aufzustehen und zu Jan zu gehen.

"Darf ich bei dir schlafen?", fragte er und befürchtete abgewiesen zu werden.

Aber Jan sagte, "Ja, komm her; ich bin aber wirklich schon ziemlich müde."

Das war Hannes auch; er legte sich neben Jan, schmiegte sich an ihn und schlief dann gleich ein.

Als Hannes am nächsten Morgen aufwachte, kam Jan gerade ins Zimmer und stellte zwei Tassen Kaffee neben das Bett.

"Gut geschlafen?", fragte er und legte sich wieder neben Hannes.

Hannes kam die Situation ein wenig unwirklich vor; es war, wie es immer war mit Jan, als ob es den Tag gestern und die Probleme wegen Lasse nicht gegeben hätte. Er fühlte sich wohl, als sie zusammen im Bett lagen und Kaffee tranken.

"Du hattest recht gestern, als du sagtest, dass ich nicht ehrlich zu dir war", sagte dann Jan, "Ich hätte dir schon viel früher sagen sollen, was mit mir und Lasse ist, aber ich habe mich halt auch nicht getraut, weil ich dachte, ich würde dir weh tun, wenn ich dir das alles erzähle."

Jan schien auf eine Antwort zu warten, aber Hannes starrte nur in seine Kaffeetasse.

"Ich wollte dir nicht wehtun und am Ende habe ich dich wohl mehr verletzt, als wenn ich gleich alles gesagt hätte."

Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu, "Lasse wird heute kommen, heute Nachmittag, und dann auch hier übernachten.

Er weiß, dass du hier bist, aber er ist ein bisschen eifersüchtig; du darfst es ihm nicht übel nehmen, wenn er ein bisschen komisch ist"

Hannes wusste zu all dem nichts zu sagen; was sollte das heißen, dass Lasse "ein bisschen eifersüchtig" und "ein bisschen komisch" war? Er konnte sich nichts darunter vorstellen.

Nachdem sie eine Weile im Bett gelegen und ausgiebig miteinander gekuschelt hatten, standen sie auf und frühstückten. Jan ging los, um ein paar Dinge zu erledigen und Hannes spazierte alleine durch die Stadt.

Als er zurückkam, waren Jan und Lasse schon da und saßen zusammen in der Küche.

"Ihr kennt euch ja", sagte Jan, als Hannes in die Küche schaute. Lasse hatte immer noch einen grünen Iro und den Nietengürtel; er nickte wortlos.

Hannes fühlte sich ziemlich unbehaglich, da er überhaupt nicht wusste, wie er sich verhalten sollte. Er setzte sich nach kurzem Zögern zu den beiden und beobachtete, wie Lasse mit der Hand über Jans Oberschenkel strich.

"Jan ist vorgestern hier eingezogen", sagte Jan, wohl um die Stimmung ein wenig aufzulockern, "Er wollte weg aus dem Kaff, in dem er gelebt hat, und kennt außer mir ja niemanden in Berlin."

Lasse schwieg.

Um dieser Situation, die er als sehr angespannt empfand, zu entkommen, sagte Hannes, dass er müde wäre und sich hinlegen wollte.

Dann ging er in Jans Zimmer und legte sich auf das Bett. Müde war er eigentlich nicht, aber die Begegnung mit Lasse nahm ihn derart in Beschlag, dass er nichts anderes tun konnte, als im Bett zu liegen und seine Gedanken schweifen zu lassen.

Plötzlich wurde er aus seinen Gedanken herausgerissen, als er Lasses Stimme hörte, "Wohnt er jetzt in deinem Zimmer?", und nachdem Jan verneinte, "Warum liegt er dann in deinem Bett?"

Hannes hatte nicht gehört, dass die beiden ins Zimmer gekommen waren. Lasse schien es ganz und gar nicht zu gefallen, ihn in Jans Bett liegen zu sehen.

"Ist es ok, wenn du in dein Zimmer gehst?", fragte daraufhin Jan, und nachdem Hannes aufgestanden und aus dem Zimmer gegangen war, schloss Lasse gleich die Tür hinter ihm.

Dann hörte er wieder Lasses Stimme, "Erzähl' mir nicht, dass er immer noch mit dir im Bett schläft; du hast mir doch gesagt, dass es vorbei wäre mit Jan."

Hannes fiel wieder in diesen dunklen Trichter, genau so wie gestern; dieses Gefühl, in einen Trichter zu fallen, kannte er von Kindheit an.

Meist ließ es nach kurzer Zeit wieder nach, und Hannes konnte sich vergewissern, noch immer in dieser zwar ungeliebten, aber dennoch vertrauten Welt zu leben, doch diesmal schien es kein Halten zu geben. Er lag auf seiner Matratze und fiel und hörte nicht mehr auf zu fallen.

Nach etlichen Stunden war er eingeschlafen, und als er aufwachte, war es drei Uhr morgens.

Er hörte Geräusche, die aus Jans Zimmer drangen, die er erst nach einer Weile als Jans Stöhnen erkannte. Die beiden waren wohl noch wach und gaben sich ihren sexuellen Abenteuern hin. Hannes lag eine Weile auf seiner Matratze und lauschte ihnen.

Die Geräusche aus Jans Zimmer klangen eigenartig weit weg, und nach und nach merkte Hannes, dass er sich fühlte, als wenn er ganz und gar in Watte eingepackt wäre. Als er dann noch diese Traurigkeit in sich aufsteigen spürte, entschied er sich, spazieren zu gehen.

Er ging in den nahegelegenen Park und setzte sich dort auf eine Bank.

"Jetzt bin ich am Ende des Trichters angekommen", dachte er und sagte diesen Satz mehrmals hintereinander vor sich hin.

Alles schien unendlich weit entfernt, die Geräusche klangen dumpf, die Farben erschienen blass - hierhin war er bis dahin noch nie gelangt, ans untere Ende des Trichters.

Als er zurückging, in sein neues Zuhause, war es schon längst wieder hell geworden. Im Treppenhaus begegnete er Kevin, der auch gerade in die Wohnung ging.

"Wie siehst du denn aus, geht es dir nicht gut?"

Hannes war unfähig etwas zu sagen; stattdessen spürte er, wie seine Wangen feucht wurden.

Kevin legte seinen Arm um ihn und führte ihn schließlich in die Küche, wo er Wasser für Kaffee aufsetzte. Nachdem Hannes sich wieder ein wenig gefangen hatte, erzählte er Kevin von der Begebenheit mit Lasse und vor allen Dingen davon, dass Jan Lasse offenbar versprochen hatte, dass es mit ihm vorbei wäre, mit Jan und Jan.

Als er das sagte, brach er wieder in Tränen aus. Kevin schwieg zu seinen Ausführungen.

Nach einer Weile sagte er, "Ich glaube, es tut dir gar nicht gut, hier zu wohnen. Ich kenne ein paar Leute aus einem besetzten Haus, nicht weit von hier, da kannst du bestimmt für eine Weile unterkommen. Die sind ganz in Ordnung dort."

Er schlug Hannes vor, gleich mit ihm dort hinzugehen, um - wie er sich ausdrückte - "Asyl zu beantragen".

Hannes ließ sich von Kevin zu diesem besetzten Haus führen. Er war erschrocken über die Distanz, die er jetzt zu den Geschehnissen verspürte; die ganze Situation kam ihm vor, als würde er zu seiner Hinrichtung gebracht, aber es machte ihm überhaupt nichts aus, es ließ ihn wortwörtlich kalt.

Das Haus war innen wie außen wild bemalt, und überall lag Müll und Schrott herum; die Leute dort waren aber sehr herzlich.

Als Kevin erzählte, dass Hannes eine Bleibe bräuchte, am Besten sofort, entschieden sie ohne zu zögern, dass er bei ihnen unterkommen konnte. Sie zeigten ihm ein Zimmer und sagten, dass er es vielleicht noch renovieren müsste.

Die Fenster hatten keine Scheiben und der Boden war völlig verdreckt. Hannes sagte, dass er das Zimmer ok fand, und bedankte sich leise dafür, hier wohnen zu dürfen. In dem Zimmer musste wirklich noch einiges renoviert werden. Kevin sagte ihm zu, dabei zu helfen, und meinte, dass es in ein paar Tagen zu machen war.

Sie sahen sich noch ein wenig in dem Haus um und gingen dann wieder zurück, nach Hause, zu Jan. Der saß in der Küche; Lasse war inzwischen gegangen.

Kevin sagte ihm gleich, dass Hannes sich entschieden hätte, in das besetzte Haus zu ziehen, in dem sie gewesen waren. Jan zeigte sich zuerst etwas überrascht, sagte dann aber, "Vielleicht ist es wirklich das Beste; so wie die letzten Tage geht es ja auch wirklich nicht."

"Ich lass' euch jetzt besser alleine", sagte Kevin und ging in sein Zimmer.

Jan und Hannes verbrachten die nächsten Stunden zusammen, ohne etwas miteinander zu reden.

"Bist du mir böse?", fragte Jan und brach damit die Stille, die sie die ganze Zeit umgeben hatte.

Hannes konnte nicht behaupten, dass er Jan böse war; irgendwie verstand er ihn sogar und fand es auch in Ordnung, wie er mit dieser schwierigen Situation umging. Dennoch war er verletzt, sehr verletzt.

Die folgenden Tage verbrachte er in dem besetzten Haus, um sein neues Zimmer herzurichten. Die ersten beiden Male wurde er von Kevin begleitet, der ihm beim Renovieren half. Aber es waren auch im Haus immer genügend Leute da, die mithalfen, sodass Hannes die Renovierungen gut auch ohne Kevin abschließen konnte.

Im Hinterhof des besetzten Hauses standen viele alte Möbel und andere Dinge, die er gebrauchen konnte. Im Keller fand er sogar durchsichtige Plastikfolien, die groß und fest genug waren, um als Ersatz für die Fensterscheiben zu dienen. Hannes ging jeden Tag früh morgens schon los und kam erst abends wieder in Jans WG zurück.

In dem besetzten Haus wurde jeden Tag gekocht und es war selbstverständlich, dass Hannes auch dort aß. Zweimal hatte er beim Kochen auch mitgeholfen. Seine neuen Mitbewohner waren alle wirklich nett; Hannes fühlte sich einigermaßen wohl in dem Haus und in seinem neuen Zimmer - nach dieser ersten Woche fühlte er sich dort eigentlich schon mehr zu Hause als bei Jan.

Lasse hatte er in der ganzen Woche nicht mehr bei Jan angetroffen. Wenn Jan zu Hause war, kuschelten sie abends und schliefen zusammen in Jans Bett; doch meistens war Jan bei Lasse und Hannes schlief in seinem kleinen Zimmer.

Nach einer Woche war es dann soweit; Hannes konnte in sein neues Zimmer einziehen. Kevin war wieder mitgekommen und half ihm, das Zimmer auszufegen.

"Jetzt holen wir auch gleich deine Sachen, und dann ist der Umzug auch schon perfekt", sagte er und sie gingen wieder zurück in Hannes' altes Zuhause, um dort seine Sachen einzusammeln, die schnell gepackt waren.

Kevin half ihm, die Matratze zu tragen, die er mitnehmen durfte. Genauso schnell, wie er aus seinem alten Zimmer ausgezogen war, hatte sich Hannes in seinem neuen Zimmer eingerichtet.

Abends beim Essen waren fast alle versammelt, die in dem Haus wohnten, um ihren neuen Mitbewohner zu begutachten.

"Ich heiße Jan", sagte Hannes und dann stellten sich seine neuen Mitbewohner vor.

Doch das bekam er kaum mit; ihm war, als wenn das Gesagte einen Bogen um ihn machen und ihn nicht mehr erreichen würde. Nachdem er eine ganze Zeit lang schweigend in der Küche gesessen hatte, merkte er, dass er müde wurde und legte sich auf die Matratze in seinem neuen Zimmer.

Jan war nicht zuhause gewesen, als Hannes seine Sachen dort abgeholt hatte; Hannes war ausgezogen, ohne sich zu verabschieden.

Er lag noch lange auf dem Bett und dachte über seinen Umzug nach Berlin nach, darüber, dass alles so völlig anders kam, als er es erwartet hatte, und dass er eigentlich keine Idee hatte, wie es weitergehen sollte.

In Berlin zu sein ohne Jan, darüber hatte er sich nie Gedanken gemacht. Am nächsten Morgen fühlte er sich unendlich schwer. Obendrein hatte er schlecht geschlafen; er musste sich erst an die neue Umgebung gewöhnen. Er kochte sich einen Kaffee in der Küche und nahm ihn mit in sein Zimmer.

Dann klopfte es an seine Tür und einer seiner Mitbewohner schaute herein, "Bist du Jan? Ich glaube, du hast Besuch."

Dann schaute Jan durch den Türspalt und fragte, ob er hereinkommen darf.

Hannes nickte, "Willst du auch einen Kaffee?"

Als er mit einer zweiten Tasse Kaffee wiederkam, sagte Jan, "Ist ja wirklich ganz schön hier"

Hannes nickte.

"Ich wollte mich noch verabschieden, aber du warst gestern nicht da, als ich meine Sachen geholt habe", sagte er und musste sich richtig zusammenreißen, um nicht gleich in Tränen auszubrechen.

"Tut mir leid", sagte Jan, "Ich hatte nicht daran gedacht, dass es schon soweit war";

und nach einer Pause, "Das ist für mich gerade auch nicht leicht, glaub' mir."

Hannes brachte kein Wort hervor.

Er überlegte, ob er Jan jetzt umarmen dürfte; er wusste eigentlich noch nicht einmal, ob er ihn überhaupt umarmen wollte.

Jan schien nicht weniger verunsichert zu sein; auch er brachte kaum ein Wort hervor. Nachdem sie sich - wie es Hannes vorkam - eine Ewigkeit angeschwiegen hatte, sagte Jan, "Es ist wohl besser so. Ich hoffe nur, dass du mir deswegen nicht für immer böse bist."

Hannes schwieg und starrte auf den Boden; dabei fiel ihm auf, dass er trotz intensiven Fegens noch lange nicht sauber war.

Schließlich konnte er seine Tränen nicht mehr zurückhalten und Jan nahm ihn in den Arm, als er anfing zu weinen.

Hannes trudelte tiefer und tiefer in den Trichter und niemand konnte ihn halten, auch Jan nicht. Nach einer Weile sagte Jan, "Hey, das schaffst du schon, wirst du sehen" und ging dann, ohne weiter etwas zu sagen. Das Trichtergefühl blieb, aber Hannes war schon dabei, sich daran zu gewöhnen.

Jan kam immer wieder, um Hannes zu besuchen und Hannes besuchte ihn auch regelmäßig. Sie trafen sich etwa zwei bis dreimal die Woche, meistens nur kurz, manchmal aber verbrachten sie auch einen ganzen Nachmittag miteinander.

Es kam sogar vor, dass Hannes die Nacht bei Jan verbrachte und sie miteinander kuschelten, was sich beinahe so anfühlte wie früher. Doch Hannes fiel es schwer, sich auf diese Art von Verhältnis mit Jan einzulassen, zumal er auch wusste, dass sich Lasse und Jan fast jeden Tag trafen.

Er wurde bei jedem Treffen von einer unendlichen Trauer überwältigt und brauchte hinterher jedes Mal einige Zeit, sich wieder davon zu erholen. Das merkte auch Jan.

"Ich glaube, es tut dir nicht so gut, wenn wir uns treffen", sagte er bei einem dieser Treffen.

Hannes wohnte inzwischen schon über einen Monat nicht mehr bei ihm, aber für ihn war es dennoch, als wenn er erst am Tag zuvor ausgezogen wäre.

Immerhin geschah es nur noch selten, dass er heulen musste, während sie noch zusammen waren, und Jan ihn dann in den Arm nahm. Aber diese Gefühle von Schmerz und Traurigkeit nahmen tatsächlich eher zu als ab mit der Zeit.

Jan sagte, dass er ein wenig besorgt war um Hannes, und schlug vor, dass sie sich in Zukunft nur noch treffen sollten, wenn Hannes es wollte und sich bei ihm meldete. Es fiel ihm schwer, es einzugestehen, aber Hannes fand es auch vernünftig, es so zu handhaben.

"Du musst lernen, dein eigenes Leben zu führen; du kannst nicht ewig Dingen nachtrauern, die es nicht mehr gibt", sagte Jan und hatte irgendwo auch Recht damit.

Hannes fühlte sich schwerer und schwerer, je mehr er darüber nachdachte.

"Mein eigenes Leben", wiederholte er.

Er hatte überhaupt keine Vorstellung, was das sein sollte, sein "eigenes" Leben. Jan war sein Leben und vor Jan war Len sein Leben gewesen; jetzt war da nichts mehr, einfach nichts.

Hannes sagte, dass er fand, dass Jan Recht hatte und dass auch er schon daran gedacht hatte, dass es vielleicht besser wäre, wenn sie sich nicht so oft sehen würden.

Er wünschte sich, noch einmal bei Jan zu übernachten, mit ihm in seinem Bett, und versprach, dass es das letzte Mal sein würde.

"Jetzt werde nur nicht dramatisch", sagte Jan, aber willigte ein.

Eigentlich war er am Abend mit Lasse verabredet, aber er rief ihn an und sagte die Verabredung ab.

"Deswegen werden wir uns morgen bestimmt wieder ganz schön streiten, aber das bin ich dir, glaube ich, schuldig."

Hannes genoss es, Jan neben sich zu spüren, und machte in der Nacht kein Auge zu.

Als Jan schon längst eingeschlafen war, stand er auf, um in die Küche zu gehen. Dafür zog er sich Jans Armeehose an, betrachtete sich im Spiegel und genoss es, Jan zu spüren, indem er seine Hose spürte.

Er saß schon eine Weile in der Küche, als Jan hereinkam, "Du kannst nicht schlafen?" Hannes nickte.

Jan setzte sich neben ihn und legte seine Hand auf seinen Oberschenkel, "Ist das meine Hose? Die schenke ich dir. Ich finde, die passt gut zu dir."

Hannes schmiegte sich an Jan und nach einer Weile legten sich beide wieder ins Bett.

Am nächsten Morgen ging Hannes, gleich nachdem sie einen Kaffee getrunken hatte. Er meldete sich die nächsten Tage nicht bei Jan.

Etwa eine Woche später rief Jan an, um ihn zu seiner Geburtstagsfeier einzuladen. Jan hatte genau ein halbes Jahr später Geburtstag als Hannes, er war genau zwei ein halb Jahre älter. Hannes stellte sich vor, dass von außen betrachtet die Positionen, die die Erde an ihren jeweiligen Geburtstagen im Sonnensystem einnahm, die größte mögliche Distanz voneinander hatten; zumindest fast. Das hatte er früher nie bedacht.

Die Geburtstagsfeier war eine richtige Party. Jans Wohnung war voll von Leuten, die Hannes nicht kannte; Lasse war natürlich auch da. Er fing sehr schnell an, sich unwohl zu fühlen, und ging, ohne etwas zu sagen, nachdem er noch nicht einmal eine Stunde dort verbracht hatte.

Jans Hose trug er jeden Tag, seit er sie bekommen hatte; durch sie fühlte er sich Jan immer noch nahe. Jans Namen hatte er auch endgültig erhalten. In Berlin kannten ihn alle nur als "Jan" und außer Jan wusste hier niemand, dass er in Wirklichkeit "Hannes", oder sogar "Johannes" hieß.

Er hatte sich auch schnell an "Jan" gewöhnt, sodass es ihm merkwürdig vorkam, wenn ihn seine Eltern am Telefon "Johannes" nannten. Jetzt war er Jan, der immer eine Armeehose und zwei T-Shirts trug und in einem besetzten Haus in Berlin wohnte; vielleicht war das ja sein "eigenes Leben".

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