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Hinein ins Leben

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„Au! Ist das heiß!“, entkam es Tim, als er seinen rechten großen Zeh ins Badewasser tauchte. Sofort zog er den Fuß wieder zurück und ließ noch ein wenig kaltes Wasser einlaufen. Nachdem er die Temperatur ein zweites Mal geprüft hatte, drehte er den Hahn zu und ließ sich ins dampfende Nass gleiten. Entspannt lehnte er sich zurück, sodass nur noch sein Kopf aus den Schaumbergen herausragte. „Das war ein Tag!“, dachte er. Vor einigen Stunden war er noch fleißig damit beschäftigt gewesen, bei dem Umzug seiner vier Jahre älteren Schwester mitzuhelfen.

Nicht nur Kisten und Kartons hatte er schleppen müssen, sondern auch sämtliche Möbelstücke, die seine Schwester unbedingt in ihrer neuen Wohnung benötigte – inklusive Kleiderschrank und Couch. Zwar hatte er dies alles zusammen mit seinem Vater und seinem Onkel hinaufgetragen, doch selbst zu dritt war es ein langer Weg bis in den vierten Stock gewesen. Seine Mutter war bei der ganzen Aktion überhaupt keine Hilfe gewesen, denn sie hatte sich bloß stets darüber beschwert, „ihre Männer“ würden nicht schnell genug arbeiten und sie sollten „doch mal hinne machen“. Daraufhin hatte sein Vater nur gebrummt, sie sollte nicht meckern, sondern lieber „mit anpacken“, was seine Mutter natürlich nicht getan hatte. Sie hätte sich die Fingernägel erst neulich machen lassen und könnte es nicht zulassen, dass einer von ihnen abbrach. So hatte sie sich mit ihren lackierten Nägeln auf den Gehweg gestellt und Anweisungen gegeben, während sein Vater weiter vor sich hinbrummte und sein Onkel Lars sich alle fünf Minuten darüber ausließ, dass es in dem Treppenhaus keinen Aufzug gab, worüber „man sich eigentlich beschweren müsste“. Tim selbst hatte die Diskussionen schweigend hingenommen, schließlich war er von seiner Familie nichts anderes gewohnt. Mit zusammengebissenen Zähnen hatte er sich die vielen Stufen hinaufgearbeitet, immer und immer wieder, ohne dass sich auf der Ladefläche des Kleinlasters ein Ergebnis gezeigt hätte. Erst als seine Schwester erklärt hatte, dass es für drei hinaufgetragene Kartons oder ein großes Möbelstück eine Flasche Bier gab, war die Motivation bei ihnen erwacht, und so hatten sie es doch noch bis Ende des Nachmittages geschafft, alles nach oben zu tragen.

Nun war es spätabends und Tim lag ein wenig betrunken und mit schmerzenden Armen und Beinen in der Badewanne und schwor sich, dass er nie wieder bei einem Umzug mithelfen würde. Für den Tag, an dem er einmal von zu Hause ausziehen würde, hatte er sich fest vorgenommen, Möbelpacker zu engagieren. Damit ersparte man sich einen gehörigen Muskelkater und man hatte zusätzlich noch etwas zu gucken, schließlich waren diese Typen oft sehr gut gebaut.

Lächelnd schloss er die Augen und stellte sich die großen, breitschultrigen Männer vor, die in engen Jeans und mit nacktem Oberkörper ihrer Arbeit nachgingen. Er sah braungebrannte, glatt rasierte Haut, muskulöse Oberarme, große, kräftige Hände und Sixpacks, und wie auf Kommando meldete sich unter Wasser etwas im Bereich seiner Lenden. „Klein Tim“ war erwacht und wollte gestreichelt werden. Da Tim ihm diesen Wunsch nicht verwehren wollte, ließ er seine Hand nach unten gleiten und gab sich seiner Lust hin.

Es war ein heißer Sommertag gewesen, der jedoch nun, da der Abend langsam in die Nacht überging, auf eine angenehme Gradzahl herabgekühlt war. Die Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben, ging Jonas die Straßen entlang, während hoch über ihm die letzten kleinen Wolken gen Süden zogen. Angestrahlt von der untergehenden Sonne, waren sie goldene Streifen, die sich über den orange-goldenen Himmel erstreckten. Jonas interessierte dieses Naturschauspiel nicht im Geringsten. Mit hängenden Schultern schlich er den Gehweg entlang. Seine traurig blickenden Augen betrachteten im Vorübergehen die Umgebung. Durch den leichten Wind rauschten die Blätter in den Bäumen, Vögel flogen zwitschernd darüber hinweg, Autos fuhren rasch an ihm vorbei und Menschen kamen ihm entgegen. Doch für Jonas waren dies bloß Dinge, die weit von ihm entfernt lagen. Nichts von dem, was um ihn herum passierte, schien die schmerzhafte Leere zu erreichen, die in seinem Herzen existierte. Es war, als hätte sich ein Schatten über die Welt gelegt, ein Schatten, der tief aus seinem Inneren kam und der jegliches Leben unter sich begrub. Jonas seufzte. Die Einsamkeit und die Sehnsucht, die an seiner Seele nagten, trieben ihm die Tränen in die Augen, doch er versuchte sie zu unterdrücken. Er wollte nicht, dass ihn jemand weinen sah. Im Grunde wollte er, dass ihn überhaupt niemand sah. Er wollte verschwinden, und zwar für immer.

Erschöpft, aber glücklich ließ sich Sina auf ihre Couch fallen. Mit einem herzzerreißenden Gähnen streckte sie ihre langen Beine von sich und sah sich in ihrer neuen Wohnung um. Überall standen Kisten herum, Kleidungsstücke lagen verstreut auf dem Boden und die meisten Möbel waren noch nicht zusammengebaut worden. Es herrschte ein heilloses Durcheinander und doch war sie mehr als nur zufrieden. Endlich eine eigene Wohnung! Sie musste sich unbedingt noch bei ihrer Familie dafür bedanken, dass sie ihr beim Umzug geholfen hatte. Sobald sie die Wohnung komplett eingerichtet hatte, würde sie alle zu einem Festessen einladen, überlegte sie sich. Bei dem Gedanken daran knurrte ihr plötzlich der Magen. Sie hatte noch nicht zu Abend gegessen. Also stand sie auf und schlenderte in die Küche. Wenige Minuten später kehrte sie mit einem Teller Schnittchen und einem Glas Cola zurück ins Wohnzimmer und nahm erneut auf dem Sofa Platz. Während sie die Brote mit der einen Hand aß, blätterte sie mit der anderen in einer billigen Frauenzeitschrift und las Artikel über „die Stars und Sternchen“, wie ihre Mutter immer zu sagen pflegte. Zwischendurch nahm sie hin und wieder einen Schluck ihrer Cola und warf nebenbei einen kurzen Blick durch den Raum. Dabei huschte jedes Mal ein Lächeln über ihre Lippen. Endlich ihre eigenen vier Wände!

Jonas hatte ungefähr die Hälfte seines Weges zurückgelegt. Die Sonne war hinter dem Horizont verschwunden und nun zeigten sich bereits vereinzelte Sterne am Himmel. Jonas hob seinen Blick und betrachtete die kleinen, glitzernden Punkte über ihm. Schön sahen sie aus, doch auch sie konnten ihm kein Lächeln ins Gesicht zaubern. Immer noch lag ein Mantel von Trauer um ihn, drückte auf seine Schultern und machte ihm das Vorankommen schwer. Seine Beine fühlten sich an, als wären sie aus Blei, seine Füße wollten sich kaum noch heben lassen. Aber es widerstrebte ihm, jetzt umzukehren. Er war zu weit gekommen, um seine Entscheidung noch einmal zu ändern. Sein Ziel lag nicht mehr weit entfernt und er würde seinen Weg um jeden Preis fortsetzen. Zu verlieren hatte er sowieso nichts. „Mich hält hier nichts mehr“, murmelte er leise.

Die Möbelpacker hatten gute Arbeit geleistet. Mit zahlreichen Phantasien von den muskulösen Männern und unter den Bewegungen seiner rechten Hand erreichte Tim sehr bald den Höhepunkt. „Klein Tim“ bedankte sich mit einem letzten Gruß bei seinem Besitzer und war damit im wahrsten Sinne des Wortes befriedigt. Glücklich lächelnd öffnete Tim die Augen. Umzüge hatten doch etwas Gutes an sich, stellte er fest. Vielleicht sollte er sich bei seiner Schwester dafür bedanken, dass sie von zu Hause ausgezogen war, dachte er grinsend. Mit strahlender Laune griff er nun nach seinem Shampoo, wusch sich die Haare und stieg dann aus dem Wasser. Er war jetzt topfit. Während er sich abtrocknete, überlegte er, ob er noch genügend Taschengeld für diesen Monat übrig hatte, um einen trinken zu gehen. Oder er könnte zu seinem besten Freund fahren und dort mit ihm ein Bier heben. Er entschied sich schließlich für Letzteres, und mit diesem neuen Plan ließ er das Wasser aus der Badewanne, cremte sich mit Bodylotion ein und zog sich an.

Jonas’ Herz schlug schneller, als er sich seinem Ziel näherte. Er war in einer einsamen Gegend gelandet, auf deren Straßen keine Autos mehr fuhren und nur noch wenige Leute unterwegs waren. Der Himmel über ihm hatte sich nun vollkommen verdunkelt und Millionen von Sternen blickten auf ihn herab. Die Nacht war – da der Mond nicht schien – schwarz und unendlich ruhig. Jonas hörte bloß seinen eigenen, keuchenden Atem und seine Schuhe, die auf das Pflaster klopften. Er hatte innerhalb der letzten zehn Minuten an Geschwindigkeit zugelegt, doch da er sich jetzt seinem Ziel gegenüber sah, blieb er stehen. Angst legte sich auf seine Brust und sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Seine Hände, die er nicht mehr in den Taschen vergraben hatte, wurden feucht und zitterten leicht. Sein Blick wanderte die lange Brücke hinunter. Es war die Brücke, die den Stadtteil, in dem er wohnte, und den angrenzenden Stadtteil verband und die über die Autobahn führte. Schon oft war er über diese Brücke gegangen, doch heute würde er das andere Ende nicht erreichen.

Sina hatte ihr Abendbrot beendet und die Zeitschrift gegen ihren Lieblingsroman eingetauscht, den sie ganz oben in der Kiste mit den Büchern verstaut hatte, und statt dem Glas Cola genoss sie nun einen lieblichen Rotwein. Ihre Augen schmerzten bereits ein wenig vor Müdigkeit, aber sie hatte sich dazu entschlossen, das eben angefangene Kapitel zu Ende zu lesen, bevor sie ins Bett ging. Gähnend rieb sie sich mit der Hand über ihre schweren Lider und hielt dann einen Moment inne, um der Ruhe zu lauschen, die sie umgab. Sie lächelte. Keine Eltern, kein kleiner Bruder weit und breit. Überglücklich widmete sie sich wieder ihrem Buch und tauchte zurück in die fesselnde Liebesgeschichte in ihren Händen.

„Ein Stern, der deinen Namen trägt…“, sang Tim, während er sich die Haare stylte. Er hatte gute Laune. Nein, mehr als das. Er war in Partystimmung.

Als er mit seiner Frisur fertig war, wusch er sich die Hände und machte anschließend von seinem Parfum Gebrauch. Zufrieden betrachtete er sein Spiegelbild. „Du siehst heute wieder richtig gut aus, Tim“, grinste er sich selbst an und verließ dann das Bad.

In seinem Zimmer packte er rasch einige Sachen für die Nacht zusammen, steckte seinen Hausschlüssel in die Hosentasche und schlüpfte zu guter Letzt in seine Turnschuhe. Nachdem er sich von seinen Eltern verabschiedet hatte, holte er sein Fahrrad aus der Garage und machte sich auf den Weg.

Jonas spürte, wie seine Knie weich wurden, als er auf die Brücke trat. Seine Beine schienen schwer wie Blei zu sein und er hatte große Mühe, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die Angst vor dem, was passieren würde, schnürte ihm die Kehle zu. Er hörte, wie sein Herz heftig schlug. Es raste förmlich. Dennoch ging er weiter, ging weiter die Brücke entlang, bis er ungefähr die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte. Er legte beide Hände auf das Geländer und schaute hinunter. Tausende von Lichtern huschten über die Autobahn. Er hörte die Geräusche der Motoren und seine Angst wurde größer. Tränen traten ihm in die Augen und rannen seine Wangen hinab.

Fröhlich vor sich hin pfeifend fuhr Tim die Straßen entlang. Der Dynamo seines Fahrrads summte laut, während er in die Pedale trat, und die Lampe warf einen gelben Kegel vor ihn auf den Asphalt. Zusätzlich spendeten ihm die Straßenlaternen genügend Licht, sodass er seinen Weg durch die Dunkelheit fand. Er schaute kurz hinauf zum Firmament und betrachtete die funkelnden Sterne. Grinsend begann er wieder zu singen: „Ein Stern, der deinen Namen trägt…“

Jonas verstärkte seinen Griff. Zitternd und mit einem Tränenschleier vor den Augen stütze er sich auf das Geländer und schwang langsam ein Bein hinüber. Es schien ihm eine Ewigkeit zu dauern, bis er endlich auf der anderen Seite stand, den Rücken an die Stäbe gepresst und seine Hände an das kalte Eisen geklammert. Er war nun nicht mehr stumm. Leise schluchzend stand er zwischen Himmel und Erde, während immer mehr Tränen von seinem Gesicht tropften. Bilder schossen ihm plötzlich durch den Kopf. Bilder von seinen Eltern und von seinen Freunden. Sicher, sie würden ihn vermissen, und es tat ihm leid. Schrecklich leid. Doch er konnte nicht zurückgehen. Wenn sie wüssten, was mit ihm los war, warum er diesen Schritt tun wollte… Er schluchzte erneut – diesmal lauter. Seine Eltern, seine gesamte Familie, seine Freunde – sie würden sich alle von ihm abwenden. Wenn sie wüssten, was mit ihm los war… Sie würden ihn hassen. Wenn sie wüssten…

Sina hatte ihr Kapitel beendet. Müde klappte sie das Buch zu und erhob sich vom Sofa. Sie gähnte. Da sie keine Lust mehr hatte noch irgendetwas wegzuräumen, ließ sie Buch und Wein wo sie waren und schlurfte ins Bad. Sie holte ihre Zahnbürste aus ihrem Kosmetikbeutel und putzte sich die Zähne. Anschließend wusch sie sich das Gesicht, kämmte sich die Haare und band sich mit gekonnten Handgriffen einen Zopf. Nach einem weiteren Gähnen schaltete sie das Licht im Badezimmer aus und machte sich auf den Weg in ihr Schlafzimmer.

Tim hatte mit dem Singen aufgehört, was allerdings bloß daran lag, dass ihm der Text entfallen war. So summte er leise vor sich hin, während er weiter durch die Nacht fuhr. Fast hatte er den angrenzenden Stadtteil erreicht.

Wenn sie wüssten, dass er anders war. Jonas schloss die Augen. Er hasste es, anders zu sein. Der Schmerz in seinem Inneren wurde größer und die Tränen flossen schneller. Er umklammerte das Geländer noch fester, bis seine Arme vor Anstrengung zitterten. Sein Schluchzen wurde lauter. Er hasste es, anders zu sein.

Sina drehte sich auf der Schwelle zu ihrem Schlafzimmer um und betrachtete noch einmal ihre neue Wohnung. Sie lächelte. „Willkommen in einem neuen Leben“, dachte sie glücklich. Dann ging sie ins Bett.

Tim grinste. Seine gute Laune war unglaublich.

Jonas weinte. Er konnte nicht mehr damit aufhören. Er war anders. Er war schwul. Und er würde es beenden.

Getragen von seinem treuen Fahrrad näherte Tim sich der Brücke, die über die Autobahn führte. Er war schon oft hinüber gefahren.

Jonas schaute zu den Sternen hinauf. Er traute sich nicht, nach unten zu sehen.

Tim fuhr über die Brücke.

Langsam löste Jonas den Griff. Millimeter um Millimeter ließ er das Geländer los.

Zuerst sah Tim die Gestalt nicht. Sie war ein dunkler Schatten vor dunklem Hintergrund. Im ersten Moment dachte er sich nichts dabei, doch schon ein paar Sekunden später blieb ihm das Herz stehen. Seine gute Laune war verschwunden.

Jonas hörte das Summen des Dynamos und betete, der Radfahrer möge vorbeifahren. Er wollte nicht gesehen werden. Er umklammerte wieder das kalte Eisen.

Die Gestalt dort auf der Brücke stand auf der anderen Seite des Geländers! Tim bekam Angst. Für den Bruchteil einer Sekunde zögerte er, doch dann hielt er an und stieg vom Rad.

Jonas schloss die Augen, als er die Schritte hörte. Der Radfahrer kam auf ihn zu.

Tim näherte sich der Gestalt. Er wusste nicht, was er sagen oder wie er sich verhalten sollte. Langsam ging er auf die Person zu.

„Hey! Oh, mein Gott! Bitte… Tun Sie das nicht!“, sagte der Radfahrer stotternd. Jonas erstarrte. Er kannte diese Stimme.

Nach wenigen Metern hatte Tim die Person erreicht. Mit Entsetzen stellte er fest, wer dort auf der anderen Seite des Geländers stand.

„Oh, mein Gott! Jonas!“, stammelte er. Sofort traten ihm Tränen in die Augen und er schüttelte den Kopf, als könnte er dadurch das furchtbare Bild vertreiben. „Tu das nicht“, flehte er leise.

Jonas weinte. „Ich muss das tun“, entgegnete er mit zitternder Stimme. „Nein, das musst du nicht“, widersprach Tim und legte seinem besten Freund eine Hand auf die Schulter. „Komm zurück. Bitte!“, drängte er. Auch er weinte jetzt. „Ich bitte dich“, flüsterte er.

Jonas antwortete nicht. Er starrte auf die vielen Lichter unter ihm. Tims Hand ruhte auf seiner Schulter und er schüttelte den Kopf, als könnte er sie dadurch abwehren.

„Jonas! Bitte… Ich… Ich kann das nicht…“ Tims Stimme versagte. Er weinte. Jonas weinte mit. „Komm zurück“, bettelte Tim.

Jonas schluckte schwer. „Ich muss das tun“, wiederholte er. „Es... Es geht nicht anders.“ „Es geht immer anders“, versicherte Tim. „Das… Das ist keine Lösung. Bitte, Jonas, tu es nicht.“

Sie schwiegen. Beide hatten das Gefühl, als wäre die Welt stehen geblieben. Sie hörten bloß ihr eigenes Schluchzen und den Wind, der durch die Baumkronen strich. Und die Autos, die unter ihnen fuhren.

Tim griff nach Jonas’ anderer Schulter und hielt ihn fest. „Ich kann das nicht zulassen! Bitte, Jonas… Komm zurück!“

Jonas schüttelte den Kopf, doch dann hielt er inne. Vielleicht war dies ein Zeichen. Vielleicht sollte er seinem Leben noch eine Chance geben. „Ich… Ich weiß nicht…“, sagte er unsicher.

Tim schöpfte Hoffnung. „Du weißt es“, beteuerte er. „Du kannst das. Du kannst wieder zurück.“ Er drückte seinem Freund die Schulter. „Ich helfe dir.“

Jonas zögerte. Sollte er wirklich wieder umkehren? Tim hielt ihn immer noch fest. Vielleicht war es einen Versuch wert.

„Nein!“, hörte Tim Jonas sagen. „Ich kann nicht mehr zurück.“ Tims Hoffnung erstarb wieder. Erneut füllten sich seine Augen mit Tränen. „Aber…“ Sein Kinn zitterte. „Warum?“, fragte er.

Jonas’ Tränen versiegten. Warum. Warum, warum, warum… Er sah zu den Sternen hinauf. Er sah auf die Lichter unter ihm. „Weil ich anders bin“, antwortete er mit schwacher Stimme.

„Anders? Was bedeutet ‚anders’?“, wollte Tim wissen, doch Jonas gab ihm keine Antwort darauf. Nach quälenden Minuten des Schweigens sagte er: „Egal, was es ist. Der Tod ist keine Lösung. Glaub mir!“ Er hielt Jonas noch fester. „Ich lasse dich nicht los. Und wenn wir hier die ganze Nacht stehen.“

Jonas seufzte. Warum musste ausgerechnet Tim heute über die Brücke fahren? Er war so kurz davor gewesen.

„Na gut“, murmelte er schließlich. Langsam löste er eine Hand vom Geländer.

Tim hielt den Atem an, als Jonas sich Zentimeter für Zentimeter herumdrehte. Er umfasste seine Handgelenke, falls er abrutschen sollte.

Jonas hatte Mühe, zurück über das Geländer zu klettern. Seine Beine zitterten und er fürchtete, sie würden unter ihm nachgeben, doch Tim hielt ihn fest. Selbst als er eine Ewigkeit später neben ihm auf der Brücke stand, ließ Tim ihn nicht los.

„Was bedeutet denn nun ‚anders’?“, wollte Tim wissen und sah Jonas erwartungsvoll an. Dieser senkte den Blick.

„Ich… Ich bin… Ich bin schwul“, gestand Jonas.

Tim erstarrte für einen Moment. Schwul? Jonas war schwul?

Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und er schloss Jonas in seine Arme. „Aber deswegen muss man doch nicht so etwas tun!“, sagte er und drückte Jonas fest an sich. Er schaute ihm in die Augen und fuhr mit einer Hand durch sein Haar. „Weil man schwul ist, muss man sich doch nicht umbringen!“ Er strich seinem Freund über die Wange. „Ich bin auch schwul“, erklärte er ihm.

Jonas’ Augen wurden größer. „Wirklich?“, fragte er überrascht. „Wirklich“, bestätigte Tim und lächelte. Jonas lächelte ebenfalls. Erleichtert fiel er ihm um den Hals und Tim drückte ihn erneut an sich.

So verharrten sie eine Weile, bis Tim sich ein wenig aus der Umarmung löste. Er schaute Jonas ins Gesicht. „Alles wieder gut?“, fragte er und Jonas nickte. „Danke“, sagte er. Tim lächelte. „Dafür musst du mir nicht danken“, meinte er. Jonas schwieg, da ihm nichts einfiel, was er hätte erwidern können. So schaute er Tim bloß tief in die Augen.

Bevor er wusste, wie ihm geschah, wanderte Tims Hand an seinen Nacken und zog ihn sanft an sich heran. Automatisch schlossen sich Jonas’ Augen. Er spürte Tims Lippen auf seinen und er öffnete den Mund. Zärtlich drang Tims Zunge in ihn ein. Jonas ließ ihn gewähren und sie verloren sich in einem lang anhaltenden Kuss.

Als Tim sich von Jonas löste, strahlte dieser über das ganze Gesicht. Tim erwiderte das Lächeln und lehnte seine Stirn an die von Jonas. „Willkommen im Leben“, sagte er. „Ja. Willkommen im Leben“, wiederholte Jonas in Gedanken und setzte zum zweiten Kuss an. Endlich wusste er, was es bedeutete, schwul zu sein. Er war überglücklich.

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