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Hauptsache ist...

Teil 1

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Hauptsache ist…

-1-

Morgens, halb elf in Deutschland, Peine, Gymnasium am Silberkamp. Die Schüler und Schülerinnen warteten sehnsüchtig auf das Ende der dritten Stunde. Die Zeugnisse waren alle verteilt worden und jeder wollte schnellst möglich in die Ferien stürmen, abends mit Freunden die guten Noten mit Alkohol feiern oder die Schlechten darin ertränken.

Draußen schien die Sonne, das Land und die Leute erwärmend.

„Hat diese Schule keine Klimaanlage?“, dachte Nico. Sein Sitznachbar, Nils, war auch nicht gerade von der Hitze begeistert.

„Ab ins Freibad!“, rief er, als er läutete und alle aus der Klasse stürmten. Es wurden Wangen geküsst, Hände geschüttelt und Abschiedsgrüße verteilt. Dann gingen sie alle in kleinen Gruppen auseinander.

Nico, Nils, Lisa und Cindy wurden vor dem Schulgebäude von ihren Freunden empfangen.

„Und, wie sieht's aus? Alle Einsen und Zweien auf dem Zeugnis?“, fragte Natascha. „Nee, nicht ganz.“, antwortete Nico.

„Dreien, Vieren… Na ja, das Übliche eben. Und bei dir?“

„Ach“, sie sah ihn an und grinste.

„Schweigen wir drüber. Meine guten Noten würden dich nur deprimieren.“ „Wie sieht denn dein Zeugnis aus?“, fragte Lucy Nils.

Er seufzte. „So, wie ich's erwartet hatte. Miserabel, kann man sagen. Aber egal.“ Er legte ihr den Arm um die Schultern.

„Jetzt wird nicht mehr an Schule gedacht. Fun ist angesagt.“

Die anderen stimmten jubelnd mit ein. Schon schwangen sie sich auf ihre Fahrräder und fuhren ins Reich der unbegrenzten Möglichkeiten, in einen wunderbaren Teil des Lebens voller Freiheit, Spaß und Parties.

Die Sommerferien hatten angefangen.

„Arschbombe!“, rief Fabian, als er sich vom Drei-Meter-Brett stürzte. Das Wasser spritzte zu allen Seiten.

„Hey, du Kunstspringer! Wie wär's mit 'nem kleinen Wettschwimmen?“ Dennis und Basti sahen ihn herausfordernd an.

„Na gut, wenn ihr unbedingt verlieren wollt. Ich bin dabei. Wie viele Bahnen?“

„Zwei. Der Gewinner kriegt von den Verlieren 'ne Portion Pommes und 'ne Cola spendiert.“

„Alles klar.“

„Auf die Plätze, fertig,“ rief Dennis. „Los!“

Alle drei stießen sich vom Rand des Beckens ab und schossen durch das Wasser auf das Ende der ersten Bahn zu. Dort angekommen wendeten sie geschickt, und es ging dieselbe Strecke zurück.

„Sieg, Sieg!“, lachten Basti und Dennis, die gleichzeitig am Ziel angekommen waren. Wenige Sekunden später erreichte Fabian den Rand des Beckens.

„Tja, sieht so aus, als ob du uns Pommes und 'ne Cola schuldest.“, grinste Dennis. „Jedem von uns.“, ergänzte Basti.

„Pah! So viel Geld hab ich gar nicht.“, meinte Fabian und wollte wegschwimmen.

„Nee, nee. Wette ist Wette.“

„Genau. Und wer nicht zahlen will…“ Die beiden sahen sich grinsend an „…der wird gnadenlos untergetaucht.“

Bevor er wusste wie ihm geschah, wurde Fabian von den beiden Brüdern unter Wasser gedrückt. Hustend und nach Luft schnappend kämpfte er sich wieder an die Oberfläche. Doch sofort tauchte er wieder unter und zog Dennis an den Beinen. In kürzester Zeit war von den drei Jungs nicht mehr zu sehen, als vereinzelte Arme und Hände oder ab und zu mal ein Kopf.

Auf der Wiese neben den Schwimmbecken lümmelten die anderen auf Decken unter einem Baum.

„Was hörst du denn gerade?“

„Hm?“ Natascha nahm die Kopfhörer aus den Ohren.

Lisa lächelte. „Was du hörst, hab ich gefragt.“

„Ice in the sunshine von den No Angels. Willst du mithören?“

„Mhm.“ Natascha schob den Discman ein Stück weiter zu Lisa und reichte ihr einen der beiden Kopfhörer.

„Nils?“

„Hm?“ Er war gerade in die neueste Bravo vertieft.

„Cremst du mir den Rücken ein?“

Sofort warf Nils die Zeitschrift weg. „Aber natürlich mein Schatz!“ Er griff sich die Sonnenmilch, während Lucy sich wieder auf den Bauch legte.

Cindy sah zu Nico hinüber, der einen halben Meter neben ihr in der Sonne brutzelte. „Duhu?“ Sie stupste ihn an.

„Was denn?“

„Tust du mir einen Gefallen?“

„Welchen denn?“

„Holst du mir ein Eis?“ Er drehte ihr den Rücken zu.

„Hol's dir selbst.“ Cindy zog einen Schmollmund, stand dann aber auf, nahm ihr Portemonnaie und ging zum Kiosk. Als sie wiederkam – Dennis, Basti und Fabian waren inzwischen von ihrer Wasserschlacht zurückgekehrt – hielt sie Nico das noch eingepackte Eis an den Nacken. Dieser schrie erschrocken auf, sodass alle lachten. „Spinnst du?! Ich krieg noch 'nen Herzinfarkt wegen dir.“

„Selbst Schuld.“ Cindy war mit sich sehr zufrieden.

Sie alberten noch eine Weile herum, doch dann war es Zeit aufzubrechen.

„Hey, Fabian! Lust auf ein kleines Wettrennen?“

Dennis grinste frech. „Nee, danke. Sonst muss ich euch nachher vielleicht noch mein Rad geben.“

„Wäre doch ein guter Einsatz.“

Das Mephisto war laut, verraucht und voller Menschen.

Nico und die anderen saßen in einer Ecke und redeten über Gott und die Welt, als plötzlich jemand an ihren Tisch trat.

„Hi!“

„Oh, hallo.“

Neun Paar Augen schauten zu dem Neuankömmling auf.

„Setz dich.“, meinte Lisa, rutschte mit dem Stuhl ein Stück zur Seite und ließ Kim Platz nehmen.

„Wusste gar nicht, dass ihr auch hier seid.“

Er zündete sich eine Zigarette an. „Wie lange seid ihr denn schon hier?“

Nico sah auf die Uhr. „Halbe Stunde circa. Und du?“

„Zwei Minuten.“, grinste Kim. „Eigentlich wollte ich mich ja zu Hause vor den PC setzen und chatten, aber dann hat mein Alter wieder Stress gemacht. Da bin ich lieber abgehauen.“

Lisa berührte vorsichtig seine aufgeschlagene Lippe und fragte mitleidig: „Hat er dich geschlagen?“

Kim zuckte zusammen. Seine Augen wurden kalt; er nickte. Dennis und Basti warfen sich vielsagende Blicke zu.

„Ihr braucht gar nicht so zu gucken.“, schnauzte Kim.

„Das passiert in anderen Familien auch.“, fügte er mit gesenktem Kopf hinzu.

„Aber du hast ständig blaue Flecke oder aufgeschlagene Lippen!“ Cindy sah ihn besorgt an. Er zuckte nur mit den Schultern.

„Du solltest zum Jugendamt gehen, die können da sicher etwas machen…“

Kim lachte verbittert. „Ja, mich ins Heim stecken können die. Und das werden die garantiert auch machen. Nee, in zwei-drei Jahren zieh ich eh aus und so lange beiß ich mich da durch.“

„Na, wenn du meinst.“

„Mann, wo bleibt die Bedienung, ich hab Durst. Normalerweise laufen doch hier ständig welche rum.“

Lisa schob Kim ihr Glas zu. Er lächelte sie an.

„Eigentlich hätte ich ja lieber ein Bier, aber gut.“

Nachdem er einen großen Schluck getrunken und Lisa ihr Glas wiedergegeben hatte, fragte er:„Warum trinkst du überhaupt Cola? Da ist so viel Zucker drin…“

„Na und?“

„Na, ich meine, das hast du doch gar nicht nötig. So süß wie du bist.“

Lisa wurde rot, Kim grinste. Die beiden fingen an heftig zu flirten, was Fabian gar nicht gefiel. Er wollte schon lange etwas von Lisa, hatte sich aber noch nicht getraut, es ihr zu sagen. Wie er so den beiden gegenüber saß und Kim böse Blicke über den Tisch hinweg zuwarf, bemerkte er nicht, dass Cindy sich bemühte, mit ihm ebenfalls einen Flirt zu starten. Enttäuscht wandte sie sich an Dennis, der neben ihr saß.

„Er beachtet mich gar nicht.“, meinte sie leise.

„Nimm's nicht so schwer, Süße.“

Dennis legte ihr den Arm um die Schultern.

„Er hätte dich doch gar nicht verdient.“

„Hm.“

„Im Ernst, ich finde, Lisa und Fabian würden perfekt zusammenpassen.“

„Würden er und ich auch. Was findet er überhaupt an der?“

„Na, na. Werd jetzt bloß nicht zickig. Lisa ist immerhin deine Freundin.“

„Ja, schon.“ Cindy seufzte. „Es ist nur so unfair.“

„Ach, du wirst schon noch jemanden finden. Dieser Jemand wird dich dann von ganzem Herzen lieben, alles für dich tun, dir jeden Wunsch von den Lippen ablesen…“

„Ist gut. Ich hab verstanden.“, lachte sie.

„Siehst du.“ Dennis lächelte. „So gefällst du mir schon besser.“

„Mach schon!“ Kim zündete sich eine Zigarette an, während der Computer hochfuhr. „Na endlich!“ Eine halbe Minute später war er im Chatroom, wo Nici schon auf ihn wartete. Die beiden fingen sofort ein Gespräch an.

Nici war ein Mädchen, das er vor zwei Monaten zufällig im Chat getroffen hatte. Da sie erst neu angemeldet war, hatte er sie mit all den Befehlen wie /kiss (küssen), /blumen (Blumen schenken) usw. vertraut gemacht. Schnell hatten sich die beiden angefreundet und Kim musste sich gestehen, dass er sich, obwohl er Nici nicht persönlich kannte, in sie verliebt hatte.

„Wollen wir uns nicht irgendwann mal treffen? Ich meine, wir wohnen in derselben Stadt und haben uns noch nie gesehen…“

„*strahl* Klar! Wann? Wo? *g*“

„ =) Hast du nächste Woche schon was vor?“

„Nicht, dass ich wüsste. Selbst wenn. Für dich nehme ich mir gerne Zeit. Wie wär's Dienstag?“

„Da wollte ich mit meinen Freunden ins Mephisto. Wir können uns ja vorher treffen und du kommst dann mit, ok?“

„Ok. Uhrzeit?“

„17:00? Vorm Mephisto?“

„Alles klar. Du, ich muss – mein Dad ruft.“

„Na dann, bis Dienstag. HDL“

„Bye *kiss*“

Kim schaltete den PC aus und ging ins Wohnzimmer. Dort saß sein Vater auf dem Sofa, Gesicht dem Fernseher zugewandt, in dem gerade irgendein Western lief. Überall im Zimmer standen leere Bierflaschen herum. Auf dem Tisch stapelten sich die leeren Zigarettenschachteln.

„Was gibt's denn?“

„In der Küche liegt Geld. Geh und hol Zigaretten und 'ne Kiste Bier.“ Kim seufzte, zog sich Jacke und Schuhe an, nahm das Geld und ging Richtung Supermarkt. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, waren seine Gedanken wieder bei Nici.

„Sie ist toll.“, dachte er.

Wie auf Wolken schwebte er die Straßen entlang. Er war so gedankenverloren, dass er die beiden Mädchen, die ihm entgegen kamen, gar nicht bemerkte.

„Hey! Pass doch auf!“, rief die Blondhaarige, als er sie anrempelte.

„Oh, sorry, aber deine wunderschönen Augen haben mich so geblendet, dass ich gar nichts mehr sehen konnte.“

Das Mädchen lachte. „Ja klar.“

„Wohin willst du denn so eilig?“, fragte das andere.

„Einkaufen. Ihr habt das ja schon hinter euch, wie ich sehe.“ Er warf einen neugierigen Blick in die Tüten.

„Aha, Chips, Cola, Salzstangen… Gibt's heut etwa 'ne Party?“

„Ja.“

Kim grinste. „Ui, darf ich vielleicht auch kommen?“

„Nee, darfst du nicht. Das ist 'ne Zweier-Party.“ Das blonde Mädchen setzte sich wieder in Bewegung.

„Komm Schatz, wir gehen.“

„Tschüß.“, sagte ihre Freundin. Dann schloss sie zu der Blonden auf, welche ihr demonstrativ eine Hand um die Hüfte legte.

„Na dann eben nicht.“, murmelte Kim schulterzuckend.

Als Kim nach Hause kam, haute sein Vater ihm eine runter.

„Was hat das so lange gedauert?“ Er riss ihm den Kasten aus der Hand, knallte ihn auf den Küchentisch und öffnete sich gleich eine Flasche.

„Und wo sind die Kippen?“

„Fuck. Die hab ich vergessen.“

Schon fing sich Kim wieder eine ein.

„Du bist auch zu nichts zu gebrauchen! Du bist ein Niemand, ein Nichts und du wirst auch nie etwas werden!“, schrie sein Vater.

Kim duckte sich unter all den Schlägen und rannte dann bei der nächstbesten Gelegenheit zur Haustür hinaus. Er hörte noch seinen Vater hinter ihm schreien und fluchen, bis dieser die Tür zuschlug. Kim rannte weiter. Seine Brust schmerzte. Raucherlungen machen bei so etwas nie lange mit.

Drei Straßen weiter lehnte er sich keuchend an einen Baum.

„Dass er ständig so viel trinken muss! Der ist doch jeden Tag besoffen!“ Ihm war zum Heulen zumute. Seit seine Mutter vor acht Jahren abgehauen war, trank sein Vater noch mehr als vorher.

„Ich sollte auch abhauen. Nur, wo soll ich hin?“ Verzweifelt, traurig und voller Hass ging Kim durch die Straßen.

Nach einiger Zeit sah er, wo er gelandet war: am Friedhof. Er ging durch das Tor und an den Reihen von Grabsteinen vorbei, bis er vor einem stehen blieb. Er ließ sich auf die Knie nieder und blickte auf den kalten, grauen Stein vor ihm.

Jan Kerster

*15. Mai 1989

† 10. Mai 2003

Verloren, doch niemals vergessen

Tränen schossen Kim in die Augen.

„Ich vermisse dich.“, flüsterte er.

Wieder sah er den Film vor seinem inneren Auge, den er schon so oft gesehen hatte:

Jan, wie er von dem Auto überfahren wurde, reglos am Boden lag, sein Kopf in einer riesigen Blutlache. Wie er zu seinem besten Freund rannte, immer und immer wieder seinen Namen rufend.

Er träumte diese schreckliche Szene noch heute. Doch in seinem Traum rannte er und rannte, ohne vom Fleck zu kommen. Er lief so schnell er konnte, bis er kaum noch Luft bekam. Dann, ganz plötzlich, hatte er nicht mehr den am Boden liegenden Jan vor sich, sondern eben diesen Grabstein vor dem er jetzt kniete.

In Gedanken sang er das Lied Nur die Besten sterben jung von Böhse Onkelz.

Wir waren mehr als Freunde, wir waren wie Brüder

Viele Jahre sangen wir die gleichen Lieder

Nur die Besten sterben jung, du warst der Beste

Nur noch Erinnerung. Sag mir warum

Nur die Besten sterben jung

Die Zeit heilt Wunden, doch vergessen kann ich nicht

Die Zeit heilt Wunden, doch ich denke oft an dich

Ganz egal wo du auch bist. Du weißt so gut wie ich

Irgendwann sehen wir uns wieder. In meinen Träumen, in unseren Liedern

Sag mir warum

Nur die Besten sterben jung

Viel zu jung

Nur die Besten sterben jung

Viel, viel zu jung

Als es dunkel wurde, stand er auf, wischte sich die Tränen von den Wangen und wandte sich von dem Grab seines Freundes ab.

„Mach's gut, Alter.“, murmelte er noch, dann ging er langsam nach Hause. Dort stellte er fest, dass er seinen Schlüssel vergessen hatte.

„Scheiße.“ Auf sein Klingeln hin machte niemand auf. Er ließ sich vor der Tür nieder, rollte sich zusammen und sah zu den Sternen hinauf.

„Das wird bestimmt 'ne tolle Nacht.“

-2-

„Hey, was machst du denn da?“ Kim machte die Augen auf. Er konnte nicht erkennen, wer vor ihm stand, doch der Stimme nach zu urteilen, musste es Nico sein. Der Mond warf sein Licht von hinten auf ihn, sodass Kim nur seine Silhouette sehen konnte.

Er setzte sich auf.

„Hab meinen Schlüssel vergessen.“, antwortete er. „

Mein Alter macht irgendwie nicht auf. Vielleicht ist er auch in irgendeine Kneipe gegangen…“

„Hm. Willst du mit reinkommen? Kannst die Nacht bei mir pennen. Ist doch bestimmt besser als hier draußen.“

„Auf jeden Fall.“

Nico schloss die Tür auf und die beiden gingen hinein.

„Verdammte Scheiße!“

Kim war gegen einen Schrank gerannt.

„Sei bloß leise!“, flüsterte Nico. „Meine Eltern schlafen garantiert schon.“

„Schon gut. Sorry.“, flüsterte Kim zurück.

Humpelnd tastete er sich durch die Dunkelheit. In seinem Zimmer angekommen, schaltete Nico das Licht an.

„Oh! Hell!“ Kim kniff die Augen zusammen. „Ich bin blind!“

Grinsend drehte Nico den Dimmer etwas hinunter. „Besser?“

„Cool. So etwas will ich auch in meinem Zimmer haben.“

„So“, Nico schnappte sich ein T-Shirt und Shorts. „ich geh dann mal Zähneputzen. Die Luftmatratze ist da unterm Bett. Viel Spaß beim aufpumpen.“

Er stieg die Treppe hinunter.

Kim sah unter das Bett – keine Matratze. „Hm.“

5 Minuten später war Nico wieder da. Er schmiss Jeans und T-Shirt in eine Ecke. „Na, wie…“

„Du ich will ja nichts sagen, aber da unterm Bett ist nichts.“

„Was? Kann doch gar nicht sein.“

Nico ließ sich auf die Knie fallen.

„Tatsache. Aber warum… Ah!“

Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.

„Dennis hat die! Vor einer Woche hat er sich die Matratze ausgeliehen, weil seine kaputt war. Hatte ich ganz vergessen.“

„Na toll! Und jetzt? Soll ich auf dem Boden schlafen?“

„Na ja entweder das oder…“, Nico zuckte mit den Schultern, „du musst bei mir mit im Bett pennen.“

Kim sah nicht gerade begeistert aus.

„Guck nicht so. Glaubst du, mir gefällt das? Es geht ja nicht anders.“

„Hm. Ich sehe das jetzt einfach mal positiv…“

„Ach ja?“

„Ja. Immer noch besser, als draußen vor der Tür zu schlafen.“

Er zog sich Schuhe, Socken und Hose aus, dann schlüpfte er unter die Decke. Nico schaltete das Licht aus und tat es ihm gleich

. „Aber wehe, du machst dich breit.“, hörte er Kim neben sich sagen.

„Pah! Ist doch schließlich mein Bett.“

Er grinste.

„Gute Nacht – und süße Träume.“ Als Antwort kam von Kim nur noch ein Brummeln.

Am folgenden Nachmittag waren die beiden auf dem Weg zu Cindy.

„Mann, beeil dich. Wir kommen noch zu spät!“

„Mach mal keine Hektik.“, sagte Kim, ging aber dennoch einen Schritt schneller.

„In Mexiko“, setzte er an, „ist es sogar unhöflich, pünktlich auf einer Party zu erscheinen.“

„Wir sind aber nicht in Mexiko.“ Kim verdrehte die Augen.

Wenig später standen sie vor Cindys Haus. Nico klingelte. Als Cindy die Tür öffnete, scholl den beiden Jungs laute Musik entgegen.

„Hi! Kommt rein.“

„Hey, Süße. Alles Gute.“

Nico küsste sie auf beide Wangen und überreichte ihr das Geschenk.

„Danke.“ Cindy strahlte.

„Von mir auch alles Gute.“, sagte Kim und umarmte sie. Er schloss die Tür hinter sich. „Wie fühlt es sich denn so an, endlich 16 zu sein?“

„Einfach wunderbar!“

„Hast du schon deinen Perso?

“ „Nee, noch nicht.“

Die drei gingen hinunter in den Keller. Dort war die Party bereits in vollem Gange.

„Ist das Felix dort hinten?“, fragte Kim.

Cindy nickte.

„Na, dann werd' ich ihm mal ‚Hallo' sagen.“

Schon verschwand er Richtung Bar. Cindy legte das Geschenk zu den anderen, die auf einem Tisch in der Ecke lagen.

„Ich geh und hol noch ein paar CDs. Falls du was trinken willst…“

„Wende ich mich an Felix, unseren Barkeeper.“

„Genau.“

Sie verließ den Keller wieder. Nico sah sich in dem Raum um. Es waren so viele Leute da, dass man froh sein konnte, wenn man noch irgendwo Platz zum Hinsetzen fand.

„Wo sind denn Fabian und so?“, dachte er.

Plötzlich legte ihm jemand von hinten die Hände auf die Schultern.

„Grüß dich, Nico!“ Er drehte sich um und sah direkt in Franziskas Gesicht. Er lächelte sie an.

„Grüß dich auch.“

„Wie sieht's aus? Trinkst du mit mir ein Beck's?“

„Klar.“

Sie gingen zu Kim und Felix hinüber.

„Na, was darf's denn sein?“

„Zwei Beck's.“ Felix stellte zwei Flaschen auf den Tisch und öffnete sie. Nico und Franziska stießen an.

„Hey und was ist mit mir?“ Kim hielt ihnen sein

Bier entgegen. Ein weiteres Mal klirrten die Flaschen.

„Prost!“

„Ganz schön voll hier. Wen hat Cindy denn alles eingeladen?“, fragte Nico.

„Jeden, den sie kennt.“, antwortete Felix.

Nico zog die Augenbrauen hoch.

„Es sind ja nicht mal alle da.“, fuhr Felix fort. „Nils und Lucy fehlen noch und ein paar Leute aus ihrem Handballverein.“

Kim schüttelte den Kopf. „Das reinzigste Chaos.“

Die anderen lachten. „Reinzigste?“

„Eine Mischung aus reinste und einzigste.“, erklärte er.

„Hab ich mir jetzt fast gedacht.“, meinte Nico.

Mit der Zeit kamen tatsächlich immer mehr Gäste an. Der Keller wurde immer voller, die Musik lauter und der Alkoholbestand immer weniger.

Lisa saß auf einem der Sofas und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Vor der Anlage hatte sich eine kleine Gruppe von Jungs und Mädchen gebildet, die darüber diskutieren zu schienen, welche CD als nächstes abgespielt werden sollte. Ein paar Meter daneben stand das Buffet. Dem Aussehen nach zu urteilen war eine Horde Heuschrecken darüber hergefallen.

Sie grinste. Dennis stopfte sich gerade das letzte Stück Pizza rein.

„Hey.“ Fabian stand vor ihr.

„Ich…äh, willst du…“ Sein Gesicht wurde rot. „Tan…tanzt du mit mir?“

„Klar.“

Er nahm sie bei der Hand und führte sie auf die Tanzfläche. Ronan Keating sang gerade „When you say nothing at all“. Fabians Herz schlug wie wild, als Lisa ihren Kopf an seine Schulter legte. Im Takt der Musik wiegten sie sich sanft hin und her. Sie tanzten noch zwei weitere Lieder, dann löste sich Lisa von ihm.

„Wollen wir was trinken?“

Er nickte. Mit je einer Cola in der Hand setzten sie sich in eine Ecke. Fabian beobachtete Lisa, während sie trank. Sie trug eine hautenge, dunkelblaue Jeans und ein rotes Spaghetti-Top. Eine Strähne ihrer schulterlangen, blonden Haare fiel ihr ins Gesicht. Er stellte sich vor, wie es wäre, sie in den Armen zu halten, ihren Geruch einzuatmen, sanft ihren Nacken und ihre Schultern zu küssen…

„Du, Lisa… Ich muss dir was sagen.“

Sie guckte ihn erwartungsvoll an.

„Ja?“

„Ich…“

„Hi ihr beiden!“ Kim war wie aus dem Nichts aufgetaucht.

„Na, wie sieht's aus?“, fragte er an Lisa gewandt. „Lust zu tanzen?“

In Fabian kam die Wut hoch. Was bildete sich Kim eigentlich ein? Am liebsten wäre er ihm an die Gurgel gesprungen.

„Nee, jetzt nicht.“, hörte er Lisa sagen.

Er strahlte, Kim ging wieder.

„Also, was wolltest du sa…“

„Huhu!“ Nils und Lucy näherten sich.

„Das gibt's doch nicht.“

Fabian war sichtlich genervt.

„Wo ist denn das Geburtstagskind?“, fragte Lucy.

„Cindy? Keine Ahnung.“

„Hey, Fabi. Was guckst'n so böse?“

Nils lachte. Er hatte ziemlich gute Laune.

„Warum seid ihr erst jetzt gekommen?“

„Ach, weißt du…“

Nils sah erst Lisa, dann Lucy an.

„Es gab da so jemanden, der wusste nicht recht, was er anziehen sollte.“

„Was guckst du mich so an?“ Lucy tat empört.

„Wer von uns beiden stand denn hier eine Stunde vor dem Kleiderschrank?“

„Na ja, ist ja auch egal. Lass uns Cindy suchen.“

Das Pärchen ließ Lisa und Fabian wieder allein. Fabian nahm seinen ganzen Mut zusammen.

„Also, ich…“

Er guckte sich nach beiden Seiten um. Niemand schien sie jetzt stören zu wollen.

„Ich hab mich in dich verliebt.“

Es war raus. Nun konnte er nicht mehr zurück.

„Ich muss immer an dich denken und…“

„Hey, mir geht's doch genauso.“

„Was?“ Er fiel fast vom Stuhl.

„Das geht schon seit ein paar Monaten so. Immer, wenn ich dich sehe, kribbelt's überall. Ich krieg dich gar nicht mehr aus meinem Kopf.“

Sie lächelte verlegen.

„Mein Gott, warum hast du das denn nicht schon früher gesagt?“

Er rutschte näher an sie heran.

„Ich hab mich nicht getraut. Warum hast du denn nichts gesagt?“

Sie lächelten sich an.

„Ich schätze mal, aus demselben Grund, oder?“

Fabian nickte. So saßen sie da, dicht nebeneinander und Händchen haltend. Er sah Lisa tief in die Augen. Er wusste, was er in diesem Moment wollte. Sein Gesicht näherte sich ihrem, und er schloss die Augen. Als ihre Lippen auf seine trafen, hatte er das Gefühl, vom Boden abzuheben.

-3-

Es war Dienstag. Nico stand vor dem Mephisto und wartete. In das Kino ihm gegenüber strömten immer mehr Leute. Er schlenderte hinüber und sah sich die Plakate an: Hitch – Der Datedoktor – schon gesehen; Barfuß – schon gesehen; The Ring 2 – kein Interesse…

Die Sonne brannte ihm heiß im Nacken. Bevor er losgegangen war, hatte er zu Hause auf das Thermometer geguckt: 28° C. Dem Wetterbericht zufolge sollte es die Woche noch wärmer werden.

Er schaute auf die Uhr: 17:05 Uhr.

„Hey, Nico!“, hörte er jemanden rufen.

Vor der Kneipe stand Kim, wie immer in Jeans und – schwarzem – T-Shirt.

„Wie hält der das bei der Hitze nur aus?“, dachte Nico

. Er ging zu Kim und reichte ihm die Hand.

„Na, alles klar?“

„Yo. Was machst du hier?“

„Warten und du?“

„Das passt sich ja prima, ich warte auch auf wen.“, sagte Kim.

Er schnipste seine Zigarette weg.

„Wollten du und die anderen ins Mephisto?“

„Ja, aber erst in 'ner Stunde. Vorher treffe ich mich mit einem Girl aus dem Chat.“

„Ach was. Chattest du auch bei knuddels?“

„Ja. Bin aber noch nicht lange angemeldet.“

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Mit Blick auf Kims T-Shirt fragte er:

„Sag mal, ist dir nicht warm?“

„Schon.“

„Trägst du eigentlich auch mal etwas anderes als schwarz?“

„Nö.“

Nico beobachtete Kim, wie er sich eine weitere Zigarette ansteckte. Dabei blitze sein Ohrstecker in der Sonne auf. Er war groß, ca. 1,80, schlank und muskulös, hatte schwarze Haare und smaragdgrüne Augen. An der rechten Hand trug er einen Ring und am Handgelenk hatte er ein Tattoo in Form eines chinesischen Schriftzeichens. Seine Schwester fand, dass Kim total gut aussah.

„Was bedeutet das eigentlich?“

„Das Tattoo?“

Nico nickte.

„Hass.“

„Und warum hast du dir gerade das tätowieren lassen?”

Kim zuckte die Schultern.

„Vielleicht, weil ich dieses Gefühl sehr gut kenne.“

Er wechselte die Zigarette von der einen in die andere Hand und schob den linken Ärmel seines T-Shirts hoch, sodass Nico seinen Oberarm sehen konnte. Dort prangte ein weiters Tattoo.

„Stolz.“, erklärte er.

„Aha.“

„Ich hab noch eins, aber das kann ich dir hier schlecht zeigen.“

Nico verstand.

„Wohl etwas weiter unten?“

„Yo.“

Die beiden grinsten sich an.

„Sag mal, bei knuddels – wie ist da dein Nick?“

„Nici1989. Und deiner?“

Kim wich ein Stück zurück.

„Wie heißt das Girl, auf das du wartest?“

Nico grinste wieder.

„Genauso wie du. Ich find das voll lustig, dass Kim Jungen- und Mädchenna…“ „Du…ich muss.“ Nico war verwirrt.

„Ja, aber ich dachte, du wartest…“

„Ciao.“

Kim entfernte sich schnellen Schrittes.

„Was ist denn mit dem los?“, fragte sich Nico.

„Fuck off!“

Kim trat gegen seinen Schrank. Schmerz schoss ihm in den rechten Fuß, was ihn noch aggressiver werden ließ.

„Hölle und Verdammnis!“

Er nahm den nächstbesten Gegenstand - die Fernbedienung von der Anlage – und warf sie quer durch das Zimmer. Krachend flog sie gegen die Heizung.

In seiner Wut kriegte er gar nicht mit, wie sein Vater ins Zimmer kam. Erst als er grob an der Schulter gepackt und auf das Bett niedergedrückt wurde, bemerkte er ihn. Von einer Sekunde zur anderen wich der Hass in seinen Augen purer Angst.

„Was randalierst du denn hier schon wieder?“, brüllte sein Vater ihn an.

Der Geruch von Alkohol und Zigarettenrauch schlug Kim ins Gesicht.

„Reiß dich gefälligst zusammen!“

Er ließ von ihm ab und wandte sich zur Tür. Kim setzte sich langsam auf. Beim Hinausgehen stolperte sein Vater über einen Turnschuh.

„Gottverdammt!“, schrie er.

Kim zuckte zusammen.

„Räum dein Zimmer auf! Sieht ja aus, wie ein Saustall hier!“

Mit diesen Worten verließ er das Zimmer. Die Tür knallte hinter ihm zu. Kim lachte verbittert.

„Saustall! Das ganze Haus sieht so aus!“, dachte er. Und es stimmte.

Das Wohnzimmer war die reinste Müllhalde, voll mit leeren Bierflaschen, Zigarettenschachteln und Pizzakartons. In der Küche stapelte sich das dreckige Geschirr und der Haufen mit der schmutzigen Wäsche wurde immer höher. Seit Wochen hatte jemand weder Staub gesaugt noch gewischt. Es sah wirklich schrecklich aus. Aber wer sollte auch sauber machen? Sein Vater war dazu gar nicht im Stande, und er selbst hatte meistens keine Lust. Ganz selten raffte er sich dazu auf. Nach spätestens einer Woche sah es jedoch genauso aus wie vorher, wenn nicht sogar noch schlimmer. An sich war ihm das Aussehen des Hauses vollkommen egal. Was ihm Sorgen machte waren finanzielle Probleme. Das bisschen Arbeitslosengeld, das sein Vater bekam, gab er fast alles für Bier und Zigaretten aus. Von dem Rest, der übrig blieb, ließen sich kaum die ganzen Rechnungen bezahlen. Falls dann doch noch was übrig war, konnte Kim wenigstens mal einkaufen gehen. Schlecht sah es wieder aus, wenn Sachen für die Schule dazukamen. Das war der Grund, warum er noch nie auf eine Klassenfahrt mitgefahren war.

Taschengeld gab es gar nicht. Er bekam auch nichts zum Geburtstag oder zu Weihnachten. Was er zum Leben brauchte, also Zigaretten, Chips, CDs, etc. (im Grunde bestand sein Leben ja nur aus rauchen, schlafen, essen, Musik hören und natürlich chatten), bezahlte er von dem Geld, das er durchs Dealen bekam. Mit 12 hatte er damit angefangen. Den Konsum von Drogen hatte er Gott sei Dank vor zwei Jahren eingestellt. Er kam auch gut ohne aus; nur manchmal packte ihn noch die Sehnsucht, sich einen Joint anzuzünden, eine E zu schmeißen oder sich die Nadel zu setzen.

Wenn das passierte, flüchtete er in den ihm liebsten Teil des Lebens: die Musik. Den Discman auf volle Lautstärke, Böhse Onkelz, Rammstein oder Ärzte eingelegt und schon war alles andere vergessen. Manchmal lenkte er sich auch mit Sport ab, oder er setzte sich vor den Computer.

Nach seinem kurzen Ausraster wollte er es jetzt einmal mit lesen versuchen. Eigentlich griff er selten zu einem Buch, doch wenn, dann versank er meist nach und nach in jene Welt voller Geister, Untoten, Werwölfen, Hexen und anderen schauerlichen Gestalten. Horrorbücher las er am liebsten.

Jetzt aber wollte er mit der Schullektüre beginnen, die sie über die Ferien lesen sollten. Er fischte also nach seinem Ranzen, nahm das Buch heraus und schlug die erste Seite auf. Nach den ersten Sätzen schon, saß er mit gerunzelter Stirn darüber und versuchte krampfhaft, sie zu verstehen, die alte deutsche Sprache in eine Neuere umzuwandeln, eine, der er mühelos folgen konnte. Da ihm das nicht gelang, verging ihm die Lust mit jedem gelesenen Wort und bald fühlte er sich so, wie wenn er, vor einem Text Cäsars sitzend, sich bemühte, seine Lateinhausaufgaben zu machen. Die Sätze waren mehrere Zeilen lang und es fiel ihm schwer, dem Gelesenen einen Sinn zu entziehen. Zwar verstand er die einzelnen Wörter, doch sollte er sie miteinander in Zusammenhang stellen, war von seiner Übersetzungskunst nichts mehr vorhanden. Nie kam etwas Vernünftiges bei raus.

Nach dem dritten Kapitel warf er es von sich. Das Buch landete zwischen Schulheften, Stiften und dem Wörterbuch und blieb – wie sich später herausstellte - für den Rest der Ferien dort liegen.

Kim ließ sich nach hinten auf sein Bett fallen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die Decke.

Durch die Tür drangen leise und undeutlich Stimmen und Hintergrundgeräusche vom Fernseher. Er verdrängte sie und lauschte den fahrenden Autos, dem haltenden Bus und den anderen Tönen und Klängen, die ihren Weg durch das geöffnete Fenster an sein Ohr fanden.

Allerlei Vögel sangen verschieden klingende, sich stets wiederholende Melodien. Er ordnete für sich jedem Lied einen Ausdruck zu. Während die Abfolge mancher Töne für ihn Freude aussagte, standen andere für Sehnsucht, Trauer, Stolz oder Übermut. In einem Punkt waren sie sich jedoch alle gleich: jede Melodie war von einer unbegrenzten Freiheit geprägt.

Wie schön es wohl sein musste, an rein gar nichts – keine Verpflichtungen, keine Regeln – gebunden zu sein – ja, nicht einmal einen festen Wohnsitz zu besitzen! Einfach dort sich niederlassen, wo es einem gefällt und von dort, wo es langweilig geworden war oder man nicht sein mag, davonfliegen – auf Nimmerwiedersehen. Alles hinter sich lassen, die Sorgen und zerbrochenen Träume, nicht zurück, sondern nach vorne schauen in einen noch unbekannten Teil der Welt, den es galt zu entdecken. Das Gestern vergessen und den Morgen mit offenen Armen empfangen. Das war es, was er wollte. Doch es gelang ihm nicht. Immer wieder holten ihn Erinnerungen ein. Sie klammerten sich manchmal geradezu an ihn, versuchten, ihn zurückzuzerren. Wie zum Beispiel, wenn er an Jan dachte, wie eng sie befreundet gewesen, sich gegenseitig nie von der Seite gewichen waren, was sie gemeinsam erlebt hatten, sowohl Gutes, als auch Schlechtes, wie oft sie zusammen gelacht oder sich gegenseitig getröstet hatten…

Offiziell waren sie beste Freunde gewesen, doch im Herzen beider war ihre Bindung mehr Bruder- als Freundschaft.

Oder wenn er an seine Mutter dachte, die seinen Vater wegen eines anderen Mannes verlassen hatte. Wenn er Zeit dazu gehabt hätte, wäre er vor ihr auf die Knie gefallen, hätte gebettelt und gefleht, sie solle doch bleiben, in der Vorahnung, was passieren würde, wenn sie ginge.

Nun, er hatte keine Zeit dazu gehabt. Eines Tages war er nach Hause gekommen und das Erste, was er gehört hatte, war:

„Deine Mutter ist weg.“

„Wie, weg?“

„“Hat 'nen anderen!“

Seit dem Tag hatte sein Vater richtig angefangen mit Trinken. Er ließ seinen Schmerz im Alkohol untergehen, übrig blieben Verzweiflung und Hass, was er beides auf Kim übertrug. Ein kleiner Fehler und schon setzte es wieder Prügel.

Bei diesen Gedanken befiel ihn eine unbeschreibliche Traurigkeit, die nach wenigen Minuten des Weinens in Melancholie überging. Oft saß er stundenlang in seinem Zimmer, ohne irgendetwas zu machen, einfach so vor sich hinstarrend, während ein Sturm von Gedanken durch seinen Kopf wirbelte und ein Gewitter aus Emotionen sein Herz und seine Seele aufmischte.

Irgendwo draußen bellte ein Hund. Die Geräusche vom Fernseher verklangen. Eine Minute später hörte er, wie sein Vater das Haus verließ.

Er stand auf, drehte die Anlage auf volle Lautstärke, legte sich dann wieder auf das Bett und angelte nach einer Zigarette. Freddie Mercurys Stimme sang durchdringend das Lied „Don't stop me now“. Langsam blies er den Rauch aus. „Don't stop me now. I'm heaving such a good time”… Er grinste schief. Eine gute Zeit hatte er gerade wirklich nicht. Das, was vorhin vorm Mephisto passiert war, ließ wieder verzweifelte Wut in ihm hochkommen. Er verdrehte die Augen.

„Warum Nico?“, sagte er laut.

Nico war Nici. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Er hatte ja gesagt, dass sein Nickname Nici1989 war.

„Wie doof kann man sein?“, dachte Kim.

„Das hätte mir doch irgendworan auffallen müssen, oder?“ An die ganzen Gespräche denkend, die er und „Nici“ geführt hatten, fiel ihm auf, dass keiner von ihnen je etwas gesagt hatte, das das Geschlecht des anderen festgelegt hätte, wie zum Beispiel

„Hey Süßer“ bzw. „Süße“.

„Ich bin doch echt bescheuert. So etwas kann auch nur mir passieren.“

Er fing an zu lachen, als er das Bild vor Augen hatte wie er und Nico vor dem Mephisto standen, jeweils auf ein Mädchen wartend, das es gar nicht gab. Er lachte wie ein Wahnsinniger, bis ihm Tränen die Wangen runter liefen.

„So ein Schwachsinn!“

Zur selben Zeit im Mephisto.

„Und ihr seid jetzt echt zusammen?“

Basti wollte es irgendwie nicht glauben.

„Ja, siehst du doch.“, sagte Fabian.

Er saß neben Lisa, hielt ihre Hand und strahlte mit ihr um die Wette.

Natürlich wussten die anderen haargenau, wie, wo und wann die beiden zusammengekommen waren. Nur wenn sich in einer Clique ein Pärchen gebildet hatte, musste man sich erst daran gewöhnen. Bei Nils und Lucy war es genauso gewesen.

Natascha sah Nico an, der vor sich auf sein Bier starrte. Tröstend legte sie ihm die Hand auf den Arm.

„Mach dir nichts draus. Dann ist sie eben nicht gekommen. Na und? Die Welt dreht sich weiter.“

Er versuchte zu lächeln.

„Es ist nur so scheiße, versetzt zu werden.“ Es folgten weitere tröstende Worte und aufmunternde Sätze, dann wandten sich die anderen wieder einem neuen Gesprächsthema zu.

Nico dachte nach. Eine Stunde hatte er draußen gewartet, bis nach einander alle aus der Clique angekommen waren. Sie hatten gefragt, wo denn seine Verabredung geblieben sei ,und er hatte nur hilflos mit den Schultern gezuckt. Dennis, der erstmal einen Spruch darüber abgelassen hatte, war von Cindy mit einem strengen Blick zurechtgewiesen worden. Sie war die einzige, die wusste, dass er sich in seine Chatbekanntschaft verliebt hatte. Da sie Chatbeziehungen nicht sehr unterstützte, hatte sie auf ihn solange eingeredet, bis er zugesagt hatte, sich mit dieser Kim zu treffen – und nun so etwas! Gespannt auf seine „Flamme“ war sie mit Dennis und Basti zum Mephisto spaziert und was hatte sie da gesehen? Ihn wie er alleine vor der Kneipe stand.

Ihn beschlich ein ungutes Gefühl, eine Art Ahnung, der er nachgehen musste. Seine Gedankengänge brachten ihn zu dem Zeitpunkt, wo er und Kim, beide wartend, nebeneinander gestanden hatten, sich unterhaltend, bis er auf einmal plötzlich abgehauen war.

„Was war nur mit dem los?“, fragte sich Nico. Er versuchte sich zu erinnern, worüber sie geredet hatten, bevor Kim, wie von der Tarantel gestochen, losgehetzt war.

Sie hatten sich über Kims Tattoos unterhalten und über knuddels. Kim hatte ihn nach seinem Nick gefragt und er ihn ebenfalls. Nico runzelte die Stirn. Hatte er eine Antwort gekriegt? Na ja und dann hatte Kim sich einfach verabschiedet und war gegangen…

„Moment mal.“

Sein Gedankenchaos wurde von einem schwachen Lichtstrahl durchströmt. Wie bei einem Puzzle ordneten sich die Stücke zu seinem Bild zusammen.

„Ich hab auf wen gewartet, der Kim heißt und so ein Jemand ist ja auch erschienen…“ Auf einmal fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

„Ich muss los!“ Er sprang auf.

„Ja, aber wohin…?“, fragte Lisa – oder zumindest, wollte fragen, denn sie wurde von Nico unterbrochen.

„Mir ist da was eingefallen. Ciao.“

Schon war er verschwunden.

-4-

Nico klingelte Sturm. Aus dem Inneren des Hauses drang laute Musik. Er wartete kurz und klingelte dann erneut.

„Mach schon auf!“, dachte er.

Auf einmal wurde die Musik leiser und die Tür ging auf. Vor ihm stand Kim, mit nassen Haaren und nur mit Shorts bekleidet. Scheinbar hatte er geduscht. Nico stürmte an ihm vorbei ins Haus, noch bevor Kim irgendetwas sagen konnte.

„Ich muss mit dir reden.“

„Ach ja?“

Kim schloss die Tür. Als würde es ihn überhaupt nicht interessieren, was Nico zu erzählen hatte, drängte er sich an ihm vorbei und stieg die Treppe zu seinem Zimmer hinauf. Dort schaltete er die Anlage aus.

„Willst du eine?“

Er hielt Nico, der ihm gefolgt war, eine Zigarette hin.

„Ich rauche nicht.“

„Na dann nicht.“

Er steckte sie sich in den Mund.

„Worüber wolltest du reden?“

Er drehte ihm den Rücken zu und suchte in dem Durcheinander, das auf dem Schreibtisch herrschte, nach dem Feuerzeug. Er fand es, zündete sich die Zigarette an und warf es gleich wieder zurück auf den Tisch.

„Du hast eine Ordnung hier.“

Nico sah sich im Zimmer um. Hosen, T-Shirts, Schulhefte, -bücher, Mappen, Stifte, Schuhe, leere Fanta-, Cola- und Spriteflaschen waren über den ganzen Boden verstreut. Auf den beiden Nachtschränken lugten zwischen Chipstüten, leeren Zigarettenschachteln und Verpackungen von Taschentüchern CDs und Fernbedienungen hervor. Er schüttelte den Kopf. Kim erwiderte nichts. Langsam stieß er den Rauch aus.

„Ich glaube, du weißt, worum es geht, oder?“

Kim sagte wieder nichts. Schweigend sah er Nico an.

„Du bist Kim.“

Er grinste.

„Ach, was. Das fällt dir aber früh auf.“

„Nein, ich meine du…“

„Ich weiß.“, seufzte Kim. „

Und du bist Nici.“

Nico nickte.

„Wir sind doch Idioten.“

„Aber hallo!“

Kim zog noch einmal kräftig an der Zigarette, drückte sie dann aus, ging zum Kleiderschrank und holte ein T-Shirt heraus. Prüfend sah er es an, ließ es fallen und schnappte sich ein Neues.

„Das geht.“, murmelte er und zog es an.

„Und?“

„Was, und?“

Er drehte sich zu Nico um. Dieser hatte sich auf dem Bett niedergelassen.

„Was sagst du dazu?“

„Wozu?“

„Mann,“ Nico verdrehte die Augen, „jetzt tu nicht so dumm!“

„Was soll ich denn dazu sagen? Für mich ist die Sache erledigt.“

Er setzte sich neben ihn auf das Bett und musterte ihn.

„Wenn du mir jetzt natürlich erzählst, du hättest dich deswegen in mich verliebt... Das wäre ein echtes Problem, über das man reden sollte.“

„Quatsch!“

„Na, dann sind wir uns ja einig, dass wir die ganze Geschichte vergessen.“

„Ja, denke ich auch.“

„Wunderbar!“

Kim sprang auf. Er sah auf die Uhr: 21:35 Uhr.

„Na, wie sieht's aus?“

Nico blickte verständnislos drein. Kim grinste.

„Die Nacht ist noch jung. Wie wär's, wenn wir irgendwo hingehen und uns Einen saufen?“

„Ich weiß nicht…“

„Ach, komm. Mit Alkohol lässt sich am Besten vergessen. Und falls wir unterwegs noch ein paar Mädels treffen, ist doch alles perfekt.“

„Na gut, aber…“ Er sah Kim an und fragte grinsend:

„Willst du so rausgehen?“

Kim sah an sich runter und bemerkte, dass er immer noch keine Hose trug.

„Äh, nee. Ich glaub, ich zieh mir doch noch schnell 'ne Jeans an.“

Kurz darauf waren sie auf dem Weg ins 1827.

Um acht Uhr morgens wachte Kim auf. In seinem Kopf hämmerte es und ihm war schlecht. Mühsam zwang er sich dazu, die Augen aufzumachen und auf den Wecker zu schauen.

„Och, nee!“, brummte er. „Viel zu früh.“

Als er sich auf die Seite drehte, merkte er, dass er nicht alleine war. Mit einem Mal hellwach, schlug er die Augen auf. Neben ihm lag ein Mädchen, das er noch nie zuvor gesehen zu haben schien. Krampfhaft versuchte er sich daran zu erinnern, was gestern passiert war, nachdem er sich mit Nico in der Kneipe die Birne zugekippt hatte. Dunkle Schatten waberten in seinem Gedächtnis, ein klares Bild bekam er aber nie.

Plötzlich fühlte er eine Hand auf seinem Bauch. Das Mädchen war ebenfalls wach geworden. Sie küsste ihn auf die Wange, knabberte an seinem Ohrläppchen und flüsterte: „Morgen, mein Süßer.“

Er öffnete den Mund um etwas zu sagen, doch brachte er keinen Ton heraus. Sie sah auf den Wecker.

„Mist.“

Bedauernd blickte sie ihn an.

„Ich muss los. Ich komme noch zu spät.“

Kim fragte sich, wo man um knapp acht Uhr zu spät kommen konnte. Schule war ausgeschlossen, es waren Ferien. Er hatte keine Lust und Kraft, danach zu fragen, also schwieg er und ließ mit sich geschehen, dass sie ihn noch einmal küsste. Ihr bedauernder Blick war einem verträumten gewichen.

„Es war schön mit dir.“, flüsterte sie.

Dann küsste sie ihn wieder, stieg aus dem Bett, zog sich an und war nach wenigen Minuten verschwunden.

Kim seufzte erleichtert, stand ebenfalls auf und holte sich ein Aspirin aus dem Arzneischrank. Nachdem er es, in einem Glas Wasser aufgelöst, hinuntergestürzt hatte, kroch er wieder ins Bett.

„Ey, Nico! Beeil dich mal!“

Katja hämmerte gegen die Badezimmertür.

„Ja, ja!“, rief er zurück.

„Lass mich doch in Ruhe.“, dachte er und griff nach dem Duschgel.

„Mann, ich will heute auch noch duschen!“

Genervt drehte Nico das Wasser ab, stieg aus der Dusche und langte nach seinem Handtuch, das auf dem Wäschekorb lag. Obwohl er jetzt nicht unbedingt wacher war, hatte ihm das Duschen doch irgendwie gut getan. Die vielen Gedanken, die um ihn herumschwirrten, waren – zumindest scheinbar – ebenso wie der Gestank von Alkohol und Zigarettenrauch, den er gestern aus dem 1827 mit nach Hause genommen hatte, weggespült worden.

Er trocknete sich ab, wickelte sich das Handtuch um die Hüften und wischte mit dem rechten Unterarm den beschlagenen Spiegel frei. Ein Paar müde Augen schaute ihn, von dunklen Ringen umgeben, an. Seufzend und mit Kopfschmerzen – die doofe Tablette wollte einfach nicht wirken – fuhr er mit seinem allmorgendlichen Programm fort: eincremen, Zähneputzen, anziehen, föhnen…

Nach zehn Minuten verließ er das Badezimmer.

„Na endlich.“

Seine Schwester hetzte an ihm vorbei, als könnte ihm einfallen, er hätte etwas vergessen und müsste noch mal rein.

Gähnend betrat er die Küche. Seine Eltern saßen am Tisch und frühstückten.

„Morgen, mein Großer.“, wurde er von seiner Mutter begrüßt.

Er brummte etwas zur Antwort und rieb sich die Augen.

„War wohl ziemlich spät gestern?“

Wieder brummte er. Sie schüttelte den Kopf.

„Du sollst auch nicht immer so viel trinken!“

„Ach,“ sein Vater schaute hinter der Zeitung hervor, „lass den Jungen doch.“

Er sah Nico an.

„Ein ordentlicher Mann kann auch ordentlich saufen, stimmt's?“

„Mhm.“

Mit einer Tasse Kaffee in der Hand, ging er wieder hinauf in sein Zimmer. Für die Sprüche von seinem Vater hatte er jetzt keinen Nerv. Dass sich die beiden auch immer in den Ferien frei nehmen mussten! Normalerweise würden sie jetzt auf der Arbeit sein.

Auf halbem Wege rief seine Mutter hinter ihm her:

„Wann wolltest du heute denn los?“

„Los? Wohin?“

„Na, zu deinem Konzert oder hast du das vergessen?“

„Ach, Gott! Äh, heute Abend irgendwann. Warum?“

„Weil ich wissen muss, ob du zum Abendbrot noch hier bist.“

„Nee, ich denke nicht.“

„Gut, dann brauch ich für dich ja nicht kochen.“

Er schloss die Tür hinter sich. „Das Konzert! Hätte ich echt fast verpennt.“ Die Tasse stellte er auf den Schreibtisch. Aus der linken Schublade holte er die Karte hervor. Usher – Preussag Arena Hannover. Einlass: 18: 00 Uhr.

„Wie konnte ich das vergessen?“ Er legte das Album „Confessions“ ein, trank seinen Kaffee und lauschte der Musik. Von den Wänden sah ihm der R'n'B Star entgegen. Dennis, Basti, Nils und Fabian machten sich immer über ihn lustig, weil sie meinten, Usher würden nur Mädchen hören.

Er musste grinsen, als er daran dachte, wie Fabian mal bei ihm zu Hause gewesen war, die Poster gesehen und gesagt hatte:

„Das du so etwas überhaupt aufhängst.“

„Warum?“

„Na, so'n halbnackter Kerl… Da könnte ich gar nicht mehr schlafen, wenn mir von allen Wänden so einer seinen Bizeps und sein Sixpack präsentiert. Willst du nicht lieber Beyoncé Knowles oder Ciara oder so aufhängen? Das ist auch R'n'B, aber wenigstens „Weiblicher“. Oder wie wär's mit Schauspielerinnen? Alyssa Milano zum Beispiel – die ist doch sexy!“

Es klingelte an der Tür. Nico erschrak sich so, dass er beinahe die – inzwischen leere – Tasse hätte fallen lassen. Er stellte sie zurück auf den Schreibtisch.

„Wer könnte denn das sein?“, fragte er sich, doch schon zwei Minuten später wusste er es, denn Franziska kam ins Zimmer gestolpert.

„Grüß dich!“

„Hi. Du siehst so abgehetzt aus. Ist irgendwas passiert?“

„Was? Nee.“

Leicht außer Atem, sagte sie:

„Diese drei Treppen hier rauf zu dir machen mir immer zu schaffen.“

„Ach so, na dann.“, grinste er.

„Äh, kurze Zwischenfrage.“ Sie machte eine Pause. „Hättest du Lust, heute Abend mit mir und Marco zu grillen? Schön im Garten sitzen, essen, reden, rauchen, Wein trinken…“

„Sorry, würde ich ja gern, aber ich hab keine Zeit.“

„Wie bitte?“

Franziska verlieh ihrer Stimme einen empörten Klang.

„Was gibt es denn bitteschön Wichtigeres und Aufregenderes, um nicht zu sagen, Wundervolleres, als mit mir und meinem geliebten Bruderherz draußen in der freien Natur köstliche Speisen und herrlichen Wein zu genießen, zu philosophieren über Gott und die Welt, über sein und nicht sein…“

„Nico bekam einen Lachanfall.

„Hör auf, Franzi.“, japste er.

„Nenn mir ein Argument dagegen. Ich wüsste keines.“

„Ich gehe heute zum Usher Konzert.“

„Usher! Das ist doch kein Grund! Außerdem – willst du dir dieses schmierige Gesülze wirklich anhören?“

„Das ist kein Gesülze. Und was glaubst du eigentlich,“ er zeigte mit dem Daumen über die Schulter auf die Anlage, „was gerade läuft?“

„Ich weiß. Ist schrecklich.“

„Gar nicht wahr.“

„Doch. Ich mag diesen Sänger nicht. Allein schon deswegen, weil er Pelze trägt.“

„Ja, und?“

„Pelzmörder sind Träger!“

Sie lächelten beide.

„Na ja, oder andersherum.“, fügte sie hinzu.

Eine Weile herrschte Stille. Franziska hörte das Ticken der Wanduhr, Nico das Hämmern in seinem Kopf. Aus dem Zimmer unter ihnen drang leise „Superstar“ von Jamelia und Katjas schiefe Stimme, die dazu sang.

„Na gut, dann geh ich wohl wieder. Schade eigentlich, dass du keine Zeit hast. Aber ein anderes Mal, versprochen?“

„Versprochen. Soll ich dich noch mit raus bringen?“

„Na, ich bitte darum. Mit so einer netten Begleitung verlass ich doch gerne dein Heim.“

Vor der Haustür atmete sie tief ein.

„Diese Luft!“, sagte sie beigeistert. „Es riecht richtig nach Sommer, findest du nicht?“ Nico antwortete mit einem Lächeln und einem Kopfnicken. Jedes zweite Wort von Franziska brachte einen zum Schmunzeln. An schlechte Laune war bei ihr gar nicht zu denken.

„Ach, wie ich Sommerferien liebe!“

Sie strahlte über das ganze Gesicht.

„Die Sonne scheint, der Himmel ist blau gefärbt, von allen Bäumen trällern die Vögel ihre Liedchen, Bienen summen, alles wächst und gedeiht, die Blumen verbreiten ihren wohlriechenden Duft, die Bäume schillern in den allerschönsten Grüntönen…“

„Ich glaube, du warst zu lange in der Sonne.“, unterbrach Nico sie.

„Quatsch! Von der Sonne kann man gar nicht genug bekommen. Die wärmt nicht nur das Äußere, sondern auch Herz und Seele. Ihre Strahlen sind quasi Träger positiver Energie, guter Laune, Lebenslust…“

Nico unterlag schon wieder einem Lachkrampf. Franziska lachte mit, doch nicht lange, da redete sie weiter

. „Ach, und sieh dir das an.“ Sie deutete auf den Vorgarten, wo zahlreiche Gänseblümchen und Butterblumen blühten.

„Da könnte man jetzt so schön Pflümchen blücken.“ Sie prusteten gleichzeitig los.

„Du hast es heute aber echt mit deinen Wortverdrehern.“

„Nun, die deutsche Sprache ist aber auch nicht gerade leicht.“

Nico schloss die Haustür hinter sich, ging zum Schuppen, der im Vorgarten stand und holte sein Fahrrad heraus.

„Wo willst du denn hin?“

Er drehte sich um. Kim saß vor seinem Haus.

„Zum Bahnhof.“

„Aha.“

„Warum sitzt du hier draußen?“

„Mein Alter hat mich rausgeworfen.“

„Warum das?“

Kim zuckte mit den Schultern

. „Der macht doch alles ohne Grund. Aber,“ Kim klang verbittert, „wenn er wieder jemanden zum Verprügeln braucht, darf ich sicher wieder rein.“

Nico sah ihn schweigend an. Er wusste, dass Kim von seinem Vater geschlagen wurde und er tat ihm deswegen leid. Sein eigener Vater hatte ihn noch nie geschlagen. Er würde es auch nie tun, denn als Polizist, der tagtäglich mit Verbrechen und Handgreiflichkeiten zu tun hatte, war er prinzipiell gegen Gewalt innerhalb der Familie.

Bei Kims Vater, einem arbeitslosen Alkoholiker, konnte man jedoch kaum etwas anderes erwarten. Nicht nur Nico, sondern der Rest der Clique und fast alle aus der Klasse, wussten, was bei Kim zu Hause ablief.

„Was willst du denn beim Bahnhof?“, wurde Nico von ihm gefragt.

„Ich fahr mit Cindy nach Hannover zum Usher Konzert.“

„Usher! Wie kannst du so was nur hören?!“

„Wieso ist doch gute Musik.“

Kim schüttelte den Kopf

. „Das,“ er zeigte auf sein Böhse Onkelz T-Shirt, „ist gute Musik.“

„Onkelz! Die sind doch rechts.“

„Waren sie mal.“

„Ach, das ändert sich nicht.“

„Doch.“

Er sah Nico mit ernster Miene an

. „Wenn die noch rechts sind, bin ich's auch.“

Nico wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, deshalb sagte er:

„Na ja, ich muss dann auch, sonst verpasse ich noch den Zug.“

Er schwang sich auf sein Fahrrad.

„Hoffentlich lässt dein Vater dich bald wieder rein.“

„Ich werd's sehen. Dann viel Spaß bei deinem Konzert.“

„Werd ich haben. Bye.“

„Ciao.“

Kim sah Nico nach, bis er um die nächste Ecke verschwunden war.

-5-

Eine Woche später.

Nach den vielen heißen Sommertagen hatte es ein Gewitter gegeben, von dem die letzten dunklen Wolken nur noch im Osten zu sehen waren. In der Luft hing der Geruch nach Regen, die Straßen glänzten nass. Der Himmel wurde langsam schwarz, ein paar Sterne leuchteten bereits und spiegelten sich in vereinzelten Pfützen.

Im „Tango“ merkte man von alledem nichts. Dort wurde zu überlauter Musik kräftig

abgefeiert. Auf der Tanzfläche herrschte ein reinstes Durcheinander, an der Bar wurde am laufenden Band Alkohol ausgeschenkt und wo man nur hinsah, entdeckte man knutschende Pärchen.

„Was mach ich hier eigentlich?“, fragte sich Kim.

Er saß an der Theke vor einem Bier und rauchte, so wie er es in den letzten Tagen schon getan hatte. Den einen Tag im Mephisto, den anderen im 1827 und wieder einen anderen hier in Braunschweig im „Tango“. Jedes Mal hatte er ein Mädchen abgeschleppt, war mit ihm im Bett gelandet oder hatte sich mit ihm in der Kneipe bzw. Disco auf der Toilette amüsiert. Heute war es jedoch anders. Nicht, dass er keine gekriegt hätte, das Angebot war sogar groß. Er war nur einfach nicht in der Stimmung, auf einen Flirt einzugehen oder selber einen zu starten.

Obwohl er mit seinen One night stands hatte erreichen wollen, die Sache mit Nico zu vergessen, musste er doch ständig daran denken. Dazu trug natürlich auch bei, dass er ihn jeden Tag sah, aber das war, wenn man nebeneinander wohnte, kaum zu vermeiden.

„Was er wohl darüber denkt? Richtig ausgesprochen haben wir uns ja nicht – aber gut, was will man dazu auch sagen? Wir waren halt Idioten.“

„Hey, Süßer! So allein hier?“

„Nicht schon wieder!“, dachte Kim, drehte sich, in der Erwartung, irgendein Girl vor sich zu haben, das ihn anmachen wollte, um – und sah direkt in Katrins Gesicht.

„Oh, hi.“

Sie ließ sich auf dem Barhocker neben ihm nieder.

„Na, wie geht's meinem Lieblingscousin?“

Er grinste.

„Lieblingscousin ist gut. Ich bin ja auch dein einziger.“

„Ja, und? Deswegen darf ich dich doch trotzdem gern haben.“

„Also, mir geht's so einigermaßen und dir?“

„Ach, na ja. Ich hab gestern mit Sven Schluss gemacht.“

„Oh, echt? Warum das? Ihr wart doch so ein süßes Paar.“

„Er war halt so eifersüchtig. Was meinst du, wie nervig so was ist.“

„Tut mir Leid.“

Katrin lächelte. „Ist ja nicht deine Schuld. Ich komm schon drüber weg.“

„Gott sei Dank kenn ich diesen Stress nicht. Ich hatte noch nie 'ne Beziehung.“

„Warum eigentlich nicht? Du könntest doch fast jede haben.“

„Bestimmt.“, sagte Kim ironisch.

„Nee, echt. Dir laufen die Mädels doch geradezu hinterher.“

„Fragt sich nur, warum.“

„Vielleicht, weil du so gut aussiehst?!“

„Ich? Du hast wohl deine Brille nicht auf.“

„Ich trage Kontaktlinsen.“

Sie lächelten sich an.

Der DJ mixte eine Techno-Version von „Shut up“ von den Black Eyed Peas.

„Wie sieht's aus?“

Katrin stand auf und nahm Kim bei der Hand.

„Tanzen wir?“

„Nee, du. Ich kann nicht tanzen.“

„Ach, komm schon. Willst du mich wirklich allein in diese Wildnis lassen?“

Sie deutete auf die Tanzfläche.

„Du kannst ja hier bleiben.“, erwiderte er und entzog sich ihrer Hand. Katrin tat beleidigt. „Dann bleib halt sitzen.“

Sie wandte sich zum gehen, warf ihm noch ein „Wir sehen uns.“ über die Schulter zu und verschwand in der Menge.

Katja schob sich mit zwei ihrer Freundinnen zwischen den vielen Leuten hindurch, auf der Suche nach einem freien Plätzchen, wo man sich niederlassen konnte. Tatsächlich entdeckten sie noch einen unbesetzten Tisch. Ihre Freundinnen steuerten darauf zu und wollten sie mit sich zerren, doch Katja befreite sich aus deren Griff.

„Ich komm gleich nach!“, schrie sie über die laute Musik hinweg, dann entfernte sie sich Richtung Bar.

Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass es wirklich Kim war, der dort saß, sprach sie ihn an.

„Hi.“

Er schaute von seinem Bier auf.

„Hey. Was machst du denn hier?“

„Ferien feiern und du?“

„Saufen.“

Er hob die Flasche an den Mund. Mitten in der Bewegung hielt er inne.

„Sag mal… Du darfst doch hier noch gar nicht rein. Du bist doch erst 14, oder?“

„Ja, schon. Aber einer der Türsteher ist der Bruder von meiner Freundin; der hat uns reingelassen.“

„Tz! Na ja, ist natürlich praktisch, wenn man so 'nen Bruder hat.“

„Bist du allein hier?“

„Mhm.“

„Willst du dich vielleicht mit zu uns setzen?“

Katja nickte mit dem Kopf in die Richtung, in der ihre Freundinnen verschwunden waren. Kim sah auf seine imaginäre Uhr.

„Weißt du, mein Zug kommt bald…“

Sie legte ihm eine Hand auf den Arm und sah ihm tief in die Augen

. „Zeit, mit mir was zu trinken, wirst du doch noch haben.“

„Nun…“ Er stand auf. Um ihn drehte sich alles und er hatte Mühe, klar zu sehen. „Warum eigentlich nicht?“

Er bezahlte seine Biere, nahm die Schachtel Zigaretten und das Feuerzeug und machte schwankend ein paar Schritte. Katja hakte ihn unter, damit er nicht allzu schief ging. Sie führte ihn zu dem Tisch, an dem Anna und Steffi saßen.

Kim blieb doch länger, als er geplant hatte. Er unterhielt sich mit den drei Mädchen über Musik, Filme, Schule, etc. und schwieg, wenn sich das Gesprächsthema den neuesten Trends in Sachen Hairstyling und Fashion zuwandte.

Bier und Cocktails folgten in sehr kurzen Abständen und nach einiger Zeit war nicht nur er, sondern auch Katja in berauschtem Zustand.

Felix, der hin und wieder im „Tango“ als Barkeeper jobbte, beobachtete die beiden, ihre Gesten und die Blicke, die sie sich zuwarfen. Es war eindeutig, dass Kim und Katja flirteten.

„Wenn ich das Nico erzähle!“, dachte er und griff in die linke Hosentasche, um sein Handy herauszuholen.

-6-

Als Kim Schritte auf der Treppe hörte, drehte er hastig die Musik leiser, da er dachte, sein Vater käme herauf. Doch statt dem Erwarteten trat Nico ins Zimmer.

„Hey. Wie kommst du denn hier rein? Hat mein Dad dir aufgemacht?“

„Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“, fauchte Nico, ohne auf Kims Frage einzugehen.

„Wie bitte? Wovon sprichst du?“

„Tu nicht so scheinheilig! Ich weiß alles! Felix hat mir gestern geschrieben.“

„Felix? Was hat der dir denn geschrieben?“

Kim verstand die Welt nicht mehr.

„Was willst du überhaupt von mir?“

„Ich? Die Frage ist, was du von meiner Schwester willst! Wie kommst du dazu, mit Katja rumzumachen?“

Plötzlich ging Kim ein Licht auf.

„Ach so! Du meinst das gestern im „Tango“? Das war doch nur Spaß.“

„Spaß?! Du hast gefälligst die Finger von ihr zu lassen!“

„Ey! Reg dich ab! Erstens haben wir uns noch nicht mal geküsst…“

„Wäre ja noch schöner!“

„Und zweitens kann deine Schwester sehr gut alleine entscheiden, mit wem sie flirtet und mit wem nicht.“

Nico zwang sich, ruhiger zu sprechen.

„Mir geht's ja vor allem darum, dass du ständig mit einem Girl im Bett landest und es danach einfach fallen lässt, wie 'ne heiße Kartoffel. Im Grunde sind mir deine One night stands egal, nur wenn du so was mit Katja machst…“

„Du spinnst wohl!“

Kim sprang vom Bett auf. Jetzt war er es, der laut wurde.

„Du hast doch Paranoia! Ich will gar nichts von ihr. Und außerdem geht dich das alles gar nichts an!“

„Ich wollt's ja nur gesagt haben.“

„Ja, schön. Jetzt hast du's gesagt. Verpiss dich endlich!“

„Hey, pass auf, wie du mit mir redest.“, sagte Nico drohend.

„Ich kann mit dir reden wie ich will.“

Kim packte Nico an den Schultern und drückte ihn gegen die Wand.

„Du hältst dich wohl für besonders toll, he? Kommst hier reinspaziert, machst mich an und erwartest, dass ich das alles schlucke. Ich sag dir: Wenn du nicht innerhalb von fünf Sekunden verschwunden bist, reiß ich dir den Arsch auf!“

Nico stieß Kim von sich, sodass dieser gegen den Schreibtisch prallte.

„Leck mich doch!“, schrie er ihm ins Gesicht, bevor er aus dem Zimmer rannte.

Abends im Mephisto.

Die Clique hatte sich mit Franziska, Marco und Felix an zwei Tischen niedergelassen. „Was guckst du denn dauernd auf die Uhr?“, wollte Dennis von Franziska wissen. „Erwartest du noch wen?“

„Ja, Kim. Der wollte eigentlich noch kommen.“

„Nee, ne? Das ist jetzt nicht dein Ernst!“

„Wieso?“ Sie sah Nico fragend an. „Ich hab ihm vorhin geschrieben, ob er nicht Lust hätte, vorbei zu kommen. War das falsch?“

„Ja, allerdings.“

„Seit wann hast du denn was gegen Kim?“, mischte sich nun auch Marco mit ein.

„Dieser Wichser hat sich an Katja rangemacht.“

„Katja? Deine Schwester?“

„Mhm.“

„Ich hab die beiden gestern im „Tango“ flirten sehen.“, erklärte Felix.

„Na und?“

Franziska verstand den ganzen Trubel nicht.

„Ist das so schlimm?“

„Natürlich ist das schlimm!“

„Ist das nicht Katja ihre Sache? Ich finde, du solltest dich da nicht so drüber aufre…“ „Hallo, meine Fans!“, wurde Dennis von Kim unterbrochen.

„Hey!“

„Hi.“

„Grüß dich.“ er gab den Mädchen einen Kuss auf die Wange und reichte den Jungs die Hand. Nur Nico ließ er bewusst aus.

„Setz dich!“

Marco rutschte ein Stück zur Seite. Kim schnappte sich einen Stuhl von den nebenstehenden Tischen und tat, wie ihm geheißen.

„Warum hat denn das so lange gedauert?“, fragte Franziska.

„Das Hinsetzen?“, grinste er.

„Nein, das Hiererscheinen.“

„Mein Fahrrad hatte Verspätung.“

„Ah ja.“

„Nein, im Ernst. Ich hatte 'nen Platten.“

„Wie auch immer. Jetzt, wo du da bist, können wir ja endlich bestellen.“

„Habt ihr extra damit auf mich gewartet?“

„Klar, was denkst du denn? Ohne dich läuft doch hier gar nichts.“

„Hach! Jetzt fühl ich mich aber geschmeichelt.“

Franziska rief die Bedienung und wenig später hatten sie ihre Getränke. Sechs Beck's, vier Colas, zwei Cocktails und ein Schlammwasser.

„Was ist denn Schlammwasser?“

Basti sah angewidert auf Nataschas Glas.

„Cola mit Bier. Willst du mal probieren?“

„Nee, danke.“

Er schüttelte sich.

„Schmeckt aber gut.“

„Na, dann will ich dir auch nichts wegtrinken.“

Kim verrenkte sich den Hals, um zum Eingang sehen zu können.

„Steht da hinten ein Zigarettenautomat?“

„Ja.“

Er ging hin, kam aber gleich wieder zurück.

„Was ist los?“

„Die Marke, die ich immer rauche, gibt's da nicht. Kommt wer mit zu 'nem anderen Automaten?“

„Ich komm mit.“

Felix erhob sich.

„Muss mir eh die Beine vertreten.“

Draußen fanden sie schnell, wonach sie gesucht hatten. Kim warf das Geld ein und nahm die Schachtel heraus. Felix sah ihm zu, wie er sich sogleich eine Zigarette ansteckte

. „Du hast dich ganz schön mit Nico gezofft, hm?“

Kim schwieg.

„Wollt ihr euch nicht wieder vertragen? Das ist doch wirklich banal, was ihr da macht.“ „Wieso, was machen wir denn?“

„Ihr ignoriert euch die ganze Zeit. Glaubst du, das fällt uns nicht auf?“

„Und? Was erwartest du? Dass ich mich bei ihm entschuldige?“

„Zum Beispiel.“

„Er hat doch angefangen.“

„Mann, du klingst wie ein kleines Kind. Mich nervt euer Getue jedenfalls ziemlich. Hätte ich gewusst, dass ihr euch so in die Wolle kriegt, hätte ich das Nico gar nicht erst geschrieben.“

„Wäre wohl besser gewesen.“

„Also, entschuldigst du dich?“

Kim schwieg wieder. Er sträubte sich dagegen, nachzugeben, obwohl er wusste, dass er es besser tun sollte.

„Sei nicht so stur.“, meinte Felix.

„Ich kann nichts dafür, ich bin Sternzeichen Widder, die sind nun mal dickköpfig.“

Felix ging, ohne noch etwas zu sagen, los.

„Hey, jetzt renn doch nicht weg!“

Kim eilte hinter ihm her.

„Ist ja gut, ich mach's.“

Als die beiden das Mephisto betraten, sahen sie schon von weitem, dass Natascha ihren Kopf an Nicos Schulter und er einen Arm um sie gelegt hatte.

„Was soll das denn?“

In Felix kam Eifersucht hoch.

„Machen die jetzt rum oder was?“

„Keine Ahnung.“

Er baute sich vor Nico auf.

„Kannst du mir mal erklären, was das soll?“

„Was denn?“

„Nimm sofort deinen Arm da weg!“

„Mann, Felix!“

Natascha setzte sich wieder gerade hin.

„Komm wieder runter!“

„Hat der sich an dich rangemacht?“

„Mein Gott! Nico ist einer meiner besten Freunde. Der wird mich doch wohl noch in den Arm nehmen dürfen. Und wo willst du jetzt hin?“

Sie sah zu Nico auf, der allem Anschein nach den Tisch verlassen wollte.

„Mir reicht's. Ich hab keinen Nerv für den ganzen Stress hier. Aber damit eins klar ist: Ich wollte dir deine Freundin nicht wegnehmen.“

Mit diesen Worten verließ er die Kneipe. Kim folgte ihm.

„Na toll!“ Natascha schlug Felix mit der flachen Hand an den Hinterkopf.

„Dass du dich auch immer so aufspielen musst!“

„Tut mir Leid.“, meinte dieser kleinlaut.

Nico saß bereits auf dem Fahrrad, als Kim ankam.

„Warte doch!“

„Bestimmt nicht.“, dachte er und trat in die Pedale.

„Mensch, ich will mich bei dir entschuldigen!“

„Was?“

Erstaunt drehte er sich zu Kim um. Dabei sah er natürlich nicht, wohin er fuhr und im nächsten Moment krachte er gegen eine Straßenlaterne.

„Verdammt!“, rief er, als das Fahrrad auf ihn drauf fiel.

Kim eilte herbei, half ihm wieder hoch und fragte:

„Alles ok?“

„Ja, ich glaube scho…Au!“

Mit schmerzverzerrtem Gesicht hielt er den rechten Fuß ein Stück über dem Boden. „Wohl doch nicht alles ok, hm? Komm,“ Kim legte sich Nicos Arm um die Schulter, um ihn zu stützen, „ich bring dich wieder rein. Da setzt du dich erst mal hin…“

„Nein, ich will nach Hause.“

„Wie denn, mit nur einem Fuß“

„Ach, das geht schon.“

„Soll ich dich fahren? Dein Rad können wir ja hier anschließen.“ Nico überlegte kurz und gab sich dann einverstanden.

Nachdem Kim den anderen Bescheid gesagt hatte, fuhren sie – Nico vorne auf dem Lenker – zu zweit mit seinem Fahrrad nach Hause.

Nico stand auf einem Bein vor der Tür und suchte in seinen Hosentaschen nach seinem Schlüssel.

„Mist. Wie soll ich jetzt reinkommen?“

„Haste ihn nicht mit?“

„Nee.“

„Tja, das ist Pech.“

Kim verstaute sein Rad im Schuppen, schloss die Tür zu seinem Haus auf und machte eine einladende Handbewegung.

„Hereinspaziert. Äh, ich meine natürlich, hereingehumpelt.“

„Sehr witzig.“

Mit großer Mühe kämpfte sich Nico die drei Treppen zu Kims Zimmer hinauf. Dort setzte er sich auf das Bett, erleichtert, endlich ausruhen zu können. Kim nahm neben ihm Platz, streifte sich die Schuhe von den Füßen und schaltete per Fernbedienung die Anlage ein.

„Zeig mal her.“, meinte er.

Bereitwillig hielt Nico ihm den Fuß hin. Vorsichtig zog Kim Schuh und Socke aus.

„Hm, Man sieht gar nichts. Weder angeschwollen, noch grün oder blau. Blut ist auch nicht zu sehen. Sicher, dass du nicht nur simulierst?“

Nico erwiderte sein Grinsen nicht.

„Das tut echt weh.“

„Sorry. Ich hol dir was zum Kühlen. Lauf nicht weg.“

„Du bist ja ein echter Spaßvogel, heute.“

„Bin ich immer.“

Kim verschwand und kam zwei Minuten später mit einem in einem Geschirrtuch eingewickelten Eisbeutel wieder.

„Hier.“

Nico hielt ihn sich an den Fuß.

„Du, ich…“ Kim seufzte. „Tut mir Leid, das mit Katja.“

„Schon ok.“

„Wie, schon ok? Vor ein paar Stunden hast du noch so ein Theater gemacht.“

„Jetzt hab ich nun mal andere Probleme.“

Er legte den Eisbeutel auf den Boden.

„Das ist verdammt kalt.“

„Hat Eis so an sich.“

„Ich weiß. Also, wegen Katja jetzt – vergeben und vergessen?“

„Klar.“

Sie gaben sich die Hand.

„Ist doch auch bescheuert, sich deswegen zu streiten.“

Nico zog auch den zweiten Schuh und die Socke aus, Kim sah aus dem Fenster. Es war bereits dunkel.

„Die anderen sind garantiert schon besoffen.“, dachte er, nicht ganz ohne Neid.

So saßen sie schweigen nebeneinander. Jeder starrte vor sich hin und hörte Blink-182 zu, wie sie „I miss you“ sangen. In Kim kam wieder jene Traurigkeit auf, die er so gut kannte. Er lauschte den Worten, die aus der Anlage kamen, stimmte innerlich deren Inhalt zu und fühlte zu jedem Takt sein schmerzendes Herz schlagen. Nach kurzer Zeit verlor er jedoch die auf den Gesang gerichtete Aufmerksamkeit. Seine Gedanken drifteten ab, wie ein Schiff, das durch eine zu starke Meeresströmung auf einen falschen Kurs gelenkt wurde, und landeten bei Jan. Wie sehr er sich wünschte, von jenem in den Arm genommen zu werden und allein durch dessen Anwesenheit Trost zu finden, wie es früher so oft geschehen war. Worte waren nicht nötig gewesen, es hatte vollkommen gereicht, dass Jan einen Arm um legte und seine schweigende Trauer in sich aufnahm. Obwohl er nie etwas anderes getan hatte, als eben diese stille Aufmunterung, das Zuhören ungesagter Worte, hatte er es immer geschafft, dass Kim schon bald wieder lächelte.

Durch eine Berührung wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Nicos Hand ruhte auf seiner Schulter. Er sah ihm ins Gesicht. Für eine Sekunde hatte er das Gefühl, Jan vor sich zu haben. Der gleiche tröstende Blick, die gleichen verständnisvollen Augen. Er zwang sich zu einem Lächeln. Nico lächelte zurück, erst schüchtern, dann immer selbstbewusster. Er wischte Kim eine Träne von der Wange. Kim war erstaunt. Er hatte gar nicht mitbekommen, dass er angefangen hatte, zu weinen. Noch in seiner Verwunderung begriff er erst Nicos Tat, als dieser schon seine Lippen sanft an die seinen gepresst hatte. Automatisch schlossen sich seine Augen. Überrascht und verwirrt über die Gefühle, die in ihm aufkamen, erwiderte er den Kuss. Nicos

Hand wanderte an seinen Nacken und zog ihn noch ein Stück näher an sich heran.

Tausende von Schmetterlingen flatterten in Kims Bauch herum. Immer höher trugen sie ihn, bis er glaubte, irgendwo über den Wolken zu schweben. Sein Kopf war mit einem Mal total leicht. Alle trübsinnigen Gedanken hatten sich in Luft aufgelöst. Ebenso wie der stechende Schmerz in seinem Herzen. Dieses schlug ihm jetzt bis zum Hals. Ihn durchströmte eine unglaubliche Wärme; ein Kribbeln, ein seltsames Verlangen machte sich in ihm breit. Er war erregt.

Seine Zunge spielte mit der Nicos, lockte sie Stück für Stück aus dessen Mund in seinen; seine Hand legte er ihm auf das Bein. Da er nicht wusste, wie weit er gehen durfte, blieb sie dort liegen – vorerst zumindest. Denn sobald er merkte, wie Nico sich ihm hingab, ließ er sie höher wandern, bis sie zwischen dessen Beinen angekommen war. Er fühlte etwas Hartes und löste sich langsam von ihm. Beider Augen stellten dieselbe, stumme Frage:

„Denkst du, was ich denke?“ und schon küssten sie sich wieder. Nico drückte Kim sanft nach hinten, legte sich auf ihn und begann, seinen Hals zu küssen. Nebenbei schob er dessen T-Shirt ein Stück hoch und streichelte seinen Bauch. Kims Stöhnen veranlasste ihn dazu, weiterzugehen. Vorsichtig knöpfte er ihm die Hose auf…

Mitten in der Nacht wachte Kim auf. Nico lag, an ihn gekuschelt, neben ihm und schlief tief und fest. Er lächelte, gab ihm einen sanften Kuss, stand leise auf und suchte im Dunkeln nach seinen Zigaretten. Ihn fröstelte, als er das Fenster öffnete. Wie weiße Diamanten auf schwarzem Samt leuchteten die Sterne von oben herab. Der Mond warf sein kühles Licht ins Zimmer. Er lauschte den Geräuschen der Nacht, dem Zirpen der Grillen, dem Schrei einer Eule, dem Miauen einer Katze…

Er liebte die Nacht, mit all ihren Geheimnissen, den wunderbaren Wesen, die sich nur ihr zeigten, die am Tage nicht zu sehen waren. Er liebte den Wind, wenn er über seine Haut und durch sein Haar strich, mal sanft, mal stürmisch, stets ein Lied singend, das von Freiheit handelte und ihm Geschichten aus fernen Welten erzählte.

„Hey.“, hörte er jemanden leise sagen. Erschrocken zuckte er zusammen. Nico stand wie aus dem Nichts neben ihm.

„Ich dachte, du schläfst.“

„Tu ich nicht.“

Er grinste, zog Kim an sich und gab ihm einen Kuss.

„Komm wieder ins Bett.“, flüsterte er ihm ins Ohr.

Dann verschwand er wieder unter der Decke. Kim drückte eilig seine Zigarette aus, schloss das Fenster und folgte ihm. Die beiden kuschelten sich aneinander und küssten und streichelten sich überall. Nico lächelte still vor sich hin.

„Es ist toll, ihn so dicht bei mir zu spüren.“, dachte er.

Kim war nicht weniger glücklich. Seit langem fühlte er endlich wieder das Leben in sich.

Nico und Kim saßen in Cindys Zimmer auf dem Bett.

„Mensch, Mädel. Beeil dich mal.“

„Zwei Minuten noch.“

„Die anderen warten sicher schon auf uns.“

Kim wurde ungeduldig.

„Aber echt. Wir verpassen sonst noch den Film.“

Nico stand auf und trat hinter Cindy, die am Computer saß.

„Was machst du da eigentlich?“

„Chatten.“

Er verdrehte die Augen. Kim grinste, ging zu Nico, schlang von hinten die Arme um ihn, legte seinen Kopf auf dessen Schulter und sagte:

„Ach, was! Ist ja interessant. Hab ich auch mal 'ne Zeit lang gemacht.“

„Ich weiß. Und was beweist uns das, was dadurch passiert ist?“, fragte Cindy, ohne den Blick vom Monitor abzuwenden.

„Das beweist,“ fuhr sie fort, „dass man dadurch sogar seine große Liebe finden kann.“ „Und du bist jetzt auf der Suche?“, fragte Nico mit einer Mischung aus Spott und Skepsis.

„Klar. Man weiß ja nie. Vielleicht hab ich ja Glück.“

„Vielleicht passiert dir ja sogar das Gleiche wie uns.“ Nico fand die Vorstellung lustig. „Nee, ich hoffe, nicht.“ „

Mit wem chattest du denn gerade?“, wollte Kim wissen.

„Mit so 'nem Typen aus Braunschweig. Alex.“

„Hehe.“

Er grinste wissend.

„Du weißt, dass Alex auch ein Mädchenname ist?“

„Hä? Alex ist doch kein Mädchenname!“

„Klar. Frag „ihn“ doch mal, ob „er“ wirklich ein Boy ist.“

„Und wie soll ich das machen? 'Hey, du. Bist du überhaupt ein Junge?' Klingt doch bescheuert.“

„Mann, mach doch mal. Schreib: Kurze Zwischenfrage. Bist du ein Girl oder ein Boy?“ „Na gut.“

Cindy war genervt, schrieb aber, wie ihr diktiert worden war.

Wenige Sekunden später schloss sie das Fenster vom Chatroom, fuhr den PC herunter und sprang hastig auf.

„Was ist denn jetzt los? Hat dich was gebissen?“, fragte Nico erstaunt.

„Ich glaub, ich weiß, was sie hat.“, meinte Kim.

„War wohl doch ein Mädel?“

Cindy wurde knallrot im Gesicht.

„Haben wir jetzt etwa eine Lesbe in unserer Clique?“

Sie zeigte Kim einen Vogel und eilte aus dem Zimmer. Die beiden Jungs fingen an zu lachen.

„Hey, Cindy!“, rief Nico.

„Ist doch nicht schlimm!“

„Genau.“, fügte Kim hinzu. „Es ist doch egal, was du bist. Hauptsache ist, es macht dich glücklich.“

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