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Blue Eyes

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Inhaltsverzeichnis

Timo

Der 14. Mai, ein Freitag, war verregnet, kühl – und anders. Nicht die zahlreichen Pfützen, die draußen vor dem »Seaside« auf unachtsame Fußgänger lauerten, waren seltsam. Auch nicht die grauen Wolken über den Bäumen, die an der Straße standen oder der Wind, der durch Blätter und Gräser rauschte. Nein, was die Natur anging, verlief alles wie immer. Das Unnormale war die Leere, die vor und im Club herrschte. Eigentlich müsste es von sauf- und tanzwilligen Schwulen und Lesben, die das Wochenende feiern wollten, im »Seaside« wimmeln, doch waren gerade mal dreißig Leute anwesend – wenn überhaupt.

»Ziemlich tote Hose, was?« Felix nahm auf dem Stuhl neben mir Platz. »Das kannst du laut sagen!«, stimmte ich ihm zu. Er grinste. »Muss ich doch gar nicht. Bei der Musik heute.« Er hatte Recht. Wenn man sich hier sonst mit wem unterhalten wollte, musste man seinem Gegenüber regelrecht ins Ohr brüllen; und selbst dann konnte man sich kaum verständigen. Heute Abend lief die Musik so leise, dass man in normaler Lautstärke reden konnte.

Ich schüttelte den Kopf. »Ein verrückter Tag. Wo bleiben die alle?« Felix zuckte mit den Achseln. »Vielleicht wissen die etwas, das wir nicht wissen…« Ich beobachtete ihn, wie er sich ein Beck's öffnete und danach eine Schachtel Marlboro hervorholte. »Wolltest du nicht aufhören?«, fragte ich, während er sich eine Zigarette ansteckte. Als Antwort hielt er mir nur grinsend die Schachtel entgegen, aus welcher ich mir ebenfalls eine Kippe nahm. »Ja, ja. Gar nicht so einfach. Mein letzter Versuch ist auch fehlgeschlagen.«, hörten wir eine Stimme hinter uns sagen. Wir drehten uns um und sahen Eddie vor uns stehen – im Schlepptau den Rest unserer Truppe. »Na, endlich!« Felix sah jeden einzelnen vorwurfsvoll an. »Ich wollte schon eine Vermisstenanzeige aufgeben!« Kim lachte. »Och, haben wir dir so gefehlt?« Bevor Felix etwas erwidern konnte, ergriff Stefan das Wort. »Klar haben wir ihm gefehlt! Wer sollte ihm sonst immer sein Handy hinterher tragen?!« »Hab ich das etwa schon wieder vergessen?«, fragte Felix ungläubig und nahm den kleinen, blauen Gegenstand von Stefan entgegen. »Lag bei mir auf dem Wohnzimmertisch. Also«, Stefan fingerte in seiner Hosentasche nach seinem Feuerzeug, »irgendwann verlierst du das Ding noch mal.« Felix grinste. »Glaub ich nicht. Ist festgewachsen.« Wir lachten. Regel Nummer Eins in unserem Kreis: Beschreibe Sachen nie als Ding oder Teil. Führt nur zu Zweideutigkeiten.

»Hier ist ja heute rein gar nichts los!«, bemerkte Maik nach einer Weile. »Gibt es irgendwo was umsonst?« »Keine Ahnung.« Ich seufzte. »Ziemlich trauriges Bild, was?« »Aber echt, ey.« Er sah sich in dem riesigen Raum um. »Kann es sein, dass heute nur für Lesben ist?« »Warum?« »Nun, wir sind die einzigen Schwulen hier.« Auch die anderen sahen sich um und mussten zugeben, dass außer uns nur Frauen anwesend waren. Ich lachte, als ich Eddies Gesicht sah. »Schlechte Karten für dich, was?« Er brummte etwas und stand auf, um sich ein Bier zu holen.

»Sagt mal, wäre es möglich, dass es einen neuen Club gibt und es deswegen so leer ist?«, fragte Kim in die Runde. »Nee, ausgeschlossen!« Torben schüttelte heftig den Kopf. »Ich kenne die Szene wie meine Westentasche und habe Kontakte, von denen ihr noch nicht einmal etwas ahnt. Keiner würde es wagen, einen Club zu eröffnen, ohne mich davon in Kenntnis zu setzen.« »Na, wenn du das sagst…«, Felix stieß langsam den Rauch aus, »Dann erklär mir, was hier gespielt wird.« Torben zuckte mit den Schultern und schwieg. Auch wir anderen hüllten uns in Schweigen, hingen unseren Gedanken nach und rätselten über die seltsame Stimmung, die heute unseren Club beherrschte.

»Was, zum Teufel, ist hier los?«, dachte ich. Abgesehen von der leisen Musik und den wenigen Menschen, bereitete mir noch etwas anderes Kopfzerbrechen: Die Lethargie. Weder wir, noch die Lesben redeten viel. Niemand tanzte; die besten, mitsingbaren Partylieder wurden stumm laufen gelassen. Es kam überhaupt keine gute Laune auf.

Als sich Kim dann ein Bier holte, brach mein gesamtes logisches Denkvermögen zusammen. Kim trank nie Bier! Er war der Schwule, der wirklich lieber Prosecco trank, als sich eine Flasche Beck's runterzukippen. »Verrückt.«, war mein einziger Gedanke.

Torben, überzeugter Nichtraucher, bat Felix um eine Zigarette, während Eddie, der sonst seinen Tabakbestand nie teilte, Stefan einen Glimmstängel anbot.

Kopfschüttelnd stand ich mit der Erklärung, ich müsste mir die Beine vertreten, auf und ging nach draußen. Die Nacht war schwarz-weiß. Licht, der Straßenlaternen und Schatten des Verborgenen. Summen von Mücken und Schweigen der Dunkelheit. Sicherheit im Hellen, Ungewisses im Schwarzen.

Die Luft war angenehm kühl, ohne dass es einen frösteln ließ. Vielmehr hatte sie etwas Erweckendes. Ich atmete tief durch. In irgendeiner Weise tat mir das Alleinsein hier draußen gut.

Alex

Auf der anderen Straßenseite stand Timo, das Gesicht einem Stern zugewandt, der hinter den Wolken hervorlugte. Ich konnte sehen, wie der Wind mit seinen blonden Haaren spielte. Ein unbeschreibliches Gefühl überkam mich. Einmal im Jahr konnte ich meinen Freund aus nächster Nähe sehen. Die restlichen 364 Tage befand ich mich auf einer anderen Ebene. Eine Ebene, die uns so sehr trennte, dass es schmerzte. Eine Ebene, die Tod hieß und auf der Erinnerungen das einzig Lebendige waren.

Ich überquerte die Straße und stoppte wenige Zentimeter vor ihm. Ich wusste, dass er mich nicht sehen konnte. Aber ich wusste, dass er meine Anwesenheit spürte. Ich nahm seine Hand. Er schaute mir ins Gesicht, während sich seine Augen mit Tränen füllten. Die Stille breitete sich aus. Der Wind hörte auf zu wehen, die Mücken verstummten und überhaupt schien die Welt für einen Augenblick still zu stehen. Lächelnd griff ich nach seiner anderen Hand. Es tat mir weh, ihn anzufassen und doch nicht richtig fühlen zu können. Tod war die Kälte, Leben die Wärme. Beides zusammen ergab eine seltsame Mischung aus Emotionen und Gedanken, die uns verband und gleichzeitig trennte.

Ich beobachtete, wie eine Träne seine linke Wange hinunterrollte. Mein Gesicht war darin zu erkennen. Die nächste zeigte meinen Grabstein. Es folgten ein gebrochenes Herz, Verzweiflung, Hilflosigkeit, Schmerz und Trauer. Die letzten beiden Tränen waren blutrot und pechschwarz – zumindest für mich. Für Timo, das wusste ich, waren sie ganz normale Tränen, die salzig schmeckten, wenn man sie wegküsste.

Ich führte seine Hand an sein Gesicht und ließ ihn sich die Nässe von der Wange wischen. Er lächelte. »Irgendwann sind wir wieder zusammen.«, flüsterte ich und gab ihm einen sanften Kuss.

Die Ewigkeit begann an mir zu zerren, was sich darin äußerte, dass die Laternen, die Bäume und das »Seaside« langsam verschwammen. Farben lösten sich auf, um sich neu zu mischen. Formen wanden sich, veränderten ihre Gestalt und ließen alles weit entfernt erscheinen. Bevor sich der Tod wieder zwischen Timo und mich schob, sah ich ihm ein letztes Mal in seine traurigen Augen, flüsterte ein »Ich liebe dich.« und strich ihm durch sein kurzes Haar. Sofort nachdem er meine Berührung mit einem weiteren Lächeln erwidert hatte, riss mich die Kälte von ihm fort. Seine Konturen verschwanden ziemlich rasch und ich konnte gerade noch sehen, wie er sich umdrehte und in den Club zurückging, als auch schon alles um mich herum bunt wurde. Bilder und Szenen aus meinem Leben, begleitet von einer Stille, die einem entweder Seelenfrieden schenkte oder einen verrückt machte.

Der Tod war endlos und die Erlebnisse, durch die ich seit drei Jahren immer wieder schwebte, ließen mich in jene Trance fallen, der ich unterlag, bis ich für wenige Minuten wieder zu Timo zurückkehren konnte.

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