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Verwirrungen

Thomas

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Informationen

Teil 1: Thomas

Die Erkenntnis, dass ich Thomas liebe kam wie ein Sommergewitter: plötzlich, heftig und überraschend. Dabei kannte ich Thomas bis dahin schon recht lange. Seit drei Jahren besuchten wir die gleiche Schule und waren sogar Klassenkameraden. Er fiel mir aber nicht sonderlich auf. Wie auch, ich war ja immer nur mit mir beschäftigt, und meist tagträumte ich dahin.

Ich selbst war nicht das, was man den Mittelpunkt der Klasse nennt. Ich war aber auch nicht der Loser oder Klassendepp. Dazu war ich viel zu unauffällig, ruhig, ja und eben verträumt. Mein Leben lief so en passant ab, und da ich anscheinend nicht der Dümmste war, konnte ich es mir schulisch leisten, ab und an auch während des Unterrichts in anderen Sphären zu schweben. Im Nachhinein betrachtet schien Thomas ähnlich veranlagt zu sein. Er fiel auch nicht sonderlich auf und mischte sich nicht sonderlich ins allgemeine Klassengeschehen ein. Er hatte allerdings ein, zwei beste Freunde in der Klasse, mit denen er die meiste Zeit verbrachte.

Interessant wurde Thomas, als mir Mike während einer Unterrichtsstunde knapp nach den Weihnachtsferien in einer konspirativ anmutenden Weise zuraunte: „Thomas ist schwul.“

„Hä?“, stieß ich, aus meinen Träumen aufwachend, aus.

„Thomas ist schwul!“, wiederholte er nun mit etwas mehr Nachdruck.

„Woher willst du das wissen?“, fragte ich leicht verwundert. Ich war zwar öfters geistig abwesend, aber solch eine Neuigkeit hätte ich doch mitbekommen.

„Heute in Turnen kams raus“, meinte er nur.

„Wie? Warum? Heute war ich nicht turnen.“

Ja, wie des Öfteren hatte ich meine Turnsachen vergessen und mich daher für die eine Stunde in die Raucherecke verzogen. Wie zu vermuten, war meine Note in LE deswegen immer im mittleren Bereich, sprich: eine Drei, was in etwa einer Fünf in allen anderen Fächern gleichkam (Religion vielleicht ausgenommen ;-).

Aber zurück zum Eigentlichen: Ich hatte also am Turnen nicht teilgenommen und daher anscheinend etwas Wesentliches versäumt.

„Ich erzähls dir in der Pause“, meinte Mike und widmete sich wieder unserem Unterricht, nachdem er noch einmal zu Thomas geblickt hatte.

Ich folgte seinem Blick.

Thomas.

‚Er wirkt etwas bedrückt.’ Na ja, zumindest interpretierte ich sein Verhalten so. Er schaute ständig vor sich auf den Tisch, obschon da nichts lag.

Dann fiel es mir auf. Der Sessel neben ihm war leer! Aber Reiner hatte ich an jenem Tag vorm Turnen noch gesehen. Ich blickte mich im Klassenzimmer um. Da saß er: in der letzten Reihe, finster aus dem Fenster blickend.

Da war definitiv etwas nicht in Ordnung. Reiner war schließlich Thomas’ bester Freund. Die waren so was von unzertrennlich wie Fix und Foxi, Dick und Doof oder Peter und Agnes, unser Klassenpärchen.

‚Ups’, dachte ich mir: ‚Das kann natürlich auch der Grund sein.’

Wenn Thomas wirklich schwul war und es auch noch alle (oder fast alle) wussten, dann war das für Reiners Image natürlich nicht unbedingt von Vorteil. Was denken unreife Kids (und 16/17-Jährige sind manchmal doch noch recht unreif) vom besten Freund eines Schwulen? Genau: dass er möglicherweise nicht nur der beste, sondern DER Freund ist, d.h. dass er auch schwul ist.

‚War er es?’

War mir eigentlich egal. Reiner war mir nicht sonderlich sympathisch. Er konnte manchmal recht grob mit seinen Äußerungen sein und auch ich war schon manches Mal das Opfer und Zielscheibe derselben. Ab und an verarscht zu werden war nicht mein Problem, schließlich durfte man nicht wehleidig sein und austeilen konnte ich auch. Aber Reiner überschritt des Öfteren die Grenze zwischen Spaß und Beleidigung.

Mein Blick kehrte wieder zu Thomas zurück.

‚War er schwul? Stimmte, was Mike sagte? War er schwul? Wenn ja, was dann?’

Eigentlich konnte es mir egal sein. Auch mit Thomas hatte ich nicht viel Kontakt, und – na ja: ‚Was macht ein Homo in der Klasse schon aus?’

Aber irgendwie beschäftigte mich die Möglichkeit, Thomas könnte schwul sein. Nein, es berührte mich. Ich sah Thomas plötzlich mit anderen Augen. Nicht als x-beliebigen Schüler, sondern... ich fühle mich zu ihm hingezogen. Seine vermeintliche Traurigkeit tat mir weh. Wie er da saß, kam er mir so zart und zerbrechlich vor. Am liebsten wäre ich zu ihm hingegangen und hätte ihn umarmt, getröstet.

Das verwirrte mich leicht. Erstens war es nicht sicher, dass er schwul war, zweitens vermutete ich nur, dass er traurig war und drittens hatte ich ihm gegenüber noch nie etwas empfunden. Ja, und überhaupt war ich sonst auch nicht unbedingt so mitfühlend, dass mich anderer Leute Sorgen sonderlich betroffen machten (wenn ich sie denn überhaupt bemerkte, deren Sorgen). Nun, ich war kein Ignorant und auch kein Eisblock, den alles kalt ließ, aber ich war mitten in der Pubertät und hatte selber genug Probleme.

Was dann geschah, brachte mich und meine Gefühle aber endgültig durcheinander.

Von mir fast unbemerkt, lief ja der Unterricht weiter, und Fr. Zwinger tat, was ein Lehrer nun mal so tut: sie fragte einen Schüler unvermittelt etwas. Das Etwas bekam ich wie üblich nicht mit, und wen sie fragte, bemerkte ich erst, als sie Thomas zum zweitenmal ansprach und er zu ihr aufblickte. Sie war anscheinend genauso überrascht wie ich, als sie Thomas’ Gesicht sah. Seine Augen waren feucht und eine Träne rann die Wange hinunter.

‚Mein Gott, er weint!’.

„Thomas! Was ist denn mit dir los?“, fragte Fr. Zwinger besorgt, „Ist was passiert?“.

„Vielleicht ist ihm ja zu warm!“, rief jemand aus der Richtung wo unsere Arschlöcher saßen, also die Coolsten. Oder zumindest bildeten sie sich das ein und leider nicht nur sie, sondern auch ein Großteil der Klasse.

Ein Großteil der Klasse brach dann auch in schallendes Gelächter aus, der Rest, und mit ihm auch Fr. Zwinger blickten verwundert in die Richtung, wo diese Ansage herkam. Thomas allerdings stand auf und stürmte schluchzend aus der Klasse, nicht ohne sich die Tränen, die nun anscheinend kein Halten mehr kannten, aus dem Gesicht zu wischen.

Mein Herz bekam einen Stich und mir schoss das Wasser in die Augen. Ich musste mich zusammenreißen, nicht auch loszuheulen. Er tat mir so unsäglich leid. Und ich? Ich konnte nichts tun. Das heißt, ich hätte schon: wäre ich meinem Herzen gefolgt, dann auch Thomas. Ich hätte ihn trösten oder ihm zumindest bei was auch immer beistehen können. Aber ich! Ich folgte meinem Verstand und blieb feige auf meinem Sessel sitzen und blickte bedrückt zu Boden.

„Siehst du, ich hab’ dir doch gesagt, dass er eine Schwuppe ist!“, lachte mich Mike an und stieß mir dabei mit seinem Ellbogen in die Seite.

„Trottel.“, war das Einzige was ich rausbrachte.

Wie konnte er nur so herzlos sein? Sah er nicht, wie sehr Thomas verletzt wurde?

„Kann mir jemand sagen was da abläuft?!“, rief Fr. Zwinger in die Klasse.

„Ach, der hat sicher nur Stress mit seinen Alten!“, meinte jemand.

„Oder mit seinem Alten!“, kam es von irgendwo, wieder unter Gelächter.

„Ruhe, verdammt!“, stieß Fr. Zwinger laut hervor, „Was ist los? Wieso ist Thomas aus der Klasse gestürmt? Kann mir das irgendjemand sagen?“ wandte sie sich an alle und dann an Reiner: „Reiner?“

„Was?“, meinte er erbost. „Woher soll ich das wissen?“, rief er, und dann etwas leiser: „Wir haben uns gestritten. Das wird’s wohl sein.“ Und um Fr. Zwinger zu beruhigen, meint er noch: „Das wird schon wieder.“

Das klang mir alles nicht sehr plausibel und Fr. Zwinger war wohl auch skeptisch.

„OK, kannst du ihn dann bitte wieder zum Unterricht holen?“

„Wieso ich?“, blaffte er sie an. „Der kann selber schauen, wie er lang kommt! Ich bin ja nicht sein Kindermädchen!“.

„Ein Kinderknäbchen wäre ihm auch sicher lieber!“, zischte es von vorne und ein unterdrücktes Kichern breitete sich in der Klasse aus.

„Ich suche ihn.“, sagte ich, stand auf und verließ die Klasse.

Ich wollte raus! Raus! Ich hielt es nicht mehr aus.

„Danke!“, hörte ich noch Fr. Zwinger rufen, als ich die Türe hinter mir schloss.

Ich konnte noch quer über den Gang stürzen und ein Fenster aufreißen. Ich lehnte mich raus und fing an zu heulen. Ich heulte, wie lange nicht mehr. Eine Traurigkeit breitete sich in mir aus. Ich fühlte mich einsam.

Als ich mich wieder einigermaßen gefasst hatte, fragte ich mich verwundert was los sei mit mir.

‚Warum? Warum habe ich so reagiert? Warum betraf mich das Geschehen so? Warum musste ich heulen?’

Gut, es war bedrückend, gemein, einfach fies was da abgelaufen war und wie sich die Klasse Thomas gegenüber verhalten hatte. Aber gleich losheulen ohne Halten? Ich bin zwar nah am Wasser gebaut, aber gleich Land unter? Ich konnte mir das alles nicht erklären, verdrängte aber weitere Fragen, da schon einige Zeit vergangen war und ich ja noch Thomas suchen musste. Mein erster Gang war auf die Toilette, nicht nur um Thomas zu suchen, sondern auch um die Spuren meines kurzzeitigen Zusammenbruchs verschwinden zu lassen. Ich wusch mir also das Gesicht und suchte Thomas. Aber allzu lang dauerte meine Suche nicht, als sie durch die Pausenglocke unterbrochen wurde. Es hatte nun keinen Sinn mehr und ich kehrte ins Klassenzimmer zurück.

Dort erwartete mich Fr. Zwinger.

„Und?“

„Tut mir leid, ich hab’ ihn nicht gefunden“, teilte ich schulterzuckend mit.

„Hm. Phillip, weißt du, was mit ihm los ist?“

„Nein, leider. Keine Ahnung. Ehrlich.“, log ich und blickte unschuldig und besorgt drein.

„Na gut. Ihr habt ja nur noch eine Stunde. Wenn er aber morgen nicht kommt, sag es mir bitte, dann rufe ich bei seinen Eltern an.“

„Ja, mach’ ich.“

Damit verließ sie die Klasse.

Mike kam auf mich zu. „Was war denn mit dir los? Willst du dich bei Fr. Zwinger einschleimen?“

„Ach halt doch die Klappe“, sagte ich mehr zu mir als zu ihm.

„Was heißt: ‚Halt die Klappe’? Du bist ja noch schneller aus der Klasse gestürmt, als unsere neue Freundin.“ Dabei grinste er.

„Ich finde das voll fies, was ihr da gemacht habt!“, herrschte ich ihn an.

„Ich? Ich habe doch nichts gemacht. Ich habe nur über einen Schmäh gelacht.“ Er spielte den Unschuldigen.

„Ein Scheiß war das! Das war kein Schmäh, das war gemein!“

„Ach hab’ dich nicht so. Unser Schwesterchen wird es schon überleben. Sonst bist du auch nicht so ein Mimöschen.“

„Thomas! Er heißt Thomas, OK!“

Ich wurde wütend.

„OK. OK. Und, was sagst du dazu? Ich meine, dass Thomas schwul ist.“

„Was soll ich sagen? Das ist seine Sache.“

„Das ist nicht sein Sache!“, mischte sich Markus ein. „Was, wenn er uns beim Turnen anbaggert? Glaubst du, ich gehe nach dem Turnen noch einmal in den Duschraum, wenn er drinnen ist?“

„Dass er dich anbaggert, hättest du wohl gerne!“, warf ich ihm an den Kopf.

Das hätte ich nicht sagen sollen. Er packte mich vorne am Kragen und drückte mich gegen die Tafel.

„Wenn du noch einmal so was sagst, bring ich dich um“, zischte er mir durch zusammengebissene Zähne ins Gesicht und blickte mir dabei drohend in die Augen.

Ich war verwundert und auch erschrocken, zumal Markus sonst eigentlich ein netter Kerl und auch nicht aufbrausend oder gar ein Schlägertyp war.

„OK, OK, beruhige dich.“

Er ließ mich los, blickte mich noch mal böse an und drehte sich von mir weg.

„Scheint als hätte Thomas einen neuen Freund“, meinte er noch.

‚Arsch’, dachte ich mir.

Ich suchte Reiner und fand ihn immer noch am Tisch in der letzten Reihe sitzend und aus dem Fenster starrend.

„He Reiner. Was ist mit dir und Thomas? Wieso hast du dich weggesetzt?“

„Was?“ Er drehte sich zu mir: „Glaubst du ich setzte mich neben eine Schwuchtel?“

„Aber ihr wart doch die besten Freunde, oder?“

„Ja genau. Wir WAREN die besten Freunde. Der hat mich die ganze Zeit verarscht! Ich hab’ sogar manchmal bei ihm übernachtet! Und jetzt? Jetzt ist er schwul! Wie schaut das denn aus! Als ob ich auch schwul wäre!“

„Ja, aber das hast du doch nicht gewusst. Das glaubt doch nur ein Trottel, dass du auch schwul bist.“

Er hörte mir anscheinend gar nicht zu.

„Ich war sein bester Freund und dieses Arschloch ist einfach schwul. Ich pack’ es nicht!“, stieß er verzweifelt aus.

Er drehte sich von mir weg, aber ich konnte noch erkennen, dass seine Augen feucht wurden.

Ich setzte mich neben ihn.

„He! Nimms nicht so tragisch. Es wird schon wieder.“

„Nichts wird wieder! Er ist schwul. Hast du kapiert!? Schwuhul. Was soll denn da noch werden?“

„Aber ihr könnt doch deswegen trotzdem Freunde blieben?“

„So ein Scheiß! Außerdem: was mischt du dich da ein? Was geht dich das überhaupt an?“

„OK, OK, schon gut.“

Wenn er nicht wollte. Im Weggehen sagte ich noch zu ihm: „Auf jeden Fall könnte Thomas jetzt einen Freund gebrauchen.“

Während der ganzen Zeit herrschte in der Klasse eine helle Aufregung. Wer bis jetzt noch nichts von Thomas’ sexueller Ausrichtung wusste, der wurde nun eingeweiht. Da die Pause aber nur kurz war, saß bald jeder wieder auf seinem Platz und lauschte Dr. Staudinger bei seinem Versuch, uns Cicero näher zu bringen. Das heißt: jeder außer Thomas.

Meine Gedanken waren nicht bei Cicero.

‚Wieso?’, fragte ich mich. ‚Was war da mit mir los gewesen?’

Ich fand jedenfalls, dass ich mich, abgesehen vom Heulkrampf am Gang, echt cool verhalten hatte. Ich war richtig stolz auf mich, hatte ich doch versucht Thomas zu helfen und ihn sogar verteidigt. Nun, nicht gegen die ganze Klasse, aber zumindest Mike wusste nun, dass ich nichts vom Schwuchtelbashing hielt und Markus wusste nun auch, dass er sich mies benommen hatte. Bei Letzterem war ich mir aber ziemlich sicher, dass ihm egal war, was ich dachte.

‚Der hat anscheinend echt Schiss vor Schwulen. Komisch. Käme mir nie in den Sinn. Ich meine, vergewaltigen lasse ich mich nicht. Aber nur weil man schwul ist, wird man doch nicht zum Verbrecher?’

‚Und Reiner? Hm. Der war echt verzweifelt. Aber seinen Freund jetzt im Stich lassen, war echt gemein. Wann, wenn nicht in so einer Situation, braucht man einen Freund?’

Ich träumte immer von einer Freundschaft! Durch Dick und Dünn miteinander gehen! Aber ich träumte nur davon. So einen Freund hatte ich nicht.

Und dann durchfuhr es mich wie ein Blitz: ‚Aus mit Träumen! Nun hast du die Chance, so einen Freund zu bekommen, oder zumindest so einer zu werden! Thomas!’

Ich musste ihn ja gern haben, wie sonst hätte ich meinen seltsamen Gefühlsausbruch erklären können?

‚OK. Was war zu tun? Ich muss zuerst Thomas finden. Wo? Vielleicht bei ihm zuhause. Wo wohnt er? Scheiße. Keine Ahnung.’

Reiner wollte ich nicht Fragen.

‚Wie? Wie? Wie?’, zermarterte ich mein Hirn.

Ich blickte auf Thomas’ leeren Platz.

‚Seine Tasche. Er hat seine Tasche noch da liegen!’ Damit konnte ich unverfänglich jemanden nach Thomas Adresse fragen. War schließlich einleuchtend, dass ich ihm als netter Klassenkamerad die Tasche nach Hause bringen wollte.

„Mike. He Mike! Weißt du, wo Thomas wohnt?“, flüsterte ich ihm zu.

Er schaute mich verwundert an, rang sich dann aber doch zu einer vernünftigen Antwort ohne blöde Bemerkung durch.

Mit dieser Info griff ich mir nach dem Unterricht Thomas’ Tasche und machte die Fliege.

Die Anderen unterhielten sich noch aufgeregt über die Ereignisse in der vorletzten Stunde, mich interessierte das nicht. Mich interessierte, wo Thomas steckte und wie es ihm ging.

Ich war richtig aufgeregt, als ich mich auf den Weg machte: ‚Was wird wohl passieren? Wie wird er reagieren, wenn ich bei ihm auftauche? Was wenn er gar nicht da ist? Was, wenn er abweisend reagiert? Wenn er nicht will, dass ich für ihn da bin? Scheiße! Was soll ich dann machen? Einfach aufgeben? Ihn zu seinem Glück zwingen?’

Ich wollte keinesfalls aufdringlich wirken, andererseits wurde mir klar, dass ich nicht sofort aufgeben durfte, wenn er meine Freundschaft nicht gleich annehmen wollte. Schließlich hatte er heute wahrscheinlich seinen schlimmsten Tag im Leben gehabt. Da konnte man schon skeptisch, abweisend, vorsichtig, ängstlich auf alles reagieren, was sonst noch Ungewöhnliches passieren würde. Und dass ich bei ihm auftauchen würde, war sicherlich ungewöhnlich. Für mich wie für ihn.

‚Wir kennen uns kaum und dann tauche ich da plötzlich bei ihm auf?’.

Nun, ich ließ es auf mich zukommen. Es blieb mir auch nichts anderes übrig, da ich schon vor seinem elterlichen Haus stand.

Ich läutete.

Nichts.

Ich läutete noch mal.

Wieder Nichts.

Ich wollte schon abhauen, da öffnete sich die Tür ein klein wenig und Thomas lugte durch den Spalt. Er hatte geheult. Mehr recht als schlecht hatte er wohl versucht, das zu verbergen, aber seine Augen waren rot.

„Was willst du?“.

Verwunderung und Aggressivität schwangen in seiner Stimme mit.

„Hier, du hast deine Tasche vergessen.“

Ich reichte sie ihm durch den Spalt. Er nahm sie und knallte die Tür zu.

Nun war ich verwundert.

Ich klopfte und rief: „He Thomas! Mach auf!“

„Was willst du?“

„Mit dir reden. Es tut mir leid, was heute in der Schule passiert ist. Ehrlich. Ich fand das scheiße.“

Nach kurzem Zögern sagte er: „In der Klasse habe ich aber nichts davon gemerkt!“

„He, ich war einfach überrascht. Ich war heute nicht turnen und hatte daher keine Ahnung, was da passiert ist. Als du raus bist aus der Klasse, bin ich dir hinterher!“

„Ehrlich?“

„Ja, Thomas. Bitte mach die Tür auf. Bitte!“

Er öffnete sie und ließ mich ins Haus.

Da stand er vor mir: ein bisschen kleiner als ich, zarter Körperbau, schmales Gesicht, schmaler, sehr schmaler Kopf gekrönt von dichtem, schwarzem Haar, Augen blau-grau und groß – Kindchenschema. Am liebsten hätte ich ihn sofort in die Arme genommen, so traurig und verunsichert wie er vor mir stand. Ich ließ es aber. Erstens wollte ich ihn nicht bedrängen und zweitens wäre mir das doch seltsam vorgekommen. Was sollte er da von mir denken? Dass ich schwul bin und was von ihm will? Ne, ne. Es hieß in dieser Situation die Gefühle ein bisschen zurückdrehen und das ganze langsam angehen. Ich wollte ja sein Freund sein.

„Es tut mir leid, Thomas. Ich hatte keine Ahnung. Was da heute in der Klasse passiert ist, war echt mies.“

Ich konnte mich nicht ganz zurückhalten und legte meine Hand auf seine Schulter und blickte ihm in die verweinten Augen. Diese wurden wieder feucht und sein Gesicht verzog sich. Er kam einen Schritt auf mich zu, legte seinen Kopf auf meine Schultern und heulte. Dabei umarmte er mich.

‚Scheiße, was jetzt?’, schoss es mir durch den Kopf.

Ich war total überrumpelt. Es fühlte sich so schön an. Meine Knie wurden weich, ein Schwindel stieg hoch und von meinem Herz weg breitete sich ein Kribbeln aus und lief meinen Rücken hinunter. Irgendwo explodierte was in meinem Hirn und ich war nur noch unbeschreiblich glücklich.

All das spielte sich innerhalb von ein paar Augenblicken ab, Augenblicke in denen ich zu keiner Aktion fähig war. Wohl zu lange, denn auch Thomas schien zu realisieren, was er gemacht hatte und rückt von mir ab. Aber zu langsam. Während er noch eine „Entschuldige“, murmelte hielt ich in fest, legte meine Arme um ihn und drückte ihn an mich.

„Ist schon OK“, flüsterte ich ihm ins Ohr.

Er umarmte mich wieder und legte seinen Kopf auf meine Schulter. So standen wir wohl ein paar Minuten. Jeder das Kinn auf der Schulter des Anderen, die Wärme und Geborgenheit des Anderen genießend, den Blick ins Leere gerichtet.

Dann drückte er mich noch ein bisschen fester, und sagte leise „Danke“. Ich erwiderte den Druck.

„Immer“, kam mir von den Lippen, bevor wir die Umarmung lösten.

Nun standen wir voreinander. Keiner sagte was. Verlegen durch die Gefühlsbezeichnung, die wir uns so überraschend erlaubt hatten, waren unsere Blicke aneinander vorbei auf den Boden gerichtet.

„Möchtest du mit hoch in mein Zimmer?“, fragte Thomas.

Ich lächelte ihn an und nickte mit dem Kopf.

Ich legte ab, zog meine Schuhe aus und folgte ihm nach oben.

Sein Zimmer war… nett. Ein typisches Jungendzimmer. Bett, Schrank und Schreibtisch waren wohl schon älter. Sie waren schon etwas abgestoßen und passten eher zu einem Elf-, Zwölfjährigen als zu einem 16-Jährigen. Es hingen ein paar Poster an den Wänden und den Schranktüren, ein PC stand am Schreibtisch. Alte Klamotten lagen am Boden und hingen über dem Drehstuhl. Sein Bett war nicht gemacht. Alles in allem also so ähnlich wie bei mir. Allerdings achtet meine Mutter darauf, dass ich immer das Bett mache und die Schmutzwäsche wegräume.

Thomas stand ein wenig unbeholfen in der Mitte des Raumes, ich blieb ebenso unsicher in der Tür stehen.

„Hier, setzt dich.“

Damit räumte er den Stuhl frei und setzte sich selber quer aufs Bett.

Da saßen wir nun und schwiegen. Er lehnte mit dem Rücken an der Wand und hatte seine Beine angewinkelt mit den Füßen am Bett. Ich saß, zu ihm gedreht, leicht vorgebeugt mit den Ellbogen auf meinen Knien, spielte mit meinen Fingern und blickte dabei auf den Boden.

Ich wusste nicht, was sagen und er ebenso wenig.

Ich selbst war noch total aufgewühlt. Was da unten im Flur passiert war, war verwirrend. Nicht eigentlich die Umarmung verwirrte mich, aber die Intensität der Gefühle, die dabei in mir aufgestiegen waren. Ich meinte, ich hätte da plötzlich alles verstanden. Alles: seine Ängste meinte ich fühlen zu können, seine Enttäuschung, seine momentane Einsamkeit. Und zugleich war ich glücklich gewesen wie noch nie. Alles hätte ich da für ihn gemacht. Alles. Und alles war auch die Umarmung, der Trost, die Freundschaft, die ich ihm damit bezeugt hatte. So meinte ich zumindest in den Minuten, auf dem Sessel vor ihm sitzend und das Muster seines Kinderzimmerteppichs studierend.

„Thomas?“

„Hm?“

„Sag mal, stimmt es, was die in der Schule sagen?“

„Dass ich schwul bin?“

„Mhm. Ja.“

„Ich glaube ja.“

„Du weißt es nicht?“.

Ich schaute auf. Sein Kopf war zur Tür gedreht.

„Hm.“ Dabei zuckte er mit den Schultern.

„Du musst es mir nicht sagen. Mir ist es egal. Es ist nur… wie kommen die Anderen darauf so etwas zu behaupten?“

Mein Blick senkte sich wieder.

„Tom wird es wohl herumerzählt haben.“

„Was? Aber wie kommt er darauf?“.

Ich hob meinen Kopf wieder.

„Ich war vorgestern bei Tom. Ich sollte bei ihm übernachten. Seine Eltern waren nicht da und daher haben wir ein paar Bier getrunken. Irgendwann haben wir nebeneinander auf der Couch gesessen und gequatscht. Und dann, dann haben wir uns angeschaut und ich... ich habe ihn geküsst.“

Den letzten Teil flüsterte er nur noch. Sein Kopf war gesenkt und er weinte wieder. Ich merkte es an den leichten Schluchzern, die aus seiner Richtung kamen.

‚Scheiße, scheiße. Was jetzt?’

Ich stand auf, setzte mich links neben ihn aufs Bett, drehte mich zu ihm und legte meine linke Hand tröstend auf sein Knie.

„Hm?“ war das Einzige, was mir einfiel. Sicher nicht das Beste, aber besser als nichts.

„Weißt du, es war so schön ihn zu küssen. Er sah so süß aus. Seine Lippen waren so weich. Erst hat er meine Kuss erwidert und es war so… so himmlisch!“.

Er schaute auf und lächelte mich schüchtern mit seinen verweinten Gesicht, Tränen auf den Wangen, an. Ich lächelte zurück.

„Ist schon OK.“ So sanft wie möglich sagte ich es. Ich hauchte es mehr.

„Ich weiß auch nicht.“

Blick gegen die Decke seinerseits.

„Und dann, dann hat er mich weggestoßen. ‚Du schwule Sau’ hat er gesagt. Ich starrte ihn nur an. ‚Du schwule Sau! Verpiss Dich!’. Da fing ich zu heulen an. Ich wollte mich bei ihm entschuldigen. Es sei nur ein Irrtum und so. Aber er hat mich nur weggestoßen, ist aufgesprungen und in sein Zimmer gerannt. Ich habe nur mehr geheult, habe dann meine Sachen gepackt und bin ab nach Hause.“

Während er das erzählte, fing er immer stärker an zu weinen. Ich verstand ihn kaum, weil er so heftig schluchzte. Am Ende legte er seine Arme um meinen Hals und seinen Kopf an den meinen. Ich wagte es nicht, mich zu bewegen, obwohl ich ziemlich verdreht da saß. Mit den Füßen am Boden hatte mich zu ihm umgedreht, da er ja ursprünglich an der Wand angelehnt saß. Meine eine Hand war noch immer tröstend auf seinem Knie, als er sich an mir ausweinte. Das Schluchzen war nun ganz nah. Seine feuchte Wange berührte mein Ohr. Nie, nie wollte ich mich wegbewegen. Es war wieder so wie unten im Flur. Nein, es war mehr. Ich spürte seine Wange an meinem Ohr, seine weiche Wange. Alle meine Sinne waren dort, mein ganzes Fühlen war auf diesen Punkt konzentriert. Ich bewegte leicht meinen Kopf auf und ab um mit meinem Ohr ganz sanft seine Wange entlang zu streicheln. Es war sehr intensiv. Ich meinte, jedes zarte Härchen seiner Wange zu spüren.

Ich weiß nicht wie lange wir so da saßen. Aber irgendwann hörte Thomas auf zu weinen und drückte seine Wange fester an mein Ohr.

Da regte sich was in mir. Das Ganze war nun eindeutig nicht mehr freundschaftlich, sondern wurde erotisch. In meiner Leistengegend fing etwas an zu wachsen. Ich bekam Angst. Es war so schön, aber ich bekam Angst.

„He“, flüsterte ich.

„Hm?“

„Ich sitze hier ziemlich unbequem. Mir tut der Rücken langsam weh.“

Ich war so feig! Ich verneinte meine Gefühle, tat sie ab wie durch die Ereignisse hervorgerufen. Als nicht wirklich.

Er ließ mich los. Ich drehte mich um.

„Entschuldige“, sagte er leise.

Es war alles so in Moll. So sanft, wie er mich losließ. So sanft wie er sich entschuldigte. Ich war weich wie Butter.

„Ist OK!“, flüsterte ich, fast verzweifelt.

Hätte er mich in diesem Moment noch einmal berührt, ich glaube, ich wäre nach hinten in seinen Schoß gesunken und hätte mich fallen lassen, bereit für alles.

Aber so saßen wir noch eine Weile auf seinem Bett. Ich den Rücken ihm zugekehrt, er an die Wand gelehnt.

Meine Anspannung ließ langsam nach. Eine Leere blieb zurück. Nicht bedrückend, eher eine Leere wie nach einer körperlichen Anstrengung. Wie nach einer Stunde joggen. Leer aber glücklich. Allerdings wurde die Leere langsam durch Verwirrtheit ersetzt. War ich schon nach der Umarmung in Flur irritiert, war ich nun total durcheinander.

Ich mochte Thomas, das war mir nun klar. Ich wollte für ihn da sein. Klar war mir nicht, dass da noch mehr war. Ein Teil von mir wollte mehr von Thomas, wollte mehr für Thomas sein als nur ein guter Freund. Aber dieser Teil war neu für mich. Ich kannte ihn nicht und unterdrückte ihn daher.

Ich stand auf und drehte mich zu Thomas.

„Ich muss dann jetzt.“

„Schon?“, fragte er und schaute mich betrübt an.

‚Oh mein Gott!’, dacht ich.

„Nein! Ich meine: ich kann schon noch bleiben, wenn du möchtest!“, beschwichtigte ich mein Ankündigung.

Unsicher blickte ich ihn an. Ich wollt ihn nicht verletzten.

‚Ich bin für dich da wenn Du mich brauchst’, sagte mein Blick. Tatsächlich blieb ich aber unschlüssig mitten im Zimmer stehen.

„Ist OK. Danke. Danke für alles.“ Damit erhob sich auch Thomas und stand nun vor mir.

„Es geht wieder.“ Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

„Wirst du morgen in der Schule…auch noch mit mir...?“

Unsicherheit strahlte von ihm aus.

„Ja! Ja natürlich. Darf ich neben dir sitzen?“

Sein Gesicht strahlte zuerst, dann verdunkelte es sich.

„Was ist los?“

Nun machte sich bei mir Verunsicherung breit.

„Reiner. Er war mein bester Freund. Und was hat er gemacht? Einen Scheiß! Nichts hat er gemacht!“

„Ach schau, für ihn ist das auch neu. Der ist sicher auch total durcheinander. Ich meine… Ja, es war nicht OK, wie er sich benommen hat. Aber vielleicht… ich weiß nicht!“ Ich zuckte mit der Schulter und versuchte zu lächeln.

‚Wieso verteidige ich den Arsch eigentlich! Wenn sich einer mies verhalten hat, dann er. Er war Thomas’ bester Freund!’

Das war auch der Grund, wieso ich ihn verteidigte. Thomas hing an ihm und an der Freundschaft zu ihm. Daher beschwichtigte ich Reiners Verhalten. Es machte Thomas Hoffnung und so konnte ich ihn trösten. Dafür war ich schließlich gekommen.

„Vielleicht hast du Recht. Aber trotzdem… Es… Jetzt habe ich ja…“

„Ich wäre gerne dein Freund. Ich meine… ein Freund von dir.“

Wir stammelten nur mehr in unserer totalen Verwirrtheit. 14-Jährige frischverliebte Teenies waren beredt im Vergleich zu uns.

Noch ein Danke von ihm, ein Lächeln, ein Lächeln meinerseits und dann... dann wäre eigentlich nur noch ein Kuss notwendig gewesen, um das Märchen zu beenden.

Aber so?

Aber so schüttelten wir uns aus Mangel an Ideen die Hand. Cowboys in Filmen machen das ja auch immer, wenn es um Freundschaft oder ähnlich wichtige Dinge geht. Aber in keinem Western habe ich die Cowboys sich gegenseitig so anschauen sehen wie wir uns, als wir uns die Hände reichten (‚Brokeback Mountain’ mal abgesehen ;-). Die Spannung, die sich kurzfristig aufgebaut hatte, verebbte wieder, um meinerseits aber nie mehr ganz zu verschwinden. Ab damals war ich in Thomas’ Nähe immer unsicher, verwirrt aber auch eigentümlich aufgeregt.

Er begleitete mich noch zur Tür.

„Ciao!“

„Tschüs!“

Ich drehte mich noch einmal um. Er lächelte und winkte mir. Ich tat es ihm gleich, ein kurzer Hopserschritt und ich ging glücklich lächelnd heimwärts.

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