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King of the Road

Teil 4 - Alle Jahre Wieder

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Weihnachten 2007 war ja gründlich in die Hose gegangen. Was hat das Jahr 2008 für Benny und Jordan gebracht? Sind sie noch zusammen gekommen? Oder ist jeder für sich glücklich geworden? Oder gibt es gar kein glückliches Ende? Lest es selbst im letzten Teil meiner "Road Story" um Jordan und Benny aus dem Nordwesten der USA.

Anfang 2008, Benny

Mit einem Kater, der einer Großkatzenart angehören musste, war Benny am folgenden Morgen aufgewacht. Inmitten des Chaos stand, wie durch ein Wunder unversehrt, Jordans Geschenk. Als nach einigen Tagen seine Eltern zurückkehrten, war die Wohnung wieder in Ordnung, sein Gemütszustand erschien ihm zumindest so weit gefestigt, dass er nicht sofort depressiv auffallen würde.

Es kam wie erwartet, sein Geschenk war ein Sparbuch mit einem stattlichen Betrag, von dem Benny sich einen Kenworth W900 bestellte, für den er sich schon vorher entschieden hatte. Bis der Truck, ebenso wie der neue seiner Eltern, geliefert wurde, war Benny mit seinem Oldtimer Ernährer der Familie – auf dem Papier, wie sein Vater auch, als Angestellter seiner Mutter, auf die die Spedition eingetragen war. Die erste Tour begann am dritten Januar, schwermütig kletterte Benny in die Kabine und startete den Diesel. Das letzte Mal, als er hier saß, hatte Jordan neben ihm gesessen und ihm beim Fahren zugeschaut. Warum konnte er jetzt nicht auch hier sein? Wo war er überhaupt? Okay, in einem kirchlichen Kinderheim in Spokane. Aber wie erging es ihm da? Und überhaupt, warum schrieb er nicht wenigstens einen Brief?

Anfang 2008, Jordan

Kurz und knapp, es ging ihm schlecht. Sehr spät in der Nacht, gerade noch am ersten Weihnachtsfeiertag, war er angekommen, der Polizist lieferte ihn am Heim ab und brauste gleich wieder davon. Die Einfahrt war mit einem altmodisch wirkenden, aber automatischen Tor verriegelt, ein geharkter Kiesweg führte vom Platz, wo das Auto angehalten hatte, zur Tür. Das Haus war eine alte Villa, in einem Park gelegen und hinter dichten Hecken an der Mauer zur Straße versteckt. Vom Haus bis zur Straße waren es bestimmt 50 Meter. Die schwere Eingangstür knallte ins Schloss und die Außenwelt hörte für Jordan auf zu existieren.

Schule, Gruppenarbeit, "freiwillige" Freizeitaktivitäten – immerhin, langweilig wurde es im Heim nicht. Alles fand hinter den dicken Mauern statt, den Unterricht übernahmen die Ordensschwestern, die auch das Heim leiteten, oder private Lehrer von außerhalb. Die Gruppenarbeit, ebenfalls von den Schwestern geleitet, drehte sich komplett um Religion. Lesungen, überzeugungskonforme Interpretationen, Vorbereitung des Gottesdienstes am nächsten Sonntag in der Hauskapelle. Jordan konnte langsam keine Bibel mehr sehen. Er dachte an den Gottesdienst in Port Angeles zurück. Dort hatten junge Leute den Ablauf mitgestaltet und es machte ihnen Spaß. Dort hätte sogar Jordan Spaß an der Kirche gefunden. Aber hier schafften die Nonnen es, einen durch jugendliche gestalteten Gottesdienst mit ihren Vorgaben so zu verstauben, dass es langweilig wurde.

Abends starrte Jordan Löcher in das Bett seines "Übermannes" im Schlafsaal. Als er rein kam, wunderte er sich, wie brav hier alle aussahen. Inzwischen waren seine Haare aber an den Seiten nachgewachsen, Gel gab es hier auch keins. Mit einem langweiligen "Kochtopfschnitt" hatten ihn die Leiterinnen optisch der Norm angepasst.

Am meisten nervte Jordan die totale Isolierung. Er hatte nicht einmal die Möglichkeit, einen Brief an Benny zu schreiben, weil es schlicht keine Briefumschläge oder Briefmarken gab.

Und an seinen einer Schwester vorgetragenen Wunsch, aus der Kirche auszutreten, dachte er auch mit Grauen zurück. "Du willst waaaaaaas?" hatte sie mit entsetztem Blick gerufen und ihn dann zur Oberin geschleift. Die war eine sehr geduldige Person, aber wie die ganze Organisation auch unerbittlich in den Überzeugungen festgefahren und an das Gute in ihrer Kirche glaubend. Nach einem 20 Minuten langen Vortrag über die frohe Botschaft Jesu Christi und das anschließende Herunterpredigen der gut 30 Glaubensregeln schloss sie mit den aufmunternden Worten: "Das bekommen wir aber schon hin. Die Kirche ist eine starke Gemeinschaft und schützt auch Dich vor den Versuchungen der ungläubigen Welt. Du wirst hier die Schule abschließen und einen ehrbaren Beruf erlernen. Und nun geh, sprich ein paar Gebete, dass der Herr Dir für Deine heutigen sündigen Gedanken vergeben werde, wenn eines Tages das Jüngste Gericht über Dich entscheiden wird." Jordan kochte innerlich. Die waren hier alle unverbesserlich, und er steckte abgeschottet mitten drin, ohne eine Chance, hier raus zu kommen.

Frühjahr 2008, Benny

Endlich war der Truck seiner Eltern gekommen und Benny musste nicht mehr ununterbrochen fahren. Fast drei Monate hatte er nun jede Woche seine Lenkzeit bis an die Grenze ausgefahren. Aber sein Oldtimer hatte sich dabei wacker geschlagen. Nun hatte er vier Tage Zeit, bevor er wieder eine Zweitagestour machen musste. Und trotzdem saß er in diesen vier Tagen am Steuer, seine Eltern waren ja ohnehin nicht da und alleine würde ihm nur die Decke auf den Kopf fallen.

So hatte er sich mit seinem Pickup auf den Weg nach Spokane gemacht und klapperte die Stadt auf der Suche nach Jordan ab. Jedes Kinderheim nahm er unter die Lupe, teilweise sprach er Bewohner an und fragte sie nach Jordan, aber er bekam keine Antworten, die ihn weiter gebracht hätten. Eigentlich musste es ja ein kirchliches Heim sein, aber er wusste nicht einmal von welcher Kirche. Entweder war das Heim nicht direkt in Spokane oder die Adresse war nicht veröffentlicht. Niedergeschlagen kehrte er wieder heim.

Hier erwartete ihn etwas großes, das laut dem Brief im überquellenden Briefkasten beim örtlichen LKW-Händler zur Abholung bereit stand. Eine Taxifahrt später kam er dort an. Zwischen ein paar Rundhaubern mit Aerodynamik-Verkleidungen auf der Kabine, die den eckigen Trailer vor dem Fahrtwind schützen sollten, sowie Frontlenkern für den Nahverkehr und unzähligen leichten Nutzfahrzeugen der Klassen 4 bis 6 reckte sich stolz der mehrere Quadratmeter große Chromgrill mit der Form eines altgriechischen Tempels senkrecht in den Himmel. Hinter der massigen Haube wuchs ebenso senkrecht die, als größte Revolution in der 40-jährigen Baugeschichte des Modells einteilig gewordene, Frontscheibe in die Höhe. Darüber thronten auf dem Dach der Schlafkabine die schräg stehenden Scheiben der Aerodyne-Dachkuppel, hinter der die beiden verchromten Auspuffrohre vom Boden aus gemessen in mehr als vier Metern Höhe endeten. Der Truck glänzte in Metallicschwarz und mit den vielen Chrom-Anbauteilen um die Wette mit seinen ebenso werksfrischen Nachbarn.

Ausführlich ließ sich Benny alle Funktionen des Fahrzeugs vom Händler erklären, regelte die Formalitäten der Fahrzeugübernahme und kletterte schließlich ehrfürchtig auf den jungfräulichen Fahrersitz, auf dem bis vor ein paar Minuten noch ein Überzug aus Klarsichtfolie war. Alles roch so frisch, vorsichtig steckte Benny den Schlüssel ins Schloss und startete die schwere Maschine, über 500 Pferde erwachten.

Auf dem heimischen Hof wartete schon staunend sein Ex Chris, den er von unterwegs angerufen hatte. "Wow! Was ein genialer Truck." Nach ein paar Eckdaten rund um Leistung, Zylinderzahl und Gewichte kam Benny zum eigentlichen Grund seines Anrufs. "Du bist ja mein großer Airbrush-Künstler. Denk Dir doch mal bitte in den nächsten Tagen ein nettes Tribal-Muster aus." – "Wird gemacht, aber jetzt zeig das Teil doch mal von innen."

So kletterten sie ins Führerhaus, wo Chris auf dem Fahrersitz Platz nehmen durfte. Verglichen mit dem Diamond Reo, an dem er die meiste Zeit mitgearbeitet hatte, war das hier eine andere Welt. Statt eines Armaturenbretts, das die Bezeichnung Brett verdiente und gerade mal über Drehzahl, Geschwindigkeit und die wichtigsten anderen Dinge informierte, gruppierten sich hier etliche Anzeigeinstrumente und ein Klavier von Knöpfen um den Fahrer. Nacktes Blech und mit Stoff bezogene Pappe war Kunststoffverkleidungen und aufgepolsterten Wandelementen gewichen, statt Gummiboden mit Filzmatten gab es richtigen Teppich, Wandfächer hatten den Platz von Ablagenetzen eingenommen. Chris sah sich um und entdeckte das Sofa in der Schlafkabine. Benny schickte ihn auf dasselbe, drückte einen Knopf, worauf ein Surren zu hören war. Dann war die Satellitenantenne ausgerichtet und auf dem Monitor erschien irgendeine Sitcom. "Und auf dem Sofa musst Du auch pennen?" wollte Chris wissen. "Nö!" Benny verscheuchte seinen Gast und mit wenigen Handgriffen war die breite Liege ausgeklappt und ruhte über dem Sofa. "Ich muss doch erst mal Probe liegen", meinte Benny und hatte kurz darauf seine Schuhe ausgezogen und räkelte sich auf der Matratze. Ungefragt entledigte sich auch Chris seines Schuhwerks und fläzte sich neben Benny.

Keiner von ihnen hatte die Notbremse gezogen und so wusste Benny nach 20 Minuten über wirklich alle Qualitäten der Schlafkabine seiner Neuanschaffung bescheid. Das bisher erste und letzte Mal, dass ein Junge neben ihm in einer Schlafkabine gelegen hatte, war Jordan am denkwürdigen Tag ihres Zusammentreffens gewesen, nachdem er sich von Chris damals getrennt hatte, als der Reo noch "unbewohnbar" war. Und so war Benny nun von den Ereignissen überrollt worden und ziemlich durch den Wind. Wie gerne hätte er diesen Moment mit Jordan erlebt, so wurde Chris diese Ehre zuteil, garniert mit dem Wissen, dass es mit ihm nie mehr als ein kurzes Abenteuer sein würde. Chris merkte, dass etwas nicht stimmte und fragte leise: "Ist irgendwas nicht in Ordnung, Benny?" Für ihn war ja alles wie immer gewesen, und sie hatten schon vorher solche Abenteuer, ohne dass es einem von ihnen falsch vorgekommen wäre. Chris hatte seine Freundin und die wusste von seinen männlichen Eskapaden und bestand nur darauf, dass er Kondome benutzte und Benny war solo – oder etwa nicht mehr? "Du gehst jetzt besser." Chris wusste, wann er nicht weiter nachhaken sollte, stieg erst in seine Kleidung, dann in sein Auto und fuhr davon.

Am Abend griff Benny zum Hörer, nach dreimal Klingeln kam das Hallo. "Chris? Benny hier." – "Oh, Junge. Schön dass Du anrufst." Die Erleichterung war zu spüren. "Ja, ich wollte das heute Nachmittag nicht einfach so stehen lassen, aber in dem Moment waren meine Gefühle Achterbahn mit mir gefahren." – "Warum? Hast Du einen Freund? Oder erstmal, willst Du eigentlich überhaupt darüber sprechen?" – "Nicht im Detail. Einen Freund habe ich nicht, sonst hätte ich sicherlich vorher gebremst. Aber ich sage es mal so, ich bin unglücklich verliebt. Das ist alles wieder aufgekocht." – "Oh, tut mir leid, wenn ich Dich da irgendwie verletzt habe. Aber es kam irgendwie so plötzlich." – "Ja, kam es. Ich bin ja an sich auch alt genug, um zu wissen, wann ich Nein sagen müsste. Wie auch immer, passiert ist passiert. Ich will nur nicht, dass unser Abschied von vorhin unkommentiert zwischen uns steht. Und lackieren darfst Du mein Baby trotzdem."

Frühjahr 2008, Jordan

Völlig überrascht war Jordan, als Ostern ein Schulbus vor dem Heim hielt. Die Nonnen erklärten der versammelten Gruppe beim Frühstück: "Heute ist ein besonderer Tag. Wir werden zu unserer Kirche in der Stadt fahren und dort am Gottesdienst teilnehmen." Während weitere Erklärungen zum Vorgehen folgten, versuchte Jordan sich eine Fluchtmöglichkeit auszumalen. Wie konnte man nur so dämlich sein? Erst sperrten sie die Kinder und Jugendlichen hier permanent in dieser Villa hinter doppelten Zäunen ein und dann wollten sie eine Spazierfahrt machen?

Die Spazierfahrt erwies sich als gut organisiert. Auf der Rückbank neben dem Notausgang saßen zwei Junge Männer aus der Kirchengemeinde, so dass aus dem Bus kein Entkommen war. Jordan schaute also sehnsüchtig aus dem Fenster in die Stadt, in der er einst so gerne herumgestreift war, die ihn aber inzwischen nur noch aufregte. Hätte er Port Angeles früher als spießige Kleinstadt abgetan, so wäre er inzwischen lieber dort als in der Großstadt Spokane.

Der Bus kam nun in die Nähe der Kirche, jetzt wurde es spannend. Aber die Spannung wurde jäh zunichte gemacht. Jordan wusste gar nicht wirklich, dass die Kirche einen Hof hatte, der ummauert war. Auf jeden Fall fuhr der Bus an der Kirche vorbei und dahinter durch ein Tor in besagten Hof. Von hier kamen sie durch eine Seitentür in die Kirche und wurden in einige Stuhlreihen im vorderen Drittel verfrachtet. Jordan sah sich um, einige bekannte Gesichter waren darunter. Aber seine Eltern konnte er nirgends entdecken. Auf der anderen Seite und einige Reihen vor ihm entdeckte er Tony, aber der bemerkte oder erkannte ihn nicht.

In der bekannt fundamentalistisch-konservativen Art wurde der extra lange Ostergottesdienst gefeiert, auch das Abendmahl durfte nicht fehlen. Wenigstens feierten sie das hier mit richtigem Brot statt der nach Pappe schmeckenden Oblaten. Auf dem Weg vom Altar zurück in die Reihe bemerkte – und erkannte – Tony ihn endlich und lächelte ihn an.

Aber das half nichts, beim Auszug aus der Kirche mussten sie sitzen bleiben, überwacht von den jungen Männern aus dem Schulbus und den Nonnen an den Enden der Sitzreihen. Erst danach wurden sie wieder zum Bus geführt und in ihr Gefängnis zurückgefahren.

Jordan ärgerte sich, dass er nicht mit so etwas gerechnet hatte. Nachdem die Fahrt und der Kirchgang strengstens überwacht waren, hätte er allenfalls versuchen können, Tony eine Nachricht zustecken zu können. Immerhin diese schrieb er und schwor sich, sie immer dabei zu haben. Er wusste ja nicht, wann sich das nächste Mal die Möglichkeit ergeben würde, das Heim zu verlassen, aber er wollte vorbereitet sein.

Spätsommer 2008, Benny

Man sagt, die Zeit heilt alle Wunden, bei Benny betrug diese Zeit 8 Monate. Schon zuvor hatte er immer seltener an Jordan gedacht. Im August lernte er Gregory auf einem Sommerfest in der Stadt kennen. Er war neu hier und sie unterhielten sich eine Zeit lang miteinander. Zwar spielte Gregory in seiner Freizeit kein Eishockey wie Benny, aber immerhin war er treuer Fan und sie nahmen sich vor, in der Saison einige Male nach Seattle zu Spielen der Thunderbirds zu fahren.

Sie freundeten sich auch sonst an und trafen sich immer öfter in der Stadt. Als sie ins Kino wollten, tauchte Gregory mit einem dieser "Thanks God nobody knows I'm gay" T-Shirts auf. Trotz des selbstbewussten Shirts erschien er aber unsicher und quittierte Bennys große Augen mit der unsicheren Frage: "Ich hoffe, Du hast persönlich kein Problem mit Schwulen?" Benny gab aber entspannt zurück: "Nein, bisher konnte ich mich immer ohne Probleme im Spiegel angucken." – "Was, Du auch?" – "Ja." – "Na so was. Und ich hatte gerade tierische Angst um unsere noch so frische Freundschaft. Aber ewig geheim halten geht ja auch nicht, also hab ich mir heute eben dieses Shirt angezogen." Nach dem Film fragte Gregory dann unter anderem, während sie noch gerade eine große Burgerkette um ein paar Dollar bereicherten: "Bist Du eigentlich vergeben?" – "Nein, frei und ungebunden."

Die folgenden drei Tage war Benny mal wieder auf Tour und konnte nachdenken. Er mochte Gregory sehr gerne, sie hatten ähnliche Interessen und kamen gut miteinander aus. Benny hatte mehr und mehr das Gefühl, als sollte er es auf einen Versuch ankommen lassen.

Mit dieser Meinung schien er nicht alleine zu sein, denn 50 Meilen vor Port Angeles klingelte sein Handy. "Gregory hier. Ich wollte mal fragen, wann Du wieder zurück bist." – "In einer bis anderthalb Stunden." – "Kann ich dann mal bei Dir vorbei kommen?" – "Ja, klar. Sturmfrei haben wir auch, meine Eltern sind in Kanada. Und ich muss erst übermorgen wieder auf den Bock. Kannst also gerne auch ein Bisschen zu trinken besorgen.

Am Ende blieb von dem Alkohol einiges übrig, denn das Saufgelage fiel zu Gunsten eines tiefsinnigen Gesprächs aus. Aber Benny schaffte es am Ende, den ersten Schritt in ein neues Liebesleben nach dem knappen Verfehlen mit Jordan zu gehen. Gregory und er wurden ein Paar, das sich immerhin schüchtern küsste und beim Fernsehen kuschelte.

05.10.2008, Jordan

Am Jubiläumsfest der Kirchengemeinde in Spokane gelang Jordan endlich, worauf er jetzt ein halbes Jahr wartete. Wieder kam der Bus und fuhr sie zur Kirche. Die generalstabsmäßige Planung war die gleiche. Auch der Ablauf des Gottesdienstes war identisch, neu war dieses Mal, dass Tony sich offensichtlich irgendwie einen Platz am Gang organisiert hatte, als er die reservierten Reihen bemerkt hatte.

Jordan kaute am Altar stehend auf seinem Brotstück, dann trank er einen Schluck von dem Wein. Als er sich umdrehte, nahm er den klein gefalteten Zettel in die linke Hand. Rumms, Jordan stolperte über seine eigenen Füße und schlug der Länge nach auf den Parkettfußboden, natürlich nur rein zufällig direkt neben Tonys Sitzreihe. Der sprang sofort auf und half seinem alten Jugendclubfreund wieder auf die Beine. Das reichte Jordan, um ihm den Zettel zuzustecken, bevor er sich brav wieder hinsetzte, und sein "schmerzendes" Knie massierte, denn natürlich hatte er den Sturz geplant und so abgefangen, dass er sich nicht wirklich geprellt hatte.

Noch nie war Jordan so glücklich wie heute, als er abends in seinem Bett im Heim lag. Er hatte die Nachricht übergeben. Aber dann kamen ihm Zweifel, ob der Plan auch aufgehen würde. Die Rechnung hatte zu viele Unbekannte. Aus Mangel an Umschlägen war der Brief ja offen. Tony konnte ihn lesen und immerhin war er ein guter Freund von Jordan und im Jugendclub sein einziger regelmäßiger Sexpartner. Wenn er sich Hoffnungen auf ihn gemacht hatte, würde er vielleicht einen Kontakt ans andere Ende vom Bundesstaat sabotieren?

Und sollte der Brief wirklich dort ankommen, war noch lange nicht alles geschafft. Auch Benny musste ja nicht positiv reagieren. Vielleicht wollte er nichts mehr mit Jordan zu tun haben, vielleicht hatte er inzwischen zu viel Arbeit, vielleicht hatte er einen Freund und konnte Jordan auch nicht mehr um sich herum gebrauchen? Und selbst wenn Benny mitspielte. Um ihn hier raus zu holen, musste der dann immer noch seine Eltern überzeugen und dann der Papierkrieg gewonnen werden. Und so schlief Jordan dann doch nicht zufrieden und glücklich, sondern voller Sorgen und Ängste ein.

07./08.10. 2008, Benny

Die schwarze Motorhaube mit dem blauen Tribal und weißer Korona fraß die Straße Meile um Meile auf. Nachdem Gregory in dieser Hinsicht langsam ungeduldiger wurde, während Benny sich mehr und mehr festigte und nicht mehr ein Fiasko wie vor einem halben Jahr mit Chris befürchtete, hatte er sich für ihr nächstes Zusammentreffen endlich etwas besonderes vorgenommen. Allerdings lagen noch anderthalb Tage Tour vor ihm. Seine Tanknadel näherte sich dem roten Bereich und er zog auf den Truckstop. Dort erwartete ihn zufällig ein bekannter, roter Peterbilt mit blutsverwandtem Fahrer. "Hi Dad!" Benny kletterte aus der Kabine und begrüßte seinen Vater, der schon von der Kasse zurückkam. Nachdem auch Benny getankt hatte, traf er sich mit seinem Vater noch auf einen Kaffee im Imbiss.

"Was ist los? Du siehst so niedergeschlagen aus?" Benny wollte so schnell wie möglich zurück nach Hause zu Gregory. "Ach, ich habe nur Sehnsucht nach Greg." – "Was musst Du denn noch fahren?" – "In Colville laden und nach Bellingham liefern." – "Blöde Route. Vor allem für Dich. Sollen wir tauschen? Ich habe nur noch Ladung nach Ellensburg und dann leer nach Hause. Ich kann Deine Strecke über Kanada auf besseren Straßen fahren, das spart einen halben Tag. Und Mum wird es mir auch verzeihen, wenn ich einen Tag später ankomme."

Wenige Minuten später waren die Trailer getauscht, was witzig aussah. Bennys schwarze Maschine hing nun vor einem weißen Trailer mit rotem Pfeil auf der Seitenwand, während die komplett rote Maschine seiner Eltern vor dem schwarzen Trailer mit dem riesigen, blauen Tribal in der Mitte des Kofferaufbaus angespannt war.

Am späten Nachmittag desselben Tages rollte Benny dann mit seiner Fuhre nach Port Angeles. Die Straße vor Gregorys Haus war ziemlich breit, also machte er sich nicht einmal die Mühe, das Fahrzeug zu tauschen, sondern rollte mit dem Lastzug vor. Freudig tänzelte er den Weg zur Haustüre rauf, und klingelte. Es dauerte einige Zeit, bis Gregory öffnete, er sah nicht allzu glücklich aus, und seit wann trug er seine Jeans im Baggy-Style auf dreiviertel vor runtergerutscht? "Hallo, mein Schatz." – "Oh, hi." – "Oh, hi. Was ist das denn für eine Begrüßung?" Benny trat in den Flur ein. "Na ja, ich bin überrascht, dass Du schon da bist. Ich habe gerade Besuch, ein Freund ist zum Konsolenspielen hier." Gregory beeilte sich, auf der Treppe wieder nach vorne zu kommen und öffnete dann theatralisch langsam die Zimmertür. Besagter Freund war für Benny kein Unbekannter, es war Matthew, seines Zeichens Afroamerikaner und einer von Bennys verbliebenen Freunden, zu dem der Kontakt allerdings nach der Schule eingeschlafen war. Er düste gerade mit einem aufgemotzten Auto durch Need-for-Speed-Welten, aber irgendwas war hier faul. Benny begann unwillkürlich, sich umzuschauen. Alles an dem Zimmer war auf den ersten Blick normal, einschließlich des nicht gemachten Bettes. Gregory fand es überflüssig, die Bettdecke zu ordnen, wenn er sie eh am Abend wieder zerwühlen würde. Mit detektivischem Gespür registrierte Benny dann die Abweichungen. Der Wecker auf dem Nachttisch zeigte zum Beispiel in den Raum und nicht auf das Kopfende vom Bett. In dem Regal über dem Kopfende war der Wimpel der Chicago Blackhawks umgefallen, das Lesezeichen schaute nach unten aus dem Buch.

All das hatte nur drei Sekunden gedauert und er wandte sich nun dem Besucher zu, um ihn zu begrüßen: "Hi Matt." Der drehte sich nur kurz um und klatschte auf einer langen Geraden Bennys Hand ab. Dabei fiel Benny der Pullover auf, er war sich sicher, dass dieser Hersteller dafür bekannt war, das Logo bei seinen Pullovern entweder auf die Brust oder auf der Rückseite unter den Halsbund zu sticken, aber Matthew hatte es auf der Vorderseite unterm Halsbund. Und warum blieb Gregory eigentlich so distanziert? Waren sie nun zusammen oder nicht? Bennys Blick streifte Matthews Füße, ein Hosenbein steckte irgendwie halb in der blauen Socke, am anderen Fuß schimmerte aber eine dunkelgraue Socke zwischen Hose und Schuh raus. Benny wirbelte um seine eigene Achse und schaute Gregory an, der barfuß war. Aber Benny sah noch die blaue Socke, die Gregory gerade in seine Hand steckte, während im Wäschekorb eine dunkelgraue obenauf lag.

Benny stürmte auf Gregory los, wirbelte ihn auf den Rücken und drückte ihn komplett runter: "Was ist hier gelaufen? Poppst Du andere Jungs, während ich unterwegs bin?" – "Spinnst du?" – "Nein, ich sehe nur den Umkreis ums Bett verwüstet, Matt hat den Pullover falsch rum an und trägt eine blaue und eine graue Socke, während Du ein genauso ungleich gefärbtes Paar in die Wäsche steckst. Eigentlich muss man dazu nicht mehr sagen, oder? Da denke ich, ich habe endlich wieder einen Freund, muss beruflich mal ein paar Tage weg und in der Zwischenzeit vögelst Du hier mit anderen Jungs rum?" Obwohl, oder vielleicht auch weil ihm langsam aber sicher der Sauerstoff zur Neige ging und sein Hirn auf den Panikmodus umgesprungen war, gurgelte Gregory frech hervor: "Bisher hast Du Dich zu dem Thema ja eher gar nicht gerührt." – "Aha. Und deshalb brauchst Du einen Ausgehfreund und einen Fickfreund?" Benny verpasste Gregory eine seiner berüchtigten Ohrfeigen, die auch Jordan seinerzeit ausprobiert hatte. Sofort glühte Gregorys Wange rot auf, während der sich nach Luft schnappend an seinem Bettgestell lehnte und die Beine weit von sich streckte. Dann schmiss Benny ihm das Kondompäckchen auf den Bauch: "Hier, das braucht Ihr wohl nötiger als ich, eigentlich sollte es heute noch benutzt werden." Fassungslos starrte Gregory das Päckchen an und fing an hemmungslos zu heulen. Er hatte seine erste Freundschaft am neuen Wohnort in den Sand gesetzt und sich obendrein einen alteingesessenen Mitmenschen zum Feind gemacht. Matthew war inzwischen, immer noch mit rückwärts getragener Oberbekleidung und bunt besockt durch die Tür.

Benny hatte keine Ahnung, wie er seinen Truck unfallfrei hinter das Elternhaus bekommen hatte, an seiner Mutter war er geradewegs vorbeigelaufen, hatte seine Zimmertür ins Schloss geworfen und lag heulend auf seinem Bett. Dort blieb er, von Klopausen abgesehen, den nächsten Tag bis zum Nachmittag und zerfloss in Selbstmitleid. Mahlzeiten waren natürlich gestrichen und Störungen strengstens verboten. Daher regte sich Benny auch tierisch auf, als seine Mutter an der Türe klopfte: "NEIN!!! KEINER DA!!!!" – "Oh doch, Herr Trethers Junior! Du hast Besuch." – "ICH BIN NICHT ZU SPRECHEN!" – "Wenn ich das sage, bist Du zu sprechen, sonst bist Du ab morgen Freiberufler mit fahrbarem Wohnsitz. Deinem Besuch scheint es nicht besser zu gehen als Dir, der heult sich auch das Hemd voll." – "GREGORY?????" – "Gregory würde ich höchstpersönlich bis an den Eingang zur Hölle jagen, nachdem er meinen ersten Eindruck offenbar voll und ganz erfüllt hat! Nein, Matthew ist seit langem mal wieder hier." – "Für DEN bin ich genauso wenig zu sprechen." – "Ihr solltet Euch aber aussprechen, da ich im Gegensatz zu Dir schon zumindest grob im Bilde bin, was er Dir sagen will. Und das ist mein letztes Wort, das nächste ist ein Kündigungsschreiben unter der Tür durch. Und unten ist auch noch ein Brief für Dich, den gibt es aber wahlweise, wenn das mit Matthew geklärt ist oder als Anlage zum Kündigungsschreiben." – "Das ist Erpressung." – "Nein, inzwischen ist das Schutz vor Dir selbst. Du hast jetzt 22 Stunden nur heulend auf deinem Bett gelegen, mich mit deinem Geplärre um den Schlaf in dem Meinigen gebracht und auf das uralte Sofa im Büro vertrieben, bestenfalls Kartoffelchips aus Deinem Fernsehvorrat gegessen und hoffentlich wenigstens was vernünftigeres als Cola getrunken. Denkst Du nicht, dass das langsam reicht?"

Benny gab auf und drehte den Schlüssel um. Vor der Tür standen wie erwartet seine Mutter mit einem ziemlich emotionslosen Gesicht und Matthew mit den Spuren von Tränen in dem seinigen. Ränder konnte man bei ihm ja nicht sehen, Bennys Augenränder dagegen dürften eine Hautfarbe nur unwesentlich heller als Matthews gehabt haben. So vorsichtig, als könnte er jeden Moment auf eine Mine treten, tastete Matthew sich in das Zimmer. Benny verriegelte die Tür wieder und setzte sich, Rücken an die Wand gelehnt, auf sein Bett. Matthew nahm im Fernsehsessel Platz. "Oh, Mann. Benny. Ich weiß zwar, was ich sagen will, aber nicht, wie ich es sagen soll. Das klingt bestimmt doof, wenn ich jetzt sage, dass ich da nichts für kann. Man lässt sich ja nicht in den Hintern vögeln, wenn man es nicht selber will. Aber ich wusste nicht, dass Ihr zusammen seid, dass Gregory überhaupt mit jemandem zusammen ist. Er hat in der Disco immer solo getan. Ich dachte, das wäre ein harmloser One-Night-Stand, oder One-Day-Stand meinetwegen, wie man sie halt so mit anderen Jungs hat, die auch solo sind und mal Sex haben wollen. Als Du rein kamst, hab ich mir noch nicht viel dabei gedacht. Außer halt, dass Du auch Greg besuchen wolltest und das im falschen Moment. Als Du sagtest, du dachtest, wieder einen Freund zu haben, merkte ich, dass Gregory Dich, einen meiner einst besten Freunde, mit mir betrogen hatte. Ich hätte kotzen können, so schlecht habe ich mich gefühlt – beziehungsweise, ich habe es sogar getan, als ich draußen war. Ich weiß, dass ich nach der Schule unsere Freundschaft habe einschlafen lassen, weil ich kräftig in Daddys Sägewerk mitgearbeitet habe. Aber ich hoffe, dass wir aus dieser Nummer irgendwie wieder raus kommen und uns wieder in die Augen sehen können. Freunde wie früher in der Schule dürfte sich ja nach der Scheiße erledigt haben."

Benny antwortete nicht, sondern starrte vor sich hin. Matthew traute sich nicht, ihn anzusprechen. Dann brach Benny wieder in Tränen aus. Matthew näherte sich vorsichtig und setzte sich schließlich auch auf das Bett. Benny drehte sich zu ihm hin, Matthew rechnete damit, wieder aus dem Bett geschubst zu werden, aber stattdessen hatte er plötzlich einen heulenden Benny auf der Schulter hängen, der ihm sein Leid klagte: "Sobald es um Liebe geht, geht bei mir alles schief. Mit Chris war es schön, aber dass er Bi ist und nebenher immer ein Mädchen wollte, war nichts für mich. Dann habe ich im Winter einen Jungen aufgelesen, bei dem die Chemie super stimmte, aber bevor ich überhaupt sicher wusste, ob er schwul ist und wir uns näher kommen konnten, wurden wir wieder auseinander gerissen. Und jetzt Gregory, der es mit anderen treibt, während ich auf Tour bin. Das sind drei Fehlschläge in zwei Jahren. Ich halte das nicht mehr aus."

Nach einigem guten Zureden hatte sich Benny wieder beruhigt. Und Matthew schien es ehrlich zu meinen, alles andere hätte ihn auch überrascht. Matthew war so ehrlich, dass er früher lieber 3 Fußminuten von der Schule weg geparkt hatte, als falsch zu parken wie alle anderen, die keinen Platz mehr bekommen hatten. So kam das Angebot von Benny für sein Gegenüber vielleicht etwas überraschend: "Freunde?" Matthew gab Benny die Hand, während der fragte: "Warum haben wir beiden es eigentlich nicht nach Deinem Outing miteinander probiert?" Matthew fing an zu lachen: "Was denkst Du, wie lange das gut gegangen wäre? Unsere Gemeinsamkeiten reduzieren sich darauf, dass wir schwul sind und inzwischen beruflich schwere Trucks fahren, auch wenn das bei mir nur eine Teilaufgabe ist. Du guckst und spielst Eishockey, ich Basketball. Du hörst klassischen Rock und Metal, ich Hip-Hop und Blues. Du gehst in den Billardclub, ich in die Disco. Wir wären vermutlich mehr mit getrennten Interessen als miteinander beschäftigt." Das musste auch Benny einsehen.

Kurz darauf schaute Bennys Mutter rein, stellte zufrieden fest, dass die beiden sich unterhielten und legte den Brief auf das Regal neben der Tür. Benny versuchte, auf dem Umschlag etwas zu erkennen, aber blaue Flecken sprangen vor ihm herum. "Meine Augen brennen, ich kann kaum was erkennen. Von wem ist der Brief, Matt?" – "Von einem Anthony Parker aus Spokane." Bennys Herz blieb stehen. Ein Brief aus Spokane, aber nicht von Jordan. War ihm was passiert, oder hatte er sich was angetan und irgendwo hinterlassen, dass man ihn benachrichtigen sollte? "Mach ihn bitte auf und lies vor!" In dem Umschlag waren zwei Blätter Papier. Matthew faltete das äußere auf:

Hallo Benjamin,

Du wirst mich nicht kennen und ich kenne Dich nicht, ich bin ein guter Freund von Jordan. Er hat mir den anderen Brief vor ein paar Tagen zugesteckt, den er an Dich geschrieben hat. Weil der Brief offen war, habe ich mir erlaubt, einen Blick drauf zu werfen und bitte Dich, zu tun, um was er Dich bittet. Wenn Du es, warum auch immer, nicht tun kannst oder willst, gib mir bitte eine Nachricht, dann werde ich selbst etwas in die Wege leiten, bevor Jordan vor die Hunde geht.

Viele Grüße

Tony

Jordan lebte also, aber offensichtlich ging es ihm nicht gut. "Was steht in den anderen Brief?" Matthew faltete das andere Blatt auf.

Hi Benny,

Nach Ostern habe ich diesen Brief geschrieben und werde ihn immer dabei haben, bis ich ihn irgendwie aus diesem Heim rausschmuggeln kann. Daher habe ich keine Ahnung, wann Du ihn bekommen wirst. Auf jeden Fall weißt Du, wenn Du ihn bekommst, dass es mich noch gibt und ich immer noch an Dich denke.

Es ist schrecklich hier, wie im Gefängnis. Die ganze Zeit gibt es nur Kirchenlehre hochkonzentriert. Sogar Mathematik schaffen die noch religiös auszulegen. Wenn Astronomie dran kommt, wird sich sicherlich wieder die Sonne, an einer Käseglocke befestigt, um die Erdscheibe drehen. Und sie wollen mich hier behalten, bis ich einen 'ehrbaren' Beruf gelernt habe, auch wenn ich an sich mit 18 gehen dürfte. Es gibt aber einige über 18 hier, die brav schreinern oder töpfern, und die auch nicht mehr vor Ausbildungsende raus kommen, weil man sie nicht aus der Kirche austreten lässt und auch der letzte Weg mit dem 18. Geburtstag versperrt ist.

Der einzige Weg, der mich hier raus führt, ist, wenn ich den Polizisten damals richtig verstanden habe, dass eine Familie sich über das Jugendamt an meine Kirche wendet, um genau mich als Pflegekind aufzunehmen, weil sie dann dem Gesetz unterliegen. Auf der Rückseite stehen mein voller Name, meine sonstigen, persönlichen Daten und die Adresse der Kirche. Diese Informationen wirst Du bestimmt auf dem Jugendamt brauchen.

Das ist meine einzige Hoffnung, bitte lass mich nicht hängen und hol mich hier raus!

Jordan

Benny lehnte sich an die Wand und atmete tief durch. Matthew fragte: "Der Junge vor einem Jahr, von dem Du vorm richtigen kennen lernen getrennt wurdest?" – "Ja." – "Was wirst Du tun?" – "Meine Leidensgeschichte der vergangenen 10 Monate meinen Eltern erzählen. Jetzt schmeiße ich Dich wohl raus, aber da muss ich alleine durch. Wir bleiben in Kontakt." An der Haustür fragte Matthew noch: "Benny, wir tragen uns nichts nach, oder?" – "Nein, wenn ich mir bei einem Menschen auf dieser Erde sicher bin, dass er mich nie belügen wird, dann bist Du das!" – "Lass das nie Tim hören." – "Okay, dann einer der wenigen. Bis die Tage."

In der Küche, wo gerade seine Eltern Kaffee tranken, setzte Benny sich dazu, füllte ebenfalls eine Tasse mit Kaffee, befreite einen fabrikgefertigten Himbeerkuchen aus der Folie und begann abwechselnd seinen inzwischen schon schmerzend leeren Magen wieder in Betrieb zu nehmen und seinen Eltern seine Leidensgeschichte zu erzählen, bis er beim Inhalt des Briefes angekommen war.

"Du kamst mir auch damals komisch vor, als wir wieder aus dem Krankenhaus kamen", meinte seine Mutter. Sein Vater war erst einmal sehr skeptisch: "Und wie stellst Ihr Euch das nun vor? Wir nehmen mal einfach so einen fremden Jugendlichen als Pflegekind auf? Susan, wir kennen den Jungen gar nicht, Benjamin nur ein paar Stunden." – "Bitte. Jordan war, abgesehen von seinem wildem Aussehen, ein ganz lieber." Seine Mutter versuchte, Spannung abzubauen: "Albert, wisch nicht gleich am Anfang den Gedanken weg. Im Rückblick habe ich das Gefühl, unser Sohn hat damals einen schweren Rückschlag erlitten. Benny, was für ein Verhältnis hattest Du in der kurzen Zeit zu dem Jungen entwickelt?" – "Hm, schwer einzuschätzen. Nach dem Fehlstart ganz am Anfang sind wir toll miteinander ausgekommen. Wir hatten viel Spaß miteinander, beim Plätzchen Backen oder Musizieren. Wir haben wohl da schon gute Brüder abgegeben." – "Nur Brüder, oder mehr?" – "Keine Ahnung, aus damaliger Sicht nicht. Aber ich weiß nicht, ob es vielleicht zu mehr gekommen wäre, wenn wir länger Zeit gehabt hätten. Ich weiß nicht einmal ganz sicher, ob er sich überhaupt was aus Jungen macht. Warum?" – "Wenn wir ihn aufnehmen, seid Ihr gesetzlich Brüder, bis er 18 ist. Und als solche solltet Ihr Euch zumindest so lange nicht von offiziellen Organen als Liebespaar erwischen lassen, wenn das der Hintergrund wäre, warum Du ihn da raus haben willst." – "Das wäre in 9 Wochen. Ob ich bis da hin überhaupt schon wieder beziehungsreif bin, wäre die nächste der ungeklärten Fragen zu dem Problem." – "Gut, andere Themen. Hat er einen Schulabschluss? Und wie sieht es beruflich aus?" – "Müsste er seit diesem Sommer haben, wenn das Ding von seiner Kirchen-Kinderheim-Hausschule anerkannt ist. Er schwärmte auf der Fahrt davon, später selber mal Truck fahren zu wollen, und das mit überraschend viel Realismus für jemanden, der es nicht kennt." – "Kosten sollten kein Problem sein, nachdem wir mit zwei Trucks Geld verdienen. Aber der Platz, wir haben kein freies Zimmer, außer wir verlagern das Archiv, so dass wir den Raum hinter dem Büro frei bekommen." – "Fürs Erste könnte er bei mir auf die Schlafcouch. Akten in den Keller schaffen könnten wir immer noch, wenn das überraschend schief geht." – "Hm, Du scheinst Dir ja Gedanken gemacht zu haben. Lass uns mal eine Nacht darüber schlafen, okay?"

Jordan, 03.11.2008

Es gab nur wenig, was schlimmer war, als von einer Ordensschwester geweckt zu werden, und das war, von einer schlecht gelaunten Ordensschwester geweckt zu werden. "Steh auf und pack Deine Sachen!" – "Wieso?" Jordan wurde von den Ereignissen überrollt. Langsam wachte aber genug Hirnmasse auf, um klar denken zu können. Wartete Benny draußen? "Du wurdest vom Jugendamt einer Pflegefamilie zugeteilt. Als ob das jetzt noch Sinn machen würde. In ein paar Wochen bist Du 18 und dann bestimmt ein weiteres von tausenden obdachloser Pflegekinder, die mit der Volljährigkeit an die frische Luft gesetzt werden. Ohne Ausbildung, ohne Dach über dem Kopf, ohne Geld in der Tasche. Eh Blödsinn, einen 17-Jährigen zu vermitteln." Was bedeutete das nun? Kam er zu Benny oder nicht?

Draußen wartete jedenfalls einer der Türsteher aus der Gemeinde, die immer im Bus den Notausgang abgesichert hatten, mit einem Van. Von Benny keine Spur. Würde der Typ ihn nun nach Port Angeles bringen, oder würde es wo anders hin gehen und seine Spur für Benny verwischt? Er wurde auf die Rückbank gesetzt und der Fahrer brummte los. Es ging auf die Autobahn in Richtung Ritzville, dort wurde es dann spannend, Westküste oder Columbia River Valley? Die weitere Richtung nach Seattle stimmte auch, aber dort wohnten 2/3 der Bevölkerung des Bundesstaates. Die Fahrt zog sich immer mehr in die Länge und auf den Entfernungstafeln wurde die Zahl für Seattle immer kleiner.

Dort dann die Enttäuschung, statt wie Benny damals in den Hafen bog der Fahrer auf die Autobahn in Richtung Norden ab. Jordan begann zu heulen, der Traum von Benny war zu Ende.

Es mochten gut 20 Meilen gewesen sein, als der Wagen den Freeway verließ. Offensichtlich waren sie kurz vorm Ziel und das hieß Edmonds. Reihenhäuser und Einfamilienhäuser in teilweise parkähnlichen Gärten gaben ein spießiges Bild ab, an seine Schwiegersohn-Frisur würde Jordan sich wohl gewöhnen müssen. Aber ein Bisschen schien doch hier los zu sein, denn plötzlich standen sie im Stau. Am Beginn der Autoschlange war ein Fähranleger. Hoffnung keimte in Jordan auf. Hatte der Fahrer nur eine andere Fähre gewählt? Oder lag das Ziel auf einer der unzähligen Inseln in der Bucht?

Auf der anderen Seite ging die Fahrt dann weiter und es wurde ziemliche Gewissheit, als wieder Schilder in Richtung Port Angeles auftauchten. Nun wurde Jordan aber trotzdem nachdenklich. Wie war es Benny ergangen? Mit welchem Motiv holte er ihn raus? Im Prinzip war er da, wo er vor einem Jahr auf Bennys Sofa schon mal war.

Sein Fahrer hielt vor der Stadtverwaltung und ließ ihn aussteigen, während er ihn anknurrte: "Da wären wir. Ich hoffe, Du wirst Dich noch nach der Geborgenheit unserer Kirche zurücksehnen. Unsere Tür wird Dir immer offen stehen." – "Da müsst Ihr mich schon wieder mit Gewalt durchziehen. Meine erste Handlung wird ein Kirchenwechsel!" – "Rein da jetzt, ich muss den ganzen Schleif wieder zurückfahren!" Sein Aufpasser schob ihn bestimmt und mit deutlich verfinstertem Gesicht in das Amtsgebäude, wo er schließlich in ein Zimmer gebracht wurde, in dem ein Bediensteter auf ihn wartete. Es folgte eine ewig lange Belehrung, was die Aufnahme in eine Pflegefamilie bedeutet, was er zu tun und zu lassen hätte, welche Rechte und Pflichten sich ergeben, dann endlich endete er mit den Worten: "Und nun alles Gute in Deiner Familie, Dein neuer Bruder wartet schon draußen."

03.11.2008, Jordan und Benny

Die Tür ging auf und nach fast einem Jahr standen sich Jordan und Benny wieder gegenüber. Während Benny nur seinen Goatee eingebüßt hatte, war von Jordans Punk-Outfit nichts mehr übrig geblieben. Entsprechend dumm guckte Benny aus der Wäsche, was immerhin dafür sorgte, dass Jordan nicht losrannte, um Benny um den Hals zu fallen, sondern sich eher zögerlich und verunsichert auf den Weg machte. Aber ersteres wäre hier im Amtszimmer vielleicht auch unpassend gewesen, überlegte er sich in dem Moment. So blieb es bei einem freundschaftlichen Abklatschen, bevor sie sich auf den Weg aus dem Amtsgebäude machten.

"Halt den Mund, wenn Du nach meinen Haaren fragen willst – sondern bring mich auf schnellstem Wege zum nächsten Frisör!" – "Ja, ich freue mich auch, Dich wieder zu sehen." Jordan legte Benny den Arm über die Schultern. Ihr Größenunterschied hatte sich verringert und Jordan war auch sonst ein Bisschen gealtert, inzwischen würde Benny ihn, wenn sie zum ersten Mal gegenüber stehen würden, auf 16 schätzen. "Klar freue ich mich auch, aber Du hättest Dein Gesicht sehen sollen, als statt des erwarteten Punkers ein heißer Kandidat für die nächste Boygroup auf Dich zukam!" – "Gib mir die Tasche und lass dich mal wieder ein bisschen frech stylen, der nächste Friseur ist gleich da drüben. Ich bin dann da drüben im Park."

Nach einiger Zeit kam Jordan in den Park, wieder mit der Frisur wie letztes Jahr. "Endlich!" sagten beide aus einem Mund. "Was, endlich?" wollte Jordan wissen. "Endlich sehe ich den Jungen wieder, mit dem man so tolle Mehlschlachten oder stundenlang Musik machen konnte. Und nicht Klosterschwesters Lieblingsschüler." – "Ja, und ich bin endlich wieder ich."

Sie fuhren durch die Stadt, Jordan erkannte die Straße wieder, in der Benny wohnte. Nun war es also so weit, gleich würde er seine neuen Eltern kennen lernen. Hoffentlich würden sie ihn akzeptieren, wie er war. Aber musste er sich bei den Leuten, die Benny zu dem Menschen erzogen hatten, der er heute war, eigentlich Sorgen machen? Benny preschte auf den Hof, wo die inzwischen drei Trucks und der Kombi seiner Eltern standen. Nach einem kurzen Blick auf den Oldtimer von letztem Jahr staunte Jordan über den schwarzen Truck mit dem Metallicschimmer und den kunstvollen Tribals: "Deiner?" – "Klar, wessen sonst?" – "Wow." – "Du wirst noch oft genug da drin sitzen, und wenn sich dein Berufswunsch nicht geändert hat, in zwei Monaten hoffentlich auch hinterm Lenkrad. Lass uns rein gehen."

Abends dann, nachdem Benny mal wieder das Schlafsofa für Jordan umgebaut hatte, ließ der den Tag noch mal an sich vorüberziehen. In einem Wechselbad der Gefühle war er quer durch den Staat zu Benny gefahren worden. Dass er mit dem gut auskommen würde, war ihm klar. Auch seine Eltern waren super. Sie hatten ihn herzlich begrüßt und ganz besonders seine Mutter schien ihn zu mögen. Aber auch Bennys Vater war nett, allerdings etwas zurückhaltender. Keine Ahnung, ob das an seinem Naturell lag, an der Aktion mit der Pflegschaft ins Ungewisse oder an Jordan persönlich.

Auch Benny dachte nach. Nun war Jordan bis zur Volljährigkeit erst einmal sein Bruder, und mehr wollte er derzeit auch gar nicht. Nur was erwartete Jordan von ihm? Hoffentlich war er nicht mit der Erwartung hier her gekommen, sie würden nun sofort ein Liebespaar. "Schläfst Du schon?" hörte er Jordans Stimme. "Nein." – "Bisher bin ich vor lauter neuen Eindrücken noch gar nicht dazu gekommen: Danke, dass Du mich da raus geholt hast." – "Hey, Du weißt doch. Still He saw fit to send you when He knew I needed a friend; He set our paths so they would cross on a journey with no end.” - "Darf ich Dich ein paar tiefgründige Sachen fragen?” – "Oha, jetzt wird es spannend?” – "Wieso?” – " Tiefgründige Fragen gleich am ersten Abend, das muss ja was brennend wichtiges sein. Leg los, aber willst Du Dich vielleicht lieber hier rauf zu mir legen? Sonst unterhalten wir meine Eltern in dieser hellhörigen Bude gleich mit." – "Damit wären wir schon mal beim ersten Punkt, aber weil wir da mehr Platz haben als in Deinem Fahrerhaus komme ich." Nachdem Jordan sich mitsamt Bettdecke in die zweite Hälfte von Bennys Bett verkrümelt hatte, stellte er gleich die Gretchenfrage: "Wieso hast Du mich raus geholt? Damals und heute?"

"Uff. Ich sag doch, jetzt wird es spannend. Ich fange mal damals an, so richtig haben wir ja nicht drüber gesprochen. Morgens standst Du als ungepflegter Junge vor mir. Durchgeschwitzt, dreckig von oben nach unten und erschienst mir ziemlich zugedröhnt. Dass Du einfach nur zwei Nächte kaum geschlafen hattest, wusste ich ja nicht. Am gleichen Tag traf ich später jemanden, den ich auch erst nach Äußerlichkeiten beurteilt hatte, aber ich merkte schnell, dass das völlig falsch war. Und dann hab ich mich an Dich erinnert und immer mehr Details an deinem Verhalten kamen mir in Erinnerung. Plötzlich erschienst Du mir eher erschöpft, verängstigt und verzweifelt. Also bin ich auf Glück zurück gefahren nach Kennewick, es war nicht allzu unwahrscheinlich, dass Du noch da stehen könntest. Und als ich dann vom Tankwart erfahren hatte, dass Du von Nazis gejagt wurdest, habe ich mir langsam Sorgen und Vorwürfe gemacht, die Gewissheit wurden, als ich an der Stelle vorbei kam, wo sie den anderen LKW überfallen und Dich entführt hatten. Danach war mein Antrieb eine Mischung aus schlechtem Gewissen für mein gemeines Verhalten, Angst um Dein Leben, die Chance verspielt zu haben, den Ereignissen eine andere Wendung zu geben und Neugierde, wie Du hinter der Fassade wirklich bist. Als Du dann hier warst, entwickelte sich in den paar Stunden eine tolle Freundschaft. So richtig hatte ich damals keine Freunde. Tim hast Du ja kennen gelernt, der hat kaum Zeit. Meinen zweiten engen Freund aus Schultagen hatte ich aus den Augen verloren, obwohl er nur 5 Meilen vor der Stadt wohnt. Um mit dem wieder Kontakt aufzubauen, habe ich ihn erst mal mit meinem seitdem Ex-Freund im Bett erwischen müssen." Benny nahm eine zuckende Bewegung in der anderen Betthälfte wahr. "Und wenn jemand per Brief um Hilfe ruft, den man nach ein paar Stunden schon als guten Freund bezeichnen würde, dann handele ich auch. Aber Gegenfrage, der Text auf Deinem Geschenk von letztem Jahr passt auch auf alle Facetten der Freundschaft. Wie stehst Du zu mir? Warum gibst Du jemandem einen Brief, den er ausgerechnet an mich weiterleiten soll? Warum soll er nicht selber handeln oder jemand anders aktivieren, den er selbst kennt und vielleicht besser beeinflussen kann?"

"Ehrlich gesagt ist mein größtes Problem mit Dir, dass ich nicht weiß, woran ich bin. Ich fand und finde Dich von Anfang an schnuckelig, allerdings habe ich Dich ja nie deutlich wissen lassen, dass ich überhaupt schwul bin. Eine wirkliche Beziehung habe ich noch nie gehabt, nur lose Sexfreundschaften im Jugendclub, darüber hinaus hatte ich nie so richtig viele Freunde. Tony war Schulfreund, Freizeitkumpel und Sexpartner in einem und der einzige Mensch, zu dem ich damals Vertrauen hatte. Seit ich aber nach der Befreiung zu Dir in die Zugmaschine gestiegen bin, blieb immer ein großes Fragezeichen. Ich wusste nicht, was Du willst oder nicht willst, ich war auf Dich angewiesen und konnte den Bogen nicht überspannen, und irgendwie wusste ich auch nicht so richtig, was ich wollte. Ich war immer frei, wild und ungebunden. Dass ich mich verliebt hatte, merkte ich erst nach und nach. Das Gedicht fand ich im Laden einfach nur passend auf unser Kennen lernen und Deine riskante Rettung, mehr nicht. Dass da mehr im Text steckt, und das auch noch zutrifft, wurde mir auch erst nach und nach klar. Und noch bevor es das wirklich war, war es vorbei und ich hinter Gittern in der Klosterschule. Tonys Eltern sind in der gleichen Kirche, von da her hatte er kaum Möglichkeiten, selbst aktiv zu werden. Außerdem wollte ich wieder zurück zu Dir, weg aus Spokane mit all seinen schlechten Erinnerungen. Und jetzt liege ich neben Dir und bin genauso schlau wie vor einem Jahr."

"Na ja. Immerhin bist Du jetzt legal und unwiderruflich hier. Bist Du immer noch in mich verliebt?" Das geflüsterte "Ja" konnte Benny kaum hören, danach nur noch ein unterdrücktes Schluchzen. Er tastete vorsichtig ins Dunkel und erwischte Jordans Hand, die er beruhigend streichelte, bis sich Jordan wieder etwas gefangen hatte. "Es tut mir leid, wenn ich Dich da jetzt ein Bisschen enttäusche. Aber zur Zeit ist das Thema ganz schlecht. Erstens sind wir vor dem Gesetz Brüdern gleichgestellt, so lange Du minderjährig bist. Da ist es bis zu Deinem Geburtstag sowieso nichts mit Liebesbeziehung. Und wie ich eben schon angedeutet habe, hatte ich diesen Sommer eine Beziehung, in der ich betrogen wurde. Ich fühle mich davon noch so niedergeschlagen, dass ich derzeit gar keine Beziehung will." – "Denkst Du, dass ich das auch tun würde?" Jordan klang nun zornig und riss seine Hand weg. "Nein, aber das verstehst Du nicht, wenn Du noch keine feste Beziehung hattest, sondern dich nur quer durch ein Jugendzentrum geschlafen hast. In einer Beziehung schenkst Du Deinem Partner all Dein Vertrauen. Das geht in den seltensten Fällen von Heute auf Morgen, man muss sich da schon etwas besser für kennen. Wir haben bisher in Summe noch keine 72 Stunden miteinander verbracht, so schnell werden nur die Jungs in den Internetgeschichten ein Paar. Und außerdem habe ich mein Vertrauen quasi meinem letzten Freund verschenkt. Also muss ich erst mal wieder neues aufbauen, bevor ich es irgendwem neu schenken kann, auch wenn wir uns schon länger kennen würden. Ich hoffe, Du verstehst meine Lage trotzdem." – "Na ja. Ein Bisschen, aber enttäuscht bin ich trotzdem." Benny merkte am Zittern der wieder gefundenen Hand, dass Jordan wieder weinte.

Am nächsten Morgen wachte Benny auf und musste feststellen, dass Jordan dicht an ihn gekuschelt schlief, die Zeltform der Shorts war auch nicht zu übersehen. Vorsichtig schob er sich aus dem Bett und schloss sich im Badezimmer ein. Unter der heißen Dusche zog Benny das Fazit, dass die Lage hoffnungslos, aber nicht ernst war – oder so in der Art. Jordan war voller Hoffnungen, die er weder erfüllen durfte, noch derzeit konnte oder wollte. Das drohte eine unterhaltsame Zeit zu werden.

23.12.2008

Die zwei Monate Zusammenleben hatten beiden irgendwie geholfen. Benny fühlte sich besser, nach 19 Jahren war er kein Einzelkind mehr und hatte endlich eine Vertrauensperson im Haus, wenn er mal nicht mit den Eltern sprechen wollte oder konnte. Jordan hatte sich inzwischen auch mit der Situation arrangiert. Je länger er mit Benny zusammen lebte, umso mehr stellte er fest, dass hinter dem harten Kerl von vor einem Jahr, der ihn unter Einsatz seines Lebens befreit hatte, ein sehr gutmütiger Junge mit einem großen und bisweilen zerbrechlichen Herzen steckte. Und dieses Herz war vor nicht allzu langer Zeit komplett zerbröselt worden, sodass er derzeit besonders empfindlich war. Und immerhin hatte Jordan ja auch noch ein Ziel, seine LKW-Fahrprüfung, für die er direkt an seinem heutigen, 18. Geburtstag einen Termin erhalten hatte. Leider allerdings würde er das Ergebnis nicht mit Benny teilen können.

Morgens trällerte der Wecker in aller Frühe los. Nach der ersten Nacht waren sie natürlich wieder zu getrennten Betten zurückgekehrt, so dass Benny aufstehen musste, um Jordan zum Geburtstag zu gratulieren und ihm sein Geschenk zu überreichen. Es war ein Gutschein für den Juwelier, über den er sich sehr freute, denn seine Piercings waren Jordan im Heim natürlich auch abgenommen worden und endlich konnte er sie ersetzen.

Nach dem gemeinsamen Frühstück trennten sich ihre Wege dann. Benny hatte noch einen Zweitagestrip vor sich: Auto-Ersatzteile laden in Tacoma, abliefern in Walla Walla, mit tiefgefrorenem Fleisch neu laden in Colfax, abliefern in Redmond. Weil er mit Jordan in den letzten Wochen auf dem Kenworth in den Wäldern, die zum Sägewerk von Matthews Vater gehörten und Privateigentum waren, Fahrtraining gemacht hatte, musste er für die Fahrt den Diamond Reo nehmen. In Washington kommt der Fahrprüfer zum Prüfling und der LKW muss auch vom Prüfling gestellt werden. Ein Tausch war nicht ohne weiteres möglich, weil der Kenworth nur in zwei Ebenen mit je 8 Gängen geschaltet wurde. Mit dem Reo und gesplitteter oberer Gangebene wäre Jordan in der Prüfung also hoffnungslos überfordert gewesen.

Der Prüfer war pünktlich wie immer, begrüßte kurz Benny, den er voriges Jahr auch in der Mangel hatte und ging dann mit Jordan zum Fahrzeug zum ersten Teil der Prüfung, dem Fahrzeugcheck vor Abfahrt. Benny schaute nervös aus dem Bürofenster, aber alles schien glatt gelaufen zu sein. Sie stiegen ein und Jordan startete den Fünfunddreißigtonner. Verglichen mit einer professionellen Fahrschule war sein Training ein Witz, sie hofften einfach, dass alles gut gehen würde, denn für eine Fahrschule war dann doch kein Geld da, und Vorschrift war sie auch nicht. Aber auch Benny hatte das Fahren schwerer Sattelzüge vorrangig auf Schotterpisten im Niemandsland gelernt, lange bevor er überhaupt in die Nähe des passenden Alters gekommen war und nie eine Fahrschule für seine CDL von innen gesehen.

Seine Mutter kam in das Büro: "Du machst Dir Sorgen, er könnte es nicht schaffen?" – "Na ja. Er ist noch schlechter vorbereitet als ich damals. Und meine Prüfung war nur durchschnittlich." – "Dad hat gesagt, dass er vorige Woche nicht schlecht gefahren ist. Das wird schon. Und wenn nicht, muss er weiter üben. Kann es sein, dass Du Dir vor allem Sorgen machst, dass er nicht nach Weihnachten mit Dir in der Kabine sitzen könnte? Du magst ihn sehr, ich merke das." – "Ja, wahrscheinlich hast Du Recht." – "Er ist gut für Dich. Mein mütterlicher Rat ist, halt den Jungen gut fest." – "Wenn ich das so richtig könnte. Der Schmerz von Gregory sitzt noch tief. Und Jordan ist sicherlich lieb, aber Treue hat er nie gelernt. Er hatte noch nie eine feste Beziehung. Ich weiß nicht, ob das gut gehen kann. Außerdem muss ich endlich los, ich wollte schon vor 20 Minuten weg sein." Benny kletterte in seinen Oldtimer und startete zu seiner Tour, sein Vater kam ihm auf dem Küsten-Higway mit dem Peterbilt entgegen. Irgendwie war es verrückt, er saß wieder an den Tagen vor Weihnachten alleine in seinem alten Truck.

Jordan schwitzte knapp eine Stunde lang auf Straßen verschiedenster Breiten schon Blut und Wasser. Dann kam der Teil, vor dem er die meiste Angst hatte, auf einem großen Parkplatz standen die Rangierübungen auf dem Programm. Auch wenn er die natürlich fleißig mit Benny geübt hatte, fühlte er sich unsicher. Vorwärts eine Straße zu fahren, die nur zwei Fuß breiter war als der LKW fand er einfacher als rückwärts in eine Gasse aus Pylonen zu fahren. Geradeaus ging ganz gut, von schräg einparken nicht mehr so toll. Zwei mal fuhr er wieder ein Stück vorwärts und korrigierte die Richtung, bevor er endlich richtig stand. Der Prüfer sammelte seine Requisiten wieder ein, stieg in die Kabine und sie machten sich auf den Rückweg nach Hause, wo Jordan den Truck einfach vorwärts einparkte. Im Büro der Spedition kam dann der Moment der Wahrheit: "So, Mr. Cordell. Sie sind insgesamt noch ein Bisschen unsicher, ein paar Fahrstunden würden Wunder wirken." Jordan ließ die Mundwinkel hängen, der Prüfer setzte fort: "Besonders ist mir das beim Rangieren aufgefallen. Aber insgesamt habe ich nichts gefunden, was wirklich gefährlich wäre, eher im Gegenteil zu vorsichtig, was ja dann auch der richtige Weg ist. Routine kommt Meile um Meile und Laderampe um Laderampe. Ich gratuliere zur CDL, hier ist die Prüfbescheinigung. Den Führerschein stellt die Straßenverkehrsbehörde auf Vorlage aus. Wenn Sie sich beeilen noch heute, seit ein paar Monaten hat Port Angeles eine moderne Führerscheinstelle, die auch CDL ausstellen und die Karten direkt beschreiben kann."

"Komm, ich nehme Dich mit." Jordan stieg also mit Susan in den Kombi, statt alleine Bennys Pickup zu nehmen. "Ich lasse Dich am Verkehrsamt raus, fahre einkaufen und hole Dich dann wieder ab. Und wo ich Dich mal gerade unter vier Augen habe – Du hast Benny sehr gerne, oder?" – "Ja." – "Warum so zaghaft? So kenne ich Dich ja gar nicht." – "Weil ich nicht weiß, wie Ihr dazu steht. Immerhin ist er Euer Sohn, den Ihr jahrelang großgezogen habt, und dann kommt irgend so ein Kerlchen mit Punkfrisur und Kindergesicht daher, schreibt einen herzzerreißenden Brief, wird erst Bennys Bruder und dann auch noch sein Lebensgefährte, sofern Benny da überhaupt mitspielt." – "Na ja. Irgendwann kommt immer der Moment, wo die Kinder erwachsen werden, sich verlieben und die Eltern plötzlich nur noch die zweite Geige spielen. Und bei Benny haben wir mit dem Verlieben schon ein Bisschen Übung. Dass Du uns so überfallen hast, spielt schon mal gar keine Rolle. Den Antrag haben wir ja doch noch unterschreiben müssen, und das haben wir uns schon reiflich überlegt. Denn auch wenn heute nach gerade einmal sieben Wochen, unsere Verantwortung für Dich vor unserem komischen Pflegegesetz endet, haben wir das im Gegensatz zur Hälfte aller Pflegeeltern natürlich als eine Unterschrift auf Lebenszeit gesehen. Wir haben es für Benny getan. Er mag Dich auch sehr, aber Du musst ihm vielleicht einfach noch Zeit lassen. Er hat eine schwierige Zeit hinter sich, aber ich denke, der Zeitpunkt wird kommen, wo er auf Dich zugeht, und das vielleicht schon recht bald. Treib nur kein Spielchen mit ihm wie der letzte, sonst lernst Du unsere Haustür doch kennen." – "Ja, er hat mir davon erzählt. So ein… Wir können uns aber nachher weiter unterhalten." Jordan stieg vor dem Amtsgebäude aus.

Dort drinnen traf er erst einmal auf Matthew. "Hi Matt, Du hier?" – "Ja, ich habe gestern endlich meine Zusatzlizenz für die Langholzzüge bestanden. Bisher hatte ich nur die normale 9 wie Benny und durfte keine Baumstämme außerhalb vom eigenen Wald fahren. Und du?" – "Will meine 9 abholen, Unterschrift vom Prüfer ist noch nicht trocken." – "Hey, super. Und, schon die erste Tour in Aussicht?" – "Noch nicht genau, Benny ist leider schon während meiner Prüfung weg und kommt erst morgen Nachmittag wieder." – "Ach, wie schade. Willst Du gerade mit mir nach Olympia? Ich muss da noch schnell einen Container Sägemehl an eine Spanplattenfabrik liefern. Nur fahren darfst Du leider nicht, weil Du nicht bei uns angestellt und somit nicht versichert bist."

So saßen Jordan und Matthew nach gut einer halben Stunde Wartezeit auf ihre Führerscheine in Matthews auch nicht mehr ganz frischen Ford LTL 9000. Jordan hatte sein Mama-Taxi kurz abbestellt und sah die Ankunftszeit auf dem Navigationsgerät. Dann fingerte er sein Handy wieder heraus und rief Benny an, der sich nach längerem Klingeln meldete: "Hi Jordan, und?" – "Geschafft!" – "Und wo fährst Du jetzt rum? Das ist doch ein LKW." – "Matt nimmt mich mit nach Olympia. Wir sind in gut zwei Stunden da. Wann kommst Du da durch?" – "An sich eine halbe Stunde früher, aber die kann ich abbummeln. Lass Dir mal von Matt die Zieladresse geben."

Nach diesen zwei Stunden saß Jordan dann neben Benny. Als er mit Matthew angekommen war, saß Benny mit einem Jungen, den Jordan auch nicht von der Bettkante geschubst hätte, auf der Laderampe und nun grinste er so selbstgefällig. Wilde Bilder spielten sich vor Jordans innerem Auge ab, und auch Benny merkte, dass etwas nicht stimmte: "Was ist los?" – "Dein Verhalten. Seit ich Dich mit diesem Kerl in der Fabrik auf Matthew habe warten sehen, grinst Du so blöd." – "Oh Jordan, Du denkst doch nicht… Doch, Du denkst es. Nein, wir haben nicht miteinander geschlafen, wenn Du das meinst. Wir haben uns unterhalten und mit ein Bisschen Glück dürfen wir den Jungen demnächst in unserem Freundeskreis begrüßen. Mehr kann ich Dir jetzt noch nicht sagen, so lange ich nicht weiß, ob alles geklappt hat, wie es sollte."

Danach sprachen sie über dies und das. Es kam keiner auf die Idee, die Plätze zu tauschen. Für Benny war es einfach normal, den LKW zu fahren, während jemand anders, bisher meistens Anhalter, daneben saß. Jordan traute sich nicht, zu fragen, weil es ja nicht das Arbeitstier, sondern Bennys gehätschelter Oldtimer war. So blieb es bis zum Abend, an dem Benny sich auf Nebenstraßen durch die schon längst hereingebrochene Dunkelheit tastete. Rechts schillerte ein See und Jordan wusste, wo sie waren, es berührte ihn, aber so richtig einordnen konnte er das Gefühl nicht. "Diesmal springe ich da nicht rein, während Du hier im warmen sitzt!" Benny trat auf die Bremse und der Truck hielt mit einem Ruck an. "Dann springen wir beide rein." – "Ich hasse Dich dafür." Im Gegensatz zur Aussage stieg Jordan aber aus und schälte sich an dem großen Stein aus seinen Klamotten, also musste Benny nachziehen. Das hatte man von einer großen Klappe. Kurz darauf zerrissen zwei schrille Schreie die Nacht, als sie in das eiskalte Wasser liefen. Lange hielten sie es nicht aus. Benny trocknete sich zuerst ab und warf dann Jordan das Handtuch rüber.

Wenige Minuten später stand der Truck dort, wo er es schon ein Jahr zuvor getan hatte. Benny kletterte nach hinten. "Kommst Du? Hier ist genauso viel Platz wie letztes Mal." – "Hm, ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist." – "Bitte." – "Und irgendwie ist es auch keine so gute gewesen, hier hin zurückzukehren. Zu viele Emotionen hängen an diesem Ort." – "Ich hoffe, keine zu sehr negativen. Soll ich wo anders hin fahren?" – "Ich weiß nicht so recht, wo ich die Emotionen hin stecken soll. Sie betreffen nicht meinen Bruder, wenn Du das meinst, sondern uns." – "Das war an sich der Grund, warum ich hier hin gefahren bin. Ich habe auch offene Gedanken an diesen Ort. Und jetzt komm bitte in die Kabine." Jordan bemerkte das Zittern in Bennys Stimme und kletterte mit gemischten Gefühlen auch auf die Liege. Den beengten Platzverhältnissen folgend lagen sie kurz darauf dicht beieinander. Das Licht der sternenklaren Nacht und die schmale Mondsichel erleuchteten die Schlafkabine so weit, dass sie gerade die Umrisse des Anderen wahrnehmen konnten.

Benny sprach die ersten Worte in die gespannte Atmosphäre: "Hier war letztes Jahr eigentlich der Moment, wo wir das erste Mal die Last der Ereignisse des Tages los waren. Leider beschränkt sich meine Erinnerung an diesen Moment nur noch darauf, dass wir kurz aneinander gestoßen sind und dann war ich weg. Aber der Ort schien mir der beste für einen Neuanfang zu sein." Benny suchte und fand Jordans Hand unter der Decke und griff danach. Dann sprach er weiter: "Heute morgen, als Du auf Prüfungsfahrt warst, ist der sprichwörtliche Groschen endgültig gefallen. Vielleicht hast Du es sowieso schon in den letzten Tagen gemerkt. Ich mag dich sehr. Ab heute bist Du 18 und nicht mehr mein Bruder, willst Du ab jetzt mein Partner sein?" Benny sah, dass Jordan nur ein paar Zentimeter vor ihm weinte. Aber es war anders als die Verzweiflung und Enttäuschung bei ihrer ersten Aussprache nach der Aufnahme in die Familie. Nach für Benny gefühlten drei Stunden, auch wenn es vermutlich nur eine Minute war, schaffte Jordan es, zu sprechen: "Benny, jetzt weiß ich, was Du damals gemeint hast, dass man für eine feste Beziehung sein ganzes Vertrauen dem Menschen schenkt, den man liebt. Durch Deine Worte eben habe ich gemerkt, welche Verantwortung ich übernehme und was für ein Vertrauen ich mit meiner Antwort gleichzeitig in Dich setzen muss. Ich werde Dich nicht enttäuschen." Ihre Münder trafen sich in der Mitte der Schlafkoje zu einem niemals enden wollenden Kuss.

24.12.2008

Die aufgehende Sonne fing sich genau im Rückspiegel, um so Benny zu blenden, der davon wach wurde. Jordan schlief friedlich an ihn gekuschelt und Benny begann, ihm vorsichtig die Wange zu streicheln, bis er wach wurde. "Guten Morgen. Müssen wir schon los?" Statt zu antworten setzte Benny zu einem erneuten Kuss an, während seine Hände nun an Jordans Nacken herumspielten. Der umkreiste dafür nach einem kurzen Moment Bennys Brustwarze mit einem Finger.

Als sie später verschwitzt, aber glücklich nebeneinander lagen, war auch die letzte Liegestätte in Bennys umfangreicher Sammlung von Betten, Sofas und Schlafkojen eingeweiht. Benny zog sich zwischen den Sitzen stehend an, während Jordan dabei auf dem Bett saß. Dann ließ sich Benny auf dem Beifahrersitz nieder: "So, mein Truck ist auch Dein Truck." – "Ich darf wirklich dieses Sahnestück fahren…?" – "Ja, Du darfst. Ich vertraue Dir auch in dieser Hinsicht. Aber Du musst nicht. Wenn Du nicht willst, oder Dich nicht an das 13-Gang traust, ist das keine Schande. Mehr als Zähne putzen kann aber auch nicht passieren, wenn Du da was falsch machst." – "Ich versuche es." – "Wie der Splitter funktioniert, weißt Du noch? Oder ich helfe einfach die ersten Gänge in der oberen Ebene, wenn wir sie auf einer Hauptstraße brauchen."

Jordan setzte die Fuhre in Bewegung und auf der nächsten befestigten Straße meinte Benny im 5. Gang: "Kuppeln wie immer, Hand auf den Schaltknüppel, Daumen auf den Schieber an der Seite, Zeigefinger wie im Kenny unter den Ebenenwechsel, Hand locker lassen." Benny führte Jordans Hand vom 5. über den Ebenenwechsel in den 6. und weiter in den 7. und 8. Gang. "Der neunte ist alleine Deiner." Dann meldete sich Jordans Handy. "Geh Du ran!" Jordan reichte den Klingelknochen rüber. Im Display stand "Zu Hause", was Benny sehr süß fand. Vor allem, weil Jordan die Nummer schon am ersten Morgen nachdem Benny ihn abgeholt hatte, so eingespeichert hatte. "Hallo, Benny hier." Seine Mutter war dran: "Oh, Du? Da habe ich extra Jordan angerufen." – "Der fährt." – "Wie, der Fährt deinen Liebling?" – "Falsch. Jordan ist mein Liebling und fährt meinen Diamond Reo." – "Da lässt man Euch einmal alleine weg, so was… Nur ein Scherz. Schön, dass Ihr Euch dann doch gefunden habt. Ich wusste im Prinzip schon, als Du mit dem Brief zu uns kamst, dass das mal so enden würde." – "Das wusste in dem Moment ja nicht mal ich, woher dann Du?" – "Unterschätze nie die mütterlichen Instinkte. Warum ich eigentlich anrufe ist wegen der nachgeholten Geburtstagsparty heute Abend. Matthew hat angerufen, ob er seinen neuen Freund mitbringen darf und ich müsste wissen, wann Ihr ankommt." Benny grinste beinahe im Vollkreis: "Ankommen wohl am frühen Nachmittag. Und wegen Matt denke ich schon, Moment." Nach kurzer Rückfrage mit Jordan war das auch geklärt und mit "ja" beantwortet.

Auf dem Abstieg von der Passhöhe zog Jordan auf einen Rastplatz raus. Erstens mussten sie sowieso beide mal die Bäume bewässern, außerdem zeigte das Navi nicht mehr wirklich viele Meilen ans Ziel zum Entladen. Daher gab Jordan auch den Schlüssel zurück: "Fährst Du zum Abladen? Ich habe noch etwas Angst vorm Rangieren, besonders mit dem unbekannten Lastzug. Das muss ich unbedingt in Ruhe noch üben." – "Klar, kein Problem."

Ab der Fähre bis nach Hause übernahm Jordan dann den Truck wieder und hatte ein großes Empfangskomitee vor dem Haus, denn die Partygesellschaft war schon vollzählig versammelt. Für die nachzuholende Geburtstagsfeier warteten Bennys Freunde, die im Prinzip auch Jordans bisher einzige Freunde in Port Angeles waren.

Matthews neuer Freund war der Hilfsarbeiter in der Warenannahme der Spanplattenfabrik in Olympia, die Matt beliefert hatte – er hatte sich seit Wochen extra in die Dienste reingetauscht, in denen die Lieferungen von Matthews Sägewerk kamen, um so vielleicht Matt anzuschmachten, während Matt sich immer die Fuhren dorthin geschnappt hatte, um den Arbeiter zu sehen und gestern hatte es gefunkt, allerdings nicht ganz ohne Bennys Starthilfe.

Als er gestern an der Spanplattenfabrik angekommen war, war die Warenannahme an sich schon geschlossen. Der junge Hilfsarbeiter namens Cal war auf ihn zugekommen und hatte schon zu einem Redeschwall angesetzt, dass geschlossen sei und er nur noch auf eine einzige Lieferung warten würde. Benny klärte auf, dass er nur auf seinen besten Freund warten würde, der angerufen hätte, dass er sich von genau diesem Truck hatte mitnehmen lassen und stieg aus. Dabei bemerkte er, dass er versehentlich die Jeans erwischt hatte, die mal am Hintern eingerissen war und die er mit einem Regenbogen-Aufnäher geflickt hatte. Nachdem sich der Junge daraufhin auch geoutet hatte, begann er von dem süßen afrikanischstämmigen Fahrer, der immer das Sägemehl bringt, zu schwärmen. Leider hätte er aber Angst zu seinen Gefühlen zu stehen, weil er seinen heimlichen Schwarm nicht erschrecken wollte. Benny hatte ihm Mut gemacht, es auf den Versuch ankommen zu lassen, das Ergebnis dieser Unterhaltung hielt gerade hier Händchen.

Und, auch wenn er nicht wusste, wie Jordan auf die Erinnerung an seine Vergangenheit reagieren würde, hatte er heimlich noch einen Gast organisiert. Zum Glück war Jordan begeistert: "Tony! Du bist hier? Das ist ja super." Jordan umarmte den einzigen hier, zu dem er wirklich selbst die Freundschaft aufgebaut hatte. "Wem verdanke ich die Überraschung denn?" – "Benny. Er hat mich irgendwann mal angeschrieben und informiert, dass er Dich erfolgreich hier her geholt hatte und mich einfach mal als Überraschungsgast zu Deinem Geburtstag eingeladen. Hat zwar einen Riesenärger gegeben dass ich am ersten Weihnachtsmorgen nicht zu Hause bin und ich muss deshalb auch morgen nach dem Frühstück los, aber Dir zum Geburtstag zu gratulieren, habe ich mir nicht nehmen lassen. Meine Eltern dürfen auch mal langsam merken, dass ich achtzehneinhalb bin."

Nach der großen Auspackaktion schaute Jordan in die Runde, die ja noch nichts wusste: "Leute, vielen Dank, dass Ihr alle gekommen seid, um meinen Geburtstag mit mir zu feiern. Tony, ganz besonders hat mich gefreut, dass Du einmal quer durch den Staat gefahren bist, um mich zu besuchen. Aber das schönste Geschenk meines Lebens habe ich gestern Abend von Benny erhalten." Sprach es aus und zog unter dem Applaus der Gäste seinen Freund zu einem innigen Kuss heran.

25.12.2008

Die Party war lang und die Stimmung gut gewesen. Um Eins hatten zwei Taxis die Gäste abgeholt und nach Hause gebracht. Es hatte dann noch einiger Überredungskunst bedurft, Tony auf das Schlafsofa in Bennys Zimmer zu bekommen. Er wollte unbedingt ins Büro gehen und auf dem dafür denkbar schlecht geeigneten, komplett ausgeleierten Sofa übernachten, weil er Benny und Jordan bei nichts stören wollte, wozu die nach eigener Aussage sowieso nicht mehr in der Lage gewesen wären.

Nun hieß es wieder Geschenke auspacken, so ist das nun einmal, wenn man wie Jordan nur zwei Tage vor Weihnachten Geburtstag hat. Tony zog auch ein Päckchen hervor: "Ich weiß, Benny hatte mir an sich gesagt, dass ich zu Weihnachten nichts schenken müsste, und Ihr werdet für mich auch nichts haben. Aber als ich gestern Vormittag von Susan erfahren habe, dass Ihr zusammen seid, bin ich los und habe noch was organisiert. Es ist für Euch beide." Sie packten das kleine Geschenk irgendwie gemeinsam aus, es enthielt ein Schmuckkästchen, wo man einzelne Schmuckstücke drin kaufte. Jordan nahm den Deckel ab, während Benny das Unterteil festhielt und es kam eine Zerbrochenes-Herz-Kette zum Vorschein. Benny nahm den Teil mit seinem Namen, öffnete den Verschluss und legte Jordan die Kette um, dann ließ er sich die andere Herzhälfte mit der Jordan-Gravur von seinem Freund anlegen. Nun trugen sie jeder einen Teil des Herzens ihres Partners in Gedanken in sich und symbolisch um den Hals, die sich zu ganzen Herzen ergänzten, wenn sie zusammen waren.

Nachwort

Nach vielen Anläufen und ebenso vielen Fehlschlägen haben Jordan und Benny zueinander gefunden. Nicht immer ist es leicht zu erkennen, dass zwei Leute füreinander geschaffen sind. Und manchmal braucht die Liebe mehrere Anläufe.

Während die ersten Teile schon erschienen, habe ich viel Feedback erhalten, für das ich mich herzlich bedanke. Die eine oder andere Anregung habe ich auch noch eingearbeitet. Leider ist die Weihnachtsgeschichte nun erst nach Weihnachten fertig geworden, aber dafür mit einem mit sehr viel Herzblut geschriebenen Happy End. Vielen Dank auch an meinen Korrekturleser Boris, dessen heftiger Kritik an dem ursprünglichen, zweiseitigen Epilog Ihr dieses ausführliche Ende hauptsächlich verdankt.

Diese Geschichte hat mir, anders als das aus einer kurzen Idee an wenigen Abenden herunter geschriebene "Domino Day", gezeigt, wie die Charaktere einer Geschichte über eine längere Zeit ihr Eigenleben entwickeln und so die Geschichte prägen und die ursprünglich vorgesehene Handlung verändern. Die Idee und die ersten Kapitel entstanden bereits vor über einem Jahr. Durch meine persönlichen Höhen und Tiefen dieser Zeit bedingt mussten auch Benny und Jordan welche erleben.

Aber ich habe meinen Gefallen am Schreiben endgültig gefunden und werde nun vielleicht einmal ein paar mehr Ideen umsetzen können. Nun muss ich aber erst einmal die vielen Geschichten lesen, die in der Zwischenzeit von anderen Autoren veröffentlicht wurden, für die ich aber durch "King of the Road" keine Zeit gefunden habe ;-)

Euer "Erik"

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