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Domino Day

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Vorwort:

So, hier ist also meine erste Geschichte, die ich auf Nickstories veröffentliche. Es gibt schon einige mehr, aber die werde ich auch nicht veröffentlichen, weil sie entweder etwas zu dicht am Leben sind (man könnte zum Beispiel selbst bei Namensverfremdung noch die wirklichen Leute anhand anderer Merkmale eindeutig erkennen), mich selbst durch Verwendung von Phantasie-Ortsnamen, die ich unter meinem Realnamen veröffentlich habe, aber zu denen eine so starke emotionale Bindung entstanden ist, dass ich sie auch in den Stories nicht ändern möchte, verraten würden (das muss nicht auf ewig ein Hinderungsgrund für die Veröffentlichung sein), oder Übungsstücke sind, bei denen die Qualität nicht mal mehr mir genügt. Zu „Domino Day“: Die Handlung, Hauptcharaktere und diverse Gastronomiebetriebe sind alle frei erfunden, Ähnlichkeiten zu lebenden Personen oder Unternehmen sind rein zufällig. Die Geschichte basiert auf dem Domino Day 2005, demnach gibt es also auch reale Personen, Firmen und Orte im Zusammenhang mit diesem Ereignis. Außerdem werden zwei Leistungsträger des realen Domino Day 2005 aus dramaturgischen Gründen aus ihrer wichtigen Rolle enthoben. Sollte das jemanden stören, bitte ich, dies zu verzeihen, aber mir fiel an der Stelle nichts Besseres ein. Das Urheberrecht gilt sowieso, deshalb spare ich mir mal, dessen Inhalt runterzubeten. Und nun viel Spaß beim Lesen. Euer „Erik“

 

Ich steige in den ICE und stelle meinen Rucksack auf den Sitz neben mir. Hoffentlich werden sie mich nehmen. Ich habe meine Prüfung als Koch bestanden und Ende August läuft mein gnädig verlängerter, aber dennoch befristeter Vertrag aus. Eine Nachfolgestelle ist nicht in Sicht, so dass zwei Monate was ganz Anderes eine willkommene Abwechslung sein würden.

In Köln angekommen fahre ich mit der Stadtbahn zum Sender und treffe dort auf etliche andere Bewerber. Die meisten sind zwischen 18 und 25, ich liege also mit meinen 20 durchaus im Rahmen. Als erstes gibt es einen Sprachtest, danach dürfen die ersten schon gehen. Weil in der Gastronomie auf gutes Englisch Wert gelegt wird, auch wenn man wie ich als Koch nur hinter den Kulissen wirkt, ist das für mich kein Problem. Jetzt bekommen wir Steinaufstell-Unterricht und schließlich eine aufzubauende Strecke unter den wachsamen Augen von Robin Weijers. Am Ende der Aufbauzeit müssen wir unser Kunstwerk dann umwerfen und es sollte nicht stecken bleiben, was es aber trotzdem tut. Wie auch immer, am Ende bin ich trotzdem einer der Auserwählten und soll im September für zwei Monate ins niederländische Leeuwarden ziehen.

Zurück in Hamburg koche ich mich noch durch die letzten Wochen und schließlich ist mein letzter Arbeitstag in dem Fischrestaurant, in dem ich die letzten vier Jahre gelernt und gearbeitet habe. Mein Chef drückt mir einen Umschlag in die Hand, in der U-Bahn überfliege ich den Inhalt. Es ist eine Stellenausschreibung für Nürnberg, aber da werde ich niemals hin gehen. Ins Binnenland? Ohne mich. Ich bin in Hamburg geboren und aufgewachsen, spreche besser Plattdeutsch als Hochdeutsch und mein Horizont der Glückseligkeit reicht ungefähr so weit, wie man von der Deichkrone ins Landesinnere gucken kann. Demnach kommen nur Hamburg, Schleswig Holstein und die niedersächsische Küste für mein zukünftiges Wirken in Frage.

Ich steige in den IC und wuchte meinen Koffer in das Gepäckfach über mir. Nach endlosen fünfeinhalb Stunden und einigen Umsteigehalten komme ich endlich in Leeuwarden an und werde von einem Fahrer erwartet. Mit demselben Zug sind noch zwei Mädchen angekommen, nein danke. Wenn ich mir nur anschaue, wie die dauernd ungehemmt kichern, dann muss ich Klaus Wowereit Recht geben: „Ich bin schwul, und das ist auch gut so!“ Auch wenn die Damen das sicherlich aus einem bestimmten Grund sehr bedauern, aber dazu gleich mehr. Hoffentlich findet sich in der riesigen Gruppe der Aufbauer auch ein süßer Junge fürs Auge. Dass der auch noch schwul wäre und dann noch mehr daraus würde, sind wohl schon etwas zu hohe Forderungen an Fortuna.

Im Wohnheim angekommen lerne ich nach einer kurzen Begrüßung durch Robin meinen Zimmergenossen kennen, der schon ein paar Stunden vorher eingezogen ist: „Hallo! Ich bin Christopher.“ Sein hessischer Akzent verrät seine Herkunft genauso deutlich wie mein Hamburgerisch, der Versuch der Verwendung überwiegend hochdeutscher Wörter und so wenig norddeutscher Aussprache wie möglich gelingt mäßig. „Moin moin, Aaron. Sieht man ja auch.“ Eine Laune der Natur sorgt dafür, dass ich aussehe wie Aaron Carter, eine meiner Eltern dafür, dass ich auch denselben Vornamen habe. Nur beim Familiennamen muss ich dann passen, denn der ist deutsch: Baumgart. „Stimmt, den Namen sieht man dir echt an. Muss ich meine Freundin am Familientag von dir fernhalten. Die steht dermaßen auf Aaron Carter, dass ich langsam auf den Kerl eifersüchtig werde, obwohl er in Amerika wohnt.“ - „Keine Angst, ich werde sie dir schon nicht ausspannen.“ Wenn der wüsste, warum nicht…

In den nächsten Tagen gibt es dann noch mal Unterricht im Steine Aufstellen, denn es ist schon was anderes, ob man eine Reihe im Foyer des Senders aufbaut oder ein Bild. Und nach einer Woche geht es ans lebende Objekt. Die riesige Halle einerseits und 4,3 Millionen Dominosteine andererseits wirken irgendwie deprimierend. Gruppen von Leuten bauen winzige Fleckchen in der Halle voll, es sind die sprichwörtlichen Tropfen auf den heißen Stein. Dazu geht wegen der fehlenden Routine auch noch vieles schief. Nach einer Woche dann weicht endlich das Gefühl der Leere und man beginnt außerdem sich mal etwas genauer umzusehen. Und so trifft es mich dann eines Morgens. Wir arbeiten an jedem Projekt mit anderen Leuten zusammen und ich bemerke an diesem Morgen einen Jungen in meinem Alter, der laut seinem Team-Shirt Felix heißt und aus der Schweiz kommt. Er hat kurze, braune Haare, einen super Body, zwei Ohrringe links und ein Drachen-Tattoo auf dem linken Oberarm. Wann immer es der Aufbau zulässt, schaue ich ihn mir verstohlen an. Weiter komme ich nicht, denn ich bin viel zu schüchtern. Auch habe ich in der Vergangenheit schon schlechte Erfahrungen mit Outings gemacht, was ja dann irgendwann einmal anstehen könnte. Lieber was Nettes zum Anschauen, als dass er sich von mir abwendet.

Das Problem der Outings bekomme ich am Familientag wieder in Erinnerung gerufen, an dem meine Schwester, ihr Freund und mein bester Kumpel anreisen. Meine Eltern und mein Bruder wollen seit dem Outing nichts mehr von mir wissen, mein Großvater auch nicht. Meine Großmutter wäre gerne mitgekommen, hat sich aber die Reise nicht mehr zumuten wollen. Felix hat Besuch von seinen Eltern und einem ungefähr 16 Jahre alten Jungen, offensichtlich sein Bruder, bekommen. Irgendwann flüstert meine Schwester mir zu: „Du hast Geschmack.“ - „Was?“ - „Na ja, langsam könntest Du den Schweizer Jungen mal wieder anziehen. Deine Blicke reißen ihm ja die Klamotten vom Leib.“ Hendrik, mein Kumpel murmelt mir zu: „Unser Deichschaf Aaron verknallt sich in ne Bergziege? Ich glaub ’s nicht!“ Geschockt frage ich: „Ist es so offensichtlich?“ - „Wenn man dich kennt auf jeden Fall. Aber auch sonst braucht man wohl nicht so viel Fantasie dafür, es zu erraten.“

Inzwischen ist es Mitte Oktober und ich arbeite wieder mit Felix in einem Team. Beim Frühstück reden wir am Tisch über unser normales Leben. Er ist auch 20, gelernter Kraftfahrzeugelektriker und lebt in Interlaken. Freundin hat er schon mal keine - doch ein Fünkchen Hoffnung?

Wir bauen weiter und kurz vor Schluss passiert es. Felix stößt einen Stein an und dieser reißt einige tausend weitere mit ins Verderben. Ich sacke verzweifelt auf die Ellenbögen und gucke dem Malheur hinterher. Eine Französin in unserer Gruppe fährt ihn an: „Kannst Du nicht vorsichtig sein? Jetzt sind wir da, wo wir heute Morgen waren!“ Die anderen stimmen in den Reigen ein. Eine Träne läuft Felix über die Wange, dann steht er auf und rennt auf den Ausgang zu, während Robin quer durch die Halle schreit: „Hey! Nicht rennen!“ Ich sage zur Gruppe: „Ihr fangt mal an, das Feld wieder aufzubauen, ich werde dasselbe mit Felix versuchen“, bevor ich auch zur Tür laufe, allerdings ohne dabei Robins Tempolimit zu überschreiten. Aus der Schleuse heraus sehe ich Felix noch zum Hauptausgang raus rennen. Jetzt darf ich allerdings selber auch rennen und bleibe an ihm dran. Das FEC ist am Stadtrand und wir laufen an einem Kanal entlang in Richtung einer Eisenbahnbrücke. Unter der Brücke habe ich ihn endlich eingeholt, er gibt auf und lässt sich an die Böschung des Bahndammes fallen, ich setze mich daneben. Gequält presst er raus: „Tut mir leid, dass ich euch den Tag zunichte gemacht habe“, dann fängt er an zu weinen. „Darf ich mich an deine Schulter lehnen?“ presst er unter Tränen hervor. Na und ob er darf… „Klar, mich stört das nicht.“ - „Man muss nur vorsichtig sein, wenn man Leute nicht so gut kennt. Sonst kommst Du noch auf voreilige Gedanken.“ Das hat gesessen. Meine Gedanken sind zwar vielleicht nicht die befürchteten, ich könnte ihn für schwul halten, aber offenbar dennoch ‚voreilig’ und die Weise, wie er das Wort benutzt hat, klingt negativ. Ich lege trotzdem meinen Arm über seine Schultern und tröste ihn.

Nachdem er sich wieder beruhigt hat, gehen wir zurück, um gerade noch zum Ende der Schicht an der Halle anzukommen. Felix weicht der Gruppe aus und geht nach kurzem Abschied alleine zum Mittagessen. Nach selbigem rufe ich aus einer stillen Ecke hinter einer Trennwand meine Schwester an und erzähle ihr von dem Vorfall, wobei ich auch von unserem Erlebnis am Bahndamm schwärme. Nach 20 Minuten drücke ich die Taste mit dem roten Hörer, gehe aus meinem Halbversteck und bekomme den Schock meines Lebens. Felix geht keine drei Meter weiter schnellen Schrittes davon und lässt sich den Tag nicht mehr blicken. Was hat er gehört?

Nach einer sehr unruhigen Nacht muss ich beim Frühstück feststellen, dass Felix nicht da ist. Ziemlich durch den Wind trete ich meine Schicht an, aber er taucht nicht auf. Nach einigen Unfällen bekomme ich ‚Inseln’ zu bauen, an denen ich allenfalls mein eigenes Werk umschmeißen kann. Die Verbindung zum Gesamtkunstwerk machen andere. Beim Schichtwechsel kommt Felix in die Halle, er hat sich also in die andere Schicht versetzen lassen.

Mit einigem Groll baue ich in den nächsten Wochen weiter, bis zu jenem Montag vor der Show, an dem der Spatz in die Halle fliegt. Nachdem der Jäger den kleinen Störenfried abgeschossen hat, liegen wir hinter dem Plan zurück und unser Kunstwerk, an dem ich Felix näher kam, in Trümmern. Troja sollte zwar geschichtstreu fallen, aber doch noch nicht vorm Urknall sondern erst in der Antike! Beim Wiederaufbau landen wir wieder in einer Schicht, aber er weicht zwei Tage lang meinen Blicken aus und baut möglichst weit weg. Nach dem Abendessen begegne ich ihm allein auf dem Flur. „Felix? Ich glaube wir müssen reden.“ Er guckt mich traurig enttäuscht an und geht weiter. Ich komme natürlich ziemlich sauer aufs Zimmer und knalle die Tür zu. Christopher schreckt aus seinem Buch auf: „Mann, Aaron. Muss das sein?“ - „Ja!“ - „Glaube ich nicht. Was ist los? Du bist vor ein paar Wochen ganz anders geworden, viel ernster und so.“ - „Das geht dich nix an!“ Mitleidig guckt er mich an: „Das dachte ich zuerst auch. Aber wir teilen uns dieses Zimmer und wenn Du hier miese Laune verbreitest, dann geht mich das was an.“ - „Trotzdem willst Du es nicht wissen. Glaub mir.“ - „Oh doch. Oder Du schaltest jetzt um auf gute Laune und bleibst bis Samstag in diesem Modus. Sobald wir in getrennten Zügen sitzen, darfst Du wieder so gewittrig sein wie du willst.“

Der Versuch funktioniert genau 24 Stunden. Am nächsten Tag spreche ich Felix nur fragend mit seinem Namen an, aber er weist mich zurück: „Lass mich. Am Ende gibt es doch nur Enttäuschung.“ Also hat er es gehört und ist nun sauer auf mich. Darum komme ich wieder entsprechend gelaunt aufs Zimmer. Zwar bekomme ich die schwungvoll zufliegende Tür im letzten Moment zu fassen und mache sie leise zu, aber dafür knallt Christopher sein Buch umso geräuschvoller zu: „So, jetzt reicht ’s! Was ist los? Und glaub mir, jetzt will ich es wirklich wissen!“ - „Willst Du nicht. Es hat damit zu tun, dass ich schwul bin.“ - „Ja und? Was ist denn dabei? Hab schon zwei schwule Kumpels. Also?“ - „Och Menno. Dich wird man wohl gar nicht los?“ - „Doch, am Samstag. Aber wir hatten eine Abmachung, die Du nicht eingehalten hast.“ - „Na gut. Ich habe mich in einen Jungen aus dem Team verliebt…“ - „Sicherlich in den kleinen Schweizer mit den zwei Ohrringen und dem Tattoo auf dem Arm? Wie heißt der noch gleich? Felix, oder?“ - „Ach du grüne Neune. Das hast Du gespannt?“ - „Nee, nicht wirklich. Aber den Tag, wo er das Feld umgestoßen hat und dann von der Gruppe so angemacht wurde und raus gerannt ist, hast Du als einziger nicht mitgemacht und bist ihm hinterher. Hinterher kamt ihr zusammen zurück. Da hab ich jetzt einfach mal 2 und 2 zusammengezählt, als Du gesagt hast, dass Du verliebt bist. Denn ohne Liebe wäre man wahrscheinlich stinksauer, wenn einer 30 Minuten vor Schluss das Werk von fünfeinhalb Stunden umpfeffert.“ - „Na gut. Richtig gerechnet. Ich hab ihn halt den Tag getröstet und wir waren uns dabei ziemlich nahe. Hinterher hab ich das aus einer, wie ich dachte, stillen Ecke meiner Schwester am Telefon erzählt. Und das hat er mitgehört. Seitdem weicht er mir aus.“ - „Tja, tut mir leid für dich. Am Samstag steigst Du in den Zug und wirst ihn wohl nie wieder sehen. In Hamburg gibt es doch sicherlich genug schöne Jungs. Wäre doch gelacht, wenn da nicht einer für dich dabei wäre. Vergiss ihn am besten so schnell wie möglich.“ Sein Handy klingelt. „Ja, Christopher hier?“ Es ist eine Männerstimme, mehr kriege ich nicht mit. „In Ordnung, André. Ich komme sobald ich kann, wollte dich eh gleich anrufen. Dauert aber vielleicht noch ein paar Minuten.“ Zu mir meint er: „Das war jemand aus dem Team, mit dem ich mich angefreundet habe. Er will mich mal eben sprechen. Darf ich dich alleine lassen?“ - „Ja, meinetwegen.“ Als er raus ist, hämmert mir sein Ratschlag noch immer im Kopf herum: „Vergiss ihn am besten so schnell wie möglich.“ Der kann gut reden, daheim sitzt seine Freundin und wartet auf ihn. Dann versuche ich den Namen André einzuordnen, bekomme es aber beim besten Willen nicht hin. Nach ungefähr einer Stunde kommt Christopher wieder, ich meine ein Grinsen in seinem Gesicht zu erkennen. Wenigstens einer auf diesem Zimmer, der was zu lachen hat.

Irgendwie überstehe ich die letzten beiden Tage auch noch und es ist Freitagabend. Die Aufbauer stehen zusammen, Frauke Ludowig kommt vorbei und interviewt ein paar von uns Deutschen und schließlich stößt Anastacia unter unserem Applaus den ersten Stein an, der sie bei weitem überragt. Nach einiger Zeit kommt Troja an die Reihe, das Projekt, an dem Felix mit einer unglücklichen Bewegung im wahrsten Sinne des Wortes eine Kettenreaktion ausgelöst hat. Ich schiele zu ihm rüber und er sieht mit einer Mischung aus Wehmut und Jubel die Steine fallen, mir geht es genauso. Nicht mehr lange und das Spektakel, für das wir die letzten Monate geschuftet haben, ist vorüber. Christopher diskutiert inzwischen mit einem Jungen, der zwar mit dem Rücken zu mir steht, aber sich durch seinen Akzent als Schweizer verrät: „Denkst Du, Robin zieht mit?“ - „Keine Ahnung, er sagte ja, er habe eigentlich seine Wahl schon getroffen, wollte es sich aber mal überlegen. Hast Du einen Plan B?“

Das Fadenkreuz kommt, für eine letzte Aufbau-Herausforderung werden die Leute ausgesucht. Ich fasse es nicht, es bleibt auf mir hängen. Auf dem Monitor wird eingeblendet „Aaron Baumgart, Germany“, kein Zweifel, die meinen mich. Als ich das nächste Mal den Monitor sehe, bin ich noch fassungsloser: „Felix Jaennli, Switzerland“ steht da. Ich gucke mich um zu Christopher, der mich breit angrinst, und mit einem Mal fallen nicht nur die Dominosteine sondern auch der sprichwörtliche Groschen bei mir: André ist Felix Zimmerkamerad. Wir gehen zu unserer Aufgabe: Felix muss ein Vierkantholz als Brücke zwischen den auf einer Bahn aufgebauten Steinen still halten, während ich die Steine darauf stelle. Ich fange an, lasse aber den ersten Stein wohlweislich aus. Nach dem vierten oder fünften fällt auch die ganze Herrlichkeit vor Aufregung wieder um. „Du schaffst es, ich glaube an dich!“ sagt Felix mit einem zuckersüßen Lächeln zu mir. Ich stelle die Steine wieder auf und setze nun auch gleich den ersten. Sonst wird die Zeit zu knapp. Dann baue ich zügig weiter in Richtung Ende. Es fehlen noch 5 oder 6 Steine, als am Ende der Bahn die ersten Steine umfallen. „Vorsicht. Ich muss das Brett jetzt bewegen! Sonst schaffen wir das nicht.“ Ich folge Felix Bewegung und stelle den vorletzten Stein, kurz bevor der erste auf dem Brett schon angestoßen wird. Jetzt der letzte, es wird eng. Schnell und vorsichtig stelle ich den Stein auf das Brett, das Felix währenddessen die zwei Zentimeter auf das andere Ende der Bahn zu bewegt. Ich reiße die Arme hoch, Sekundenbruchteile bevor der Stein angestoßen wird und die Kettenreaktion auf der anderen Seite fortsetzt. Felix lässt das Brett fallen, reißt die Arme ebenfalls hoch und macht einen Schritt auf mich zu. Wir klatschen die Hände aneinander und dann setzt es bei mir aus, ich umarme ihn, was er aber sofort erwidert. Wir tanzen ein paar Mal im Kreis, bis er mir zuflüstert: „Das war stark! Oh Mann, ich liebe dich!“ - „Ich dich auch. Und Vorsicht, das meine ich verdammt ernst!“ antworte ich. „Das weiß ich doch schon seit vier Wochen. Und ich meine es übrigens auch ernst.“ In Trance küssen wir uns auf den Mund, bevor uns eine sekundenlange Stille gefolgt von plötzlichem Gejohle in die Realität zurückruft. Und diese Realität lautet: ‚Jungs, ihr habt Euch gerade vor einem Millionenpublikum in acht Ländern geoutet!“ Erschrocken löse ich die Umarmung, aber Felix meint nur: „Jetzt kommt es sich auch gleich. Das hätten wir uns geschickter Weise vor einer Minute überlegen müssen. Aber was macht es, der Abend gehört jetzt uns.“ Hand in Hand gehen wir zurück, auf dem Weg kommt uns Robin entgegen: „Jungs, ich war noch nie so aufgeregt. Aber ich wusste, ihr könnt es schaffen. Ihr seid meine Helden. Und ich sehe, ihr seid jetzt auch eure eigenen Helden. Bedankt euch bei Christopher und André.“ In der Gruppe wird es ziemlich still als wir ankommen, nur jene zwei Leute kichern, weil sie sehr offensichtlich was mit der Sache zu tun haben, und sie brechen auch das Eis für uns, indem sie uns in der Gruppe zurück empfangen, umarmen und dann in die zurückhaltende Runde fragen: „Was ist los? Die beiden haben uns gerade eine Sechstelmillion Steine gerettet!“ Und so gratulieren dann fast alle zu unserer Leistung. Am Ende steht fest, dass die 4 Millionen Steine und damit auch der Weltrekord gebrochen sind, der Vorsprung zum alten Weltrekord sind ungefähr so viele Steine, wie in unserer Sonderprüfung standen. Felix weicht schon seit unserer Prüfung nicht mehr von meiner Seite und wieder liegen wir uns bei dem Ergebnis in den Armen.

Während der Party bekomme ich einen Anruf von meiner Schwester. Sie gratuliert mir erst mal zum Weltrekord und zu Felix, dann erzählt sie mir, dass ich demnächst besser einen sehr großen Bogen um die übrige Familie machen sollte. Ich wäre jetzt endgültig ausgestoßen. Warum überrascht und stört mich das bloß nicht? Auch Felix telefoniert mal mit jemandem, aber ich bekomme nichts davon mit. Problematisch scheint der Anruf dem Gesicht nach aber nicht zu sein. Er wirkt zwar auch etwas besorgt, aber es sieht nicht nach Katastrophe, sondern nach schwieriger Aufgabe aus.

Nach der Party will ich es genau wissen: „Christopher? Was war das?“ - „Na ja, als Du mir gestanden hast, dass Du schwul bist und in Felix verliebt, gab es ja einen Anruf von André. Felix hatte ihm auch erzählt, dass er schwul ist und in dich verliebt. Dass Du es bist, wusste er schon, weil er wirklich dein Gespräch mit deiner Schwester mitgehört hatte. Aber er sah keine Perspektive und war erst kürzlich in der Liebe enttäuscht worden. Darum war er so abweisend, er hoffte, dass Du ihm auch aus dem Weg gehen würdest und am Samstag wäre sowieso alles vorbei. André hat mich gefragt, ob es keine Lösung geben kann, euch doch noch zusammenzubringen. Ich würde dich ja am besten im Team kennen. Natürlich rannte er damit offene Türen ein. Auf einmal kam Robin Weijers vorbei und André hatte eine Idee. Er erklärte kurz die Lage und fragte Robin, ob ihr beide eine Herausforderung zusammen machen könntet. Er sagte, er hat schon jemanden dafür, aber würde es sich überlegen. Wenn ihr zusammen durch so eine Extremsituation gehen würdet, hofften wir, dass ihr euch doch noch finden würdet. Und als Du dann als erster für die Challenge aufgerufen wurdest, da war uns schon fast klar, wer der zweite ist. Und wie man sieht, ist unser Plan aufgegangen.“ - „Ja, aber leider erst mal nur bis Morgen Mittag.“

Ich steige in den Regionalzug nach Groningen und fange an zu heulen. Auf der anderen Bahnsteigseite steigt Felix gerade mit André, Christopher und vielen anderen aus dem Team in den IC nach Zwolle. Eben noch haben wir uns einen innigen Abschiedskuss gegeben und jetzt gehen wir entgegen gesetzte Wege. Wir haben vereinbart, in Kontakt zu bleiben, aber was hilft das schon? Von Hamburg nach Interlaken sind es 9 Stunden Fahrt. Ich suche ein Päckchen Taschentücher, dabei fällt mir ein längst vergessener Brief in die Hände. Das Leben geht weiter, ich brauche eine Stelle. Also rufe ich da jetzt mal an, auch wenn Samstag ist. In der Gastronomie findet das Wochenende üblicherweise sowieso an anderen Tagen statt. Im Hintergrund ist deutlich ein Fahrgeräusch zu hören, als sich der Angerufene meldet: „Diamanthotels Niederhuber.“ - „Aaron Baumgart, guten Tag. Ich weiß, dass ich besser vor drei Monaten angerufen hätte. Herr Friedrichsen vom ‚Zum Freihafen’ in Hamburg hatte mir seinerzeit empfohlen, mich bei Ihnen zu bewerben und ich wollte fragen, ob es immer noch eine Möglichkeit gibt.“ - „Hm, das ist ja schon eine Weile her.“ - „Ja, ich habe in der Zwischenzeit etwas ganz anderes gemacht und geholfen, den Weltrekord in der Domino-Kettenreaktion zu erhöhen.“ stammele ich herum. „Nun ja. In Nürnberg habe ich natürlich nichts mehr, aber ich habe schon noch eine Stelle im Hinterkopf, wo ich einen Koch mit viel Erfahrung bei Fisch brauche. Und beim ‚Freihafen’ weiß ich auch, dass die Ausbildung hervorragend ist. Ich bin gerade auf der Fahrt nach Hamburg. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, können wir uns morgen um 12:00 Uhr im ‚Zum Freihafen’ treffen.“ Ja, das Wochenende findet in der Gastronomie wirklich an jedem Tag außer Samstag und Sonntag statt. „Okay, ich werde kommen.“

Das Gespräch verläuft erfolgreich, wir vereinbaren ein zweites Gespräch am Folgetag, auch wenn für mich schon jetzt alles klar ist, und ich unterschreibe bei diesem zweiten Zusammentreffen einen Arbeitsvertrag. „Können Sie denn auch vor dem 01.12. anfangen?“ - „Theoretisch schon. Allerdings muss ich ja auch den Umzug organisieren.“ - „Natürlich können Sie im Hotel ein Zimmer für die Übergangszeit haben. Theoretisch könnten Sie übermorgen mit mir runter fahren, ich bin auf dem Weg nach Genf.“ - „Danke, aber das ist dann doch etwas zu plötzlich. Ein paar Tage werde ich noch brauchen, bis hier alles geregelt ist. Anreise nächste Woche Dienstag? Ob ich das Zimmer überhaupt brauche, sage ich Ihnen noch.“ - „Gut, ich werde den Hotelleiter und den Chefkoch dann informieren.“

Ich steige in den ICE und versuche, meine beiden Koffer und den Rucksack unterzubekommen, es ist Dienstagmorgen. Heute Nachmittag werde ich ankommen und morgen als Koch anfangen im Viersterne Diamant-Seehotel Thun. 30 Kilometer entfernt von einem gewissen Haus in Interlaken. Ich werde bei ihm sein, jeden Tag!

Als ich aus dem Intercity steige, steht Felix schon vor mir. Eine Träne rollt ihm über die Wange, ich spüre, dass es mir auch nicht anders geht, wir fallen uns um den Hals. Dann dreht er sich um und stellt mich seiner Familie vor: „Das sind meine Mutter Sabine, mein Vater René und mein Bruder Andreas. Und das ist mein Schatz Aaron.“ Ich bin sofort in die Familie aufgenommen, wie es scheint.

„Du fährst bei mir mit, dein Gepäck bei den anderen.“ Auf dem Vorplatz verstehe ich den Sinn: Felix fährt ein Corvette Cabrio, da bleibt nicht viel Platz fürs Gepäck und es muss in den Opel Signum verfrachtet werden. „Ich hätte auch dein Auto nehmen können. Aber weil meine Familie mitkommen wollte, habe ich dann doch die Corvette genommen. Du bekommst einen Chevrolet Beretta wenn es genehm ist. Ansonsten kannst du mein neues Schlechtwetterauto haben, das ist ein Astra. Müssen wir dann nur erst auf dem Kraftfahrzeug-Immatrikulationsamt (ja, in der Schweiz werden Autos wirklich immatrikuliert und nicht zugelassen!) die Nummer mit dem Beretta tauschen. Der Astra läuft mit der Corvette auf ein Wechselkennzeichen.“ Ich will Luft holen, aber Felix würgt mich ab: „Sag nichts. Das erste, was Du lernen musst, ist, dass meine Familie nicht über Geld redet, sondern es hat. Das habe ich Dir bis jetzt nie erzählt, weil ich erst dann sicher sein würde, dass Du mich liebst und nicht mein Geld wie mein Ex, wenn Du in dem Glauben, ich sei ein Junge aus ganz normalen Verhältnissen, vor mir aus dem Zug steigst. Mein Vater ist ganz weit oben bei Opel Schweiz.“ Die Einstellung zum Geld verstärkt das Haus, das man schon eher Villa nennen sollte. Unter einem Carport stehen ein werksneues Opel Astra Cabrio, ein 125-Kubik Motorrad, ein geschlossener, ebenso neuer Astra und mein schwarzer Beretta.

Wir gehen ins Haus und Felix führt mich in ‚unseren Flügel’, die obere Etage teilen wir uns mit Andreas und dem Büro seines Vaters. Wir haben ein eigenes Wohnzimmer, Bad und Schlafzimmer. Der Anblick von Doppelbett, Riesen-Sofalandschaft und ebenso riesiger Badewanne mit Whirlpool-Funktion, dazu Felix im Arm überwältigt mich: „Das muss ein Traum sein.“ Er antwortet: „Das ist ein Traum. Der schönste Traum in meinem Leben. Und wir sind erst ganz am Anfang!“

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