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Anders-Sein

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Vorwort

Hallo da draußen?

Nachdem ich lange überlegt hab, ist es jetzt doch soweit, ich bin dabei, mich zu denen dazuzugesellen, die schon diesen Schritt gewagt haben - hier eine Story zu veröffentlichen. Genau das, was ich hiermit auch vorhabe *smile*?

»Anders-Sein« beruht in der Basis auf einer eigenen Erfahrung, die damals mein Coming-Out ausgelöst hat, und die Geschichte aufzuschreiben hat mir (unter anderem) dabei geholfen, diese Zeit durchzustehen. Es sind sozusagen verarbeitete Emotionen? *zwinker*

Ich würde mich freuen, wenn Euch die Geschichte gefällt - und mindestens genauso würde ich mich über jedweden Kommentar freuen (aber nur, wenn sie überschwengliches Lob enthalten *grins* - nein, Scherz bei Seite?jeder Kommentar ist willkommen?)

Viel Spaß beim Lesen!

 

Da war er wieder, der Geruch von Pinien, der sich mit dem trockenen Duft der weiten Grasflächen mischte. Schon als kleiner Junge hatte Billy ihn geliebt und war oft, wenn er nachdenken wollte, hier herausgekommen. Der Wald in seinem Rücken, der zu beiden Seiten von Wiesen eingerahmt wurde, die jetzt, im gleißenden Licht der Augustsonne, wie fahles Gold glänzten, und der See vor ihm, an dem er das Schwimmen und das Angeln gelernt hatte. Flirrende Lichtfunken jagten über die stille Wasserfläche, die nur hier und da von einem Windhauch gekräuselt wurde. Aus der warmen Dämmerung der Pinienbäume heraus konnte man das Singen der Vögel und die Laute der anderen Tiere vernehmen, die sich dort aufhalten mochten, und sich noch nie einem Menschen gezeigt hatten.

Hier fühlte er sich wohl, hier wußte er einen Platz der Stille, der es ihm ermöglichte, Problemen wenigstens für eine gewisse Zeit zu entkommen, wenn sie übermächtig wurden. Hier, wenn er auf dem kleinen Steg saß, der einige Meter in das klare dunkelblaugrüne Wasser hinausragte und er den Geruch der Natur in sich einsog, spürte er, daß er hier die Entspannung finden würde, die er manchmal im Alltag vermißte. So gut wie nie verirrte sich jemand an diesen versteckten Ort, und nur eine geringe Zahl von Menschen, seine Familie und wenige seiner Freunde, kannte diesen Platz.

Langsam ließ sich Billy zurücksinken, bis er die Bohlen des Steges in seinem Rücken fühlte. Er blickte in den azurblauen Himmel und folgte den wenigen weißen Wolken mit den Augen. Hatte man ein wenig Phantasie, dann war man in der Lage, die tollsten Dinge darin zu erkennen, von einem Pilz bis zu den größten Märchenschlössern, die dort oben, weit über der Welt, einer Zukunft entgegenzogen, die ihnen keiner voraussagen konnte.

In Gedanken versunken fuhr Billy mit der Hand über das Holz. Er fühlte die Wärme der Sonne, die es in sich aufgenommen hatte, jede kleine Rille, welche die Zeit hineingegraben hatte und er fragte sich, wie lange dieser Steg wohl schon als Anlegeplatz für die kleinen Ruderboote dienen mochte, die im nahen Bootshaus geduldig darauf warteten, dass jemand kam und mit ihnen auf den See hinausfuhr, zu jener Holzplattform vielleicht, die in der Mitte verankert war. Diese Plattform, die sich mit vier, an den Ecken angebrachten, alten Truckreifen über Wasser hielt, war etwas Besonderes. Erst vor zwei Jahren hatte Billy sie mit seinem besten Freund Gary eigenhändig gebaut und in einer Hau-Ruck-Aktion in die Mitte des Wassers hinausgebracht. Das Verankern hatte sich dann als größeres Problem herausgestellt, aber auch diese Hürde hatten sie gemeistert, und jetzt war diese Plattform der ganze Stolz der beiden.

Mit Gary, der drei Jahre älter war, als er, verbrachte Billy viel Zeit. Sie hatten sich auf der Party kennengelernt, die Gary anläßlich seines achtzehnten Geburtstages veranstaltet hatte. Billy, damals noch fünfzehn, hatte zu Gary aufgeblickt, wie zu einem großen Bruder, und mittlerweile verband sie weit mehr als das. In diesen drei Jahren hatte sich eine enge Freundschaft zwischen ihnen entwickelt. Sie gingen gemeinsam abends in die Kneipe am Rand der Stadt, wo sich die Jugend der Umgebung traf, sie fuhren mal übers Wochenende an die Küste, und - ja, und sie bauten zusammen Schwimmplattformen und brachten sie in die richtige Position.

Billy mußte lächeln, als er an Gary dachte. Dieser junge, manchmal sehr ungestüme Mann, den offensichtlich nicht nur die Hälfte der weibliche Bevölkerung der Stadt anhimmelte, sah beinahe verboten gut aus. Er hatte grünblaue Augen, dunkelblonde Haare und den Körper eines Athleten. In seinen schmalen Händen lag ein großes Maß an Geschicklichkeit und Kraft, auch wenn es auf den ersten Blick nicht diesen Anschein erweckte.

Als er Schritte vernahm und das sanfte Vibrieren der Stegbohlen in seinem Rücken fühlte, richtete er sich auf.

»Ich dachte mir fast, daß du hier bist.«

Billy wandte den Kopf und ein Lächeln überflog seine Züge, als er seine Schwester erkannte.

»Hi, Liz«, murmelte er. »Geht die Welt unter?«

Seine Schwester lachte leise und setzte sich neben ihn. Sie war zwei Jahre älter als Billy, hatte schulterlange, dunkelbraune Haare und ein sanftes Gesicht. Sie besaß die gleichen blauen Augen wie Billy und auch die für ihre Familie so typischen Grübchen in den Wangen, wenn sie lachte oder lächelte. Mit Billy verband sie etwas, was man nicht in jeder Geschwisterbeziehung finden konnte. Ihr Vater war früh gestorben, und so lebten sie nur noch mit ihrer Mutter zusammen. Sie liebte Billy und würde alles für ihn tun.

»Nein, nein, aber Mom hat nach dir gesucht. Sie sagte, daß Gary angerufen hat. Ungefähr vor zwanzig Minuten.«

Billy blickte seine Schwester an. Gary hatte angerufen? War er etwas schon wieder zurück? Ein leichtes Kribbeln ergriff von ihm Besitz.

»Was hat er gesagt? Weißt du etwas? Ist er schon wieder da?«

Für Momente musterte Liz ihn mit einem feinen Blitzen in ihrem Blick, dann schenkte sie ihrem Bruder ein breites Lächeln.

»Er läßt dir sagen, daß er sich später mit dir hier treffen will. Mehr nicht. Aber ich denke, das reicht dir, oder?«, fügte sie mit einem Augenzwinkern hinzu. Bevor Billy den Sinn dieses deutlich hintergründigen Satzes erfragen konnte, stand Liz auf »Wir sehen uns dann später - oder auch nicht?«

Damit ließ sie ihrem Bruder zurück und verschwand nach einem Winken zwischen den Pinien. Billy starrte ihr noch für lange Momente hinterher. Ahnte sie etwas?

Er wandte sich wieder dem See zu und blickte ins gleißende Wasser. Gary tauchte vor seinem inneren Auge auf, sein Lächeln und sein Körper. Innerhalb der letzten Monate, die Gary bedingt durch seinen Job in Europa verbracht hatte, war Billy etwas klar geworden, was er sich vorher nie hatte eingestehen hatte wollen. Seine Gefühle für Gary gingen mittlerweile über das hinaus, was man normalerweise für seinen besten Freund empfindet. Oft hatte er sich eingeredet, daß es nicht sein konnte, aber die Welle von Wärme und Erregung, die seinen Körper durchlaufen hatte, als Liz sagte, Gary sei wieder da, sprach für sich.

Noch nie hatte er mit jemandem über dieses Thema geredet, er lachte immer mit, wenn einer seiner Kumpels einen Witz darüber riß, aber in seinem Inneren fühlte er sich aufgewühlt und unruhig. Vielleicht war er in der letzten Zeit deswegen so oft hier an dem See, an seinem Ort der Freiheit gewesen, um nachzudenken, über sich, seine Gefühle und über Gary, ja, hauptsächlich über Gary. Wie oft hatte er des Nachts wach gelegen, und sich vorgestellt, wie es wäre, wenn Gary jetzt bei ihm wäre, neben ihm unter der Decke, wie es wäre, seinen Körper zu fühlen, das leichte Vibrieren seiner Muskeln, alleine seine Anwesenheit. Als er sich darüber klar geworden war, was diese Gefühle bedeuteten, hatte er begonnen, seinen See öfter aufzusuchen. Nach außen hin versuchte er jedoch, nichts von dem, was mit ihm geschah, durchscheinen zu lassen, weil er selber zunächst mit den neuen Empfindungen klarkommen wollte, die in seinem Körper ihre Kreise zogen und sein Denken bestimmten.

Langsam erhob Billy sich. Sein Herz klopfte allein schon bei dem Gedanken an Gary schneller. Er sehnte sich nach seinem Freund und genoß es richtig, wie sein Körper auf dieses Gefühl reagierte. Ein leichtes Lächeln glitt über seine Züge, als er den Steg verließ und den Weg nach Hause einschlug.

»Kannst du bitte für mich in die Stadt fahren? Ich habe vergessen, Milch zu kaufen!«

Billy blickte von seinem Buch auf. Die Stimme seiner Mutter kam aus dem Garten unter seinem Fenster. Mit einem Ächzen erhob sich Billy und blickte auf die Uhr. Es war kurz vor achtzehn Uhr.

»Muß das sein?«, rief er aus dem geöffneten Fenster hinaus. Er hatte eigentlich gleich zum See aufbrechen wollen, und so kam ihm die Bitte seiner Mutter nicht gerade recht. »Das kann ich doch auch morgen machen - du brauchst doch keine Milch mehr!«

Für Sekunden war es still, dann hörte er den entrüsteten Huster seiner Mutter, der eine ihrer gefürchteten Diskussionen ankündigte, an deren Ende dann doch das geschah, was sie wollte. Billy kannte das Geräusch und entschied sich rasch dazu, doch noch in die Stadt zu fahren, zumal es mit dem Auto ja wirklich nicht weit war.

Er beugte sich aus dem Fenster, schenkte seiner Mutter das breiteste Lächeln, zu dem er gerade fähig war, meinte: »Einverstanden.«, wurde mit einem »Warum nicht gleich so?« belohnt. Er legte das Buch aus der Hand.

»Ich bin wieder da!«, rief Billy durch den Hausflur, als er aus der Stadt zurückkehrte. Er stellte die Flaschen in die Küche, ohne auf eine Antwort zu warten.

»War ja kaum zu überhören.«

Billy drehte sich um. Sein Schwester war in der Tür erschienen. Er grinste sie kurz an, und meinte: »War nicht meine Schuld. Wenn der Typ von nebenan auch unbedingt aus seiner Einfahrt raus muß, wenn ich gerade komme - und das auch noch, ohne zu schauen.«

Liz zog die Augenbrauen hoch. Sie kannte den Fahrstil ihres Bruders und sie glaubte nicht so recht an seine vollkommene Unschuld.

»Wie auch immer«, sagte sie. »Möchtest du nicht noch etwas essen, bevor du gleich gehst?«

Wie schon am Nachmittag beim See setzte sie ein Lächeln auf, das in Billy die starke Vermutung weckte, daß sie um sein Gefühlschaos Bescheid wußte. Liz wandte sich zum Gehen, aber bevor sie den Raum verließ, meinte sie noch wie nebenbei: »Sollte es etwas geben, das du mir erzählen willst - du weißt, wo du mich finden kannst.«

Schon wieder. Billy konnte sich keinen Reim darauf machen. Diese Spitzen kamen jetzt schon seit geraumer Zeit?

Er zog eine Grimasse und stellte die Flaschen in den Kühlschrank. Dann blickte er auf seine Armbanduhr. Es war erst halb acht. Warum mußte die Zeit, wenn man auf etwas wartete, immer so unendlich langsam vergehen?

Vom Leuten des Telefons wurde Billy aus seinen Gedanken gerissen. Sein Herz schien einen Schlag auszusetzen und dann mit doppelter Geschwindigkeit in seinem Hals weiterzuschlagen. Er wartete dreimal das Klingeln ab, aber als sich nichts rührte, ging er in den Flur und hob ab.

»Hallo?«

_Bist du das, Billy?_, fragte eine Stimme am anderen Ende. Eine Stimme, die er nur allzugut kannte. Er erbebte innerlich und brachte er nur einen zustimmenden Laut heraus.

_Ich wollte nur hören, wie es dir geht, da ich mir nicht sicher war, ob deine Schwester dich erreicht, weißt du?_

Billy wußte nicht, was er sagen sollte. Er war sich noch nie so bewußt gewesen, wie durcheinander ihn allein der Klang einer Stimme bringen konnte.

_Sie hat dir doch gesagt, daß ich dich gerne sehen möchte, oder?_, folgte nach einer Pause.

Billy räusperte sich du versuchte den Kloß in seinem Hals runterzuschlucken. »Ähem?ja, sie hat?ich meine, sie hat mir gesagt, daß du angerufen hast.«

_Und du kommst doch, oder?_

Was für eine Frage! Natürlich würde er kommen?

»Äh, ja, ich wollte schon, das heißt, wenn?«

_Wenn was??_

Am liebsten hätte sich Billy in diesem Moment selber geohrfeigt.

»Ich?natürlich komme ich«, beeilte er sich zu sagen. »Vergiß am besten, was ich gesagt habe. Es hat nichts zu bedeuten.«

Unglaublich, was er da redete. Sehr intelligent konnte sich das ja nicht anhören. Aber Gary schien das nicht weiter zu stören.

_Ich freu' mich darauf. Also bis später?wie üblich?_

»Ja, bis dann. Ich freue mich auch?«

Billy lauschte noch Momente, bis das Knacken in der Leitung davon zeugte, daß Gary aufgelegt hatte. Dann legte auch er den Hörer aus der Hand, fast wie in Trance. Er drehte sich um und wurde seiner Schwester gewahr, die auf der obersten Treppenstufe saß. Er hatte darüber, daß ihn das Gespräch mit Gary so in seinen Bann gezogen hatte, gar nicht gemerkt, wie sie dort erschienen war. Auf ihrem Gesicht lag wieder dieses Lächeln.

»Oh, Liz, du bist es«, murmelte er etwas unbeholfen. »Ich hatte?gar nicht bemerkt, wie du gekommen bist?ich meine?«

Liz lächelt etwas breiter.

»Ich hätte mich auch sehr gewundert, wenn du mich bemerkt hättest«, sagte sie. »Nicht, daß ich es nicht erwartete hätte, aber du schienst mir doch sehr von dem gefangen zu sein, was Gary dir zu erzählen hatte.«

Auch wenn er es nicht wollte, merkte Billy doch sehr stark, wie ihm die Röte ins Gesicht schoß.

Liz beobachtete ihn eine Weile, dann meinte sie: »Weißt du Billy, du bist mein Bruder, und ich liebe dich sehr. Laß dir einen Ratschlag geben: Hör auf das, was dir dein Herz sagt.«

Sie war schon drauf und dran, aufzustehen, als Billy sie aufhielt.

»Ich?ich ?wenn du einen Moment Zeit hast?es gibt da was, was ich dir sagen möchte?«

Billy holte Luft und plötzlich war er sich sicher, es war der richtige Zeitpunkt. Liz verhielt in der Bewegung.

»Gibt es ein Problem?«

Sie meinte das nicht ernst, Billy sah es in ihren Augen. Er spürte auf schwer zu beschreibende Weise, daß alles, was er ihr jetzt sagen würde, keine Neuigkeiten mehr für seine Schwester barg.

»Du hast doch gemerkt?«

Liz sah ihn an.

»?daß ich mich in der letzten Zeit oft etwas seltsam verhalten habe?«

Liz reagierte nicht.

»?und jetzt, als Gary angerufen hat?ich bin?ich meine, ich denke, ich?«

Stille kehrte zwischen ihnen ein, asl Billy noch einmal tief Luft holte.

»Ich hab mich in Gary verliebt?«

Es war raus. Billy konnte seine Schwester nicht direkt in die Augen sehen, als das letzte Wort seine Lippen verlassen hatte. Nach einer Weile räusperte sich Liz.

»Ich mag deine Schwester sein, Billy, aber das ist nicht gleichzusetzen damit, daß ich blind wäre. Ich weiß schon lange, was mit dir los ist. Und ich bin mir sogar sicher, daß ich es länger weiß, als du dir im Klaren darüber bist. Aber ich danke dir, daß du es mir gesagt hast.«

Irgendwie fiel Billy in diesem Moment ein riesengroßer Stein vom Herzen. Er hob seinen Kopf und blickte seiner Schwester in die Augen, als diese sich erhob.

»Und ich möchte dir noch eines sagen, Billy - das wird rein gar nichts ändern. Du wirst auch weiterhin mein nervender kleiner Bruder sein.« Sie grinste. »Ich hoffe, daß du damit glücklich bist. Ich wünsch es dir von Herzen, du hast es verdient. Und jetzt solltest du dich langsam fertigmachen.«

Sie lächelte bedeutungsschwer und verschwand im Obergeschoß. Billy blickte ihr noch Momente hinterher, dann wandte er sich um und ging in sein Zimmer. Liz hatte Recht. Wenn er einen guten Eindruck bei Gary hinterlassen wollte, dann war noch einiges zu tun?

Die Zeiger der Uhr bereits auf viertel vor neun zu, als er das Haus verließ. Der Weg zum See würde nicht mehr als vielleicht zehn Minuten in Anspruch nehmen, zwanzig, wenn er langsam ging. Aber irgend etwas, was wie eine unruhige Flamme in ihm flackerte, trieb ihn an, gab ihm das Gefühl, um keinen Preis der Welt zu spät kommen zu wollen. So viele Male war er den Weg bereits gegangen, er dachte nicht mehr darüber nach.

,Ich hoffe, du bist damit glücklich. Ich wünsch es dir von Herzen, du hast es verdient ?'

Die Worte seiner Schwester kamen ihm wieder in den Sinn, als er die letzten Meter zum Pinienwald überwand, der ihn noch vom See und seinem Wiedersehen mit Gary trennte. Sie liebte ihn, und sie fand nichts dabei, wenn sich ihr Bruder in einen Mann verliebte.

Plötzlich, als er gerade die Grenze des Waldes überschritt, blieb Billy stehen. Ein kühler Windhauch strich über sein Gesicht. Ein kühler Windhauch strich über sein Gesicht. Eine Sache hatte er die ganze Zeit über nicht beachtet. Nie hatte er in Zweifel gezogen, daß Gary vielleicht nur seine Freundschaft suchte?

Billy wagte nicht, diese Überlegung weiterzuführen. Er straffte die Schultern und ging weiter. Was auch immer geschehen mochte - es hatte alles seinen Sinn. Jedenfalls half es momentan über die Hilflosigkeit, die diese ganzen Gedanken in ihm ausgelöst hatten, hinwegzusehen, dachte Billy. Er tauchte in die vertraute Dämmerung des Waldes, atmete den beruhigenden Pinienduft ein und versuchte, nicht daran zu denken, was alles schiefgehen konnte. Das konnte er, wenn es erst einmal so weit war, immer noch lange genug.

Je näher er dem See kam, um so deutlicher konnte er die leichte Kühle spüren, die um diese Uhrzeit bereits von der Wasseroberfläche aufzusteigen begann. Der See wurde von Grundwasser gespeist und kühlte in den Abendstunden schnell wieder ab, auch wenn er tags über durch die Sonne einigermaßen warm wurde.

Am Ufer war es schon kühl, obwohl es in der Umgebung eigentlich noch sehr warm war. Er hätte vielleicht doch seinen Pullover mitnehmen sollen, dachte Billy, aber dafür war es jetzt zu spät.

Die Bäume teilten sich und Billy trat aus dem Wald heraus. Das Zifferblatt seiner Uhr zeigte viertel nach neun. Vorsichtig blieb er stehen und sah sich um. Man konnte noch genug erkennen, dafür sorgte das Licht der Sonne, das, trotzdem sie bereits hinter dem Horizont versunken war, dem ungeachtet noch eine sanfte Helligkeit verbreitete. Und trotzdem sah Billy bereits den Mond am Himmel auftauchen. Es war Vollmond, er hatte im Kalender nachgesehen. Wie passend?

Als er das Wasser erreichte, war noch niemanden zu sehen. Gary war wohl noch nicht da. Naja, dachte Billy bei sich, als er den Steg betrat und das wohlbekannte Knarren der alten Holzbohlen unter seinen Füssen hörte. Es klang fast wie eine Begrüßung, die alleine ihm galt, und irgendwie überkam ihn jedesmal, wenn das Holz knarzte, eine warme Freude, wieder hier zu sein.

Billy ging bis zum Ende des Steges, ließ sich nieder und zog seine Schuhe aus. Es war ein tolles Gefühl, die an kühle Seide erinnernde Berührung des Wasser an den Fußsohlen zu spüren. Wenn dann die Füße ganz ins Wasser eintauchten, war es, als ob etwas kühles in den Beinen nach oben kroch, und?

»Hallo.«

Billy schreckte aus seinen Gedanken hoch und drehte den Kopf.

Teils noch ins letzten Licht der schon längst untergegangenen Sonne gehüllt, teils schon vom mittlerweile hoch am Himmel stehenden Mond beschienen, stand Gary hinter ihm, keine zwei Meter weit entfernt.

Billys Herz setzte einen Schlag aus und schlug dann in seinem Hals um so schneller weiter. Der Moment, auf den er die letzten Stunden so sehnsüchtig gewartet hatte, war gekommen?

Da stand er, mit der einen Hand eine Jacke lässig über den Schultern haltend, die andere Hand an der Hüfte, und das Gesicht in geheimnisvolle Schatten gehüllt.

»Hallo, Gary«, murmelte Billy tonlos. All die Worte, die er sich auf seinem Weg hierher zurecht gelegt hatte, waren wie weggeblasen.

Gary ließ sich nieder und setzte sich. Die Jacke legte er neben sich. Dann sah er Billy an, dem der Mond direkt ins Gesicht schien.

»Es ist lange her«, sagte er leise. Seine Stimme war seltsam rauh, gar nicht mehr so geschmeidig, wie Billy sie in Erinnerung hatte. Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Fast etwas zu lange, nicht wahr?«

Billy konnte sehen und spüren, wie er lächelte. Er atmete den Duft von Garys Aftershave ein und fühlte sein Herz noch schneller schlagen. Er wußte nicht was er sagen sollte, ohne daß ihn das Gefühl überkam, etwas absolut sinnloses auszusprechen.

»Wie geht es dir denn? Wie ist es dir all die Zeit über ergangen?«, fragte er schließlich. Das war nicht gerade das Intelligenteste, aber es war immerhin der Anfang.

»Oh, mir geht es gut«, erwiderte Gary. »Europa ist toll, weißt du? Viele tolle Menschen, tolle Dinge, tolle Orte zum Ansehen, aber?«

Er verhielt und musterte Billy.

»Was aber??«, kam die Frage, und Gary lehnte sich etwas zurück, warf einen Blick in den nunmehr schwarzblauen, von Sternen übersäten Nachthimmel, seufzte leise und setzte dann seinen Satz fort: »?aber ich habe viel vermißt, während ich drüben war. Mein Zuhause, meine Familie, meine Freunde?viele Dinge. Wenn man sie monatelang nicht sieht, dann weiß man erst, was man an ihnen hat.«

Stille kehrte zwischen ihnen ein, die aber ganz plötzlich gebrochen wurde, als Gary auf einmal seinen Pullover über den Kopf zog, sich ebenso schnell auch seiner Jeans entledigte und mit der Aufforderung »Komm mit, eine Runde schwimmen!« an Billy vorbei ins Wasser sprang. Billy fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und wischte ungläubig einige Spritzer Wasser von seiner Wange.

»Komm rein, es ist toll!«, rief Gary und kam dem Steg wieder näher. »Oder muß ich dich erst reinziehen?«

Damit war die Spannung gebrochen. Billy lachte leise. Und als Gary kurz davor war, seine Drohung, ihn ins Wasser zu ziehen, in die Tat umzusetzen, stand er auf.

»Ist schon gut, ich komme ja schon.«, rief er lachend und entledigte sich seiner Sachen. Dabei entging ihm der Blick, mit dem Gary ihn für Momente musterte. Mit einem weniger eleganten Sprung kam er Gary nach und tauchte in die kühle Finsternis des Sees ein. Für Momente überkam ihn das Gefühl, zu schweben, als er das Wasser an seinem ganzen Körper spürte. Prustend kam er wieder hoch und wischte sich das Wasser aus den Augen. Einem Schemen gleich erkannte er, daß Gary bereits vorgeschwommen war und die gemeinsam erbaute Plattform fast erreicht hatte. Er war so einfach hatte überrumpelt worden. Als auch er der Plattform näher kam, musterte er Gary, der sich dort oben niedergelassen und sich ihm zugewandt hatte. Auf einen Ellbogen gestützt sah er ihm dabei zu, wie er näherkam. Dann überkam Billy plötzlich ein warmes Kribbeln und eine fast schon elektrisierende Erregung überkam ihn. Unbewußt verlangsamte er seine Bewegungen.

Da lag Gary nackt auf der Plattform und sah zu ihm ins Wasser. Sicher, sie hatten sich schon öfter ohne Kleider gesehen, aber dieses Mal war es etwas anderes. Billy sah jede Kontur von Garys Körper in fast schon übernatürlicher Klarheit, sah, wie sich das Mondlicht in den unzähligen Wassertröpfchen spiegelte, die an Garys Körper herabrannen und sah die feinen Muskelbewegungen unter seiner Haut. Nie war er sich mehr bewußt gewesen, wie schön ein männlicher Körper sein konnte?

»Was ist?«, fragte Gary und lachte. »Willst du da drin übernachten?«

Billy suchte vergeblich nach einer Ausrede, damit er nicht auf die Plattform hinauf mußte, denn in seinem momentanen Zustand wäre ihm das etwas peinlich gewesen.

»Ich?äh?nein. Ich komme ja schon.«

Billy gab auf. Es hatte wohl keinen Sinn. Aber wenn Gary sah, was mit ihm los war, besser gesagt, was mit seinem Körper los war, dann?. Er überwand die letzten Meter zu der Plattform und hielt sich an deren Rand fest, keinen Meter von Gary entfernt.

»Komm, ich helf' dir hoch.«, sagte Gary, richtete sich auf und hielt Billy eine Hand entgegen. Billy ergriff sie und ließ sich auf das Holz hinaufziehen. Gary rutschte ein wenig, damit Billy genügend Platz fand. Er legte sich absichtlich auf den Bauch. Er lag an der Stelle, an der Gary vorher gelegen hatte. Er spürte nur noch die Anwesenheit seines Freundes, wie er sie noch nie gespürt hatte.

Ruhe kehrte zwischen ihnen ein, bis Gray unvermittelt fragte: »Hast du was? Du wirkst, als ob dich etwas beschäftigen würde.«

Billy legte seinen Kopf auf die vor ihm verschränkten Arme und sah Gary an.

»Nein, es ist nichts!«, murmelte er. »Mir wird nur langsam etwas kalt? schätze ich?«

Das war glatt gelogen, denn die Gänsehaut, die ihn überkam, stammte nicht von der Kühle des Wassers. Gary musterte ihn und lächelte.

»Es ist schön, dich wiederzusehen, weißt du das?« Er machte eine Pause und richtete sich auf. »Aber wenn dir kalt wird, dann sollten wir vielleicht zurückschwimmen. Schließlich ist das Wasser wirklich nicht das allerwärmste. Und hier draußen wirkt das noch mehr.«

Er stand auf und trat an den Rand der Plattform.

»Wer als letzter drüben ankommt, der zahlt eine Runde!«

Kaum gesagt, war Gary schon im Wasser verschwunden.

Es dauerte einige Minuten, bis Billy ebenfalls das Ufer wieder erreicht hatte. Als er aus dem Wasser kam, fühlte er wieder die Wärme, die sich hier länger hielt, als auf dem Wasser. Gary kam ihm entgegen, mit einem Handtuch um seinen Hüften und einem zweiten in der Hand.

»Hier, wir wollen ja nicht, daß du eine Erkältung kriegst.«

Billy nahm das Handtuch entgegen und begann, seinen Körper abzutrocknen. Er vermied es, Gary dabei anzusehen. Der machte keine Anstalten, sich zu bewegen und sah Billy beim Abtrocknen zu. Als er damit fertig war, fragte Gary: »Na, wieder einigermassen warm?«

Plötzlich etwas anderes in Garys Blick, etwas, was Billy berührte, wie die Strahlen der Sonne, die durch die Blätter eines Baumes fallen. Sein Grinsen hatte sich verändert. Es war sanft geworden, fast zärtlich. Billy wagte nicht, sich zu bewegen, als Gary näherkam.

»Weißt du, was ich auch vermißt habe, als ich in Europa war?«

Billy ahnte, was jetzt kommen würde, auch wenn Gary es noch nicht ausgesprochen hatte.

Langsam hob Gary seine Hand und berührte Billys Wange. Billy erwiderte den Blick aus den fast schwarzen Augen, die ruhig im Mondlicht glitzerten.

»Dich. Du hast mir gefehlt.«

Garys Stimme war leiser geworden, während er das gesagt hatte, und am Ende flüsterte er nur noch. Und doch verstand Billy seine Worte deutlicher, als wenn sie laut gesagt worden wären.

Und in dem Moment, als Gary ihn an sich zog, sich ihre Köpfe einander näherten und Billy Garys weichen Lippen auf den seinen spürte, waren alle Zweifel an seinen Gefühlen verschwunden. In diesem Augenblick, in dem alles um ihn herum versank, wurde Billy bewußt, welche unglaubliche Schönheit eine sternenklare Nacht und ein strahlender Vollmond in sich bergen konnten.

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