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Ich - Mir - Mich - Mein

Teil 1

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Es beginnt mit leichter Übelkeit. Mein Mund ist trocken.

Scheiß Hitze heute.

Mir läuft der Schweiß – mehr als sonst. Dabei stehe ich erst seit zehn Minuten auf dem Cross-Trainer.

Na, wird schon werden. Einfach weitermachen.

Ich stell den Cross-Trainer eine Stufe höher, um mir die Wut rauszutrainieren.

Mark, dieser Vollidiot – lässt mich total auflaufen, und das in aller Öffentlichkeit. Wenn ich dran denke, könnt ich glatt… Mann, das wird echt nicht besser. Wann war mir denn das letzte Mal übel?

Ich merke, dass mein Herz pocht. Natürlich pocht es immer, aber sonst merke ich das nicht. Mir wird kurz schwindelig. Ich schwitze noch mehr.

Frische Luft, ich brauch frische Luft.

Ich steuere auf die Tür zum Dachgarten zu. Dann schießt mir ein Schmerz durch Brust und Arm – und noch während der Boden plötzlich immer näher kommt, wird es mir klar: Ich habe einen Herzinfarkt.

Ich liege auf der Erde. Um mich herum stehen Leute. Ratlos – wie auch ich. Die Brust schmerzt immer noch. Ich kriege schlecht Luft.

Die Leute sollen weg, sollen mir meine Ruhe lassen. Wann tut eigentlich endlich jemand etwas?

Mein Gesichtsfeld beginnt sich zu drehen. Komischerweise hört gleichzeitig das Schwindelgefühl auf. Die Bilder verwischen. Eigentlich ist das ganz schön. Irgendjemand hat sich neben mich gesetzt und hält meine Hand – das ist sehr angenehm. Es muss eine Frau sein, sie spricht beruhigend auf mich ein. Dabei ginge es mir doch eigentlich ganz gut – wenn die Schmerzen in der Brust nicht wären. Ich werde unruhig, weil immer noch nichts passiert. Die Bilder vor meinen Augen drehen sich immer schneller. Mir wird wieder übel. Plötzlich fühle ich mich gar nicht mehr wohl.

Fühlt sich so Panik an? Keine Ahnung – ich war noch nie in Panik. Ich doch nicht. Ich beherrsche die Situation und lasse mich nicht von der Situation beherrschen. Bisher jedenfalls. Was wäre, wenn ich jetzt hier einfach auf diesem lächerlichen Fitness-Studio-Fußboden verrecke? Hört man doch immer wieder. Herzinfarkt unter vierzig ist Selbstmord. Und das die frühen Infarkte besonders heimtückisch seien, weil sie oft nicht rechtzeitig erkannt werden. O Gott, wissen die hier überhaupt was mit mir los ist? Ich kann nicht sprechen – von mir wissen sie es also nicht. Nicht dass die glauben, dass sei nur ein Kreislaufkollaps. Am Ende haben die einen Hausarzt gerufen und keinen Notarzt mit Rettungswagen und allem Drum und Dran.

Ich versuche mich aufzusetzen will reden, aber es geht nicht und die Frau drückt mich sanft wieder auf den Boden.

„Ganz ruhig“, sagt sie.

Die hat gut reden, sie hat ja keinen Herzinfarkt.

Plötzlich habe ich panische Angst vor dem Tod.

Ich hab doch noch so viel vor. Zum Beispiel Mark, dieser Vollidiot …

Weiter komme ich nicht, weil man Herz sich wieder zusammenkrampft. Erneut schießt der Schmerz in Arm und Brust, bis in den Rücken und wieder zurück, nimmt mir die Kraft zum Atmen und dann endlich das Bewusstsein.

Mir ist ein wenig Übel, aber nicht schlimm. Ein angenehm warmes Gefühl pumpt durch meine Adern. Kaffeeduft weht vom Tresen herüber. Mark sitzt neben mir. Gerade hat er es gesagt.

„Was mich betrifft, bist du nur der Fick von gestern Abend.“

Zu mir, zu mir hat er das gesagt. So etwas. Zu mir. Ich bin derjenige, der so etwas sagt. Und schon gar nicht zu mir.

Hallo, was passiert hier? Ich sitze in diesem Kaffeehaus am Tresen; es ist offenkundig gerade Mittagspause. Aber müsste ich nicht eigentlich irgendwo in einem Bett liegen? Ich hatte einen Herzinfarkt. Jemand muss sich um mich kümmern. Und da sitzt dieser Mark, dieses arrogante Arschloch, diese Schlampe, die alles vögelt, was in seinen Weg kommt, und sagt so etwas zu mir. Zu mir. Ich will noch etwas sagen, doch er wendet sich ab, schmeißt drei Euro auf den Tresen und geht. Er lässt mich sitzen. Offensichtlich haben einige der Umsitzenden diesen Satz gehört, diesen furchtbaren Satz, den er da gesagt hat. Sie schauen mich an.

Das warme, angenehme Gefühl verschwindet aus den Adern.

Schaut woanders hin, das hier geht euch gar nichts an. Das ist mein Leben, mein Drama. Der Sack, hätte das ja vielleicht mal etwas leiser sagen können. Ich hab das immer leise gesagt, wenn ich einem Kerl in der Öffentlichkeit klar machen wollte, dass außer am vorigen Abend nie mehr etwas zwischen uns sein wird. Wobei, einmal… Mann, wie war das noch gleich… genau, der Student, wie hieß der noch gleich… Martin? Matthias? Ja, ich glaube Matthias.

Eigentlich war der ja ganz süß, wie er da so in der Kneipe saß und las. Erst musste ich ihn ja ein wenig bequatschen. Wollte wohl nicht gleich am ersten Abend mit nem neuen Typen in die Kiste steigen. Der Kleine, konnte ja nicht wissen, dass es nur diesen einen Abend geben würde. Irgendwann habe ich den Büchertrick versucht, und das war ein Volltreffer. Ne halbe Stunde lagen wir knutschend in seinem Bett und noch eine halbe Stunde später… na ja, war wirklich heiß, der Kleine. Und wie er sich danach an mich angekuschelt hat, richtig fest in den Arm genommen hat der mich. Später, war es richtig schwierig, mich unbemerkt aus der Umarmung zu lösen. Leise rief ich von seinem Telefon aus noch ein Taxi und dann nichts wie weg. Und dann stand der am nächsten Abend im >Live< einfach vor mir und will mir ne Szene machen. Mir! Dabei hab doch nie was von Liebe gesagt, alter Romantiker …

„Ich wollte poppen, Du ja wohl auch und dann haben wir es eben gemacht. Geh halt nicht in so ne Kneipe, wenn du nicht ficken willst. „

Der letzte Satz ist mir sehr laut rausgerutscht. Die Umstehenden schauen uns an. Einige fangen an zu grinsen. Matthias wird rot und stürmt aus dem Lokal. Und die Community verzeichnet einen weiteren Abschuss von mir, Tom, dem Eiskalten.

Das Bild blendet aus, es wird immer dunkler. Mir ist kalt.

Ich habe das Gefühl, alles sei rosa. Matthias sitzt mir gegenüber, in einem Besucherstuhl an meinem Bett. Ganz ruhig sitzt er da und schaut mich an.

„Jetzt ist erstmal Schluss mit Poppen“, sagt er und lächelt dabei.

Wer hat den denn hereingelassen. Das brauche ich jetzt überhaupt nicht. Was will er denn nun, sitzt da und grinst mich an. Süffisant. Als wäre Poppen was Schlechtes. Oder als hätte ich etwas Verwerfliches getan.

„Es gehören immer zwei dazu, Kleiner! Ja, dich meine ich, und ich kann dir garantieren, dass du eine Menge Spaß hattest mit mir. Ich hab doch gemerkt, wie du abgegangen bist. Also stell dich nicht so an. Wir sind Kerle, wir haben Triebe. Die verschwinden nicht, nur weil man schwul ist. Fortpflanzung nennt sich das. Und das heißt, dass Mann eben alles bespringt. Triebe.“

So! Das ist genauso, wie wenn wir immer mehr wollen. Mehr Geld, mehr Freunde, mehr Reichtum, mehr Gesundheit, mehr Sex. Oder immer besser sein. Besser als der Kollege im Job, besser als der Freund beim Sport, besser als der Kerl im Bett beim Sex.

„Besser, hörst du? Das sind Triebe. Und sie treiben mich. Ich will mehr und ich will besser sein“, sage ich.

„Ich reiße mir tagsüber den Arsch auf, aber ich bin gut im Job und erfolgreich. Aber ich will mehr! Und abends, da könnte ich schön mit nem Freund am Kamin sitzen und Rotwein trinken, aber ich will mehr. Ich will das pralle Leben. Ich will feiern und ich will Ficken. Hörst du? FICKEN!!! Und dann kommst du und erzählst mir was von Liebe – Hallo? Das passt nicht in meinen Plan. Lass mich in Ruhe!!!“

Und plötzlich ist es wieder schwarz und dunkel.

Ich sehe Licht. Es ist hell. Um mich herum sind Stimmen. Ganz vorsichtig öffne ich die Augen. Kein ungebetener Besuch. Mehrere Personen in weiß: Krankenschwestern, Ärzte.

„Wie ging es ihm heute Nacht“, fragt einer der älteren Männer.

„Der Patient war sehr unruhig. Wir mussten zweimal Valium geben.“

„Hm“, machte der alte Mann. „Und wie fühlen sie sich jetzt“, fragt er mich.

„Ich weiß nicht“, sage ich. „Es waren Leute hier“, sage ich.

Der Alte zieht die Augenbrauen hoch. „Hier war nur die Schwester. Hören sie, Sie hatten einen Herzinfarkt. Sie sind über den Berg, aber gestern Abend war es ziemlich eng. Wissen Sie was ein Herzkatheter ist?“

Ich nickte.

„Gut, das machen wir heute Abend.“

Erzählte noch ein wenig und verschwand.

Ich dämmere vor mich hin.

Was war das gewesen, heute Nacht? Komischerweise meine ich, mich an jedes Wort zu erinnern, dass ich gesagt habe. Nur zu wem? Am Ende zur Schwester – na ja, das wäre wenigstens ein guter Witz. So, ich hatte einen Herzinfarkt. Unter vierzig. Noch nicht mal 38 bin ich. Jung, ledig, wohlhabend, sportlich, erfolgreich im Job, attraktiv und potent – und ich hatte einen Herzinfarkt. Scheiße, das passt nicht in den Plan. In meinen Plan, mit dem ich mein ganzes perfektes Leben geplant habe, quasi am Reißbrett – nein in diesen Plan passt ein Herzinfarkt überhaupt nicht rein. Wochenlange Rekonvaleszenz, Reha, Schonkost. Kein Kaffee, kein Alkohol und Nikotin schon mal grad gar nicht. Ruhiges Leben führen, keine übermäßigen Anstrengungen, regelmäßig und ausreichend schlafen. Mein ganzes Leben, mein Plan geht gerade den Bach runter. Meine Wohnung kommt mir in den Sinn. Meine leere Wohnung. Zukünftig werde ich dort wohl viel Zeit verbringen, verbringen müssen.

“Das Leben geht weiter, aber nicht im alten Tempo“, das hat der Arzt noch gesagt, bevor er ging. Und: „Ändern Sie ihr Leben.“

Das Leben ändern? Das hieße den Plan ändern. Dem guten Mann ist ja gar nicht klar, was dass bedeutet. Den Plan ändern, also wirklich… Mal abgesehen davon, dass ich den Plan gar nicht ändern will, es würde an vielen Stellen einfach nicht funktionieren. Verbrannte Erde! Ja, genau, verbrannte Erde. Die ich zurückgelassen habe. Hinter mir – oft im Vorbeigehen angezündet und nicht über die Schulter geschaut.

Matthias – ein Paradebeispiel. Er ist ja wirklich ganz süß, der Kleine. Aber ein fester Freund, ein Kerl an meiner Seite, dass passt nicht in mein Leben, in meinen Plan. Er hätte mir im Weg gestanden, meiner Karriere in diesem stockkonservativen Laden für den ich arbeite, in dem schon rosa Krawatten gewagt sind, von einem öffentlich Leben in Regenbogenfarben mal ganz zu schweigen. Trotzdem, einen Moment lang schweifen meine Gedanken ab; ich male mir tatsächlich aus, wie es wohl wäre, einen Freund zu haben. Einen Festen, der immer da ist. Flüchtige Bilder von Häuslichkeit schießen durch mein benebeltes Gehirn. Beständigkeit, nicht hektischer Wandel. Das ruhige Entwickeln von Dingen, Gefühlen. Eine Innigkeit, die ich tatsächlich das erste Mal seit langem in Matthias Umarmung gespürt habe, und seitdem nicht mehr wieder…

Halt, Obacht. Nicht sentimental werden, Alter. Du bist gerade auf der ganz falschen Fährte, definitiv auf dem falschen Weg.

Ich reiße mich innerlich zurück.

So ein Quatsch. Es gibt gute Gründe, warum der Plan das nicht vorsieht. Und überhaupt, Matthias würde mir ganz schön was husten, wenn ich jetzt angeschlichen käme, und er hätte verdammt noch mal Recht. Jawohl – ein rechtes Arschloch war ich… Hoppla. Ganz langsam, mal gerade. Ich ein Arschloch? Das kann doch gar nicht sein und außerdem folge ich dem Plan und... ja, aber… nett war ich nicht zu ihm gewesen.

Ich wollte ihn ins Bett kriegen, und das habe ich auch getan. Wir haben gefickt und es hat beiden Spaß gemacht. Und ich bin gegangen. Weiß der Geier wie Matthias rausbekommen hat, wo er mich treffen kann, ja, wie ich heiße. Aber er hat es herausgefunden. Und mich dort überrascht. Ganz einfach kann das nicht gewesen sein, ihm muss also etwas daran gelegen haben, mich wieder zu sehen. Und ich? Ich lass ihn abfahren. Der Plan …

Die Schwester kommt mit einem Becher voller „Trinken Sie das“.

„Nachher gibt es noch eine Spritze, dann machen wir den Eingriff unter örtlicher Betäubung“, sagt sie.

Trinken-Sie-Das macht mich schläfrig. Die Spritze eine Stunde später knockt mich komplett aus.

Ich schwebe.

Natürlich schwebe ich nicht, aber ich fühl mich so. Es ist alles ganz weich und fluffig um mich herum. Ich fühle mich wie in sprichwörtliche Watte gepackt, während die Ärzte weitere verengte Herzkranzgefäße erweitern und durch Stents, kleine Drahtgeweberöhrchen stabilisieren. Es ist wieder angenehm warm. Doch jetzt bin ich wach und klar genug, diesen Zustand den Beruhigungsmitteln zuzuschreiben, die ich ganz sicher in großer Menge bekommen habe. Dennoch, unter Kontrolle habe ich meine Gedanken nicht. Ich fange wieder in dem Moment an, in dem ich Matthias in der vollen Kneipe anbrülle.

„Geh halt nicht in so ne Kneipe, wenn du nicht ficken willst.“

Das muss wehgetan haben. Wie sich sein Gesicht verzog, kurz bevor er sich umdrehte. Das Blut schoss ihm in den Kopf, die Wangen röteten sich – eigentlich ganz süß – und dann machte er auf den Absätzen kehrt und rannte aus der Kneipe. Wahrscheinlich mit Tränen in den Augen. Eigentlich wäre ich auch am liebsten aus dem Kaffeehaus gerannt, gestern Mittag, als Mark mir an den Kopf knallte, ich sei nur der Fick von gestern Abend für ihn. Mark. Noch so eine Leiche im Keller. Ich weiß nicht genau, was mich berührt hat, aber Mark hat es mir irgendwie angetan. Sein Lächeln, seine Augen. Er hat tolle Hände. Und im Bett ein Traummann. Aber- wie ich jetzt weiß – ein Scheißkerl. Nur – ich bin auch so ein Scheißkerl.

Aus dem Hintergrund höre ich „Er ist zu unruhig“ und wenig später bricht diese schwere, feuchtwarme Dunkelheit über mich herein.

Jetzt schwebe ich wirklich. Ich fliege. In konzentrischen Kreisen um ein Licht herum. Unter dem Licht liege ich und grünbekittelte Wesen neigen sich über mich. Es ist hektisch geworden. Kurze knappe Anweisungen. Rasche Bewegungen. Ich sehe mich um. Mit mir zusammen fliegen Mark und Matthias. Und außerdem viele andere Männer.

Was soll das – dies ist mein Rausch – geht weg. Doch sie kommen näher, immer dichter fliegen sie um mich herum, bis sie mich eingekreist haben. Mark und Matthias eingereiht, drehen sie sich um mich herum. Ich sehe nur noch eine Wand aus zuckenden Männerleibern. Plötzlich kommt die Erkenntnis: Ich hatte mit all diesen Männern etwas gehabt. Und noch während ich diese Erkenntnis verarbeite, höre ich aus dem Hintergrund ein lautes, eintöniges Piepen. Und dann fährt mir ein elektrischer Schlag durch die Brust und alles wird schwarz.

Zwei Tage später sitze ich beim Professor. Er reicht Tee (ich bin Privatpatient) und lehnt sich in seinen Sessel zurück.

„Ja, das wäre beinahe schief gegangen. Aber wir konnten sie wieder zurückholen.“

Tatsächlich, sonst würde ich wohl nicht hier sitzen. Ob ich applaudieren muss?

Der Professor wartet einen Moment und fährt dann irritiert ob der Stille fort:

„Jetzt steht einer baldigen Genesung nicht im Wege. Was werden sie machen, wenn sie nach Hause kommen?“

„Ich? Ich muss mich bei jemand entschuldigen.“

Und dann fasse ich einen neuen Plan.

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