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Marc und Daniel - Eine gewöhnliche Liebe

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Freundschaft - das ist wie Heimat
Kurt Tucholsky (1890 - 1935) - Deutscher Schriftsteller

Da saß ich nun an meinem Schreibtisch, die linke Hand noch immer am Telefonhörer. Gerade hatte ich den Hörer in die Gabel eingehängt. Um mich herum war alles ruhig; eine gespenstische Stille war das.

Vor einer halben Stunde war ich noch allerbester Laune. Eigentlich war draußen ein schöner Tag. Kein Wölkchen am Himmel und das Mittagessen in Form eines riesengroßen Portion Beef Stoganov war auch so recht nach meinem Geschmack gewesen. Da war doch eigentlich alles in Butter.

Doch wie es immer ist, wenn es einem zu gut geht, kommt irgendetwas dazwischen und sorgt dafür, dass sich das ändert.

Obwohl, es war eigentlich nichts Schlimmes, was mich am Telefon ereilte. Nein, vielleicht war es sogar eher das Gegenteil. Das am Telefon war eine mir sehr vertraute Stimme gewesen. Es war eine Stimme, die ich allerdings seit sechs Jahren nicht mehr gehört hatte.

Seltsam, ich hatte schon lange nicht mehr an ihn gedacht. Bei dem Gedanken an ihn überkam mich ein ganz eigenartiges Gefühl. Ich konnte nicht sagen, ob es nun eher angenehm oder doch eher unangenehm war. Mir war übel, das Beef Strokanov drohte den falschen Ausgang zu nehmen.

Marc? ... Marc? ... Die Gedanken kreisten. Oh, Marc!? - Es mag seltsam klingen, wenn ein zwanzig Jahre alter Mann das sagt, aber ich war den Tränen nah. Warum muss nur alles so kompliziert sein in dieser Welt? Warum können Menschen nicht das tun, was sie wollen? Warum können Menschen nicht nach ihren Gefühlen leben?

Meine Gedanken irrten hin und her. Da war doch irgendetwas. Mann, daran hatte ich sechs Jahre nicht einen einzigen Gedanken verschwendet. Es war wie ausradiert, einfach nicht mehr da gewesen. Konnte es so etwas geben? War es nicht etwa nur ein Traum gewesen, was damals geschah? Ich hätte es schwören können. Jetzt aber erinnerte ich mich, die Gedanken wurden klarer und klarer. Es kamen immer mehr Erinnerungen auf.

Da befand ich mich wieder an jenem 19. April vor etwas über sechs Jahren. Und ich war wieder 14 Jahre alt, ein kleiner schüchterner Junge mit kurzgeschnittenen schwarzen Haaren. Obwohl ich schon meine gesamte Kindheit in diesem kleinen Städtchen verbracht hatte und eigentlich fast alle anderen Kinder kannte, hatte ich nur wenige Freunde. Wenn man bei der Bemessung des Wortes »Freund« gewisse Dinge zu Grunde legt, dann muss ich sagen, dass ich eigentlich gar keinen Freund hatte. Mehr als ein »Hallo, wie geht's?« oder ein paar flüchtige Sätze waren nur selten gewechselt. Die meiste Freizeit verbrachte ich jedenfalls zu Hause.

Nicht, dass die andren Kinder mich nicht gemocht hätten, ich war ihnen eher egal. Man verstand mich irgendwie als eine Art Neutrum. Hin und wieder wurde ich dann einmal zu einer Geburtstagsparty eingeladen, was wohl aber daran lag, dass praktisch alle Jungen der Klasse eingeladen wurden. Auch an jenem 19. April war ich zu solch einer Party eingeladen.

Martin hatte seinen 15. Geburtstag. Er war der Älteste in unserer Klasse und eigentlich auch der Netteste. Wenn ich jemanden als Freund hätte bezeichnen sollen, dann wäre er es gewesen. Wir unterhielten uns des Öfteren in den Schulpausen. Aber darüber hinaus hatte ich auch zu ihm wenig Kontakt. Ich war ein oder zweimal bei ihm zum Spielen gewesen. Seine Mutter war sehr nett. Ich beneidete ihn um sie. Er konnte scheinbar über alles mit ihr reden. Bei meiner Mutter, eigentlich bei Mutter und Vater, war das ganz anders. Wir hatten niemals irgendwelche tiefschürfende Gespräche. Sie waren sehr prüde.

Eigentlich ging ich nicht gerne auf diese Party. Ich ging niemals gerne zu einer Party, und tat es genau genommen nur, weil ich es als eine Art Pflicht ansah. Wenn mich jemand eingeladen hatte, dann war es meine Pflicht auch dort hinzugehen. Überhaupt tat ich viele Dinge nur deshalb, weil ich es als meine Pflicht ansah. Nein, das soll nicht etwa heißen, dass ich immer das getan hätte, was man von mir erwartete, eher das Gegenteil. Wie auch immer, ich ging zu der Party an jenem 19. April, in meiner Hand das Geschenk für Martin. Meine Mutter hatte es besorgt. Es war eine silberne Kette mit einem Sternzeichenanhänger, so wie ich auch eine trug.

Frau Wörner, Martins Mutter, öffnete mir die Tür. Sie war eine schöne Frau, so weit ein 14jähriger Junge das bei einer etwa 35 Jahre alten Frau feststellen kann. Meine eigene Mutter war bereits über 50 und für das Auge ihres Sohnes auch eine schöne Frau. Dann kam auch schon Martin. Ich gratulierte und gab ihm das Geschenk. Mehr hatte ich nicht zu sagen, ich war sehr nervös. Es machte mich immer nervös, wenn ich mit einer Menge anderer Kinder zusammen war. Ich kam mir immer vor als wäre ich überflüssig. Die anderen Kinder kannte ich alle. Nein, doch nicht, da war noch ein anderer Junge. Er war etwas kleiner als ich, wohl auch noch etwa ein Jahr jünger. »Das ist mein Cousin Marc«, stellte Martin ihn mir vor.

Ziemlich altmodisch gekleidet, dachte ich bei mir. Marc trug einen grünen Strickpullover. Seine blonden Haare waren schulterlang geschnitten. Er hatte ein seltsames Lächeln, und er schien die ganze Zeit zu lächeln. Es war einfach ungewöhnlich, und genauso war auch mein Gefühl, ein Gefühl wie ich es noch nie zuvor gehabt hatte.

Als erstes gab es Kaffee und Kuchen. Dabei war es üblich, dass es mit einem Mohrenkopfessen eröffnet wurde. Mohrenkopfessen bedeutete, dass ein Mohrenkopf, früher auch Negerkuss genannt, auf einem Teller vor einem lag und man ihn essen musste, ohne die Hände dabei zu benutzen. Das war eigentlich immer recht lustig. Solche Spiele mochte ich, denn dazu mussten keine Paare gebildet werden. Ich hasste Spiele, die paarweise gespielt werden mussten, denn ich traute mich nie, jemanden zu fragen, ob wir zusammen spielen könnten, und meist war ich derjenige, der übrig blieb oder als Letztes gewählt wurde. Beim »Mohrenkopfessen« brauchte ich niemanden zu fragen und konnte so voll reinhauen. Gelegentlich gewann ich da sogar. Ich kann nicht mehr sagen, wer diesmal gewonnen hatte, aber es ist eigentlich auch egal.

Als ich von meinem Teller wieder aufblickte, schaute ich zufällig zu Marc. Das war reiner Zufall, ich hätte genauso gut auch in eine andere Richtung schauen können. Sein Gesicht war voller weißem Schaum. Es sah, aus als hätte er sich den ganzen Mohrenkopf ins Gesicht geschmiert, statt zu versuchen, ihn ordnungsgemäß in den Mund zu befördern.

Genau in diesem Augenblick ging sein Blick auch zu mir. Normalerweise wich ich sonst immer jeglichen Blickkontakten aus; wenn mich jemand ansah, dann schaute ich üblicherweise schnell weg. Diesmal war es anders. Ich grinste und er grinste zurück. Er sah so ulkig aus mit seinem »weißen Bart«.

Nach dem Kaffetrinken wurde herumgealbert. Man unterhielt sich über die Schule und alles Mögliche. Wie üblich hielt ich mich dabei zurück. Doch ich war nicht der einzige, der sich recht wenig an diesen Gesprächen beteiligte. Auch Marc stand in einer Ecke herum. Außer seinem Cousin Martin kannte er ja auch niemanden hier im Raum. Immer wieder trafen sich unsere Blicke. Ich merkte, dass er sich genauso langweilte wie ich. Obwohl, wenn ich mich richtig zurück entsinne, dann war ich eigentlich gar nicht so gelangweilt, wie es sonst üblich war.

Dann kam das, wovor ich die ganze Zeit schon Angst gehabt hatte: Ein Paarspiel. Heute kann ich nicht mehr sagen, was für ein Spiel es war, aber wir sollten jeweils zu zweit zusammengehen. Mir war klar, dass ich wieder einmal übrig bleiben würde, denn ich hatte vorher schon nachgezählt gehabt: Es ergab eine ungerade Zahl. Es würde wohl wieder so enden wie auf vielen anderen Geburtstagsfeiern oder ähnlichen Anlässen zuvor. Entweder würde ich nicht mitspielen oder irgendein Erwachsener würde ein Notteam mit mir bilden. Wenn ich Glück hatte, dann war es wenigstens eine Anzahl Gäste, die sich durch zwei teilen ließ und so wurde ich dann wenigstens als letzter noch ausgewählt, weil ja dann niemand anderer mehr da war, den man hätte wählen können. Aber diesmal würde einer übrig bleiben, und ich wäre jede Wette eingegangen, dass ich es sein würde! Doch ohne dass einer von uns beiden auch nur ein Wort gesagt hätte, waren Marc und ich plötzlich Partner in diesem Spiel. Es war einfach so. Vielleicht hatte er mich auch gefragt, und ich weiß das heute nur nicht mehr. Aber ich halte es für unwahrscheinlich, dass ich mir ein Herz gefasst und ihn gefragt habe.

Wir redeten nicht viel miteinander. Und dennoch war Marc praktisch den ganzen Nachmittag über in meiner Nähe. Ich fand ihn unheimlich nett, und er konnte mich wohl auch ganz gut leiden, wie es den Anschein hatte.

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich richtig traurig darüber, dass eine Geburtstagsfeier zu Ende ging. Sonst konnte ich das Ende nie abwarten und zählte Stunden und Minuten, bis es denn endlich so weit war. Schon zum Beginn einer Feier sah ich zum ersten Mal auf die Uhr, und die Stunden wollten dann einfach nicht schnell genug vergehen. Diesmal aber war es anders. Die Zeit verging wie im Fluge, und ich war sehr geknickt, als mich Martins Vater nach Hause fuhr. Die meisten anderen Gäste wurden von ihren Eltern abgeholt. Ich wollte laufen, da ich nur 15 Minuten entfernt wohnte. Aber da es schon langsam dunkel wurde, bestand man darauf, mich zu fahren.

Marc wollte unbedingt mitfahren, weil er, wie er sagte, so gerne Auto fahren würde. Im Auto saßen noch zwei andere Jungen, die Herr Wörner auch noch nach Hause brachte. Ich saß vorne und wurde als erster abgeladen. Als ich mich verabschiedete, wagte ich es kaum Marc anzuschauen. Wenn ich ihn ansah, dann musste ich einfach auch lächeln und das war mir irgendwie peinlich. Dennoch sah ich ihn noch einmal kurz an und verabschiedete mich - natürlich von allen, vor allem aber von ihm. Abends im Bett ließ ich den vergangenen Tag noch einmal Revue passieren. Erst da dachte ich, dass ich Marc wohl nie wiedersehen würde, denn er wohnte ja nicht in unserer Stadt. Dieser Gedanke machte mich ganz traurig, auch wenn ich nicht wusste, warum das so war.

In den darauffolgenden Tagen dachte ich sehr oft an Marc. Er ging mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Ansonsten lief eigentlich alles wie gewohnt ab. Morgens um acht ging ich in die Schule und verbrachte dort wie immer fünf Stunden. Ich war kein überaus guter Schüler und bewegte mich, was die Noten betraf, so im Durchschnitt. In den Schulpausen war ich, außer bei gelegentlichen, kurzen Gesprächen mit Mitschülern, meist allein.

Gerade hatte ich eine Mathestunde hinter mich gebracht und bereitete mich geistig schon auf Englisch vor, was wir in der nächsten Stunde hatten.

»Hi«, klang es plötzlich hinter mir. Diese Stimme hätte ich überall wieder erkannt. Behutsam drehte ich mich um. Und ich hatte mich nicht getäuscht. Es war Marc, der mir nun gegenüber stand.

Einige Sekunden stand ich wie versteinert da, nicht fähig auch nur ein Wort zu sagen. Marc lächelte mich an. Genau dasselbe Lächeln, das mich seit Wochen in Gedanken begleitete. »Hi«, erwiderte ich unsicher. Er schaute mich mit großen Augen an: »Wie geht's?« - »Gut, und Dir?« fragte ich zurück. »Ich gehe jetzt auch auf diese Schule. Meine Eltern und ich sind hierher gezogen.« Seine Stimme klang sehr froh, als wäre es ihm eine große Freude, nun hier die Schulbank drücken zu können. Gut, er kannte ja auch die Pauker auf unserer Schule noch nicht.

Was ich in diesem Moment fühlte, war einfach unbeschreiblich. Es war mir, als fielen Weihnachten und Ostern auf einen Tag. Der Gedanke, Marc nun öfter sehen zu können machte mich glücklich, einfach glücklich. Ich wollte es natürlich genau wissen. »In welche Klasse gehst du denn?« fragte ich ihn neugierig. »Das weiß ich noch nicht. Nach der Pause soll ich mich im Sekretariat melden«, antwortete er.

Die Pausenglocke unterbrach uns in unserem Gespräch. »Dann wünsche ich Dir alles Gute«, verabschiedete ich mich von ihm und verschwand im Schulgebäude, um mich der folgenden Englischstunde zu widmen. Englisch! Nicht dass ich etwas gegen das Fach an sich gehabt hätte, aber da hatten wir bei der ollen Stellwag. Die musste noch aus dem vorigen Jahrhundert stammen und war wohl schon so etwas wie Schulinventar. Sie hatte alles, was man sich unter einem menschlichen Drachen vorzustellen hatte. Und ich schwöre, das sage ich nicht nur, weil ich bei ihr auf einer glatten Fünf stand, wenngleich ich zugeben muss, dass das für ihr Ansehen bei mir nicht gerade förderlich war.

Frau Stellwag, oder besser gesagt Miss Stellwag, wie wir sie während der Englischstunde zu nennen hatten, hatte sich einen unvorbereiteten Test einfallen lassen. Das machte sie nur, um uns zu tyrannisieren! Und auf mich hatte sie es speziell abgesehen. Das redete ich mir zumindest ein. Irgendwie war aber vielleicht doch etwas an meiner Vermutung dran.

Wir »durften« einen Text aus dem Deutschen ins Englische übersetzen und hatten 30 Minuten dazu Zeit. Da hätte ich ohnehin meine Schwierigkeiten dabei gehabt, aber jetzt kam noch dazu, dass ich darüber nachdachte, was Marc wohl gerade machen würde. Ich versuchte, mich auf den Text zu konzentrieren, aber das gelang mir nur zum Teil. Marc ging mir nicht aus dem Kopf. Nach 30 Minuten mussten wir abgeben. Ich war nicht ganz fertig geworden, kein Wunder bei meiner geistigen Abwesenheit.

Da klopfte es an der Tür und Direktor Göbel trat ein. Und was sahen meine entzündeten Augen? In seinem Schlepptau hatte er Marc. Normalerweise war es ja kein gutes Zeichen, in Begleitung des Direktors gesehen zu werden, aber in diesem Falle bedeutete es doch etwas Gutes. Marc kam zu uns in die Klasse. Wow, das war vielleicht mal zur Abwechslung eine gute Nachricht gewesen! Am liebsten hätte ich Ronny einen Schubs gegeben, dass er vom Stuhl gefallen und so neben mir ein Sitzplatz frei gewesen wäre. Ich musste mich sehr zusammenreißen, um das nicht zu tun, und so wurde Marc neben Thomas gesetzt, den ich dafür hätte erwürgen können. Dabei war Thomas das eigentlich eher unangenehm. Nein, nicht, dass ich ihn gerne erwürgt hätte, sondern dass ein Neuling neben ihm platziert wurde. Eigentlich wäre auch noch ein Platz neben Marcs Cousin Martin frei gewesen, doch der »Schuldrache« Stellwag zog es aufgrund der verwandtschaftlichen Verhältnisse vor, Marc lieber an anderer Stelle zu platzieren.

Die Pausenglocke läutete zur kleinen Pause. Die meisten Schüler blieben auf ihren Plätzen sitzen, nur wenige nutzen die Zeit, um der Toilette einen Besuch abzustatten, um sich dadurch eine gewisse Erleichterung zu verschaffen.

Marc schaute zu mir herüber. Ich lächelte ihn an und erhielt auch ein nettes Lächeln zurück, das mir Kraft für die nächste Schulstunde spendete. Jetzt stand Deutsch auf dem Stundenplan. Eines meiner stärkeren Fächer. Mit Ungeduld wartete ich auf die nächste große Pause. Die Zeit konnte nicht schnell genug vergehen, bis endlich der erlösende Pausengong kam.

Die Schüler strömten nach draußen. Marc und ich waren die letzten, die den Raum verließen. Langsam gingen wir den Gang und die Treppe herunter, die zum Pausenhof führte. »Schön, dass du in unserer Klasse bist«, meinte ich zu Marc und fügte gleich hinzu, »dann bist du ja mit deinem Cousin zusammen.« Aus Marcs breitem Lächeln wurde ein Grinsen: »Ja, stimmt. Toll, dass ich bei Martin in der Klasse bin!« - »Bist du eigentlich ein guter Schüler?« wollte ich von ihm wissen. »Geht so«, erwiderte er.

Der Hausmeister verkaufte am Eingang immer Milch, Kakao und Joghurt. Fast immer holte ich mir dort etwas zur Stärkung in den großen Pausen. »Möchtest du dir auch etwas holen?« fragte ich Marc. »Ich habe vergessen Geld mitzunehmen«, erklärte er mir. »Wenn du möchtest, kann ich dir gerne was leihen!«, bot ich ihm an.

Ich hatte Angst, dass er nun nein sagen würde. Doch Marc nahm mein Angebot an. Wir kauften uns beide einen Kakao. Auf dem Pausenhof suchten wir uns eine ruhige Ecke, um uns ein wenig zu unterhalten. Plötzlich rempelte mich ein älterer Junge an, so dass mein Getränk auf den Boden fiel und auslief. Der Rüpel entschuldigte sich noch nicht einmal. »So ein Idiot!« meinte Marc mitleidig. »Na ja, halb so schlimm. Ist ja kein Beinbruch«, erkannte ich. »Hier«, Marc streckte mir seinen Kakao entgegen. »Wir können ja teilen.« Ich war ein sehr empfindliches Kind, und normalerweise hätte ich noch nicht einmal aus einem Becher getrunken, den vorher meine Mutter benutzt hatte. Doch in diesem Falle machte es mir nicht das Geringste aus. Ich muss sagen, ich genoss es sogar. So gut hatte mir noch nie ein Schluck Kakao gemundet. »Ist doch sicher eine ziemliche Umstellung, so ein Umzug?« führte ich unser Gespräch fort. »Ja, ich kenne außer Martin praktisch niemanden hier. Nur vom Geburtstag, vom sehen. Und Dich natürlich!« Der letzte Teil seiner Bemerkung tat mir gut, es ging runter wie Öl. Dabei hatte er doch nichts übermäßig Besonderes gesagt gehabt. Doch der Unterton in seiner Stimme war es, der dieses Gefühl des Glücks hervorgerufen hatte. Es war eine Art Anerkennung für mich.

Durch meine wenigen Kontakte, die ich mit Gleichaltrigen hatte, war ich es nicht gewohnt, lange Konversationen zu führen. Glücklicherweise schien Marc dies nicht zu stören. Überhaupt hatte ich das Gefühl, dass Marc mir in einigen Dingen sehr ähnlich war. »Wir sind zum Glück noch nie umgezogen. Ich stelle es mir schlimm vor, wenn man in eine ganz neue Umgebung kommt und fast niemanden kennt. Du wirst dich aber sicher bald eingelebt haben«, bemühte ich mich, das Gespräch fortzusetzen. »Ich glaube nicht, dass es so schlimm werden wird. Der erste Tag ist jedenfalls schon sehr vielversprechend«, sagte Marc mit einem schelmischen Unterton. Wie er das wohl gemeint hatte?

In den nächsten Tagen hatten wir in den Pausen immer wieder Small talk, und ich erfuhr dabei auch so einiges über ihn. Marc war 13, oder, um genau zu sein, genau 211 Tage jünger als ich, was ich mir damals genau ausrechnete. Seine Mutter war als Reisekauffrau tätig. Sein Vater arbeitete als Versicherungskaufmann und war oft auf Reisen. Genau wie ich, war Marc auch ein Einzelkind. Wir waren uns damals darüber einig, dass Star Wars das größte Filmwerk aller Zeiten war. Den Film hatte ich bestimmt schon ein Dutzend Mal gesehen. Marc wohl nicht viel weniger. So konnten wir beide auch einige Dialoge daraus auswendig sprechen und machten uns einen Spaß daraus.

Eine Woche später, es war direkt nach Schulschluss, fragte mich Marc ob ich denn die Rechenaufgaben, die wir als Hausaufgaben aufbekommen hatten, so richtig verstanden hätte, denn er hätte Probleme damit. Ich meinte zu ihm, dass wir sie ja zusammen machen könnten. Wenn er wollte, könnten wir zu mir nach Hause gehen. Es gäbe Spaghetti bei uns zum Mittagessen. Ohne lange zu zögern, sagte er zu. Meine Mutter war ziemlich verwundert, denn ich hatte noch nie jemanden zum Essen mit nach Hause eingeladen, aber es machte ihr nichts aus. Marc mochte Spaghetti genauso gerne wie ich, aber gibt es überhaupt ein Kind, das keine Spaghetti mag?

Nach dem Essen zogen wir uns in mein Zimmer zurück. Zum ersten Mal überhaupt waren Marc und ich ganz allein. Bisher waren immer andere Menschen um uns gewesen, wenn wir uns unterhalten hatten. »Schönes Zimmer«, meinte Marc, »woher hast du die tollen Star Wars-Poster?« - »Die habe ich von einem Freund zum Geburtstag bekommen«, erwiderte ich. »Freund?« fragte er mich »Na ja, eigentlich kein richtiger Freund. Tobias aus unserer Klasse hatte sie mir zum Geburtstag geschenkt.« - »Ach so!« Marc klang erleichtert. In meinem Zimmer hatte ich nicht nur zwei Star Wars-Poster, sondern auch ein paar Poster von Elvis Presley und ein Filmposter von »...denn sie wissen nicht was sie tun«. »Du magst Elvis?« wollte Marc von mir wissen. Ich wusste nicht genau, was ich ihm antworten sollte. Ich mochte Elvis; ich mochte ihn sogar sehr. Aber irgendwie hatte ich Angst, dass Marc ihn nicht mögen könnte. Deshalb versuchte ich, es mit einem möglichst beschwichtigenden Ton zu sagen: »Ah ja, doch ich finde ihn ganz gut.« - »Ganz gut!?« entgegnete er aufmerksam. »Ich finde ihn einfach großartig!« - »Ich auch!«, bekannte ich nun erleichtert. »Welches Lied magst du denn am Liebsten?« wollte er von mir wissen. »Da sind einige. Besonders gerne aber habe ich ,Mama liked the Roses' «, sagte ich ihm. »Ja, das höre ich auch sehr gerne!« bestätigte er.

Wir machten die Hausaufgaben zusammen. Im Prinzip war es eine Aufgabenteilung. Marc machte Englisch, Chemie und Erdkunde. Ich kümmerte mich um Deutsch und Mathe. Dabei unterbrachen wir immer wieder unsere Arbeit und machten dumme Bemerkungen über Lehrer und Mitschüler.

Wir sahen uns immer wieder an. Es war schön, Marc anzuschauen. Ich hätte ihn stundenlang anschauen können. Von ihm ging etwas Mystisches aus. Wenn ich ihn ansah, dann wurde mir einfach ganz warm ums Herz. Konnte es etwas Schöneres geben als Marc anzusehen?

In den kommenden drei Wochen machten wir jeden Tag unsere Hausaufgaben gemeinsam. Marc kam jeden Tag nach der Schule mit zu mir und wir verbrachten drei, manchmal auch vier Stunden miteinander. Wenn wir nicht ständig dabei herumgeschäkert hätten, dann wären wir nach einer halben Stunde damit fertig gewesen, aber so brauchten wir dafür immer an die zwei Stunden dazu. Danach spielten wir noch etwas oder hörten Musik. Meistens war es Elvis, dessen Platten wir auflegten. Wir mochten die schnellen, aber fast noch mehr seine balladenhaften Songs.

Nicht ein einziges Mal stritten wir uns. Dazu gab es auch keinen Grund. Alles, was wir taten, machte uns beiden Spaß. Wir verstanden uns blendend. Wenn wir zusammen irgendwo waren, und er oder ich den anderen anblickten, dann wussten wir sofort, was der andere gerade dachte, meistens jedenfalls. Ich konnte mir nicht mehr vorstellen, wie es ohne ihn gewesen war.

So sahen wir uns also immer von Montag bis Freitag. War ich früher immer froh gewesen, wenn die Woche vorbei war, so verfluchte ich nun immer das Wochenende. Eigentlich gab es keinen ersichtlichen Grund, warum wir uns am Wochenende nicht sahen, doch es hatte sich einfach keine Gelegenheit ergeben. Die Woche über waren es einfach immer die Hausaufgaben, die wir zusammen erledigten. Das war unser offizieller Grund. Ich weiß, wir waren zu Freunden geworden, und Freunde können sich auch treffen, ohne dabei Hausaufgaben als Grund vorzuschieben, aber wir beide waren nun einmal so. Langsam näherten sich die Sommerferien. Würde das etwa bedeuten, dass Marc und ich uns sechs lange, unendlich lange Wochen nicht sehen würden? Das würde ich nicht überleben, davon war ich fest überzeugt. Etwas musste also geschehen.

Irgendwann fasste ich mir ein Herz und ich fragte ihn, was er denn so für die Ferien geplant hätte. Sonderlich erstaunt über meine Frage schien er nicht gewesen zu sein. Ich erkannte eine Art Erleichterung. Es schien mir so, als hätte auch er sich die ganze Zeit den Kopf darüber zerbrochen, wie er das Thema auf den Tisch bringen könnte. »Oh«, meinte er, und es klang eigentlich eher wie ein »Ohhhhhhhhhhhhhh! Bestimmt könnte man da einiges für die Schule lernen.«, setzte er seinen Satz fort. Das konnte doch nicht sein Ernst sein, für die Schule lernen? Nein! Ich wusste, wie er es gemeint hatte. Dann könnten wir ja gemeinsam »lernen« oder so ähnlich! Deshalb erwiderte ich ihm: »Ja, warum nicht. Wir könnten das ja zusammen machen, schaden kann es nicht. Vielleicht könnten wir auch etwas gemeinsam unternehmen und dabei für die Schule lernen.« Mann, war das eine blöde Bemerkung von mir. Doch Marc verstand ja, wie es gemeint war. Mit diesen paar, zugegeben recht umständlichen Redewendungen hatten wir uns darüber geeinigt, dass wir die Ferien zusammen verbringen würden. Und schon bald wurden unsere Pläne über die Ausgestaltung unserer Ferienzeit auch konkreter. Das Eis war nun gebrochen. Wir brauchten keine Ausreden mehr, um die Ferien so verbringen zu können, wie wir es wollten.

Marc und ich wollten so einiges zusammen unternehmen, und unsere Ideen begannen bereits Gestalt anzunehmen, als meine Mutter auf dem Plan erschien und drohte, dem Ganzen einen Strich durch die Rechnung zu machen. Eines Abends, ich sah mir gerade im Fernsehen die Hitparade an, fragte sie mich, ob ich denn schon Pläne für die Ferien hätte.

»Ja«, sagte ich zögernd. »Ich habe eine besondere Überraschung für Dich«, erzählte sie mit stolzem Unterton. »Äh?« war meine kurze, aber vielsagende Zwischenbemerkung. Meine Mutter ging an den Wohnzimmerschrank und öffnete eine der quietschenden Türen, worauf mein Vater wie üblich bemerkte: »Oh, die Tür müsste mal geölt werden«. Das sagte er seit gut drei Jahren, aber anstatt das wirklich zu tun, seinen Hintern von der bequemen Couch zu erheben und die paar Schritte in die Werkstatt im Keller zu wagen, sagte er diesen Satz immer und immer wieder. Doch das ärgerte mich kaum, diesmal eigentlich gar nicht, denn ich war auf einen Schock gefasst. Als meine Mutter mir letztes Mal erklärte, dass sie eine besondere Überraschung für mich hätte, kündigte sie mir an, dass Oma drei Wochen zu Besuch käme und ich für diese Zeit mein Zimmer räumen müsse. Oh nein! Oma würde doch nicht wieder zu Besuch kommen?! Ich mochte sie zwar, aber ... - tja, wie das so eben ist. Das mag zwar nicht besonders nett klingen, aber als 14jähriger empfand ich das so. Aus dem Schrank nahm sie eine Zeitschrift, nein, es war ein Katalog.

»Schau mal, Daniel«, freudestrahlend streckte sie mir den aufgeblätterten Katalog entgegen, »da ist ein Bericht über ein Camp drin.«

Ein Camp?! Was sollte ich in einem Camp?! War meine Mutter nun vollkommen übergeschnappt?

»Es ist ein Feriencamp an einem See. Das soll ein großes Abenteuer sein. Fünf Wochen Spaß und Abenteuer. Wäre das nicht toll?« fragte sie mich.

Toll? - Bestimmt nicht! Kannte sie ihren jüngsten und auch einzigen Sohn nicht so gut, um wenigstens zu wissen, dass er Ruhe, Frieden und Geborgenheit liebte und nichts so sehr hasste, wie von zu Hause wegzukommen? »Ich weiß nicht so recht«, schob ich behutsam ein. Eigentlich hätte ich sie lieber gefragt, wie sie auf die saudumme Idee gekommen war. Den Prospekt brauchte ich mir eigentlich gar nicht anzusehen, um entscheiden zu können, dass es die - Verzeihung! - beschissenste aller beschissenen Ideen war, die sie je gehabt hatte, und man mag mir glauben: meine Mutter hatte oft diese Art von Ideen.

Doch Ma war in ihrer Begeisterung kaum zu bremsen: »Das gibt einen Heidenspaß. Eine Menge Fun und Action!« Fun und Action! Ich hasste es, wenn meine sonst so altmodische Mom versuchte, so einen pseudo-coolen Spruch zu klopfen. Was um alles in der Welt hatte sie gelesen oder im Fernsehen gesehen, dass sie diese beiden Worte plötzlich zum festen Bestandteil ihres Wortschatzes machte? Ich jedenfalls war so baff, dass ich kein einziges Wort herausbrachte.

»Na, was meinst du?« fragte sie mich nun ganz offen. So offen war ihre Frage nun auch wieder nicht, sie wartete gar nicht erst auf eine Antwort ihres Sprösslings, sondern ergänzte gleich: »Na, ich merke du bist platt. Sicher gefällt dir die Idee. Das habe ich mir gleich gedacht und habe dich auch gleich angemeldet!«

Mein Mund stand weit offen. Ich rang nach Worten, die nur im Ansatz das ausdrücken konnten, was in mir vorging. Jetzt war ich mir vollkommen sicher: Meine Mutter war völlig verrückt. Jeden Augenblick würde ein Wagen kommen, zwei muskulöse Herren aussteigen und Mutter einen maßgeschneiderten weißen Anzug verpassen, sie mitnehmen und in eine Gummizelle stecken. Ich würde sie dann auch jeden zweiten Sonntag dort besuchen, denn ich war ja ein liebender Sohn!

»Na, na, was meinst du?«, fragte sie erneut. »Ich sehe, du bist begeistert!« Noch immer hatte ich meine Sprache nicht wieder erlangt. Der Schock saß einfach zu tief.

»Also, ich hätte mich als Kind auch gefreut, wenn ich in so ein Lager hätte fahren können«, mischte sich nun auch noch mein Vater ein.

Lager!? - Dieses Wort traf die Sache wohl genauer. Vielleicht war es eine Art Gefangenenlager, dachte ich bei mir. Jedenfalls wollte ich doch die Ferien mit Marc verbringen. Das konnte es doch nicht geben! Meine liebe Frau Mama hatte mich, ohne mich vorher zu fragen, in einem Gefangenenlager angemeldet - für fünf lange Wochen! Was hatte ich denn verbrochen? War ich denn so unartig gewesen? Gut, ich hatte letzte Woche den Teller Spinat nicht ganz aufgegessen und hatte am vergangen Freitag vergessen, den Müll herauszubringen. Aber war das Grund genug, um mich so hart zu bestrafen? Das Leben kann doch nicht so ungerecht zu einem sein!

Gott sei Dank fasste ich mich und erlangte ich meine Stimme in diesem Moment wieder: »Warum!?«

»Wie warum?« Meine Mutter hatte wohl nicht mit dieser Reaktion gerechnet. Hatte sie etwa erwartet, dass ich sie umarmen und küssen würde für das, was sie mir da antun wollte? »Wie kommst du auf die Idee, dass mir das Spaß machen würde?« Meine Stimme klang ziemlich wütend und aufgebracht. Ich war nun wieder voll bei mir.

Meine Mutter verstand die Welt nicht mehr: »Jedes andere Kind würde sich darüber freuen!« »Jedes andere Kind?«, fragte ich. »Erstens bin ich nicht jedes andere Kind und zweitens glaube ich nicht, dass sich ein anderes Kind darüber freuen würde, wenn du es einfach über dessen Kopf hinweg in ein Lager schicken würdest! Du hast mich gar nicht gefragt, ob mir so etwas gefallen würde. Außerdem weißt du, dass ich so etwas nicht mag. Wie kommst du nur auf so eine Idee?«

Jetzt schien es meine Mutter gewesen zu sein, die die Sprache verloren hatte. Wow, dachte ich, so etwas hatte ich mich noch nie getraut.

»Siehst du Erika, ich habe dir doch gesagt, dass du ihn besser vorher fragen solltest«, erkannte mein Vater goldrichtig. Das hätte ich von ihm eigentlich nicht erwartet. Ich triumphierte im Innersten.

»Aber ... ich habe es doch nur ... gut gemeint.« Meine Mutter klang enttäuscht. Ich mochte es nicht, wenn jemand enttäuscht war, erst recht nicht meinetwegen. Schon tat sie mir leid, denn ich war mir jetzt sicher, dass sie es wirklich nicht böse gemeint hatte. Sie war tatsächlich der Ansicht, dass ich mich darüber freuen würde. Wie auch immer sie darauf gekommen war!

Nun stand ich da und wusste nicht, wie ich diese Situation noch hätte retten sollen. Einerseits war der Gedanke, die Ferien in einem Camp und nicht etwa mit Marc zu verbringen, das Schlimmste, was es zu diesem Zeitpunkt für mich gab, andererseits war es für mich auch unerträglich, meine Mutter traurig zu sehen. Ich meine, sie verdient natürlich kein Mitleid für ihre irrwitzigen Einfälle, aber so bin ich nun einmal.

»Entschuldige Ma«, machte ich einen halben Rückzieher, »ich wollte dich nicht anbrüllen, aber ich mag so etwas wirklich nicht, und außerdem wollen Marc und ich in den Ferien einiges zusammen unternehmen!«

»Tut mir leid, Daniel. Ich war wohl etwas zu voreilig«, entschuldigte sich meine Mutter bei mir. »Du warst in den Ferien bisher immer allein. Ich dachte, dass du gerne mal mit anderen Kindern in den Ferien zusammen wärst. Dieser Marc ist wohl inzwischen ein richtiger Freund von dir geworden?«

Ich überlegte kurz, was ich ihr wohl antworten sollte: »Du kannst dir wohl nicht vorstellen, dass ich ganz gern allein war. Das hat mir nie etwas ausgemacht, wirklich nicht! Ja, mit Marc spiele ich sehr gerne zusammen, und deshalb wollen wir auch in den Ferien zusammen spielen.«

Meinem Vater war die Situation wohl genauso unangenehm wie mir. Trotz mancher Eigenarten war er doch ein sehr liebenswerter Mensch, sehr bequem aber liebenswert!

Und das, was jetzt aus seinem Munde kam, war gar nicht einmal so dumm: »Hör mal Daniel, ich hätte da einen Vorschlag. Das Camp kostet 800 Mark, die wir schon bezahlt haben - Dank der Eile deiner lieben Frau Mama.« Bei den letzten Worten sah er meine Mutter ziemlich vorwurfsvoll an, die peinlich berührt da stand und kein Wort verlor. Sie vertraute auf den Rettungsvorschlag ihres Göttergatten. »Deshalb«, fuhr Vater in seinen Ausführungen fort, »wäre es dumm, wenn wir das Geld in den Wind schießen würden. Wenn du absolut nicht fahren möchtest, dann musst du auch nicht fahren. Aber es gäbe noch eine andere Möglichkeit. Ich würde, obwohl wir im Moment etwas knapp bei Kasse sind, noch einmal 800 Mark überweisen. Es wäre vielleicht möglich, wenn ich morgen bei der Campverwaltung anrufe, dass du nicht allein dorthin fahren brauchst.«

Hatte ich ihn richtig verstanden? Hatte er damit etwa sagen wollen, dass die Möglichkeit bestünde, dass Marc auch mit in das Camp fahren könnte? Hörte sich nicht schlecht an - die Idee. Zwar war ich noch immer nicht davon begeistert, fünf Wochen in einem Gefangenen-, von mir aus auch Ferienlager zu verbringen, aber bei dem Gedanken, dass Marc immer in meiner Nähe wäre, erwog ich, die Idee nicht ganz abschätzig zu betrachten.

Ja, mein Vater, der Beste Vater aller Väter, zumindest in diesem Augenblick, hatte es in der Tat so gemeint!

Ich warf meine ganze Scheu über Bord und fragte Marc gleich am nächsten Morgen, ob er sich vorstellen könnte, die Ferien in einem Camp zu verbringen. Und ob er das konnte. Marc war Feuer und Flamme. Jetzt gab es nur noch zwei Probleme: Erstens: Würde noch ein Platz frei sein im Camp? Und zweitens: Was würden Marcs Eltern davon halten? Der Platz im Camp schien mir das kleinere Problem, denn mein Vater erreichte fast immer, was er wollte. Selbst wenn er drei Stunden reden musste, er würde die Typen vom Camp schon überzeugen. Und wie sich wenig später herausstellte, hatte ich mit meiner Vermutung Recht. Mein Vater bekam es ohne Probleme hin. Wir könnten dort sogar in derselben Bude hausen. Also blieb nur noch die Frage, was Marcs Eltern betraf. Mir war ganz mulmig. Ich hatte den ganzen Tag ein flaues Gefühl im Magen, weil ich Angst hatte, dass sie nein sagen würden. Aber auch hier ging es ohne Probleme ab. Mein Vater wurde direkt bei ihnen vorstellig und leistete auch bei ihnen beste Überzeugungsarbeit. Sie waren allerdings dagegen, dass mein Vater für die Kosten von Marcs Campaufenthalt aufkommen würde und bestanden darauf, selbst für Marc zu bezahlen. Doch das war Marc und mir egal.

Dann war der Tag gekommen, an dem wir uns auf die Reise machten. Marc und ich trafen uns am Zug. Es würde sicher toll werden. Allein mit Marc zusammen zu sein, hätte schon für eine tolle Zeit gereicht. Egal, was dort auch sonst noch sein würde, es musste einfach eine schöne Zeit bevorstehen.

Im Zug hatten wir zunächst ein ganzes Abteil für uns allein. Wir alberten herum und machten unsere Witzchen. Marc erzählte mir, dass er im vergangenen Jahr mit seinen Eltern in Frankreich war. Es wären die bisher einzigen Ferien gewesen, die alle drei gemeinsam verbracht hätten. Sonst war immer sein Vater oder seine Mutter beruflich unterwegs gewesen. Auch dieses Jahr war sein Vater während der Schulferien auf Reisen. Ich erzählte Marc, dass dies die erste Reise in meinem Leben war. Noch nie waren meine Eltern mit mir irgendwohin gefahren. Mein Vater war Leiter eines größeren Marktes und konnte nur selten Urlaub machen, da er für alles allein verantwortlich war. Ich wollte auch nie verreisen und war lieber zu Hause. Jetzt aber mit Marc wegzufahren, da freute ich mich auf die bevorstehende Zeit.

Unterwegs stiegen zwei ältere Damen zu uns ins Abteil. Wir unterbrachen unser Gespräch. Dafür redeten die beiden ältlichen Damen. Es schien, als ständen beide in einer Art Wettstreit. Wir mussten mit anhören, welche fünfhundert Krankheiten die beiden gerade plagten. Wenn die eine Lady eine Krankheit hatte, dann hatte die andere Dame die gleiche, nur noch etwas schlimmer. Die Ärzte hatten aber natürlich keine Ahnung, beklagten sie sich. Als sich beide genug Krankengeschichten erzählt hatten, sahen sie zu uns herüber. Die eine Frau sprach uns an: »Und wohin fahrt ihr denn?« - »Nach Nordern in ein Ferienlager«, erzählte Marc in seiner hohen Stimme. »Oh ja, ich war früher auch mal in einem Ferienlager«, berichtete die andere Frau. Was, im Mittelalter gab es auch schon Ferienlager? Als anständiger Mensch gab ich natürlich zu verstehen: »Interessant!« - »Kennt ihr ,Das doppelte Lottchen' von Erich Kästner? Das fängt auch im Ferienlager an«, fragte sie uns. »Nein, habe ich noch nicht gelesen!« erwiderte ich. Marc hatte einmal den Film gesehen. Was »Das doppelte Lottchen« aber mit uns zu tun hatte, blieb mir schleierhaft. Wir waren wohl beide froh, als die Damen am nächsten Stopp wieder ausstiegen.

Nach einer vierstündigen Reise, mit zwei Mal Umsteigen, kamen wir schließlich am Bahnhof von »Nordern« an. Mit dem Zug waren noch ein paar andere Kinder angereist, die auch in das Jungen-Feriencamp wollten. Wir wurden mit einem Kleinbus vom Bahnhof abgeholt. Ein etwa 30 Jahre alter Mann mit Schnauzbärtchen rief laut: »Camp Weitblick, Camp Weitblick«. Ob er selbst den »Weitblick« hatte, weiß ich nicht, jedenfalls trug er eine dicke Nickelbrille.

Mit dem Bus fuhren wir dann in das Camp. Der Name »Camp Weitblick« war bescheuert, auch wenn man wirklich auf den ganzen See hinausschauen konnte und somit möglicherweise den »Weitblick« laut Prospekt rechtfertigen könnte. Das Camp bestand aus fast drei Dutzend Holzhütten, in denen immer sechs Personen Platz fanden. Marc und ich bekamen eine Hütte nahe am See zugewiesen. »Wilde Büffel« stand auf einem Holzschild über der Tür. Alle Hütten hatte Namen, die wohl die Namen der »Insassen« sein sollten. Also waren Marc und ich »Wilde Büffel«! Da hatten wir noch Glück gehabt, denn es gab auch »Lahme Zebras« oder sogar »Stinktiere«!

Die anderen »Wilden Büffel« waren Sebastian, ein zwölfjähriger, rothaariger Junge mit Sommersprossen überall im Gesicht, Tarek, ein Junge mit schwarzgelockten Haaren, er war 13 Jahre alt, Rainer, er war wie ich 14 und Thomas, mit 15 Jahren der älteste in der Hütte und auch einer der ältesten Jungen im Camp. Die Jungen schienen so weit ganz okay zu sein. Man konnte zumindest mit ihnen auskommen.

Das Programm des Camps bot relativ viel Unterhaltung. Das Negative war, dass wir morgens bereits mit den Hühnern aufstehen mussten. Um sechs Uhr morgens ertönte ein Signalhorn. Wir hatten dann 60 Minuten Zeit aufzustehen und uns zu waschen, um dann um Punkt sieben im Speisesaal anzutanzen. Nach dem Frühstück gab es genug Möglichkeiten sich zu beschäftigen. Manchmal konnten wir machen, was wir wollten, meist aber gab es Wanderungen oder Wettkämpfe.

Es war am Abend nach unserer Ankunft. Die Sonne war bereits untergegangen. Fast das ganze Camp saß gemütlich an einem Lagerfeuer. Mir war nicht so gut, vielleicht hatte ich etwas Falsches gegessen, deshalb zog ich mich zurück und setzte mich auf den Steg, der ein paar Meter in den See hineinragte. Um mich herum war alles ruhig. Nur in der Ferne hörte ich die Anderen, die fröhliche Lieder sangen. Dort am See saß ich eine ganze Weile, als ich plötzlich leise Schritte vernahm, die näher kamen. Ich blickte mich um. Durch den Vollmond konnte man sehr gut in die Nacht sehen. Es war Marc, der auf mich zukam.

»Hi«, sagte er leise. »Hi«, erwiderte ich ihm. »Was ist mit dir los?«, wollte Marc wissen. »Mir ist irgendwie übel. Ich weiß nicht. Ich habe auch ein wenig Kopfschmerzen«, erklärte ich ihm. »Wo tut´s denn weh«, fragte Marc mitleidig, legte mir behutsam seine Hand auf meine Stirn.

Marc schien magische Hände zu haben. Meine Kopfschmerzen waren zwar nicht weg, aber mit einem Schlag war mir besser. Er setzte sich im Schneidersitz neben mich und schaute mich mitleidig mit seinen großen blauen Augen an. Plötzlich spürte ich eine innerliche Wärme. Und mir ging es tatsächlich plötzlich besser.

»Schöne Nacht heute«, meinte Marc. »Ja, es ist hier alles so friedlich«, fügte ich hinzu.

Wir sahen eine Weile auf den ruhigen See hinaus, in dessen Wasser sich der Vollmond geheimnisvoll spiegelte. So saßen wir einige Minuten stillschweigend da. Ab und zu schaute Marc zu mir rüber oder ich dann wieder zu ihm.

Die Gesänge in der Ferne waren schon verstummt. Die anderen Jungen waren vermutlich schon alle in ihren Hütten, während wir noch immer da saßen und die Stille auf uns wirken ließen.

»Daniel«, sagte Marc plötzlich ganz leise zu mir. Seine Stimme stockte, er wusste wohl nicht, was er weiter sagen sollte oder traute sich anscheinend nicht weiter zu reden. »Ja, Marc?« fragte ich ihn, sah ihn kurz an und blickte dann aber wieder Richtung See, denn ich merkte, dass er verunsichert war, und wenn ich ihn angesehen hätte, dann wäre es ihm sicher noch schwerer gewesen etwas zu sagen. Er sprach weiter, den Blick auf den See gerichtet: »Daniel«, sein Tonfall war sehr behutsam und überlegt, »Daniel, ich wollte nur sagen, dass ich froh bin, dass du mein Freund bist. Weißt du...« Wieder wusste er nicht weiter. Ich sah ihn wieder kurz an und lächelte dabei. In seinem Gesicht erkannte ich, wie schwer es ihm fiel, das zu sagen, aber ich sah auch, dass es ihm gewissermaßen ein Bedürfnis war es los zu werden. »Weißt du«, fuhr Marc fort, »ich hatte noch nie in meinem Leben einen richtigen Freund.«

Die nächsten 14 Tage verliefen völlig normal. Marc und ich hatten viel Spaß im Camp. Der Camp-Leiter, der wohl zu viele amerikanische Camp-Filme gesehen hatte, rief einen »Krieg der Farben« aus, was bedeutete, dass das Camp in zwei Lager aufgeteilt wurde. Die Einteilung fand durch Los statt. Ich hätte Zeder und Mordio schreien können, denn Marc war in der roten und ich in der gelben Gruppe.

Der »Krieg der Farben« sollte die letzten drei Wochen andauern. Es fanden verschiedene Wettkämpfe im Schwimmen, Weit- und Hochsprung, Bogenschießen, Wettessen und einigen anderen Disziplinen statt. Außerdem gab es als Höhepunkt eine Abenteuertour, bei der die beiden Gruppen verschiedene Dinge zu erledigen hatten. Das Ziel der Tour war nicht bekannt. Sieger der Tour wäre die Gruppe, die als erste im Ziel ankommt. Bei den Einzeldisziplinen trat ich im Bogenschießen an. Auf den Jahrmärkten hatte ich an den Schießbuden immer mit dem Gewehr geschossen und dabei fast immer ins Schwarze getroffen. Mit dem Bogen würde ich wohl nicht viel schlechter sein, dachte ich mir. Und wirklich, ich holte die zweithöchste Punktzahl des Wettbewerbes. Zusammen mit den Punkten der anderen Gruppenmitglieder siegten wir bei diesem Wettbewerb.

Marc trat beim Schwimmwettbewerb an. Normalerweise hätte ich ja für die Teilnehmer meiner Gruppe sein müssen, doch ich drückte beide mir zur Verfügung stehenden Daumen ganz fest für Marc. Auf dem Startblock stehend, schaute er zu mir herüber. Ich lächelte ihm entgegen und nickte mit meinem Kopf, was soviel heißen sollte wie: »Du packst es.«

Sein blondes Haar schimmerte in der Sonne wie Gold. In diesem Augenblick schien es mir, als seinen wir beide ganz allein am See. Die fast 200 anderen Kinder und Betreuer, die noch am Ort des Geschehens waren, waren in diesem Moment wie nicht existent. Auch den Trubel um mich herum hörte ich nicht. Marc stand da und der Himmel lächelte.

Er gewann den ersten Vorlauf. Die beiden Teams mussten jeweils drei Leute ihrer Gruppe für den Endlauf nominieren. Marc war auch für seine Gruppe bei den Ausgewählten. Kurz vor dem Endlauf kam er zu mir herüber. »Hey, Gespräche mit dem Feind sind nicht gestattet«, meinte ich scherzhaft zu ihm. Marc grinste: »Und wünschst du mir Glück?« - »Na ja«, entgegnete ich ihm, »meinst du, dass du das nötig hast?« - »Möglicherweise!« sagte Marc. »Zumindest könnte nichts schief gehen, wenn du mir Glück wünschst!« - »Möge der Beste gewinnen«, erläuterte ich und ergänzte gleich: »Und ich weiß genau, wer der Beste ist.« Ich blinzelte und ging weiter, ohne eine Reaktion von ihm abzuwarten.

Leider nützten ihm meine guten Wünsche nicht viel. Er wurde im Endlauf Letzter. Marc war sehr enttäuscht. Ich ging zu ihm herüber und versuchte ihn zu trösten: »Du hast dein Bestes gegeben.« - »Ja, ich weiß«, meinte er, »aber ich ...« Marc war wirklich sehr gedrückt. Was sollte ich ihm jetzt sagen? Wie konnte ich ihm Trost zusprechen? Seine Niederlage tat mir selbst genauso weh wie ihm. Nein, eigentlich war es nicht seine Niederlage selbst, die mir weh tat, es war das Wissen, wie enttäuscht er deswegen war.

Am Abend war zum Glück alles wieder vergessen. Marc und ich waren wieder besserer Laune. Auf unserer Bude redeten wir mit den anderen Jungs über die am nächsten Morgen stattfindende große »Abenteuertour«.

Sebastian, Thomas und Rainer waren in Marcs Gruppe. Nur Tarek war in meinem Team. Offiziell wurde uns ja angewiesen, dass wir nicht mit dem anderen Team zu reden hatten. Was für ein Schwachsinn. Eigentlich war der ganze Wettkampf Schwachsinn, doch er machte irgendwie auch Spaß. Nur die Regel »Feindkontakte verboten« war wirklich idiotisch. Das wäre gegangen, wenn man die Gruppen nach den verschiedenen Buden eingeteilt hätte, aber so konnte das nicht funktionieren. Außerdem konnte kein Mensch verlangen, dass ich Marc drei Wochen lang nicht sprechen durfte.

Und so herrschte nicht nur zwischen Marc und mir keine Feindschaft, was auch niemals möglich gewesen wäre, sondern auch mit Sebastian, Thomas und Rainer kamen wir gut aus.

Der »Abenteuermarsch« führte uns durch Wiesen und Wälder. Es war eine Art »Schnitzeljagd«. Die rote Gruppe, Marcs Team, holte sich am Anfang einen ziemlichen Vorsprung heraus, doch wir blieben ihnen dicht auf den Fersen. Nach Punkten stand es nach allen bisherigen Wettkämpfen 10 zu 7 für das gelbe Team. Doch für den Gewinn der Tour gab es 5 Punkte. Also war noch alles offen. Dem Gewinnerteam winkten Preise in Form von verschiedenen Büchern. Für eine Leseratte sicherlich ein Anreiz, doch für einen Lesemuffel wie mich konnte nur die Ehre als Lockmittel dienen, um mir den Sieg schmackhaft zu machen.

Wir hatten verschiedene Rätsel zu knacken, um den richtigen Weg ins Ziel zu finden. Der Gruppenleiter Frederick, 17 Jahre alt, schien das Spiel viel ernster zu nehmen als die meisten anderen. Er trieb uns immer wieder an, als hinge sein Leben vom Sieg ab. Und wir taten ihm den Gefallen, die gelbe Gruppe ging als Sieger durchs Ziel.

Diese Niederlage steckte Marc viel besser weg als jene beim Schwimmwettkampf, die ja auch eher eine persönliche Niederlage gewesen war. Der »Krieg der Farben« lag Marc nicht sonderlich am Herzen. So konnte er am Abend, es war der letzte Abend vor der Heimreise, auch schon wieder lachen und am Lagerfeuer lauthals mitsingen.

Es war das erste Mal, dass ich Marc singen hörte. Er hatte eine herrliche, glockenhelle Stimme. Ich hätte ihm stundenlang zuhören können. Dabei vergaß ich sogar selbst mitzusingen. Marc schaute mich immer wieder mit seinem einzigartigen Lächeln an und forderte mich durch Gesten auf mitzusingen.

Wir alle sangen bis tief in die Nacht. Es war richtig romantisch, und was ich nie für möglich gehalten hätte, ich war traurig wieder nach Hause fahren zu müssen. In vier Tagen würde die Schule wieder beginnen.

Oh, Marc! Ich musste tief durchatmen. Das Klingeln an meiner Wohnungstür holte mich in die Gegenwart zurück. Sehr gemächlich und noch halb in Gedanken versunken, erhob ich mich aus meinem Lehnstuhl um zu schauen, wer mich durch sein Klingeln aus den Träumen gerissen hatte. Ich wagte noch einen kurzen Blick in den Gaderobenspiegel, der neben dem Eingang hing. Noch damit beschäftigt, die Krawatte zurechtzurücken, öffnete ich die Eingangstür.

»Guten Tag, Herr Müller«, begrüßte sie mich. Sie war in diesem Falle Nadja Fiedler, der Traum vom dritten Stock. Ja, das war sie wahrhaftig. Zwar hatte ich mir nie Gedanken darüber gemacht, wie wohl meine Traumfrau aussehen würde, aber so hätte ich Nadja Fiedler spontan genannt, wenn ich danach befragt worden wäre. Lange schwarze Haare, 1,78 Meter groß, ein sehr dezentes Make-up und ein Lächeln wie...ja, ein Lächeln wie ich es von Marc her kannte.

Nadja war etwa in meinem Alter und lebte genau wie ich seit gut zwei Jahren in diesem Haus. Sie zog zwei Tage nach mir ein. Ich war immer erfreut, wenn sie an meiner Tür klingelte, was aber leider viel zu selten geschah. »Oh, hatten wir uns nicht darauf geeinigt, dass wir uns mit Vornamen ansprechen«, fragte ich sie, sie ebenfalls mit einem Lächeln begrüßend. »Ja sicher. Sorry Daniel!« Den Namen sagte sie mit einem gewissen Unterton, wobei sie den ersten Buchstaben besonders betonte. »Entschuldige bitte die Störung, aber du musst mir das Leben retten.« Ich musste nicht lange überlegen um ihr zu antworten: »Klar doch, mache ich, welchen Drachen soll ich töten?« Sie grinste, »Nein, nein, ganz so wild ist es nun auch wieder nicht!« - »Na was denn dann?« wollte ich wissen und machte dazu ein paar auffordernde Handbewegungen. »Mir ist die Milch ausgegangen und ich erwarte doch nachher einen Gast«, erklärte sie mir. »Na ja, wenn es weiter nichts ist. Ich müsste noch ein wenig Milch da haben. Einen Moment, bin gleich wieder da!« beruhigte ich sie und ging in die Abstellkammer, wo ich die Lebensmittel lagerte.

Ich kaufte die Sachen immer in großen Mengen ein. Das war eine dumme Angewohnheit von mir, aber so war ich immer auf einen Notstand vorbereitet. Wenn zum Beispiel einmal eine große »Salzkräcker-Knappheit« im Lande wäre, dann hätte ich glatt das ganze Haus noch ein Jahr lang mit Kräckern versorgen können.

So war das auch bei der Milch. Um einen Scherz zu machen, packte ich gleich zwei Kartons à 12 Liter Milch und ging damit zur Tür. »Ob das reichen wird?« fragte ich sie scherzhaft. Sie lachte herzlich, nahm sich zwei Liter Milch aus dem oberen Karton, bedankte sich bei mir und verschwand dann auch schon wieder nach oben. Wer wohl der Glückliche sein mochte, den sie zum Essen erwartete? Das hätte mich schon interessiert.

Nadja hatte mich in meinen Gedanken unterbrochen. Normalerweise nicht schlimm, und Nadja verzeihe ich praktisch alles, ich meine wirklich alles, aber die Gedanken an Marc waren doch etwas Besonderes für mich gewesen. Mir war nach Musik zu Mute und so griff ich wahllos in das CD-Regal, zog ohne darauf zu achten, was es war, eine Scheibe heraus und legte sie genauso gedankenlos in den CD-Player, der automatisch mit der Wiedergabe begann. Dann ließ ich mich wieder in meinem Lehnstuhl am Schreibtisch nieder.

Erst jetzt merkte ich, was für eine CD ich eingelegt hatte. Es war Elvis mit dem Titel »From a Jack to a King«. Es war eines der Lieblingslieder von Marc.

Ich griff zu dem Glas Wasser, welches ich auf dem Schreibtisch stehen hatte. Bedächtig und der Musik lauschend, nahm ich ein paar Schluck des schon abgestandenen Wassers. Dass es abgestanden war, bemerkte ich kaum, so war ich in Gedanken versunken. Ich sah Marc vor mir. Er lächelte wie fast immer in meiner Erinnerung. Ich lächelte zurück.

Nachdem das Lied zu Ende war, stand ich wieder auf. Marcs Stimme hatte vorher am Telefon irgendwie traurig geklungen. Da war irgendein Unterton, obwohl er ziemlich aufgedreht schien. Sicher hätten nur wenige Menschen diesen Unterton vernommen, aber ich kannte ja Marc. Ja, ich kannte ihn, auch wenn wir uns seit sechs Jahren weder gesehen, noch gehört hatten, und auch wenn unsere gemeinsame Zeit damals nur knapp sechs Monate währen durfte. Für mich war es die Schönste Zeit meines Lebens gewesen.

Er hatte mir erklärt, dass er meine Telefonnummer aus dem Telefonbuch hätte. Doch dies erschien mir seltsam. Ich wohnte in einer ganz anderen Stadt. Seit drei Jahren hatte ich diese Wohnung hier in Berlin. Das war ewig weit von meiner alten Heimat entfernt. Wie konnte er nur an meine Nummer gekommen sein? Wenn mein Name ein seltener Name gewesen wäre, dann wäre ich nicht im Geringsten über das Auffinden verwundert gewesen, aber wie konnte er »Daniel Müller« ohne weiteres ausfindig machen? Ich hatte vor kurzem aus Zeitvertreib einmal im Telefonregister nachgeschaut gehabt, es gab 158 verzeichnete Telefonteilnehmer in ganz Deutschland, die unter diesem Namen verzeichnet waren. Aber was machte ich mir Gedanken über so etwas? Wir redeten etwa fünf Minuten am Telefon. Dann sagte er plötzlich, dass er in einer Telefonzelle wäre und ihm das Geld ausgehen würde. Er verabschiedete sich eilig.

Das, was er am Telefon erzählte war, wenig aufschlussreich und den wahren Grund seines Anrufes erfuhr ich auch nicht. Erst jetzt wurde mir klar, dass er eigentlich nicht viel erzählt hatte. Es war wie früher gewesen. Ohne etwas wirklich zu sagen, war seine pure Anwesenheit, und sei es nur am anderen Ende einer Telefonleitung, schon genug, um mich voll und ganz auszufüllen.

Noch während ich mir klar zu werden versuchte, was Marc vorher am Telefon wollte, klingelte es erneut an der Wohnungstür. ,Mann, ist das ein Betrieb heute!' dachte ich so bei mir.

Ob es noch einmal Nadja war? Fehlte ihr vielleicht noch eine Zutat für ihr großes Festmahl? Auch wenn meine Wohnungstür über einen Spion verfügte, durch den ich hätte schauen können, ich benutzte ihn nur sehr selten und hatte es mir angewöhnt, die Tür einfach so zu öffnen. Ja, das war unvorsichtig, besonders in einer solchen Großstadt wie Berlin, doch ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht. Noch einen kurzen routinemäßigen Blick in den Spiegel, und dann öffnete ich die Tür.

Ich erstarrte in der Bewegung. Regungslos und mit offenem Mund stand ich da, brachte keinen Ton heraus. Es war Marc - ein paar Jahre älter, ein paar Zentimeter größer, aber unverkennbar Marc.

Dann sah ich es, was war das? Marc hatte Tränen in den Augen. Wo war sein Lächeln? Nur einmal hatte ich Marc zuvor weinen sehen. Das war vor sechs Jahren, als wir uns zum letzten Mal sahen. Es war, als er mit seinen Eltern nach Frankreich zog und wir uns voneinander verabschieden mussten.

Damals hätte ich vor Schmerz schreien können. Es tat so verdammt weh. Ich war mir sicher, Marc nie wieder sehen zu können. Für mich brach damals eine Welt zusammen, hatte ich doch den einzigen wahren Freund verloren, den ich jemals gehabt hatte. Sicher wird es kaum ein Mensch verstehen können, warum Marc und ich uns nicht geschrieben haben oder auf eine andere Art und Weise in Kontakt geblieben sind. Doch das hätte es für mich nur verschlimmert. Meine Art und Weise, damit fertig zu werden, war mir selbst zu suggerieren, dass es Marc nie gegeben hatte und dass ich mir alles nur eingebildet hatte. Und bis heute Mittag, bis zu seinem Anruf, hatte das ja auch geklappt.

Hatte ich bisher noch meine Zweifel, ob ich die Zeit mit Marc nicht vielleicht doch nur geträumt hatte, so war ich mir nun, als ich ihn sah, sicher, dass Marc und die Ereignisse vor sechs Jahren Realität waren.

»Komm doch rein«, bat ich Marc. Marc schien sehr erschöpft. Seiner Kleidung nach zu urteilen, war er schon mehrere Tage unterwegs. Er trug einen roten Pulli, eine blaue Jeans und seine Schuhe standen vor Dreck. Pulli und Jeans hatten wohl auch eine Wäsche nötig. Auf seinem Gesicht hatte sich ein leichter Flaum gebildet. Rasiert hatte es sich wohl auch schon ein paar Tage nicht mehr.

Langsamen Schrittes betrat er meine Wohnung. Ich schloss die Tür hinter ihm. Trotz seines etwas desolaten Zustandes, fühlte ich noch immer, dass von ihm etwas Seltsames, Mystisches ausging. »Entschuldige Daniel...«, Marc rang um Worte, »Entschuldige, dass ich hier so einfach aufkreuze. Ich schäme mich so. Ich muss schrecklich aussehen.« - »Unsinn Marc«, beruhigte ich ihn, »ich freue mich, dass du hier bist. Wenn du möchtest, kannst du dich im Badezimmer erst einmal frisch machen. Du scheinst schon ein paar Tage unterwegs zu sein. Oder darf ich dir etwas zu essen oder trinken anbieten?«

Marc sah mich mit seinen großen blauen Augen an. Trotz der Tränen sah ich eine gewisse Erleichterung in seinem Blick: »Danke Daniel. du bist toll. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gerne beide Angebote annehmen.«

Ich ließ Marc ein Bad ein, legte ihm meinen Bademantel zurecht und zeigte ihm, wo alle Dinge lagen, damit er sich wieder auf Vordermann bringen konnte.

Während Marc im Badezimmer verweilte, bereitete ich ihm in der Küche eine Brotzeit zu. Ob er noch immer gerne heiße Schokolade trinken würde? Daran hatte ich gewisse Zweifel, denn er war keine 13 Jahre mehr, sondern nun bereits 19. Dennoch machte ich ihm eine. Schaden würde es ihm sicher nicht.

Es dauerte fast eine Stunde, bis Marc wieder aus dem Badezimmer auftauchte. Barfuß stand er unter der Türschwelle. Er hatte meinen dunkelblauen Bademantel übergezogen, war frisch gekämmt und frisch rasiert. Ja, das war wieder mein Marc. Genauso hatte ich ihn in Erinnerung, auch wenn er etwas größer und älter geworden war. Er hatte noch immer die gleiche Ausstrahlung. »Was soll ich mit den Kleidern machen?« fragte er mich.

»Lass sie ruhig liegen. Ich werde sie später wegräumen«, meinte ich zu ihm. »Komm jetzt erst einmal ins Wohnzimmer. Ich habe dir etwas zu essen und zu trinken zu Recht gemacht. Geh schon einmal vor. Das Wohnzimmer ist dort vorne. Ich hole nur noch das Tablett aus der Küche.«

Als ich mit dem Tablett ins Wohnzimmer kam stand Marc noch immer da. »Setz dich doch«, bot ich ihm an. Er nahm auf der Couch Platz. Ich stellte das Tablett vor ihm auf den Tisch und nahm im Sessel ihm gegenüber Platz. Marc griff sofort nach einem belegten Käsebrot. Mit großer Hast schlang er es herunter. Es schien fast so, als wäre es seine erste Mahlzeit nach langer Zeit. Dem ersten Käsebrot folgten gleich noch die beiden anderen, die ich ihm noch zu Recht gemacht hatte.

»Ich kann dir gerne noch mehr machen«, bot ich ihm an, nachdem ich seinen enormen Hunger zur Kenntnis genommen hatte. »Danke, danke, nicht nötig!«, meinte er mit vollem Munde. Während er am kauen war, musterte ich ihn von oben nach unten. Es war eine Wohltat, ihn nach so vielen Jahren wiederzusehen. »Wow, heiße Schokolade!«, stellte Marc fest. Ja, Marc mochte sie also doch noch immer. Es war mir, als wäre das Feriencamp erst gestern gewesen.

Genüsslich schlürfte Marc an seiner heißen Schokolade. Als er ausgetrunken hatte, hatte er einen Schokoladenrand um seinen Mund. Und ich musste wieder an unser Kennenlernen vor sechs Jahren denken und das Mohrenkopfessen. Er sah wieder genauso ulkig aus. Ich musste lachen. »Was ist los?«, fragte er mich verwundert.

»Nichts Marc, nichts«, antwortete ich ihm, »ich musste bloß an eine Geschichte denken.« - »Was für eine Geschichte?« wollte Marc von mir wissen. Ich spürte eine gewisse Gelassenheit in mir. Marcs Anwesenheit gab mir ein Gefühl der Geborgenheit, wie ich schon lange nicht mehr hatte. »Später«, sagte ich ihm. »Ich würde zunächst lieber wissen, was mit dir los ist. Natürlich nur, wenn es dir nichts ausmacht.«

Marc leckte sich mit der Zunge den Schokoladenrand vom Gesicht und nahm dazu noch die Hand zu Hilfe.

Sein Blick verfinsterte sich etwas. Er wirkte sehr traurig, »Ja, klar. Ich...« Marc starrte an die Decke. Er versuchte, meinen Blicken auszuweichen. »Weißt du noch Marc«, fragte ich ihn, »damals im Camp am See? Wir saßen da und du hattest auch lange gewartet, bis du mir etwas gesagt hast. Ich weiß es noch wie heute. Damals habe ich nichts geantwortet. Du wusstest es auch so, dachte ich zumindest. Aber ich kann es dir jetzt sagen. Marc, ich hatte nie einen solchen Freund wie dich. Egal, warum du auch immer hier bist. Ich freue mich darüber und bin glücklich.« Er versuchte es zu verbergen, aber ich sah die Tränen in seinen Augen.

»Siehst du«, Marc holte einen silbernen Anhänger, den er an einer Kette trug, unter dem Bademantel hervor, »Erinnerst du dich noch daran?« Ja, sicher erinnerte ich mich daran. Es war ein Sternzeichenanhänger, ein solcher Anhänger, wie ich ihn damals auch Martin, Marcs Cousin zum Geburtstag schenkte. Es war mein Anhänger, der Anhänger mit meinem Sternzeichen, einem Löwen. Marcs Geburtstag war der 8. Januar, somit war er eigentlich Steinbock. Doch es war das, was ich ihm zum Abschied geschenkt hatte. Ich hätte nicht gedacht, dass er ihn jemals tragen würde, geschweige denn, dass er ihn noch heute um den Hals hätte. Er musste ihn all die Jahre hinweg getragen haben. Scheinbar hatte er mich nie vergessen. Jetzt hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich die Erinnerung an ihn so lange unterdrückt hatte.

Ich lächelte ihn an. Mit seinen Tränen in den Augen lächelte er zurück, wurde dann aber wieder ernster, »Ich habe ihn immer getragen. Keinen Augenblick habe ich ihn abgemacht.«

Wieder fehlten mir die Worte. Dann begann Marc zu erzählen was geschehen war und wie er zu mir kam: »Wir haben ungefähr vier Jahre in Frankreich gelebt. Vor etwa zwei Jahren sind wir zurück nach Deutschland gezogen, in die Nähe von München. Ich begann eine Ausbildung zum Feinmechaniker und wohnte weiter bei meinen Eltern. Eines Tages, vor etwa einem Jahr, bekam ich auf der Arbeit einen Anruf. Meine Eltern hatten einen schweren Autounfall, bei dem mein Vater sofort starb. Mutter lag noch acht Wochen im Koma, ich war fast die ganze Zeit an ihrem Bett und wich kaum einen Augenblick von ihrer Seite.

Nachdem Mutter von ihrem Zustand erlöst war, stand ich ganz allein da. Inzwischen hatte ich meinen Ausbildungsplatz verloren, weil ich so lange ferngeblieben war.

Durch die drei Umzüge und einige andere Sachen, hatten meine Eltern die ganzen Ersparnisse aufgebraucht und sogar noch ein paar Schulden. Ich schlug das Erbe aus. Fast alles im Haus wurde gepfändet. So hatte ich so gut wie nichts mehr. Ich fuhr in deine und meine alte Heimatstadt. Ein paar Tage brauchte ich, bis ich richtig den Mut zusammengefasst hatte und an eurer Haustür klingelte. Deine Eltern erzählten mir, dass du inzwischen in Berlin leben würdest und gaben mir deine Telefonnummer und deine Adresse. Jetzt bin ich seit zwei Monaten hier in Berlin. Fast jeden Tag war ich hier vor diesem Haus. Ich habe mich nie zu klingeln getraut, obwohl ich den Finger schon ein paar Mal auf dem Klingelknopf hatte.»

Marcs Erzählungen endeten mit einem dicken Seufzer. Einige Minuten schwiegen wir beide und sahen uns nur gelegentlich an. Dann ergriff ich das Wort: »Ehrlich gesagt weiß ich nicht so recht, was ich dir jetzt sagen soll. Ich kannte deine Eltern ja nur flüchtig, aber es tut mir sehr Leid für dich. Wenn ich denke, was du in den letzten Monaten durchgemacht hast...« Ich musste tief schlucken. Der Gedanke für mich, dass Marc heimatlos auf den Straßen umhergeirrt war, dass er schon eine ganze Weile hier in der Umgebung war, nicht den Mut hatte bei mir zu klingeln und dass er so viel mitmachen musste, war für mich schrecklich. Es war beinahe so, als hätte ich selbst diese Zeit durchgemacht.

»Wenn du möchtest, kannst du heute Nacht in meinem Bett schlafen. Ich schlafe dann auf dem Sofa«, bot ich ihm an.

»Kommt nicht in Frage. Wenn, dann schlafe ich auf dem Sofa«, stellte Marc fest.

»Wie du meinst, dann reden wir morgen weiter. Du schläfst ja schon fast ein.«

Ich holte für Marc Bettzeug und bezog ihm die Couch. Es war erst kurz nach acht. Normalerweise ging ich nicht vor Mitternacht ins Bett. Angesichts der Tatsache, dass Marc wirklich gleich einzunicken drohte, hielt ich es aber doch für besser, schon jetzt die Nachtruhe einzuläuten, wenngleich ich noch kein bisschen müde war.

Ich lag noch eine ganze Weile im Bett wach. Noch einmal ging mir alles durch den Kopf: Martins Geburtstagsfeier, die Zeit der gemeinsamen Hausaufgaben, das Feriencamp, der Abschied damals und die Ereignisse des vergangenen Tages. War er wirklich gekommen? Irgendwann muss ich dann eingeschlafen sein.

Gegen drei Uhr in der Nacht wurde ich wieder wach. Sonst drehte ich mich einfach wieder um und schlief weiter. Diesmal aber hatte ich das Bedürfnis, mir ein Glas Milch zu gönnen. Ich stand auf und ging in die Küche. Dort stand ich vor der schwierigen Wahl, entweder direkt aus der Tüte zu trinken oder doch ein Glas zu nehmen. Aufgrund meiner guten Erziehung nahm ich die Milchtüte und nahm direkt ein paar Schlucke, dann trottete ich mich zurück in mein Schlafzimmer. Doch kaum lag ich im Bett, stand ich auch schon wieder auf. Ich hatte einen unangenehmen Geschmack im Mund. Und so konnte ich nicht schlafen.

Also ging ich noch schnell ins Bad, um mir noch einmal die Zähne zu putzen. Dazu musste ich auch am Wohnzimmer vorbei. Auf dem Rückweg wagte ich einen Blick hinein. Marc schlief ganz ruhig. Eine Laterne vor dem Fenster warf ihr Licht in den Raum, so dass man auch im Dunkeln noch einiges erkennen konnte.

Er sah so friedlich aus, wie er da lag und schlief. Selbst da hatte man noch das Gefühl, er lächelte. Ich lehnte beinahe eine Viertelstunde am Türrahmen und beobachtete Marc beim Schlafen.

Der nächste Tag war ein Sonntag. Ich stand schon gegen sieben Uhr auf und setzte Kaffeewasser auf. Während ich auf das heiße Wasser wartete, wagte ich noch einmal einen Blick ins Wohnzimmer. Marc schlief noch immer friedlich und fest, obwohl schon die ersten Sonnenstrahlen in das Zimmer fielen.

Der Wasserkessel pfiff, und so musste ich meine Blicke auch schon wieder abwenden, um in die Küche zurückzukehren.

Erdbeer- oder Kirschmarmelade stand zur Disposition. Den Morgen begann ich immer mit einem Marmeladebrot. Die Wahl fiel auf Kirsch. Genüsslich kauend, drehten sich meine Gedanken um den noch immer schlafenden Marc.

Irgendwie brachte ich es fertig, fast eine halbe Stunde am selben Brot zu knabbern.

Als ich den letzten Bissen meines Kirschmarmeladenbrotes genüsslich auf der Zunge zergehen ließ, tauchte Marcs Kopf unter der Türschwelle auf.

»Morgen Daniel«, begrüßte er mich freudestrahlend.

Ein Morgenmuffel ist er nicht gerade, dachte ich so bei mir. Gerade aufgestanden und schon so fröhlich wie ich ihn von früher in Erinnerung hatte. Es schien, als habe er sämtliche Enttäuschungen der vergangen zwei Jahre über Nacht im Schlaf verarbeitet und vergessen.

»Guten Morgen Marc, na, hast du gut geschlafen?« erwiderte ich seinen Gruß. »Wie ein Murmeltier«, entgegnete er. »Kaffee oder heiße Schokolade?« stellte ich Marc vor die Wahl, wenngleich ich mir sicher war, dass seine Wahl wohl auf das letztere fallen würde. Ohne seine Antwort abzuwarten, griff ich nach einer frischen Packung H-Milch.

»Heiße Schokolade wäre toll!« bestätigte Marc meine Vermutung. »Bist du dir da absolut sicher«, fragte ich scherzhaft, », Kaffee soll doch angeblich schön machen?!« - »Oh!« kicherte Marc, »Meinst du denn, dass ich das nötig habe?«

Ich tat so, als würde ich ihn genaustens von oben bis unten mustern und stellte dann mit trockener Stimme fest: »Na ja, vielleicht noch eine halbe Tasse, und du bräuchtest ein Leben lang keinen Kaffee mehr trinken.« Marc strahlte bis über beide Ohren.

Genüsslich schlürfte Marc seine heiße Schokolade und aß dazu ein Brot mit Kirschmarmelade. Auch ich gönnte mir ein zweites Marmeladebrot und eine zweite Tasse Kaffee, denn im Gegensatz zu Marc konnte ich noch lange nicht mit dem Kaffeetrinken aufhören, wenn besagte These stimmte. Daran zweifelte ich jedoch, denn ich war eine richtige »Kaffeetante« und trank bis zu zehn Tassen pro Tag.

Ich sah wie Marcs Gedanken während des Frühstücks förmlich zu wandern schienen. Und von der einen zur anderen Sekunde wurde sein Blick wieder ernster.

Sollte ich versuchen, ihn durch einen Witz aufzuheitern? Nein, das schien mir hier fehl am Platze. Deshalb entschied ich mich, ihn direkt zu fragen: »Was hast du, Marc?« Marc starrte wie geistesabwesend vor sich hin, aber schwenkte seinen Blick dann langsam in meine Richtung. In diesem Augenblick war von seiner Fröhlichkeit nichts mehr zu sehen. In seinen Augen las ich wie in einem Buch. Ich spürte seine Angst. Auch wenn er seinen Blick auf mich gerichtet hatte, er schien durch mich hindurch zu sehen.

Ich wiederholte meine Frage: »Marc, was hast du?« Es machte mir Angst. Ich fühlte mich hilflos. Wie sollte ich reagieren? Marc so zu sehen, war sehr schlimm für mich. Am liebsten hätte ich ihn in den Arm genommen, um ihm zu zeigen, dass ich, was auch immer der Grund für seine Traurigkeit war, ihm versuchen würde zu helfen. Ja, ich hätte alles für Marc getan - wirklich alles! Das ist es doch auch, was wahre Freundschaft bedeutet, oder?

»Marc, was auch immer dich gerade belastet....Wenn du es mir nicht sagen möchtest oder sagen kannst, dann ist es okay, ...aber ich möchte, dass du weißt, dass ich dir helfen möchte, soweit es mir möglich ist.«

Marc sah mir nun in die Augen. Er sah, wie ernst ich es meinte. Dann schüttete er mir sein Herz aus: »Ich habe Angst, Daniel, furchtbare Angst.... Ehrlich gesagt, ich weiß nicht mehr genau, wie es weitergehen soll. Was soll ich tun? Ich habe nichts, gar nichts, und ich weiß noch nicht einmal genau, wo ich hin soll.... Vorgestern habe ich das letzte Geld ausgegeben.... Ich habe nichts, keinen einzigen Pfennig, keine müde Mark und nicht einmal ein Dach überm Kopf.«

Marc hatte seinen Blick abgewendet. Ich spürte die Trauer, die Angst, die aus diesen Worten klangen. Seine Ellbogen auf den Tisch gestützt, verbarg er sein Gesicht in seinen Händen. Er atmete schwer, das zu sagen hatte ihn viel Kraft und wohl auch viel Überwindung gekostet. Selbst einem Freund kann man manche Dinge nicht ohne eine gewisse Überwindung mitteilen.

Ich machte einen tiefen Seufzer, »Marc, ... schau mal nach oben.« Ich deutete in Richtung Decke. Marc wagte mit einem Auge einen Blick aus seinem »Versteck«. Sein Gesicht verschwand aber dann schon gleich wieder vollkommen unter seinen Händen.

»Wenn du nach oben schaust«, erklärte ich weiter, »ist das kein Dach überm Kopf? Marc, auch wenn dir im Moment alles hoffnungslos vorkommen mag, du sollst wissen, dass ich sicher bin, dass wir das alles wieder auf die Reihe bekommen werden.«

Noch immer wagte sich Marc nicht so ganz aus seinem »Versteck« hervor.

Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, reagierte ich auch immer so, wenn ich etwas angestellt hatte und meine Mutter wütend auf mich war. Ich versuchte mich hinter meinen Händen zu verbergen oder schloss einfach die Augen. Es gehört wohl zu den Urinstinkten des Menschen, dass er glaubt auf diese Art und Weise nicht gesehen zu werden. Jedenfalls gibt es einem das Gefühl von innerer Sicherheit. Auch heute noch reagiere ich mit »Augen schließen« auf peinliche Situationen. Ich öffne sie natürlich gleich wieder, aber es ist eine plötzliche, unbeeinflussbare Reaktion auf das jeweilige Geschehen. Marc nutzte in diesem Moment auch dieses uralte Verhaltensmuster. Er war hilflos und so reagierte er auch.

Ganz bedächtig sprach ich weiter: »Was ich dir damit sagen wollte: Du kannst solange hier bleiben, wie du möchtest, und ich hoffe, dass das sehr lange sein wird.«

Es war gespenstisch ruhig im Raum. Draußen in der Ferne hörte ich das Schlagen der alten Turmuhr. Sie schlug acht Mal. Meine Blicke wanderten im Raum umher. Marc schwieg. Mit einem Auge wagte er erneut den Blick nach »draußen«. Ich tat so, als würde ich das nicht bemerken.

Langsam ging ich zum Fenster: »Ich glaube, heute wird es einen sehr schönen Tag geben. Was meinst du?« - »Äh«, Marc richtete sich vorsichtig auf. »Ja, kann schon sein«, sagte er mit verunsicherter Stimme.

Marc hatte sich wieder beruhigt und sein »berühmtes« Lächeln wiedererlangt. Es war ein wirklich schöner Sonntag. Die Vögel zwitscherten und die Sonne strahlte, als ginge es darum, eine Wette zu gewinnen. Vielleicht wollte sie auch nur die vergangen Wochen wieder wettmachen, die uns vom Wetter her nicht allzu sehr verwöhnt hatten. Marc und ich entschlossen uns, einen Spaziergang in einem nahegelegenen Park zu unternehmen. Ich suchte ein paar von meinen Klamotten für Marc heraus. Obwohl ich etwas größer als Marc war, so passte ihm die Kleidung dennoch so einigermaßen.

»Komm, Wastl, komm«, rief eine ältere, elegant gekleidete Dame ihren Hund herbei, der am Teich den Enten nachstellte. Vermutlich hätte dieser Vierbeiner dumm aus der Wäsche, respektive dem Fell geschaut, wenn er wirklich ein solches Federvieh zu fassen bekommen hätte. Sicher hätte er gar nicht gewusst, was er dann hätte mit ihr anstellen können.

Der kleine schwarze Pudel ließ Enten Enten sein und gehorchte seinem Frauchen aufs Wort, die ihren kleinen Liebling freudig begrüßte und ihm liebevoll übers Fell streichelte. Zur Belohnung hatte Frauchen auch ein Leckerli in Form eines Würstchens für ihren kleinen Vierbeiner. Wastl flitzte vor Freude ganz aufgeregt hin und her.

Interessiert beobachteten wir dieses Geschehen. Es sind oft die kleinen, scheinbar belanglosen Dinge im Leben, die dennoch Aufmerksamkeit auf sich ziehen können, wenn man nur den rechten Blick dafür hat. Als Kinder hatten wir da nicht alle unsere Freude an den banalsten Ereignissen haben können? Ein kleines Kind kann sich selbst mit einem solch einfachen Gegenstand wie einem Schlüsselbund stundenlang beschäftigen, ohne dass es ihm dabei langweilig wird. Es sieht die Welt noch mit anderen Augen. Es beobachtet alles viel genauer. Jede Kleinigkeit kann eine Art von Wunder sein. Je älter man wird, desto mehr verliert man die Gabe aufmerksam zu beobachten. Dabei sollte man jeden Tag neu beginnen die Welt zu erforschen und so auch mehr Freude an allem zu haben. Marc und ich hatten diese Gabe nicht verlernt. Sicher würden wir auch ein Leben lang »große Kinder« bleiben.

»Süß«, meinte Marc. Ich schaute ihn an, sah ihm tief in Augen und sagte leise: »Ja!« Hund und Frauchen gingen weiter. Auch Marc und ich setzen unseren Spaziergang in entgegengesetzter Richtung fort. »Was ist eigentlich dein allergrößter Traum?« wollte Marc von mir wissen.

»Ich weiß nicht so recht«, bekannte ich. »Darüber habe ich mir noch keine rechten Gedanken gemacht.«

»Ich mir schon sehr oft«, erklärte Marc. Ich blieb stehen, schaute ihn fragend an: »Und? Was ist dein größter Wunsch?«

»Die vergangen Wochen gaben mir sehr viel Zeit zum Nachdenken. Dabei kam mir immer wieder in den Sinn, dass ich... ich hatte noch nie in meinem Leben ein richtiges, dauerhaftes Zuhause und bin in meinem Leben bestimmt zehn Mal und noch öfter umgezogen. Kaum hatte ich mich irgendwo ein wenig eingelebt, dann mussten wir auch schon wieder umziehen. Manchmal waren wir noch nicht einmal ein halbes Jahr an ein- und demselben Ort. Das hatte mir nie etwas ausgemacht - dachte ich früher zumindest. Nur einmal ist für mich wirklich durch einen Umzug eine Welt zusammengebrochen. Der Abschied von dir damals war das Schlimmste, was mir je passiert ist.«

Marc hielt inne. Ihm schienen tausend Gedanken durch den Kopf zu schießen. Was hatte er gesagt? Das Schlimmste, was ihm je passiert war? Da kam es ihm wohl wieder in denn Sinn, dass er vor nicht allzu langer Zeit erst Abschied von seinen Eltern nehmen musste. Gut, auch ich hatte meine Eltern schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, und wir telefonierten nur recht sporadisch miteinander, aber ich hätte sie jederzeit sehen oder zumindest mit ihnen telefonieren können. Der Tod ist so endgültig. Warum merkt man oft erst dann im Leben, was einem bestimmte Menschen bedeuten, wenn sie nicht mehr da sind, wenn es zu spät ist?

Marc ging langsam weiter. Minutenlang gingen wir so, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen, nebeneinander her. Dann begann Marc wieder behutsam das Gespräch: »Meine Eltern fehlen mir sehr. Ich konnte nicht einmal richtig Abschied nehmen von ihnen. Wenn ich ihnen bloß hätte sagen können, wie sehr ich sie liebte.« Ich sah, wie Marc die Tränen in den Augen standen. »Komm, setzen wir uns auf die Bank da drüben«, sagte ich. Wir gingen zu einem Bänkchen, das im Schatten zweier Eichen stand. Ich nahm links neben Marc Platz. Er sah stumm auf den Boden. Voller Wehmut sah ich ihn an. Einen Freund so leiden zu sehen, war schrecklich.

»Warum mussten sie nur sterben?« fragte sich Marc. »Sie waren doch noch so jung!«

Ich spürte einen dicken Kloß in meinem Hals. Ich konnte ihm keine Antwort auf diese Frage geben. Niemand hätte ihm eine Antwort auf diese Frage geben können.

Jetzt fiel mir Peter wieder ein. Peter war ein Junge in meiner Klasse. Wir waren damals zwölf Jahre alt. Ich hasste diesen Typen. Er war ein schrecklicher Junge, der mich ärgerte, wo er nur konnte. Er versuchte, die anderen gegen mich aufzuhetzen, was ihm damals nur in sehr geringem Maße gelang, denn die anderen Kinder nahmen ja ohnehin nur wenig Notiz von mir, und so taten sie es glücklicher Weise auch nicht im negativen Sinne. Ich hatte Peter alles Mögliche an den Hals gewünscht. Wenn ihn ein älterer Junge einmal so richtig vermöbelt hätte, das wäre für mich der allerschönste Tag gewesen. Doch dann geschah das für mich Unbegreifliche. An einem Sonntag, ich weiß es noch wie Heute, es war ein 13. September, machte dieser Peter mit zwei türkischen Mitschülern aus der Parallelklasse eine Wettfahrt mit ihren Mofas. Dabei kollidierte er mit dem Mofa von Mustafa. Beide fuhren ohne Helm. Peter wurde mehrere Meter weit geschleudert und noch von einem der fahrerlosen Mofas überrollt. Er war gleich tot. Mustafa schwebte in Lebensgefahr, hatte aber einen Schutzengel, der ihm das Leben schenkte. Er überlebte und wurde fast vollständig wieder gesund.

Auch wenn ich Peter nie leiden konnte, sein Tod tat mir damals sehr weh. Er war doch erst zwölf Jahre alt. Ich wurde damit konfrontiert, dass auch Kinder nicht unsterblich waren. Von der einen zur andren Sekunde kann alles aus sein. Wer hätte am Freitag dem 11. September schon gedacht, dass am darauffolgenden Montag der Platz von Peter für immer leer bleiben würde.

Und es stimmt, wenn man sagt. man geht nicht über Leichen. Auch wenn ich ihn nach seinem Tod nicht besser leiden konnte als zuvor, jetzt empfand ich Trauer - Trauer, weil ein junges Leben zu Ende war, bevor es überhaupt richtig begonnen hatte. Wenn man vorher wüsste, was kommen würde, vielleicht würde man viele Dinge dann anders sagen.

Marc bedauerte es nun, seinen Eltern nie gesagt zu haben, wie sehr er sie geliebt hatte. Sicher werden es seine Eltern auch so gewusst haben, dachte ich bei mir. Zugleich überlegte ich, ob meine Eltern sich bewusst waren, wie ich für sie empfand.

Man geht einfach davon aus, dass die Eltern wissen, wie man für sie fühlt. Doch wäre es nicht besser, wenn man es ihnen auch von Zeit zu Zeit zu verstehen gäbe? Es ist normal, wenn ein sechsjähriges Kind zu seiner Mutter sagt: »Ich hab dich lieb!« Warum kann nicht auch ein Sechzehnjähriger oder sogar ein bereits erwachsenes Kind so etwas zu Vater und Mutter sagen?

Marc kullerten die Tränen aus den Augen. Ich konnte nicht anders; behutsam legte ich meinen rechten Arm um seine Schultern. Marc lehnte seinen Kopf an meine Schulter und ließ seinen Tränen freien Lauf. Dass ein älteres Pärchen an der Bank vorbeikam, beachteten wir nicht weiter. Es war uns in diesem Augenblick egal.

»Daniel...!« Marc blickte traurig zu mir auf.

»Ja, Marc?« sagte ich und sah ihm tief in seine blauen Augen. Einige Sekunden saßen wir so da und schauten uns Auge in Auge an. Ich schluckte tief. Noch immer hatte ich einen Kloß im Hals.

»Da - Daniel, ich...«, stotterte er.

Ich sagte kein Wort. Was auch immer mir Marc in diesem Augenblick eigentlich sagen wollte, er hatte wohl wieder einmal nicht den Mut, es auszusprechen und so fragte er schließlich: »Gehen wir weiter?«

Am Parkausgang stand ein Eiswagen. »Wie wär's mit ‘nem Eis?« fragte ich Marc. »Ich weiß nicht so recht«, meinte Marc - klang dabei aber nicht sonderlich überzeugend. Es schien mir, als habe er nur Hemmungen meiner Einladung zu folgen. Ich wusste doch, was Marc für ein Schleckermaul war. Früher konnte er nie an einem Eisstand vorbei, ohne sich mindestens drei oder vier Kugeln zu gönnen. Ich weiß noch, wie er einmal sage und schreibe 20 Kugeln auf einmal verdrückte, ohne dabei im Geringsten mit der Wimper zu zucken. Bei mir war spätestens nach sechs Kugeln Sense! Auch Schokoriegel oder sonstige Süßwaren waren für Marc immer eine enorme Versuchung, und ich war schon damals erstaunt, wie wenig man ihm diese kleinen Sünden ansah. Ja, Marc hatte eine wirklich tolle Figur. Nicht, dass er gertenschlank gewesen wäre, aber allen Süßigkeiten zum Trotz ging er nicht im Geringsten in die Breite. Wenn man mich gefragt hätte, dann hätte ich behauptet, dass er einen ziemlich sportlichen Körper hatte. Und auch jetzt hielt er noch immer diese Figur, wobei ich nicht sagen konnte, ob das die ganzen sechs Jahre so war oder ob die letzten für ihn so schlimme Wochen und Monate schuld daran waren, dass er so wunderbar daherkam, wie ich ihn auch von früher in meiner Erinnerung hatte. Sicher, und das bekenne ich hier ohne weiteres, Marc hätte kaum eine Wahl zum »Mr. Universum« gewonnen und auch den meisten Schönheitsidealen unserer modernen Zivilisation wäre er wohl auch nicht unbedingt nahegekommen, aber für mich schien er der vollkommenste aller vollkommenen Menschen zu sein, denen ich in den zwanzig Jahren meines noch relativ jungen Lebens begegnet war.

»Mach mir keine Geschichten!« sagte ich mit beschwingter Stimme und nicht ohne einen gewissen, ironisch angehauchten Unterton. »Marc, das größte Süßmaul aller Zeiten, verzichtet auf ein Eis? Bist du etwa krank? Soll ich einen Arzt rufen?«

»Na ja«, meinte Marc zögerlich und zog die Silben dabei lange auseinander, »bevor ich mich schlagen lasse, ein oder zwei Kügelchen könnten wohl nicht schaden.«

Ich grinste: »Na siehst du, dann bin ich aber beruhigt.« Während ich zum Eismann ging, um zwei Portionen Eis zu holen, wartete Marc an einer Laterne.

Oh verdammt, jetzt fiel mir auf, dass ich vergessen hatte, Marc danach zu fragen, was er denn für Sorten wollte. Ich war zu faul, die hundert Meter vom Eisstand zur Laterne noch einmal hin und her zu laufen um ihn nach seinen Wünschen zu fragen. Und wenn ich über diese Distanz einen lauten Blärrer hätte fahren lassen, um ihn nach seinen Wünschen zu befragen, dann wäre das wohl auch kaum »Gentlemanlike« gewesen. Also bestellte ich zwei Kugeln Schokolade und drei Kugeln Pistazie für mich und meinte zum freundlichen Eismann: »...und bitte ein Becher mit je einer Kugel von allen Sorten.« Das hätte ich nicht tun sollen, denn ich hatte von meinem Platz aus lediglich zehn verschiedene Eissorten lokalisieren können. Doch konnte ich etwa wissen, dass er weiter unten in seinem Wagen ein wahres Eislager hatte, wo er alle nur erdenklichen Eissorten lagerte? Auch seine Nachfrage: »Wirklich eine Kugel von jeder Sorte!?« machte mich nicht weiter stutzig. Ich hatte meinen Blick hinüber zur Laterne gewendet, wo Marc, geduldig auf und ab gehend, auf meine Rückkehr wartete.

»Darf´s sonst noch etwas sein?« fragte mich der Verkäufer.

»Danke das war's«, sagte ich, den Blick noch immer Richtung Marc gerichtet.

»Das wären dann 44 Mark«, erklärte der Eismann. »Ja«, ich öffnete noch in Gedanken den Geldbeutel. - Was hatte er eben gesagt? 44 Mark!? - Ich setzte mein breitestes Grinsen auf und holte wortlos einen 50 Markschein aus meinem Geldbeutel hervor.

»Überraschung! Überraschung!«, rief ich Marc schon aus zehn Metern Entfernung zu. Marc schaute nicht wenig verdutzt, als er die kleine Plastikschüssel sah, in die mir der nette Verkäufer die 40 Eiskugeln getan hatte. »Oh, hat´s Eis im Sonderangebot gegeben? Du hast aber einiges vor. Ich wusste gar nicht, dass du so ein großer Eisfan bist!?« stellte er scherzhaft fest und wollte nach meiner Eiswaffel mit den fünf Bällchen greifen.

»Stopp, stopp! Das ist eine Verwechslung«, klärte ich ihn über sein Missverständnis auf, »Das ist meine Portion! Für dich ist die kleine Portion in der Schüssel.« Ich streckte ihm die Schüssel entgegen.

»Äh, du erwartest doch jetzt hoffentlich nicht von mir...?« wollte er wissen.

»Nein«, entgegnete ich ihm, »Selbstverständlich kann ich nicht von dir erwarten, dass du es so isst. Wo hatte ich nur meinen Kopf? Du hast Recht! Ich Dummkopf habe doch tatsächlich die Schokoladensoße vergessen. Warte, ich gehe noch einmal zurück!« Ich tat so, als würde ich umdrehen und zum Stand zurückgehen. »Nein, nein! Bloß nicht!« rief mich Marc mit erheiterter Stimme zurück.

Dann erstaunte mich Marc erneut. Er packte zwar nicht die ganze Portion, aber immerhin leerte er die Schüssel zu fast Dreiviertel. Ich nahm mich dann des Restes an, packte aber nur noch fünf der übriggebliebenen Kugeln. Der Rest landete wohl oder übel in einem Abfalleimer am Straßenrand.

Als wir von unserem kleinen Spaziergang zurückkamen, und ich gerade die Haustür aufsperren wollte, wurde uns die Tür von innen geöffnet und Nadja kam uns entgegen. Ich steckte den Schlüssel in meine Hosentasche zurück und begrüßte sie mit einem kräftigen: »Hi!«

»Hallo Daniel!« erwiderte sie meinen Gruß.

»Schönes Wetter heute«, sagte ich. Eigentlich seltsam, warum spricht man meist vom Wetter, wenn einem sonst nichts Rechtes einfallen will? Wenn man sich in konversationsmäßiger Verlegenheit befindet, dann fängt man an über das Wetter zu philosophieren. Dabei gäbe es doch tausend andere Dinge, über die man reden könnte. Ich hätte z. B. auch zu ihr sagen können: »Du siehst heute aber wieder scharf aus«, aber nein, ich musste natürlich wieder eine stumpfsinnige Konversation über das Wetter beginnen. Das war wie bei den berühmt-berüchtigten, obligatorischen Urlaubspostkarten, die man an die daheim zurückgebliebenen Mitmenschen verschickt - verschicken muss, denn sonst erntet man Missfallen. Außerdem muss man sie ja auch noch deshalb verschicken, weil Bekannte, Nachbarn oder die lieben Arbeitskollegen sonst nichts haben, auf das sie neidisch sein könnten. Eigentlich könnte man die Karten doch schon bequem daheim schreiben, wenn man die nötigen Blanko-Ansichtskarten der jeweiligen Urlaubslandschaft dort vorliegen hätte. Jedenfalls der Inhalt der Karten ist doch ohnehin jedes Mal derselbe. Über was schreibt man da schon? Richtig! Natürlich über das schöne Wetter! Das Wetter ist prinzipiell schön, zumindest offiziell, denn wäre das Wetter schlecht, dann müsste man ja bei der Rückkehr den Spott der lieben Mitmenschen über sich ergehen lassen. Einzig und allein die verschiedenen Orte, aus denen die Karten kommen, bieten dem interessierten Leser noch eine, wenn auch bescheidene Art von Abwechslung. Sicher ist aber, dass Urlaubspostkarten fast immer briefträgerfeindlich sind. Denkt denn kein Mensch an die armen Briefträger? Die müssen immer und immer wieder dieselben monotonen Texte auf den Postkarten lesen, nie gibt es für sie eine Abwechslung! Doch ich gestehe reumütig, auch ich hatte schon gelegentlich derlei Karten verschickt.

Nadja nickte freundlich lächelnd: »Ja, wirklich ein schöner Tag. Endlich mal wieder, der Sommer war ja ziemlich dürftig.... Danke übrigens noch einmal wegen gestern. Du warst wirklich mein Lebensretter. Vielleicht kann ich mich einmal bei dir revanchieren? Ich bin dir jedenfalls ‘was schuldig. Also sag Bescheid, wenn ich etwas für dich tun kann.«

»Darauf werde ich bei Gelegenheit zurückkommen«, nahm ich Nadjas verlockendes Angebot grinsend an.

Marc stand schüchtern da und gab keinen Piep von sich. »Oh Nadja, darf ich dir bei der Gelegenheit gleich deinen neuen Nachbarn vorstellen!? Das ist Marc!«, stellte ich Nadja meinen Gast vor und gab Marc dabei einen kleinen Schubs von hinten, so dass er einen kleinen Sprung nach vorne in Richtung Nadja tun musste. »Marc«, fuhr ich fort, »das ist Nadja, die netteste und aufregendste Nachbarin der Welt!«

»Hallo Marc!« Nadja streckte Marc ihre Hand zum Gruß entgegen. Marc war wirklich sehr schüchtern. Er schüttelte sehr behutsam ihre Hand und brachte noch ein leises »Hallo« heraus.

»Neuer Nachbar?«, fragte sie, »Wo bist du denn eingezogen?« - »Äh«, druckste Marc herum.

»Marc wohnt im zweiten Stock bei einem gewissen Daniel Müller, ich weiß nicht, ob du den vielleicht zufällig kennst?!«, klärte ich sie auf. »Marc und ich sind uralte Freunde. Du musst wissen, ich hatte Marc von meiner netten Nachbarin erzählt und da entschloss er sich sofort hierher zu ziehen!« Nadja verstand das Kompliment und lächelte geschmeichelt: »Dann werden wir uns in Zukunft ja sicher öfters begegnen? Ich hoffe auf eine gute Nachbarschaft.« Marcs Lächeln war bezaubernd wie immer, auch wenn es hier etwas unbeholfen schien.

Wieder in den eigenen vier Wänden angekommen, wollte Marc sofort von mir wissen: »Findest du sie toll?« - »Wen meinst du denn?« fragte ich verwundert zurück. Er klang sehr verunsichert: »Ich meine diese Nadja...?!«

Marcs Blicke in diesem Moment erinnerten mich an einen gewissen kleinen Jungen mit Namen Daniel Müller, im Alter von neun oder zehn Jahren. Mein Cousin Sebastian war bei uns zur Pflege, weil seine Mutter für ein paar Wochen in Kur weilte. Cousin Sebastian damals etwa in meinem Alter, war ein netter und aufgeschlossener Junge. Wir spielten ganz gut zusammen, und stritten uns sehr selten. Nur war ich schrecklich eifersüchtig. Vermutlich bestand keinerlei Grund für meine Eifersucht, aber ich wollte meine Mutter eben ganz für mich allein haben. Da konnte doch nicht irgend so ein dahergelaufener Rotzlümmel kommen, auch wenn es mein lieber Cousin Sebastian war, und einen Teil der Zuwendung meiner Mutter einheimsen, die doch eigentlich mir gehörte. Solange Bastian und ich allein waren, war alles `Schokococo´, will sagen `Voll in Ordnung´. Doch sobald Mutter in der Nähe war, dann sträubten sich meine sämtlichen Nackenhaare, und ich kochte förmlich vor Eifersucht. Immer wieder wollte ich von meiner Mutter wissen, ob sie Bastian denn lieber hätte als mich. Ich war damals hin und hergerissen in meinen Gefühlen. Einerseits mochte ich es, mit Bastian zu spielen, und freute mich auch, dass er ein paar Wochen die ganze Zeit als Spielgefährte da war, aber andererseits hatte ich eben jenes Gefühl der Eifersucht, wenn Mutter auch nur ein Wort mit Bastian sprach. Wie dumm war ich doch damals gewesen.

Ob ich Nadja toll finden würde? - Was sollte ich auf Marcs Frage antworten? Ich überlegte und sagte schließlich: »Ich finde sie nett, sehr nett, um es genau zu sagen.«

»Nett?«, Marc ließ die Kinnlade hängen. »Ja, ich finde sie nett«, bestätigte ich und fügte gleich hinzu, »Aber ich kenne sie nicht sooooooo gut. Sie ist einfach nur eine sehr nette Nachbarin.« Dass ich Nadja in der Tat sehr attraktiv fand, verschwieg ich in diesem Augenblick. Es schien mir besser so.

Marc war nun etwas beruhigt. Wir beschlossen, uns im Fernsehen etwas reinzuziehen. Während ich am liebsten eine Unterhaltungsshow angesehen hätte, tendierte Marc doch eher zum `Tatort´ im Ersten. Also war ich plötzlich auch Feuer und Flamme vom `Tatort´. Wir beiden schlüpften in unsere Pyjamas und machten es uns auf der Couch gemütlich.

Der Krimi hatte noch nicht angefangen, noch berichtete die Tagesschau über die aktuellen Ereignisse, also unterhielten wir uns noch ein Wenig. »Sag mal Daniel«, wollte Marc von mir wissen, »Du hast mir noch gar nicht gesagt was du beruflich machst. Musst du Morgen nicht arbeiten gehen?«

»Ich arbeite als Werbetexter. Zwar habe ich ein Büro in einer großen Firma Namens `Nautilus´, aber ich arbeite meistens daheim. Mit meinem Chef verstehe ich mich großartig. Er hat mir viele Freiheiten eingeräumt. Ich muss nur die Termine einhalten, dann ist alles okay. Und der nächste Abgabetermin ist erst in gut vier Wochen. Also genug Zeit«, berichtete ich.

»Das ist ja toll!« erkannte Marc. »Dann musst du ja im Moment nicht arbeiten gehen!«

»Ja, mehr Zeit für die schönen Dinge im Leben«, sagte ich schmunzelnd.

Marc griff nach dem Glas Orangensaft, das vor ihm auf dem Tisch stand und trank es auf Ex. »Frisch gepresst?« erkundigte er sich. - »Nein, von Onkel Dittmeier«, prustete ich los.

»Was muss ein Werbetexter eigentlich so alles machen?« fragte Marc interessiert. »Dumme Sprüche klopfen«, scherzte ich.

»Oh!« sagte Marc mit todernst gestelltem Gesicht. »Darin warst du ja schon immer gut«. Wir beide lachten herzlich.

Der Film lief nun schon seit einer guten halben Stunde. Es war nicht unbedingt einer der besten Tatort-Produktionen. Aber wie das meistens so ist, wenn man einen Film angefangen hat sich anzuschauen, dann schaut man ihn sich halt bis zum Ende an, auch wenn er nicht ganz so toll ist, wie man es eigentlich erhofft hatte. Irgendwie interessiert es einen dann doch wie der Film Schlussendlich ausgeht. Außerdem hat man immer die Hoffnung, dass er doch noch irgendwie besser werden würde, was sich allerdings bedauerlicherweise dermeist als Irrtum herausstellt. Solche Filme haben jedoch den Vorteil, dass man nicht so konzentriert auf den Bildschirm starren muss und man durchaus sehr gut andere Dinge nebenher erledigen kann.

Obwohl es den ganzen Tag über recht warm für diese Jahreszeit gewesen war, jetzt am Abend war es relativ kühl geworden. Ich fror nicht so leicht. Da musste die Temperatur noch um einiges heruntergehen, bevor mir richtig kalt wurde. Marc schien es aber doch recht kalt zu sein. Er hatte meinen Bademantel an und kuschelte sich hinein. Die Beine winkelte er an und bedeckte seine Füße mit dem Bademantel. »Du wirst doch nicht frieren?« fragte ich Marc.

»Mir geht es da wie dem kleinen Eisbären«, erklärte Marc. - »Welcher kleiner Eisbär?« wollte ich wissen.

»Ich meine den kleinen Eisbären, der seine Mutter gefragt hat: ,Sag mal, Mami, war Opa auch schon Eisbär?' Die Mutter meinte: ,Ja mein Sohn.' - ,Und war dessen Vater auch schon Eisbär?' - ,Ja, mein Sohn.' - ,Und dessen Vater?' - ,Ja, mein Sohn, auch der war Eisbär.' Der kleine Eisbär überlegte und meinte schließlich: ,Ist mir egal! Ich friere trotzdem!'«

Ich musste herzlich lachen. So wie Marc den Witz erzählt hatte, war einfach rührend - witzig und rührend zugleich. »Die Heizung kann ich noch gar nicht einschalten«, erklärte ich, »Das geht immer erst ab November, weil die Grundeinstellung vom Hausmeister vom Keller aus geregelt wird.«

»Ich werde es irgendwie überleben«, sagte Marc. »Aber ich habe ganz kalte Füße.« Marc streckte mir zum Beweis seine Füße entgegen und wackelte dabei mit den Zehen.

»Du hast ja wirklich ganz kalte Füße!«, stellte ich erstaunt fest. Ich erinnerte mich daran was meine Mutter früher immer gemacht hatte, wenn ich als kleines Kind kalte Füße hatte. Sie hatte sie mir jedes Mal massiert. Das mochte ich damals gerne. Es entspannte unheimlich und ich genoss er immer sehr.

Ganz behutsam nahm ich Marcs Füße in beide Hände und massierte sie eingiebig. Marc kicherte immer wieder, es kitzelte ihn, wenn ich bestimmte Stellen berührte. Aber es schien ihm zu gefallen, wie ich seinem Gesichtsausdruck entnehmen konnte.

Marcs Füße waren weich wie Samt. Es war ein angenehmes Gefühl, das ich dabei empfand. Das hätte ich stundenlang machen können. Es verlieh mir eine innerliche Ruhe, und ich schöpfte neue Kraft daraus. Das mag sich recht seltsam anhören, aber ich hatte in diesem Moment Gefühle, welche ich noch nie zuvor in meinem Leben so intensiv wahrgenommen hatte. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich einem Menschen so nahe. Mehr als ein Händedruck oder ein Schulterklopfen hatte es bei mir noch nie gegeben. Gut, da war einmal ein Küsschen von Tante Margarete oder sonst eine eher belanglose verwandtschaftliche Berührung, aber abgesehen davon hatte ich noch nie eine solche Berührung mit einem anderen Menschen erlebt. Und Marc war mir dabei doch so vertraut, vertraut wie kein anderer Mensch auf dieser Welt. Marc war...Marc war...er war unglaublich!

Vom Krimi bekam ich nicht viel mit. Ich hatte meine Gedanken ganz woanders.

»Ist dir jetzt wieder wärmer?« fragte ich Marc. Er nickte und sagte leise: »Ja, danke.«

Nach dem aufregenden »Tatort«, oder vielleicht war es auch nicht der »Tatort« selbst, der so aufregend war, fragte ich Marc, ob er denn noch Lust auf etwas Musik hätte.

»Klar doch!« stimmte er sofort begeistert zu. Scherzeshalber fragte ich: »Heavy Metall, Pop oder Techno?« Wenn Marc sich nicht in den sechs Jahren unseres Getrenntseins zu sehr verändert hätte und alles bisher beobachtete, schien dies zu beweisen, dann waren diese drei Musikrichtungen bestimmt nicht nach seinem Geschmack. »Warum nicht«, scherzte Marc zurück, »aber bitte auch genau in dieser Reihenfolge. Vielleicht könntest du vorher noch etwas von Heino, Marianne und Michael oder Patrick Lindner einlegen, dann wäre alles perfekt!« - »Ich schätze deinen exzellenten und erlesenen Geschmack«, bekannte ich, natürlich nicht ohne einen gewissen ironischen Unterton.

Nicht mit jedem Menschen konnte man in einer solchen Art und Weise eine gepflegte Konversation führen. Viele Menschen neigen dazu jedes Wort für bare Münze zu nehmen und haben keinerlei Sinn für Ironie. Ich war gerne ironisch und es begeisterte mich, dass Marc auch hier auf der gleichen Wellenlänge lag. Ironie ist eine großartige Sache. Man kann Dinge sagen, die man wirklich so meint und andere Menschen glauben, dass man es lediglich im Spaße von sich geben würde. Man kann dadurch auf nette Art und Weise, Dinge zum Ausdruck bringen die, würde man sie anders formulieren, sehr verletzend sein könnten. Die Grenzen zwischen Ironie und Zynismus können dabei gelegentlich verschwimmen. Es ist ein schmaler Grad dazwischen. Ja, so war ich zuweilen auch zynisch. Vermutlich bewunderte ich gerade deshalb auch Groucho Marx. Dieser Komiker war für mich schon von frühester Kindheit an ein Idol. Sicher ist es nicht unbedingt logisch einen Schauspieler zum Idol zu haben, der schon ins Gras gebissen hatte, bevor man selbst das Licht der Welt erblickte. Groucho Marx drehte mit seinen Brüdern Harpo, Chicko und Zeppo insgesamt dreizehn Filme plus einen der als verschollen gilt. Von »Coconuts« bis »Love Happy«, ich liebte alle ihre Filme und hatte sie mir alle schon so oft angesehen. Besonders mochte ich es, wenn Groucho - zu Deutsch »Stinkstiefel« - sein Lieblingsopfer Margaret Dumont verarschte. Diese vollschlanke Dame spielte in den Filmen meist die reiche Witwe und war für Groucho eine ideale Zielscheibe für seine zynistischen Auswüchse. Man könnte sagen, Margaret Dumont war die filmische Erika Müller. Erika Müller war ihres Zeichens von Beruf Hausfrau, zudem Gattin meines Herren Papa, und ich redete sie mit Mutter an. Zugegeben, ich trieb es nicht ganz so toll mit meinen Auswüchsen betreffs ironisch bis zynischer Bemerkungen gegenüber meiner Mutter, wie es Groucho mit Margaret Dumont tat, aber im Grunde spielte auch ich manchmal mit meiner Mutter auf ähnliche Art und Weise. Meiner Mutter machte es nichts aus, wenn ich so mit ihr redete. Sie wusste ja, wie es gemeint war. Oder dachte sie vielleicht auch nur zu wissen, wie ich es meinte? Ironische Bemerkungen machte ich beispielsweise über ihre Kochkünste. Meine Mutter war eine gute Frau, aber man verzeih mir meine Feststellung: sie konnte einfach nicht kochen! Dabei tat sie das sehr gerne und bemühte sich reichlich. Doch so sehr sie sich auch mühte, alles, was sie kochte schmeckte irgendwie nach... nach... um ehrlich zu sein, kann ich das auch nicht so genau sagen. Sie vermochte sogar die einfachsten Gerichte zu versauen. In 17 Jahren, in denen ich meine Füße unter den elterlichen Tisch streckte, brachte sie es kein einziges Mal fertig ein Essen zu servieren, bei dem man sich nicht gewünscht hätte, dass es schnell aufgegessen war, denn nur so konnte man aufstehen, um gleich den Weg auf die Toilette zu suchen. Gerüchte machten die Runde, dass man das Chili Concarne meiner Mutter bei der Marine als Haifischabwehrmittel benutzen würde. Ja, vielleicht übertreibe ich auch hier und da ein wenig in meinen Ausführungen.

Marc aß damals auch gelegentlich bei uns zu Hause, aber wir blieben trotzdem Freunde.

Noch immer lag die CD vom Vortage im CD-Player. Ich drückte auf Wiedergabe und es erklang »From a Jack to a King«. Wir sahen uns an und ich hätte schwören können, in diesem Augenblick war es wie damals. Ich hätte schwören können wieder 14 Jahre alt zu sein, und Marc war wieder 13. Die Zeit schien stehengeblieben zu sein. Marc und ich alberten herum. Wir erinnerten uns an unsere alten Klassenkameraden, an die Lehrer und an die Dinge, die wir gemeinsam unternommen hatten. Es war eine Reise in eine Zeit, die schon so lange zurückzuliegen schien. Sechs Jahre können eine halbe Ewigkeit sein.

Ich berichtete Marc, was ich in diesen sechs Jahren so gemacht hatte. Nach dem Schulabschluss hatte ich das wahnsinnige Glück Sal kennenzulernen. Sal hieß eigentlich Albert Ruschke. Ich hatte es nie fertiggebracht Sal das Geheimnis seines Spitznamens zu entlocken. Er war damals 36 Jahre alt und Chef der »Werbeagentur Nautilus«. Ich, gerade die Volljährigkeit erlangt, wohnte seit einem halben Jahr in Berlin. Mein Vater hatte mir den Umzug und die Wohnung finanziert. Er hatte sich bereit erklärt, mir die Miete solange zu bezahlen, bis ich es mir selbst leisten konnte. Vermutlich hätten viele andere Jugendliche das ausgenutzt und sich zunächst einmal einen faulen Lenz gemacht, aber mein Vater wusste, dass er sich darauf verlassen konnte, dass ich mir möglichst schnell einen Ausbildungsplatz suchen würde. Gut, dann hätte es wohl noch immer drei weitere Jahre gedauert, bis die Ausbildung abgeschlossen gewesen wäre und ich richtig Kohle verdient hätte. Aber ich würde mich bemühen. Dass mir das Schicksal aber so hold sein würde und dass ich noch nicht einmal eine Ausbildung machen musste, um gutes Geld zu verdienen, das hätte ich in meinen kühnsten Träumen nicht gedacht. Eines Abends stattete ich dem »Roten Adler«, einem Lokal in der Nähe meiner Wohnung, einen Besuch ab. Ich hatte gerade im Lotto gewonnen: Stolze acht Mark sechzig! Jetzt wollte ich das ganze Geld mit einem Schlag auf den Kopf hauen. Ja, ich war ein Verschwender!

Meist war ziemlich reger Betrieb in meinem Stammlokal. Heute aber schien nicht viel los zu sein. Ich nahm an einem Tisch am Fenster Platz. Am Nebentisch saß ein Herr im feinen Zweireiher. Vor sich hatte er einen großen Notizblock liegen, auf dem er pausenlos irgendwelche Notizen machte. »Restauranttester?« dachte ich so bei mir. Etwa eine halbe Stunde beobachtete ich diesen Herren am Nebentisch, der dabei immer wieder auf die Uhr sah und auf jemanden zu warten schien. Dieser jemand schien sich viel Zeit zu lassen. Da mir der Herr recht sympathisch schien, wagte ich es schließlich ihn unter einem Vorwand anzusprechen, denn mich plagte die Neugier, was er da so die ganze Zeit zu notieren hatte. Wir kamen ins Gespräch und ich erfuhr, dass er Chef einer Werbeagentur war. Im Lokal wartete er auf einen Mann, der sich für die freie Stelle als Werbetexter in seiner Agentur beworben hatte. Im Scherz meinte ich, dafür der richtige Mann zu sein. Wie gesagt, es war nicht mehr als ein Scherz, aber dieser Werbefachmann, nahm mich beim Wort. Ohne dass ich es richtig mitbekam unterzog er mich durch einige geschickte Fragen einer Art Test. Ich entwickelte aus dem Stehgreif einige Werbeideen. Wenn ich damals etwas davon geahnt hätte, dass dieser Mann mich Grünschnabel tatsächlich für voll nahm, dann wäre ich vermutlich so aufgeregt gewesen, dass ich kein Wort herausgebracht hätte, aber so war ich ganz locker und spontan. Das muss ihn sehr beeindruckt haben. Er bot mir sofort das »Du« an, und überhaupt lief unser Gespräch in entspannter Atmosphäre ab. Wie er mir später erzählte, sah er in mir den Versuch, einmal etwas anderes, völlig Neues auszuprobieren. Sal, wie ich ihn nennen durfte, war sich schon bewusst, dass ich keinerlei Erfahrungen mitbrachte, aber er glaubte an mich. Und das sage ich nicht ohne eine gewisse Prise Stolz, ich habe ihn bisher nicht enttäuscht. Wir arbeiteten sehr gut und erfolgreich zusammen. Die Kunden waren bisher immer zufrieden mit meinen Vorschlägen und Ideen, und für mich war es ein Traumjob. Ich hatte viel, sehr viel Freizeit und konnte mir die Zeit so einteilen, wie ich es wollte. Nur die Abgabetermine musste ich einhalten, und das war kein Problem, denn mir gingen die Ideen nie aus. Der Verdienst war Spitzenklasse. Ich konnte mir Dinge leisten, von denen ich vorher nur träumen konnte. Als ich gerafft hatte, was ich da für einen tollen Job an Land gezogen hatte, war das erste, was ich tat, nach Hause zu fahren. Zuerst spielte ich mit dem Gedanken zu Hause anzurufen und es am Telefon zu erzählen, aber dann wollte ich mir das doofe Gesicht meines alten Herren nicht entgehen lassen, wenn er davon erfahren würde, dass ich ihn um das Vergnügen brachte, noch drei Jahre lang für meine Mietkosten aufzukommen. Vater und Mutter waren nicht wenig erstaunt, als sie es erfuhren und ich sah den Stolz in ihren Augen. Es war ein schönes Gefühl, endlich ganz und gar auf eigenen Beinen stehen zu können.

Jetzt wusste Marc auch über meine letzten sechs Jahre Bescheid, wobei ich feststellen musste, dass meine wohl weitaus erfolgreicher verliefen als die seinigen. Doch - und da war ich mir sicher - die Zukunft sollte auch für Marc besser verlaufen. Ich würde alles dafür tun, damit er wieder lachen konnte und damit ich in den Genuss seines zauberhaften Lächelns kommen würde. Darüber verlor ich kein Wort, aber ich schwor es mir selbst in diesem Augenblick.

Dieser erste Sonntag mit Marc war der schönste Sonntag seit langem für mich gewesen. Zwar hatte ich an diesem einzigen Tage so viele Höhen und Tiefen durchgemacht, dass eine wilde Achterbahnfahrt hingegen erblassen müsste, aber ich hatte jede einzelne Sekunde dieses Tages vollends genossen.

Die darauffolgende Woche verbrachten Marc und ich fast ständig zusammen. Gleich am Montag gingen wir Shoppen. Wir besorgten neue Kleidung für Marc. Ihm war es sichtbar peinlich, dass ich soviel Geld ausgab, aber ich tat es gerne, und mir bereitete es Freude, das tun zu können. Marc beschloss, dass er mir das alles irgendwann zurückzahlen würde, sobald es ihm möglich sei.

Da es kein Dauerzustand sein konnte, dass Marc auf dem Sofa nächtigen würde und da sowohl er als auch ich eine Möglichkeit brauchten, uns auch einmal zurückziehen zu können, beschlossen wir, oder besser gesagt ich, denn Marc war auch dies nicht ganz recht, aber ich ließ keine Widersprüche dabei aufkommen, aus dem Arbeitszimmer ein eigenes Zimmer für Marc zu machen. Wie immer, wenn ich mir etwas vorgenommen hatte, so musste es auch diesmal sein, dass der Gedanke praktisch schon gleich nach dessen Entstehung in die Tat umgesetzt wurde. Deshalb befanden wir uns bereits am Dienstag im Möbelgeschäft und ehe Marc so recht wusste, was geschah, stand auch schon am Donnerstag der Möbelwagen vor der Tür und die neuen Möbel wurden angeliefert. Selbstverständlich konnte Marc sich alle seine Möbel selbst aussuchen, aber ich musste schon ein wenig nachhelfen, sonst hätte er nur das Billigste genommen, dem ich persönlich keine Garantie über sechs Wochen gegeben hätte. Ja, ich versuchte, mich in seine Situation hineinzuversetzen. Wenn ich in seiner Situation gewesen wäre, und Marc wäre derjenige gewesen, der mir nun so unter die Arme gegriffen hätte, dann hätte ich sicher auch das Gefühl der Hilflosigkeit gehabt, und es wäre mir mehr als unangenehm gewesen, wenn Marc so viel Geld für mich ausgegeben hätte. Irgendwann, ich glaube es war am Donnerstag, als die Möbelpacker gerate wieder abgezogen waren, redeten wir dann darüber. Ich hätte nicht davon angefangen, aber Marc plagte es zu sehr. Also erklärte ich ihm, wie ich die Sache sehen würde. Mir fiel eine alte Weisheit ein, die besagt, dass man einem Freund niemals Geld leihen solle. Man kann ihm Geld schenken, aber niemals leihen, denn leihen würde gewollt oder ungewollt eine Art von Abhängigkeit schaffen, und Marc sollte wissen, dass auch wenn seine Lage im Moment nicht die Beste war, dass er nicht abhängig von mir war. Aber Marc kannte mich auch so gut genug, um zu wissen, dass alles was ich für ihn tat von mir aus ohne Erwartungen geschah und dass alles, was ich an Geld für ihn ausgab, schon von diesem Moment an Vergangenheit für mich war und dass ich kein Wort mehr darüber verlieren wollte.

Zu der Erkenntnis, dass man über verschenkte Dinge nicht mehr sprechen sollte, kam ich schon sehr früh. Schon als kleines Kind wurde ich mit solch charakterlosen Subjekten konfrontiert, die Geschenke zurückforderten, wenn man einmal nicht ihrer Meinung war oder wenn es zum Streit kam. Das erste Mal, dass ich auf einen solchen Typen stieß, war im Kindergarten. Fabian war ein Kind, das ziemlichen Stimmungsschwankungen unterlag. Manchmal war er sehr nett, aber schon im nächsten Moment konnte er sich als miese Ratte herausstellen. Eines Tages schenkte er mir aus heiterem Himmel einen kleinen Spielzeugelefanten. Ich hatte mich sehr darüber gefreut. Voller Stolz präsentierte ich das Geschenk überall und schleppte es auch immer mit mir herum. Einige Wochen später spielten wir im Gemeinschaftsraum im Kindergarten. Fabian wollte aber lieber draußen im Sand spielen. Dazu hatte ich in diesem Moment keine Lust und wollte nicht mitgehen. Die Reaktion Fabians war in etwa so: »Dann musst du mir den Elefanten zurückgeben!«

Heute erinnere ich mich beim besten Willen nicht mehr daran, was aus dem Elefanten wurde, ob ich ihn damals an Fabian zurückgab, oder ob ich ihn behielt. Aber so unbedeutend es damals auch ausgesehen haben mag, für mich war es ein sehr einschneidendes Erlebnis. Derlei Erfahrungen sollte ich noch einige in meinem Leben machen. Sogar von meiner Großmutter bekam ich einmal vorgeworfen: »Ich habe doch alles für dich getan!« als sie etwas bei mir erreichen wollte und wütend auf mich war. Sie zählte tatsächlich jede auch noch so kleinste Kleinigkeit auf, die sie jemals für mich getan hatte. An den größten Teil davon hatte ich selbst schon lange nicht mehr gedacht. Mein Gott, führte sie etwa Buch über alle Dinge, die sie jemals in ihrem Leben für andere Menschen tat? Es erschien mir damals und eigentlich auch noch heute, als hätte sie alle Gefälligkeiten nicht für andere, sondern nur für sich getan. Vermutlich stand sie jeden Abend vor dem Spiegel und klopfte sich dabei selbst vor Stolz auf die Schultern. Sie kam sich sicher manchmal vor wie eine Halbgöttin. Sie war die gute Frau, die alles richtig machte und der die anderen Menschen alle zu Dank verpflichtet waren. Meiner lieben Großmutter konnte man nie etwas recht machen. Oh, sie selbst ließ sich übrigens nie etwas schenken, außer vielleicht zum Geburtstag. Selbst für Selbstverständlichkeiten, wenn meine Mutter ihr die Wohnung sauber machte, während sie einmal krank war, musste sie bezahlen. Meine Mutter war damals zu Recht eingeschnappt, musste sie sich doch durch die Bezahlung wie eine Putzfrau vorkommen. Nicht, dass Putzfrau sein eine Schande wäre, aber es war für sie eine Selbstverständlichkeit, dass sie es tat, und dafür bezahlt zu werden, war eine Kränkung. Hätte Großmutter ihr nur Danke gesagt oder hätte sie ihr eine Schachtel Pralinen als Anerkennung geschenkt, dann wäre es okay gewesen, aber so! Als meine Eltern einmal Streit mit Großmutter hatten, da hat es die alte Dame doch tatsächlich fertiggebracht sämtliche Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke der vergangen Jahre wieder zurückzubringen. Wir wussten damals nicht so recht, ob wir nun lachen oder doch eher weinen sollten.

Marc wusste von diesen und auch noch von ähnlichen Erlebnissen und musste deshalb wissen, dass das, was auch immer ich ihm gab, gegeben wurde ohne eine Bedeutung für später zu haben und ich ging davon aus, dass es umgekehrt genauso gewesen wäre, davon war ich fest überzeugt!

Marc hatte jetzt sein eigenes Zimmer. Ich hatte es mit der Hausverwaltung abgeklärt. Die hatte nichts gegen meinen neuen Wohngenossen einzuwenden. Marc machte sich auch auf die Suche nach einem Job, was angesichts der zu diesem Zeitpunkt eher schlechten Arbeitsmarktlage aber nicht allzu hoffnungsvoll war. Ansonsten verbrachten Marc und ich viel Zeit miteinander. Wir machten Ausflüge, Museumsbesuche, gingen zusammen ins Kino, kurz gesagt, wir machten alles das, was zwei gute Freunde machen, zusammen unternehmen konnten. Die Tage vergingen schnell. Es war mittlerweile schon fast zwei Monate her, dass Marc bei mir eingezogen war. Und auch, wenn wir fast acht Stunden am Tag miteinander verbrachten, die Zeit ohne ihn erschien mir immer unendlich lange, sie zog sich wie Kaugummi.

Es war an einem Mittwoch. Marc studierte beim Frühstück wieder einmal die Stellenangebote in der Zeitung. Er würde einmal mehr den ganzen Tag durch halb Berlin, von Stelle zu Stelle laufen, in der Hoffnung, einen Job ergattern zu können. Ich hätte ihn gerne gefahren, aber leider musste ich mich mal wieder im Büro blicken lassen. Wir hatten heute eine Besprechung mit einem Kunden, und ich durfte meinen neuen Entwurf vorstellen.

Auf der Fahrt ins Büro hatte ich ein ungutes Gefühl. War es das Frühstück? Vielleicht hätte ich die aufgewärmte Pizza vom Vortage doch nicht mehr essen sollen, erst recht nicht so früh am Tage? Hatte ich meine Unterlagen dabei? Ich schaute auf den Rücksitz, da lagen sie. »Sei nicht albern Daniel«, sagte ich zu mir selbst. Doch irgendetwas war nicht so, wie es sein sollte, das hatte ich im Urin, wie es so schön heißt. Verdammt, hatte ich den Herd abgeschaltet, das Wasser abgedreht? Am Liebsten wäre ich umgekehrt, um noch einmal nachzuschauen, aber ich war ohnehin spät dran. Bevor ich aus dem Wagen ausstieg, schnappte ich mir den Kamm und gab im Autospiegel meiner Frisur noch einmal den letzten Schliff.

»Guten Morgen, Herr Müller!« begrüßte mich der Mann an der Rezeption. Ich grüßte freundlich zurück. Nachdem ich dieses Zeremoniell auf dem Wege zum Zimmer noch ein paar Mal wiederholt hatte, mir kamen noch etwa zwanzig Mitarbeiter entgegen, kam ich in meinem Büro im vierten Stock an. Es waren noch gut drei Stunden Zeit bis zur Besprechung. Ich füllte die Zeit mit der Aufarbeitung liegengebliebener Post. Kurz vor elf machte ich mich dann auf den Weg in den Konferenzraum. Ich war der Letzte, aber durchaus noch pünktlich. Hier ging es um ein neues Konzept für einen Kunden, der eine neue Kaffeesorte auf den Markt bringen wollte. Ich hatte mir große Mühe bei der Ausarbeitung gegeben. Zum Glück nahm der Kunde das Konzept mit Begeisterung an. Wenn er es abgelehnt hätte, dann hätte ich mir einige Nächte um den Kopf hauen müssen, um ein anderes Konzept zu entwickeln. Aber alles hatte geklappt, warum also hatte ich mir Sorgen gemacht? Doch noch vor Ende der Konferenz wurden wir unterbrochen. Barbara Müller, nicht verwandt und nicht verschwägert, wie ich bei dem gleichen, doch so seltenen Nachnamen immer betonen muss, ihres Zeichens Chefsekretärin, kam herein und sagte ganz aufgeregt: »Bitte entschuldigen Sie, aber da ist ein dringendes Gespräch für Herrn Müller!«

Ohne zu wissen, was überhaupt los war, war ich sehr durcheinander und aufgeregt. Wenn die Chefsekretärin eine Sitzung unterbrach, dann musste es schon etwas sehr Wichtiges sein. Tausend Gedanken schossen mir in diesem Moment durch den Kopf. Vater? Mutter? Mein Gott, es wird ihnen doch nichts passiert sein!? Mit zitternden Händen nahm ich den Telefonhörer in die Hand: »Ja, Müller«, meldete ich mich.

...mir war kotzübel. Eigentlich hätte ich in meinem Zustand nicht in ein Auto hinter das Steuer steigen dürfen, doch daran verschwendete ich in diesem Moment keinerlei Gedanken. Ich zitterte am ganzen Körper und trotz der gelinden Temperaturen draußen, fror ich unheimlich. Nur sehr schwer konnte ich einen klaren Gedanken fassen. Die Tränen kullerten über meine Wangen. Ich hatte das Bedürfnis, laut zu schreien. Mit der linken Hand wischte ich mir ein paar Tränen aus dem Gesicht.

Warum nur, warum? Marc! Nicht Marc! Wie von Sinnen schlug ich ein paar Mal auf die Hupe und hatte Glück, dass keine Polizeistreife in der Nähe war und mich anhielt. Scheiße, verdammte Scheiße! Warum Marc? Warum ausgerechnet Marc!? Was verdammt noch mal hatte Marc verbrochen, dass das Leben ihn immer wieder so hart bestrafen musste? Warum durfte Marc nicht auch einmal glücklich sein? Oh Gott! Nicht Marc!

Mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit bog ich die Einfahrt zur Klinik ein. Was hatte die Schwester vorher am Telefon gesagt? Bei ihnen wäre ein junger Mann nach einem Unfall eingeliefert worden. Sie könnten die Identität nicht feststellen. Aber er hätte einen Zettel mit meinem Namen und meiner Geschäftsnummer dabei gehabt!?

Ich sprang aus dem Wagen und vergaß dabei sogar abzuschließen. Schnellen Schrittes ging ich zur Rezeption und erkundigte mich, wo ich mich hinwenden konnte. Man verwies mich ins Zimmer 103. Die Schwester dort sagte, dass gleich ein Arzt käme. Etwa vier Minuten ließ man mich warten, in dieser ungewissen Situation eine Ewigkeit. Da tat ich etwas, was ich seit vielen Jahren nicht mehr getan hatte: Ich betete, ich betete zu Gott, dass es nicht Marc sein würde, dass es ein Irrtum war.

»Herr Müller«, sprach mich ein Mann im weißen Kittel an. Ich nickte. »Was ist passiert?« fragte ich ängstlich.

»Bei uns wurde ein etwa 18 Jahre alter Mann eingeliefert. Wir fanden keine Papiere bei ihm, die auf seine Identität hätten hinweisen können. Aber er hatte einen Zettel mit ihrem Namen und ihrer Telefonnummer. Können sie uns sagen, wer es ist?« fragte der Arzt.

Ich bemühte mich sachlich zu bleiben: »Ich... entschuldigen Sie, ich bin ganz durcheinander. Wie geht es ihm? Wie schlimm war der Unfall?« - »Der Zustand des jungen Mannes ist einigermaßen stabil«, versuchte er mich zu beruhigen. » Dürfte ich Sie bitten, kurz mitzukommen und zu schauen, ob sie mir sagen können, wer es ist?«

Mein Gott, es war Marc! Es war tatsächlich Marc! Er lag auf der Intensivstation, verbunden mit unendlich vielen Schläuchen. Ich durfte ihn nur sehr kurz und nur aus der Ferne sehen. Meiner Tränen schämte ich mich nicht im Geringsten.

Eine Schwester wollte von mir seine Personalien wissen. Ich sagte ihr, was ich wusste. Dann fragte sie mich, in welchem verwandtschaftlichen Verhältnis ich zu Marc stehen würde. Ich wollte schon sagen, dass ich nicht mit ihm verwandt sei, aber dann fiel mir ein, dass die Gesetze vorschrieben, dass die Ärzte nur nahen Verwandten Auskunft erteilen durften. Also gab ich an, dass ich Marcs Halbbruder sei.

Marc schwebte in Lebensgefahr. Ein Auto hatte ihn erfasst, als er die Straße überqueren wollte. Der Scheißkerl von Fahrer hatte dann auch noch Fahrerflucht begangen. Das konnte ich nicht begreifen. Er hatte Marc einfach so auf der Straße liegen lassen und war weitergefahren. Passanten hatten sofort den Unfallwagen gerufen. Die Autonummer hatte sich keiner gemerkt.

Ich konnte kaum noch stehen. Einige Stunden saß ich im Warteraum, dann schickte mich die Schwester nach Hause. Sie meinte, dass man mich sofort anrufen würde, wenn es etwas Neues geben würde. Zunächst sträubte ich mich dagegen, dann fuhr ich aber doch nach Hause. Dort war es noch schlimmer. Mir fiel förmlich die Decke auf den Kopf. Auf dem Sessel lag noch Marcs Pulli, den er am Vortag angehabt hatte. Ich griff nach ihm, legte mich aufs Sofa und drückte den Pulli ganz fest an mich.

Jeden Tag wartete ich stundenlang im Wartezimmer und betete für Marc. Für mich selbst hätte ich niemals gebetet, aber für Marc...

Nach drei Tagen war Marc außer Lebensgefahr, aber er lag noch immer im Koma. Seit seinem Unfall hatte er die Besinnung noch nicht wiedererlangt. Dann durfte ich endlich zu ihm. Zunächst saß ich stillschweigend neben ihm am Bett, dann begann ich immer wieder, mit ihm zu reden. Ich erzählte von unseren vergangen Erlebnissen und erzählte fast jede Kleinigkeit, und war sie auch noch so dumm und unbedeutend, aus meinem Leben.

Die Wochen und Monate vergingen. Wenn ich nicht gerade beruflich zu tun hatte, verbrachte ich fast jede freie Minute bei ihm am Krankenbett. Es tat unheimlich weh, ihn so daliegen zu sehen.

Eines Tages hielt mich Schwester Nathalie an, als ich zu Marc ins Zimmer wollte. Nathalie war die netteste der Schwestern, mit ihr hatte ich mich schon des Öfteren unterhalten. Sie hatte sich auch dafür interessiert, was Marc für ein Mensch war. So hatte ich ihr einiges von dem erzählt, was ich mit Marc zusammen erlebt hatte. Mit einem Lächeln im Gesicht teilte Nathalie mir mit: »Ich war heute Morgen gegen sieben bei ihm drinnen und ich hätte schwören können, dass er den rechten Arm ein wenig bewegt und die Augen einen Spalt weit geöffnet hatte. Der Arzt meinte bei der Visite zwar, dass ich mich wohl getäuscht hätte, aber ich glaube das nicht.«

Ich schöpfte neue Hoffnungen. Ich war so aufgeregt und aufgedreht, dass ich Schwester Nathalie aus versehen vor lauter Freude einen Kuss auf die Wange drückte. Doch sie freute sich fast ebenso wie ich.

Voller Hoffnung betrat ich Marcs Zimmer. Nach all den Wochen und Monaten, gab es endlich neue Hoffnung: »Hallo Marc, Nathalie hat mir gesagt, dass du heute kurz wach warst. Das ist toll, Marc. Ich glaube, dass du es packen wirst. Weißt du Marc, erinnerst du dich, dass wir einmal darüber gesprochen haben, dass man oft im Leben vergisst, einem Menschen zu sagen, wie viel er einem bedeutet. Du hast es damals deinen Eltern nicht mehr sagen können, und ich... auch ich habe es einem bestimmten Menschen nie gesagt.«

Ich atmete schwer und ging im Zimmer auf und ab, während ich mit Marc redete. In den vergangenen Monaten hatte ich oft geweint. Inzwischen hatte ich kaum noch Tränen, doch jetzt konnte ich sie wieder einmal nicht zurück halten. Ich setzte mich direkt neben Marc aufs Bett. Das war eigentlich nicht erlaubt, doch ich wollte ihm jetzt so nahe wie möglich sein. Meinen Blick hatte ich starr auf Marc gerichtet: »...Marc du weißt, dass ich nie in meinem Leben einem Freund wie dich hatte. Wenn ich alle Stunden meines Lebens zusammenzähle, in denen ich wirklich glücklich war, dann habe ich den weitaus größten Teil davon in deiner Gegenwart verbracht. Marc, ich kann mir einfach nicht mehr vorstellen, wie es ohne dich sein würde. Ich brauche dich Marc! Marc, ich brauche dich!«

Ich schloss meine Augen für einen Augenblick und atmete tief durch: »Marc, ich habe so etwas noch nie zu einem Menschen gesagt, und ich kann mir auch nicht vorstellen, es jemals zu einem anderen Menschen sagen zu können. Marc, ich liebe dich.«

Jetzt hatte ich es endlich ausgesprochen. Auch wenn es kein Mensch gehört hatte, ich hatte es ausgesprochen. Ich hatte es immer zu unterdrücken versucht und wollte es selbst nicht wahrhaben, aber ich konnte es nicht länger für mich behalten. Ja, Marc bedeutete mir alles. Marc bedeutete mir mehr als mein eigenes Leben. Wenn ich hätte mit ihm tauschen können, dann hätte nicht er hier gelegen, sondern ich.

In diesem Moment war es mir, als hätte Marc sich bewegt. Ich kann nicht sagen, ob vielleicht nur der Wunsch Vater des Gedankens war, aber ich war überzeugt: Marc hatte sich bewegt.

Immer und immer wieder erzählte ich Marc in den darauffolgenden Tagen von meinen Gefühlen für ihn. So vergingen noch einmal fünf Wochen. Eines Morgens klingelte bei mir Zuhause das Telefon. »Hallo Daniel!« hörte ich eine freundliche weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung. »Hier ist Nathalie.« - »Hallo!«, grüßte ich zurück. Und alles, was dann kam, war für mich wie ein Traum. »Daniel«, fuhr Nathalie fort, »ich hoffe, du sitzt. Marc ist heute Morgen aufgewacht. Er hat gleich nach dir gefragt!«

Sie sprach nicht weiter und wartete wohl darauf, dass ich etwas sagen würde, aber ich brachte kein einziges Wort heraus. Ich weinte dicke Tränen. Doch jetzt waren es Tränen der Freude. Zum ersten Mal seit vielen Monaten war ich wieder in der Lage zu lachen und mich zu freuen.

»Bist du noch dran?« fragte Nathalie zurück. »Ja«, brachte ich gerade noch heraus.

Ich konnte es kaum noch abwarten, zu Marc in die Klinik zu kommen, und als ich auflegte, saß ich fast schon im Auto und drückte aufs Gas. Die Angst war noch sehr groß, dass er vielleicht doch wieder im Koma läge, bis ich endlich in der Klinik ankommen würde. Außerdem hatte ich Angst, dass ich den Anruf von Nathalie vielleicht nur geträumt hätte.

Dass es kein Traum war, sah ich, als mich Nathalie sofort in Empfang nahm. Sie umarmte mich wie einen guten alten Freund. Ja, Nathalie war mir in den vergangenen Monaten ein richtiger Trost gewesen. Sie trauerte und sie freute sich mit mir. Nathalie lächelte mich an und gab mir mit einem Kopfnicken zu verstehen: »Ja, es ist geschafft!«

Behutsam und noch immer mit einer gewissen Angst, öffnete ich die Tür zu Marcs Zimmer. Marc richtete sich auf. Jetzt war ich absolut sicher: Marc war wieder da! Nathalie hatte sich dezent zurückgezogen und ließ uns beide ganz allein. Eine ganze Weile blieb ich wie angewurzelt an der Türe stehen. Marc starrte mich bewundernd mit seinen großen blauen Augen an. Die Tränen kullerten über seine hübschen Wangen. Verdammt, die sieben Monate Schlaf hatten ihn noch hübscher gemacht. Womöglich sah ich ihn nun aber auch mit anderen Augen, denn jetzt war ich mir meiner Gefühle zu ihm sicherer als je zuvor. Ich wollte keinen Tag meines Lebens mehr ohne Marc verbringen. Und nun hatte ich sogar die Kraft, ihm das von Angesicht zu Angesicht zu sagen. Nun konnte ich meine innersten Gefühle zu ihm offenbaren. Ich zweifelte nicht im Geringsten daran, dass es ihm genauso wie mir erging. Unsere Liebe war eine wahre und aufrichtige Liebe, wie sie nur sehr wenige Menschen jemals empfinden werden. Unsere Liebe war keine oberflächliche Liebe, die für wahre Gefühle keinen Platz ließ.

Einen Menschen zu lieben heißt,

ihn so zu sehen, wie Gott ihn gemeint hat.

Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821 - 1881) - Russischer Schriftsteller

»Na, gut geschlafen?« - Ich schlug die Augen auf. Die Sonne ließ bereits ihre Strahlen ins Zimmer fallen. Der Kopf eines Engels tauchte über mir auf und begrüßte mich mit einem breiten Grinsen.

»Mann, muss ich lange geschlafen haben. Ich bin ja schon im Himmel.«, erkannte ich mit einem tiefen Gähnen. »Im Himmel?« wollte er verwundert von mir wissen. »Ja, bist du denn kein Engel?« fragte ich scherzhaft. »Wie kommst du nur darauf, dass du dort jemals Einlass bekommst?« stellte er grinsend fest.

Ja, die Beschreibung Engel war wahrlich nicht übertrieben. Für mich war er ein Engel. Für mich war er das vollkommenste Wesen das Gott jemals geschaffen hatte. Gott musste einen besonders guten Tag gehabt haben als er Marc Leben einhauchte. Und so stellte ich es mir auch im Himmel vor. Aufwachen und das erste was das Auge erblickt ist Marc, das war das Höchste was einem passieren konnte. Diesen Anblick hätte ich für nichts in der Welt eintauschen wollen. Seit bereits einem Jahr konnte ich nun schon fast jeden Morgen den Tag mit einem »Marc-Lächeln« beginnen. Dies verlieh mir unendlich viel Kraft und gab mir genügend Elan, auch für die anstrengendsten Tage. Seitdem das so war, brachte ich noch bessere Ideen in meinen Beruf mit ein. Selbst mein Boss erkannte, dass ich noch viel kreativer geworden war. Freilich, er kannte den Grund dafür nicht, aber ich kannte ihn und konnte ihn mit einem einzigen Wort umschreiben, und dieses Zauberwort hieß »Marc«!

Marc war der einzige echte Freund den ich jemals im Leben hatte. Zu ihm hatte ich unendliches Vertrauen. Auch wenn es viele Mädchen und Frauen gab, die mich sexuell sehr reizten, Marc war mehr für mich. Bei Marc hatte ich ein Gefühl, welches ich nie zuvor und auch nie danach mehr verspürte. Ich wusste woran ich bei ihm war. Ihm vertraute ich blind. Ihn zu Lieben war die Erfüllung meines Lebens.

Marc beugte sich über mich und wir sahen uns in die Augen. Sein Lächeln war wahrhaft ansteckend. Marc ließ sich wieder nach hinten plumpsen und räkelte sich. »Oh, hab ich gut geschlafen!« sagte er.

»Hattest du auch einen schönen Traum?« erkundigte ich mich. »Ich hatte einen Alptraum«, berichtete Marc. »Oh, erzähl«, forderte ich ihn auf. »Die ganze Nacht habe ich nur von Dir geträumt!« erzählte Marc mit todernstem Gesicht. »Hattest du nicht eben von einem Alptraum gesprochen?« fragte ich nach. »Ja«, bestätigte Marc trocken. »Du hattest einen Alptraum und du hast von mir geträumt?« wiederholte ich noch einmal. »Mmmmm!« machte Marc. Ich tat so, als sei ich ganz traurig wegen seiner Feststellung, dass ich der Grund für einen Alptraum war. »Aber«, fuhr Marc schmunzelnd fort, »du weißt doch, ich liebe Alpträume!«

Marc legte seinen Kopf neben meine Schulter. So lagen wir eine ganze Weile stillschweigend da und lauschten dem fröhlichen Zwitschern der Vögel, die sich draußen vor dem Schlafzimmerfenster auf dem großen Eichenbaum tummelten.

»Vogel müsste man sein«, sagte Marc plötzlich.

»...dann könnte man den ganzen Tag vögeln«, ergänzte ich erheitert.

»Witzig, sehr witzig, Daniel«, meinte Marc. Er wusste, dass ich es nicht so gemeint hatte. Seit neustem machte es mir einfach Spaß solche kleinen `Schweinereien´ von mir zu geben. Das tat ich allerdings nur in gewissen Gesellschaftskreisen, wo man mich besser kannte, denn sonst hätte man das womöglich noch für bare Münze genommen. Genauer gesagt, tat ich solche Äußerungen eigentlich nur in Marcs Gegenwart.

»Nein«, bekräftigte Marc grinsend, »Im Ernst! Als Vogel hätte man ein sorgenfreies Leben. Man könnte hinfliegen, wohin man wollte. Niemand könnte einem Vorschriften machen. Das stelle ich mir toll vor.«

»Ja«, stimmte ich leise zu.

Ich sah nach draußen in den blauen Himmel hinaus und stellte mir vor, wie es denn so wäre ein Vogel zu sein, so frei und ungebunden.

Marc schien intensiv nachzudenken. Über was er sich wohl den Kopf zerbrach? Dann fragte er mich: »Ob es unter den Vögeln wohl auch gleichgeschlechtliche Liebe gibt?« »Hm«, machte ich, »so genau habe ich mir darüber noch gar keine Gedanken gemacht. Aber ich erinnere mich, dass ich einmal in einem Zeitungsartikel von einem Storchenpaar im Osnabrücker Zoo gelesen habe, das aus zwei männlichen Störchen bestand. Die beiden Störche Edgar und Holger, hatten mit viel Liebe zusammen ein Pinguinei ausgebrütet. Die beiden waren 16 Jahre lang ein glückliches Paar, bis Holger eines Tages, vermutlich durch einen Fuchs gerissen wurde. Danach war Edgar ein halbes Jahr allein, bis man ihn mit einem anderen Störcherich namens Norbert aus Magdeburg verkuppelte.«

»Ob die anderen Störche so etwas akzeptieren?« wollte er von mir wissen.

Wie kam er nur ausgerechnet auf diese Frage. Wenngleich ich gestehen muss, dass sie gar nicht so abwegig war, konnte ich mir doch denken, worauf Marc mit dieser Frage zielte und wie er auf diese Frage gekommen sein musste. Doch was sollte ich ihm darauf antworten? Ich überlegte und meinte schließlich: »Ich glaube, dass Tiere darauf anders reagieren als die meisten Menschen...Die meisten Menschen würden jetzt sagen, dass Tiere ja auch nicht die Intelligenz des Menschen hätten.«

Marc räusperte sich und fragte: »Meinst du denn, dass es ein Zeichen von Intelligenz ist, wenn man es nicht akzeptiert?«

Solche Fragen und das schon am frühen Morgen, dabei war ich doch gerade erst aufgewacht. Aber warum sollten wir nicht einmal darüber sprechen? Bisher hatten wir nur selten über Hintergründe unserer Gefühle gesprochen gehabt. Wir nahmen es einfach so wie es war. Wir beide liebten uns. Wir liebten uns aus tiefsten Herzen und für uns war unsere Liebe natürlich. Es gab keinen Grund darüber zu diskutieren. Aber vielleicht gab es doch einen Grund, und wir hatten es bisher einfach nur vermieden darüber zu sprechen.

»Nein«, antwortete ich ihm, »ein Zeichen von Intelligenz ist es sicher nicht. Ich glaube, es ist eher ein Zeichen von mangelnder Toleranz. Manche Menschen haben sicherlich Angst davor, weil es fremd für sie ist. Ich behaupte, dass die meisten Menschen im Laufe des Lebens auch einmal Gefühle für das gleiche Geschlecht entwickeln, nur wollen sie es nicht wahr haben und schauen darüber hinweg. Man hat ihnen einfach gelehrt, dass es `unnormal´ ist.«

»Glaubst du denn nicht, dass es unnormal ist?« Marc sah mich fragend an.

»Was heißt normal oder unnormal? Das ist eigentlich unwichtig. Doch wenn du es genau wissen möchtest, wie ich es sehe, dann kann ich dir ein paar Beispiele geben. `Normal´ bedeutet eigentlich, wenn man es genau nimmt, dass man sich in keinem Punkt vom Durchschnitt unterscheidet. Eigentlich gibt es wohl keinen Menschen, der genau dem Durchschnitt in allen Punkten entspricht. Die meisten Menschen sind Rechtshänder, also ist es `normal` Rechtshänder zu sein. Die meisten Menschen schlafen ca. acht Stunden am Tag oder besser gesagt: in der Nacht. Die meisten Menschen haben blonde, schwarze oder braune Haare. Die meisten Menschen sind von Vater und Mutter großgezogen worden. Das könnte man also alles als `normal´ bezeichnen. Dann wäre es nicht normal, wenn man Linkshänder ist, nur vier Stunden täglich schläft, rote Haare hat, nur von einem Elternteil großgezogen wurde oder sogar im Heim aufgewachsen ist. Aber kein Mensch käme darauf, dies als `unnormal´ hervorzuheben. Doch es ist meiner Ansicht nach nicht mehr oder weniger `unnormal´, als gleichgeschlechtliche Liebe. Nur, und das ist der Unterschied, es sind einfach zu viele Vorurteile darüber im Umlauf.«

Marc seufzte tief. Ich spürte eine Unruhe in mir. Es machte mich immer unruhig, wenn ich über solche Themen näher nachdachte. Jeder Mensch neigt nun einmal dazu, von sich selbst auszugehen. Alles, was andersartig als man selbst ist, macht einem irgendwie Angst. Viele Menschen unternehmen nicht einmal den Versuch es zu akzeptieren. Bei mir war es von frühester Kindheit an so, dass ich alle Menschen als Menschen ansah. Nie machte ich einen Unterschied welcher Nationalität ein Mensch war. Auch war es mir egal, wie sich die Menschen kleideten. Gut, nicht mit allen Menschen wollte ich Kontakt haben. Ich selbst bevorzugte für mich feineren Zwirn, aber wenn ich einem weniger edel gekleideten Menschen gegenüberstand, dann erachtete ich ihn als nicht weniger. So sah ich es und das war eben meine Auffassung.

»Ich glaube, dass du recht hast«, stimmte Marc mir zu, »Vorurteile sind immer schlimm. Wenn man das Wort `Homosexuell´ hört, dann denkt man doch immer an die gleichen Klischees!«

»Huch, da habe ich doch glatt meine Handtasche wieder in der Damentoilette liegen lassen!« spottete ich und sprach dabei mit der mir schrillsten Stimme. Dazu machte ich einige aufreizende Gesten mit der linken Hand: »Detlef, kannst du mir mal deinen Lippenstift leihen? Mann, sind die Veilchen heute aber wieder blau! Was meinst du, steht mir das Rosafarbene oder das Türkisgestreifte besser?«

Marc bekam sich vor Lachen kaum noch ein.

Diese Klischees, diese Klischees! Es soll doch noch immer Zeitgenossen geben, die tatsächlich der Ansicht waren, dass alle `Schwulen´ arschwackelnd mit Handtaschen durchs Leben gehen würden, dass alle Schwulen sich ausgesprochen weiblich geben würden und sie bemüht seien, alle anderen männlichen Wesen anzubaggern.

Gut, es gab solche `Schwule´, und auch das war natürlich für mich, aber weder Marc noch ich waren so und wohl auch der größte Teil der Homosexuellen entsprachen bei weitem nicht diesem Klischee. Aber das verkaufte sich nun mal am Besten. In Filmen konnte man das so herrlich durch den Kakao ziehen. Wenn es gut gemacht war, dann konnte sogar ich über solche Dinge lachen. Aber sobald es verletzend war, dann machte es mich nur noch wütend. Im Grunde genommen störte es mich nur, dass solche Filme das Image prägten. Genauso lächerlich war auch das Vorurteil, dass Schwule prinzipiell mit jedem ins Bett steigen würden. Ja, sicher, das gab es, aber das war mit Sicherheit nicht die Regel. Jedenfalls hatten weder Marc noch ich jemals in unserem Leben eine andere Beziehung gehabt. Bei uns standen die Gefühle im Vordergrund, und daran war nichts Unredliches. Das konnten, oder besser gesagt wollten manche Menschen einfach nicht einsehen. Ein Erlebnis, welches wir ein paar Wochen zuvor in der Stadt erlebt hatten führte uns das wieder einmal mehr vor Augen. Auch in jenem Moment, wo Marc und ich hier nebeneinander im Bett lagen und über dieses Thema philosophierten, fiel es mir wieder ein:

So ein Stadtbummel kann etwas Schönes sein, zumindest wenn man ihn zusammen mit der richtigen Begleitung unternimmt. In Gesellschaft von Marc befand ich mich stets in rechter Begleitung. Und ob man es glaubt oder nicht, ich war unheimlich stolz darauf, mit Marc in meiner Begleitung gesehen zu werden. Das klingt kindisch, war aber so. Marc war auch in dieser Beziehung etwas Besonderes für mich. Andere Menschen waren stolz darauf in ihren Luxuskarossen gesehen zu werden. Das war für sie ein Statussymbol. Marc war natürlich kein Statussymbol für mich, aber dennoch kam ich mir irgendwie in seiner Gegenwart besonders vor. Liebe ist eines der wenigen Dinge auf dieser Welt, die man nicht kaufen kann. Sie ist kostenlos, zugleich doch so kostbar! Es war Sonntag. Wir schlenderten so durch die Einkaufspassagen und betrachteten uns die Auslagen in den Schaufenstern der geschlossenen Geschäfte. Marc und ich alberten wie üblich herum, und wir machten unsere Scherze über diesen oder jenen Artikel.

An einem kleinen Café blieben wir stehen. Draußen standen Stühle. Es sah wirklich sehr einladend aus. Wir nahmen an einem freien Tisch Platz.

»Und, was nimmst du?« fragte mich Marc, noch bevor ich richtig Platz genommen hatte. »Einen Cappuccino werde ich mir vermutlich gönnen« meinte ich. »Also ich werde mir ein Eis bestellen«, frohlockte Marc. »Darauf wäre ich wirklich nie im Leben gekommen«, schmunzelte ich, denn ein Cafébesuch mit Marc ohne mindestens eine Portion Eis gab es einfach nicht. Eine Eisbestellung von Marc war also genauso logisch wie das Amen in der Kirche!

Eine Blondine kam an unseren Tisch, um unsere Bestellung aufzunehmen. Ich bestellte wie angekündigt einen Cappuccino. Marc war unterdessen noch immer mit dem Studium der Eiskarte beschäftigt. Die Kellnerin starrte Marc nervös an, der aber las seelenruhig weiter. Sie räusperte sich und hämmerte unruhig mit ihrem Bleistift auf ihrem Notizblock herum. »Marc... Märkchen...Marcilein«, machte ich Marc aufmerksam, »alle Augen warten auf Dich!« - »Oh«, entgegnete Marc, »Sorry! Ich hätte gerne einen großen Früchtebecher.«

Die kühle Blonde ging, um unsere Wünsche in die Tat umzusetzen. »Und willst Du nicht auch etwas Süßes?« fragte mich Marc. »Hab ich doch«, erklärte ich trocken, »das Süßeste der Welt sitzt mir gegenüber.«

Nachdem wir uns eine ganze Weile über die wichtigsten Dinge in der Welt wie Wetter, Sport und die aktuellen Musikcharts unterhalten hatten, kam ein Herr mittleren Alters an unseren Tisch und fragte, ob er Platz nehmen dürfe. Auch wenn wir liebendgerne »nein« gesagt hätten, so wussten wir doch, was sich gehörte und luden ihn freundlich dazu ein, obwohl noch an vielen anderen Tischen Platz gewesen wäre.

Den Herren schätzte ich auf etwa 40. Er trug einen blauen Anzug, zu dem er eine rot-weiße Clubkrawatte kombiniert hatte. Insgesamt wirkte er recht freundlich. »Schöner Sonntag heute«, versuchte ich das Gespräch zu beginnen. »Ja«, ging er darauf ein, »ein schöner Sonntag. Aber heute Abend soll es noch zum Regnen kommen - haben die heute Morgen im Radio gesagt.« - »Kann man kaum glauben«, meinte Marc, »sieht im Moment wirklich nicht danach aus.«

Wir unterhielten uns eine ganze Weile recht angeregt mit dem Herren. Er erzählte uns von seiner Firma, in der er mit Gebrauchtwagen handelte. Dann durften wir uns Bilder seiner Kinder und Frau anschauen, die er in der Tasche bei sich trug. Ob wir auch schon verheiratet wären, wollte er von uns wissen. »Nein, noch nicht«, entgegnete ich und sah Marc ganz schelmisch dabei an.

Am Nachbartisch hatte sich inzwischen ein junges Pärchen niedergelassen. Weder Marc noch ich hatten davon näher Notiz genommen, doch plötzlich wies der Herr an unserem Tisch darauf hin. Das Pärchen am Nachbartisch küsste sich innig und heiß. Nicht nur von unserem Tischgenossen, nein von allen Tischen fielen immer wieder die Blicke auf das Pärchen. Erst jetzt sah ich, dass es sich bei dem Pärchen um zwei etwa 18jährige Jungen handelte.

»So eine Schweinerei«, nörgelte der Mann, »Das in aller Öffentlichkeit. So etwas gehört verboten.« - »Finden sie es so schlimm?« wollte ich wissen. Da platzte es aus ihm heraus: »Selbstverständlich finde ich das schlimm. Das ist doch vollkommen unnormal, richtig pervers! Man muss doch wissen, wo alles hingehört. Solche Menschen sind doch keine richtigen Menschen.« - »Sie haben sich wohl noch nie mit einem Schwulen unterhalten?«, fragte Marc und bemühte sich dabei möglichst ruhig zu bleiben. »Unterhalten?« proklamierte er. »Mit solchen Typen kann man sich doch nicht unterhalten. Wenn ich einen Schwulen sehe, dann mache ich einen großen Bogen um ihn. Vielleicht ist das ansteckend, man weiß ja nie. Nein, mit solchen Typen kann man sich doch nicht unterhalten, es sei denn, man will, dass die einen anmachen. Da muss man aufpassen, dass die einen nicht sofort anspringen.« - »Glauben sie, dass die hinter jedem männlichen Wesen her sind?« erkundigte ich mich bei ihm, »...denn das muss man ja wissen, falls man mal so einem Schwulen begegnet.« - »Klar doch, « erklärte er weiter, »die sind hinter jedem Mann her. Diese Schwulen haben doch keinerlei Anstand und Moral. Die versuchen jeden Mann anzuspringen.«

Ehrlich gesagt wusste ich in diesem Moment nicht so genau, wie ich reagieren sollte. Einerseits machte mich diese Weltanschauung über Homosexuelle wahnsinnig, denn dieser Herr musste in einer Zeitmaschine aus dem 19.Jahrhundert gekommen sein, jedenfalls stammten seine Ansichten aus eben jener Zeit. Aber andererseits amüsierte mich das Ganze auch wieder. Wie kann man nur so blöd sein, dachte ich so bei mir.

»Ja, woran erkennt man eigentlich einen Schwulen«, wollte ich nun von ihm wissen. »Das ist ganz leicht«, erläuterte er uns, »Schwule erkennt man schon aus einer Meile Entfernung! Die bewegen sich doch schon anders als ein normaler Mensch. Auch an ihrer Art zu sprechen merkt man das. Schwule sind einfach alle tuntig.« - »Ach so«, bemerkte ich, »die laufen alle in Frauenkleidern rum?« - »Ja«, stimmte er zu, »Wenn auch nicht alle in der Öffentlichkeit. Spätestens zu Hause ziehen die sich alle Kleider an. Jedenfalls sind es keine richtigen Männer. Ein Mann bumst Frauen und ausschließlich Frauen. Ein richtiger Fick geht doch auch nur mit einer Frau. Alles andere ist unnatürlich und widerlich.«

Aha, jetzt kannten wir auch die Ausdrucksweise dieses Herren. »Bumsen, Ficken!« - das waren Wörter, die weder Marc, noch ich jemals in der Öffentlichkeit in den Mund genommen hätten. Aber dieser »Moralapostel« durfte sie bringen und kam sich dabei noch richtig anständig vor. Eine Diskussion hätte nichts gebracht. Dabei erschien der Herr zunächst wirklich nett zu sein, doch seine Ansichten konnten wir weder verstehen, noch konnten wir sie akzeptieren. Im Grunde genommen taten mir seine Frau und seine Kinder leid, die ich zwar nur von den Fotos kannte, aber dennoch war mir klar, dass seine Kinder solche Ansichten gelernt bekämen. Und mir war klar, dass dieser Mensch kein wirklich liebevoller Mensch sein konnte. Liebe hat einfach nichts mit »bumsen und ficken« zu tun. Wenn man einen Menschen richtig liebt, dann gehört das, was man darunter versteht, vielleicht oder eigentlich auch sicher dazu, doch es wird nicht im Vordergrund stehen. Manche Menschen reden von der Liebe, meinen im Grunde genommen aber billigen Sex. Das ist keine richtige, wahre Liebe, die nur auf Sex aufgebaut ist. Dann wacht man eines Morgens auf, und man muss feststellen, dass man im Grunde genommen gar nichts hat.

Einmal unterhielt ich mich mit einem Arbeitskollegen über das Schicksal eines Mannes, der einen Unfall hatte, bei dem sein Gesicht stark in Mitleidenschaft gezogen wurde. Das Gesicht dieses Mannes war total entstellt. Der Mann war verheiratet, und seine Frau tat alles für ihren Mann. Mein Kollege wunderte sich darüber, warum sich die Frau nicht scheiden ließe. Ich fragte ihn, was denn wäre, wenn seine Frau einen Unfall hätte, und ihr Gesicht hinterher entstellt sei. Die Antwort brauchte er sich nicht lange überlegen. Er meinte, dass er sich sofort scheiden ließe. Ich war tief erschüttert über seine Antwort. Wie kann ein Mensch nur so denken? Wenn man solche Gedanken hat, dann bin ich überzeugt davon, dass es keine richtige Liebe ist. Vielleicht sollte sich jeder Mensch einmal die Frage stellen, wie er reagieren würde, wenn so etwas mit dem Lebenspartner geschehen würde. Ich jedenfalls wäre immer zu Marc gestanden und ich zweifelte nicht im Geringsten daran, dass Marc auch immer zu mir stehen würde, gleich was auch geschehen würde.

Doch dieser Mann, der uns eben so viel über Schwule gelehrt hatte, würde er auch so bedingungslos zu seiner Frau stehen? Nachdem die Kellnerin kassiert hatte, standen Marc und ich auf. Freundlich verabschiedeten wir uns bei dem Herren. Er schaute uns nach. Wir nickten ihm noch einmal beim Weggehen lächelnd zu. Eigentlich war es nicht unsere Art das in aller Öffentlichkeit zu tun, aber hier war es mir einfach ein Bedürfnis, wir mussten es einfach tun. Ich nahm Marc in meine Arme und gab ihm einen zärtlichen Kuss auf den Mund, während ich den sauberen Herren genau im Auge behielt. Vor Schreck wäre dieser fast vom Stuhl geplumpst. Seine Augen wurden ganz groß. Ich konnte mich vor Lachen kaum noch einkriegen. Auch Marc lachte aus ganzem Herzen. Ach war das schön - Ein wirklich schöner Sonntag!

Wir hängten unsere Liebe nicht an die große Glocke. Nur wenige Menschen wussten von unseren Gefühlen füreinander. Ich sah Marc an, wie er von ganzem Herzen lachte. So liebte ich ihn am meisten. Mein Gott, Marc so zu sehen war unbeschreiblich schön. Da fasste ich den Entschluss. Jetzt, ja jetzt war die Zeit gekommen. Etwas, das ich die ganze Zeit vor mir hergeschoben hatte. Wenn nicht jetzt, wann dann? Ich sah Marc tief in die Augen, lächelte ihn an und sagte zu ihm: »Weißt du, was ich gerne heute machen würde?« Marc lächelte. »Ich glaube, heute wäre der ideale Tag meine Eltern mal wieder zu besuchen«, sagte ich

Meine Eltern hatte ich seit gut acht Monaten nicht mehr gesehen. Wir telefonierten fast jede Woche, aber nur selten fand ich die Zeit sie zu besuchen. Vor acht Monaten hatte Mutter Geburtstag, das war der Anlass meines letzten Abstechers gewesen. Damals fuhr ich allein für drei Tage dorthin. Es war eine halbe Weltreise von Berlin in das kleine Städtchen, in dem ich aufgewachsen war und in dem Marc und ich das erste Mal aufeinander getroffen waren. Dass ich so selten dorthin fuhr, hatte aber noch einen anderen Grund. Dieser Grund war Marc. Bis heute hatte ich es nicht fertig gebracht, meinen Eltern von meinen Gefühlen zu Marc zu erzählen. Meine Eltern kannten Marc. Sie mochten ihn. Damals vor acht Jahren war er als 13jähriger Junge oft zu Gast bei uns gewesen. Marc und ich machten jeden Tag die Hausaufgaben zusammen bei mir Zuhause. Dann hatten sie ihn wohl vor zwei Jahren wiedergesehen, als er auf der Suche nach mir dort anklingelte. Sie gaben ihm meine neue Berliner Anschrift, wo er etliche Tage später ankam, nachdem es ihn viel Überwindung gekostet hatte, da er damals ja völlig mittellos war. Meine Eltern wussten also weder dass Marc bei mir eingezogen war noch dass wir uns liebten. Sie waren recht konservativ, zumindest hatten wir in meiner Kindheit nie über irgendwelche sexuellen Themen gesprochen. Ich war nie aufgeklärt worden, jedenfalls nicht von meinen Eltern. Aber wenn ich mir die klassische Variante der Aufklärung mit der Erläuterung über die Paarungsrituale der Bienen und Vögel so vorstelle, dann habe ich wohl auch nichts weiter verpasst. Die Vorstellung, wie mein Vater mich in sein Arbeitszimmer bittet, ein Buch aus dem Regal nimmt und anfängt über Bienen und Vögel zu sprechen, ruft noch heute Erheiterung bei mir hervor. Ob es wirklich Kinder gab, die so etwas über sich ergehen lassen mussten? Jetzt sah ich den Zeitpunkt gekommen, meinen Eltern reinen Wein einzuschenken.

Meine Eltern sollten über unsere Liebe Bescheid wissen. Es gab keinen Grund darüber zu schweigen. Wenn sie es nicht akzeptieren würden, dann war es ihre Schuld, und ich liebte Marc, und dazu wollte ich auch stehen. Meiner Liebe wegen brauchte ich mich nicht zu schämen, aber ich musste mich dann schämen, wenn ich nicht zu ihr stehen würde. Das alles wurde mir in diesem Moment bewusst, und mir war klar, dass ich es ihnen noch heute sagen musste. Keinen Tag länger wollte ich damit hinter dem Ofen halten.

»Du willst deine Eltern besuchen?« fragte Marc. »Ja, ich glaube wir sollten meine Eltern besuchen!« bestätigte ich. Marc war etwas verunsichert: »Wir beide?« - »Ja; Wir beide!« sagte ich und sah ihn verträumt an. »Ich bin der Ansicht, dass meine Eltern endlich von uns beiden erfahren sollten.« Zärtlich strich ich die Haare aus seinem Gesicht. »Marc, ich liebe dich«, erklärte ich, »und ich möchte das nicht länger verheimlichen.«

Ich hatte ein etwas flaues Gefühl, als ich an der Tür meines Elternhauses klingelte. Marc, der hinter mir stand, verlieh mir aber genug Stärke, um das durchzustehen, was jetzt kommen sollte. Natürlich konnte ich nicht mit der Tür ins Haus fallen. Ich wollte es langsam angehen. Noch wusste ich nicht genau, wie ich es Vater und Mutter sagen würde, aber irgendwie würde es sich schon ergeben.

Es dauerte etwa eine halbe Minute, bis meine Mutter die Tür öffnete. Freudig strahlend begrüßte sie mich: »Daniel, welch' Überraschung!« - »Bitte entschuldige, Mutter, dass ich nicht vorher angerufen habe, aber ich wollte euch überraschen.« Ich freute mich, meine Mutter wiederzusehen. In diesem Moment wusste ich, dass ich viel zu selten den Weg zu Mutter und Vater fand. »Ich hoffe, dass es euch recht ist, aber ich habe noch einen anderen Gast mitgebracht«, sagte ich und trat zur Seite, um Marc Platz zu machen.

»Guten Tag, Frau Müller!« Marc streckte meiner Mutter die Hand zum Gruß entgegen.

»Hallo Marc!« strahlte meine Mutter. »Wir haben uns ja lange nicht gesehen. Ich wusste gar nicht, dass ihr noch Kontakt habt. Es freut mich dich wiederzusehen.«

Meine Mutter war 59 Jahre alt, doch sah bei weitem jünger aus, zumindest empfand ich es so.

»Oh, entschuldigt bitte«, sagte meine Mutter, »warum stehen wir eigentlich hier draußen herum?! Gehen wir doch ‘rein. Dein Vater wird sich auch sehr freuen. Tante Frieda ist übrigens auch gerade zu Besuch da.«

Letztere Bemerkung machte sie ganz beiläufig, das war für mich allerdings Grund genug, um den Blitzbesuch auch schon zu bereuen. Tante Frieda war im Grunde genommen gar nicht so übel, aber sie nervte, sie nervte unendlich. Wenn sie in der Nähe war, dann war es mit Ruhe und Frieden Sense. Mein Vater mutmaßte einmal, dass man nach Friedas Tod ihr Maul noch extra totschlagen müsse. Hier bestätigte sich wieder einmal, dass nicht jeder mit Herz und Schnauze auch automatisch Berliner sein musste. Frieda war in München beheimatet. Wenn das erwähnte Klischee stimmte, dann musste an ihr jedoch eine `Muster-Berlinerin´ verlorengegangen sein. Jedenfalls hatte ich in meiner neuen Heimatstadt noch keinen `echteren´ Berliner als Tante Frieda kennengelernt, was die `Schnauze´ betraf. Freilich, Frieda berlinerte nicht, sondern sprach bayerischen Dialekt, aber rein schnauzemäßig konnte sie jedem echten Berliner das Wasser reichen.

Es gab Kaffee und Kuchen. Mutter servierte im Wohnzimmer. Da saßen wir nun, Mutter, Vater, Tante Frieda, Marc und meine Wenigkeit. Und wie ich es schon befürchtet hatte, es sprach nur eine, und das war die liebe Tante Frieda: »Na Daniel, wie ist es denn so in Berlin? Hast du dich denn schon eingelebt? Sicher, ich vergaß, du wohnst ja schon fünf Jahre dort. Mann, bist du aber groß geworden! Ich erinnere mich noch gut, als du zwei Jahre alt warst, so ein Dreikäsehoch. Du hast mich immer `Ante Fridi´ genannt. Mann warst du ein süßer Knottel, aber das bist du ja auch heute noch. Sicher sind die Mädchen scharenweise hinter dir her?«

Moment mal, warum unterbrach sie gerate hier ihren Redefluss? Hatte sie doch bisher keine Pause eingelegt. Sie erwartete doch jetzt nicht etwa eine Antwort von mir? Marc sah mich entsetzt an, doch aus seinem Entsetzen wurde ein breites Grinsen, als er mein verdutztes und unsicheres Gesicht sah. Ich musste schlucken. Zwar wollte ich Ma und Pa reinen Wein einschenken, aber Tante Frieda musste ja nicht unbedingt dabei sein, wenn ich das tat.

»Ja, die Girls sind wirklich haufenweise hinter mir her«, scherzte ich, »aber ich bin glücklicherweise schneller!«

»Möchtest du noch etwas Kuchen?« fragte meine Mutter Tante Frieda. »Oh ja, da sage ich nicht nein«, erwiderte meine Tante und war auch schon wieder in ihrem Element: »Dein Kuchen ist einfach vorzüglich. Marmorkuchen ist ohnehin mein Lieblingskuchen, aber du backst ihn einfach am besten, Erika! Wie du das nur immer machst! Habt ihr schon gehört: Gregor ist gestorben!«

Gregor!? Who the fuck is Gregor? Besser gesagt: Who the fuck was Gregor? Den Namen hatte ich noch nie gehört. Auch meine beiden Erzeuger schienen mit diesem Namen nicht viel anfangen zu können. »Gregor... wer?« fragte deshalb mein Vater verwundert. »Gregor«, entgegnete Tante Frieda, »Gregor Walter!«

»Gregor Walter?« fragte mein Vater nach. »Ja, Gregor Walter, mein Nachbar. Es war wie aus heiterem Himmel, vor drei Wochen. Dabei war er vorher noch so munter. So schnell kann es manchmal gehen. Wer hätte damit gerechnet. Erst zwei Tage vorher hatte er noch seinen 93.Geburtstag gefeiert und dann buff, bauf, wie aus heiterem Himmel fällt er um und ist tot!« - »Welche Überraschung!« fuhr es mir heraus. Frieda schaute mich streng an, fuhr dann aber fort: »Das stimmt einen schon nachdenklich. Was sagst du dazu?« Frieda sah dabei meinen Vater an. »Ähm, na ja, eigentlich kannte ich diesen Herr Walter ja nicht.« - »Kanntest du nicht?« Tantchen war sehr erstaunt. Wie konnte es einen Menschen geben, der Gregor Walter nicht gekannt hatte? Doch diesen Tiefschlag steckte Frieda sehr tapfer weg. Ohne großes Murren akzeptierte sie, dass es auch Menschen gab, die Gregor nicht gekannt hatten. Schließlich konnte sie ja auch nicht allzuviel Zeit opfern, denn der Tag hatte immerhin nur 24 Stunden, davon musste sie etwa fünf Stunden mit Schlafen verbringen. Da blieben nur noch 19 Stunden zum Reden. Für erstauntes Schweigen blieb da wenig Zeit. So setzte sie ihre Erzählungen mit anderen ebenso interessanten Geschichten fort.

Geschlagene drei Stunden mussten wir uns die Erzählungen von Tante Frieda anhören. Ich war heilfroh, als sie sich verabschiedete. Außer Frieda selbst hatte es kaum ein anderer fertig gebracht, auch nur zwei vollständige Sätze hintereinander loszuwerden. Da übertraf sie uns alle bei weitem mit ihrem - wie lange hatte es gedauert? - ich glaube, zehn Minuten Monolog. Worum es dabei ging, dürfte wohl keiner mitbekommen haben - außer vielleicht Frieda selbst. Aber da wäre ich mir noch nicht einmal sicher!

Marc hatte den ganzen Nachmittag über kein einziges Wort verloren. Er saß still und brav da und sah die meiste Zeit zu mir herüber. Bei einer anderen Person hätte es mich gestört, die ganze Zeit über unter Beobachtung zu stehen, aber bei Marc machte es mir nichts aus. Ganz im Gegenteil, ich revanchierte mich, indem ich auch ständig wieder zurückstarrte - in dieses für mich engelsgleiche Gesicht.

Wir vier waren nun endlich allein. Ein Blick zur Uhr verriet mir, dass es mittlerweile bereits 20 Uhr geworden war. »Bleibt ihr über Nacht hier?« fragte mich meine Mutter. Marc hatte zurzeit Urlaub, er arbeitete in einem CD-Studio als Verkäufer. Ich selbst konnte mir meine Zeit ja immer selbst einteilen, wie es mir am besten passte. Also sprach nichts gegen eine Übernachtung im elterlichen Hause, es sei denn ... es sei denn, dass meine Eltern das, was ich ihnen nun schonend beibringen wollte, nicht entsprechend aufnehmen würden. »Wenn es euch nichts ausmacht, würden wir gerne über Nacht hierbleiben«, erklärte ich. »Wir würden uns freuen«, sagte Mutter.

Mein Vater zündete sich eine Zigarette an. Der Ärmste musste den ganzen Nachmittag auf seine geliebten Glimmstengel verzichten, sonst hätte er sich von Tante Frieda wieder einmal den Vortrag anhöre müssen, wie ungesund er doch leben würde. Da brachte Vater doch lieber das Opfer und verzichtete in dieser Zeit auf den Nikotingenuss, denn es gab nur eines, was schlimmer war als die Erzählungen Tante Friedas, und das waren ihre Belehrungsversuche.

Jetzt genoss mein Vater ersichtlich den lebensnotwendigen Nikotinstoß. Genüsslich inhalierte er und ebenso genüsslich pustete er den Rauch wieder aus.

»Dumm dass gerade heute Frieda da war. Dadurch sind wir gar nicht dazu gekommen, uns richtig zu unterhalten«, sagte Vater. »Erzähl mal, wie geht es Dir? Marc, wohnst du auch in Berlin?« Das war eine Doppelfrage und diente wohl dazu, dass wir beide erklären sollten, warum wir hier gemeinsam aufkreuzten. Die Verwunderung meiner Eltern konnte ich schon verstehen, hatte ich am Telefon doch nie erwähnt gehabt, dass ich wieder mit Marc Kontakt hatte. Und welche Art von Kontakt es war, darauf wären sie ohnehin sicher nicht so schnell gekommen.

»Ja, ich wohne auch in Berlin«, erzählte Marc etwas unsicher und sah mich dabei fragend an, als wolle er von mir wissen, was er nun sagen solle. Also ergriff ich das Wort: »Marc wohnt ganz in meiner Nähe!« Das war ja auch nicht gelogen, oder? Marc und ich erzählten ein wenig von Berlin und unserer Arbeit. Dann nahm mir meine Mutter die Arbeit ab, eine richtige Einleitung für mich zu finden. Eher im Scherze fragte sie, und ich war mir sicher, dass sie die Frage eher rhetorisch gemeint hatte: »Und Daniel, wann kann ich meinen ersten Enkel in die Arme nehmen?« Ich zog die Augenbrauen hoch und grinste: »Tja, damit würde ich nicht unbedingt rechnen.« Ich sah Marc an, dem anscheinend nicht ganz wohl in seiner Haut war. Es war ihm anzusehen, dass ihm das alles sehr peinlich war. Genau wie ich hatte auch er praktisch noch nie einem Menschen von unserer Beziehung erzählt. Er hatte ja auch wenig Kontakt zu irgendwelchen Menschen aus seiner Verwandtschaft.

»Nein«, wiederholte ich, »damit würde ich wirklich nicht unbedingt rechnen. Es sei denn, Marc würde das biologische Wunder zustande bringen und ein Baby zur Welt bringen.« Ich amüsierte mich, versuchte aber mein Grinsen in Grenzen zu halten, denn allzu sehr wollte ich es auch wieder nicht ins Lächerliche ziehen.

Es herrschte eine Totenstille. Meinem Vater wäre beinahe der Glimmstengel aus dem Mund gefallen. Er konnte ihn gerade noch schnappen und im Aschenbecher ablegen. Mutter und Vater standen beide mit weit geöffneten Mündern da. Sie versuchten meine Aussage zu deuten. Hatten sie mich richtig verstanden? Ihre Blicke wanderten zwischen Marc und mir hin und her. Marc hatte seinen Kopf eingezogen, als befürchtete er jeden Augenblick einen Schlag ins Genick. Er wollte sich wohl recht klein machen. Na ja, der Größte war er, rein von der Körpergröße gesehen, ja ohnehin nicht.

Es war Vater, der zuerst seine Sprache wiederfand: »Nur, damit wir es nicht falsch verstehen, wolltest du damit etwas Bestimmtes sagen?«

Noch bevor ich diese Frage beantworten konnte, mischte sich Mutter ein: »Das war doch nur ein Witz, Daniel? Das kannst du nicht ernst gemeint haben... oder?«

Nein, es war durchaus kein Witz und es lachte auch niemand! Ich empfand hier zweierlei. Auf der einen Seite war mir ziemlich mulmig zumute, aber andererseits amüsierte es mich auch irgendwie. Es kann sehr schön sein, Menschen so durcheinanderzubringen, besonders dann, wenn es die eigenen Eltern sind.

Mutter blickte hilfesuchend zu meinem Vater hinüber. Der aber schaute zuerst zu Marc und dann zu mir. Dann nickte er mehrmals. Ich schaute Vater in die Augen, versuchte darin zu lesen. Was mag er wohl in diesem Augenblick gedacht haben?

»Nein Ma«, sagte ich, »es ist kein Witz. Ich liebe Marc und er liebt mich. Eigentlich liebe ich ihn schon seit wir uns das erste Mal begegnet sind, nur wusste ich meine Gefühle damals noch nicht richtig zu verstehen.«

Mutter verstand die Welt nicht mehr: »Daniel, das kann nicht sein...doch nicht du!...Das kann man bestimmt heilen!«

Heilen? - Was wollte Mutter heilen? War sie der Ansicht, dass ich an einer tödlichen Krankheit leiden würde? Ich musste es ihr zugestehen, sicher hatte sie sich noch nie zuvor damit befaßt. Was hatte ich erwartet? Hatte ich gedacht, dass sie mich umarmen und Marc und mir gratulieren würde? Das konnte ich nicht erwarten, und dennoch hofft man in einer solchen Situation auf eine positivere Reaktion. Wie oft hatte ich mir die Szene vorgestellt gehabt, wie oft hatte ich es Vater und Mutter in meinem Kopf schon eingestanden gehabt? Doch jedes Mal war es in meinen Gedanken wieder anders. Mit dieser Reaktion meiner Mutter hatte ich dennoch nicht gerechnet.

Jetzt herrschte eine Totenstille im Raum. Keiner traute sich ein Wort zu sagen. Nun war es Marc, der versuchte ein Gespräch zu beginnen: »Bitte entschuldigen Sie, es war vielleicht keine so gute Idee, dass ich mitgekommen bin.«

»Unsinn Marc!« meinte mein Vater mit ernster Stimme. »Sicher, das ist alles ein bisschen plötzlich, aber es ist richtig, dass du mit hier bist, schließlich betrifft es dich genauso wie Daniel. Ich hoffe aber, dass ihr beide uns jetzt nicht böse seid, denn ich halte es für besser, wenn wir morgen darüber weiterreden. Ich denke, dass wir das erst einmal auf uns einwirken lassen sollten. Wenn wir jetzt sofort darüber reden, dann würden eventuell Dinge gesagt werden, die nicht so gemeint sind.« Vater sah Mutter seufzend an, was einerseits seine Unsicherheit ausdrücken sollte, wenn ich es recht interpretierte, was mir aber gleichzeitig auch signalisierte, dass er Mutters Äußerung betreffs Heilungschancen nicht ganz zu unterstützen schien.

Eigentlich hatte Mutter vorgehabt uns beide, Marc und mich, gemeinsam in meinem alten Zimmer unterzubringen, das inzwischen zu einem Gästezimmer umfunktioniert worden war, aber in Anbetracht der neuen Situation erschien ihr das wohl zu gefährlich. Einer von uns sollte dort schlafen und der andere sollte die Couch als Nachtlager nutzen. Marc wollte freiwillig die Couch nehmen, aber das ließ ich nicht zu, und so schlug ich mein Nachtlager auf der Couch auf.

Ich lag noch sehr lange wach. Wenngleich auch die unbequeme Couch ihr übriges dazu tat, um mich wachzuhalten, so sah ich darüber hinaus noch weitaus schwerwiegendere Gründe für meine Schlafstörungen in jener Nacht. Ich war mir sicher, dass es im Schlafzimmer meiner Eltern noch hoch herging. Nein, sicherlich nicht, was man nun denken mag! Dabei schoss mir aber dennoch auch dieser Gedanke durch den Kopf: Ob meine Eltern auch noch...? Konnte ich mir eigentlich nicht so recht vorstellen, aber wer weiß?! Ich glaube, kaum ein Kind kann es sich vorstellen, wie es die eigenen Eltern tun. Ein Grinsen machte sich auf meinem Gesicht breit. Gut, dass es dunkel war und dass sich auch kein anderer Mensch im Raum befand. Sicherheitshalber zog ich zusätzlich auch noch die Decke über den Kopf, man konnte ja nie wissen! Nein, der Gedanke war schon peinlich. Vater, Mutter und Sex - ein Tabuthema! Irgendwie denkt man nicht daran, dass die eigenen Eltern auch ein Sexleben führen könnten. Könnten!? Irgendwoher musste man selbst ja auch kommen, und über die Geschichte mit dem Klapperstorch war ich mit meinen 22 Jahren nun doch schon etwas hinaus.

Einen Augenblick lang kam es mir in den Sinn, dass ich selbst wohl niemals eigene Kinder haben würde. Ich überlegte, ob es vielleicht doch wider die Natur wäre. Dämlicher Gedanke, dachte ich dann aber auch schon gleich wieder. Gefühle, ganz gleicher welcher Art sind natürlich, und davon war ich überzeugt.

Gerne hätte ich jetzt Mäuschen gespielt und mich in das Schlafzimmer meiner Eltern eingeschlichen. Ich war mir absolut sicher, dass sie sich über Marc und mich unterhalten würden. Ich ließ meiner Phantasie freien Lauf:

»Martin«, meine Mutter war den Tränen nah, »was haben wir nur falsch gemacht bei Daniel? Warum muss ausgerechnet unser Kind so sein?«

»Schatz, ich bitte dich«, warf mein Vater ein, »so schlimm ist es nun auch wieder nicht. Schließlich ist es kein Verbrechen!«

»Du hast recht, wenn er irgendwo etwas gestohlen hätte, dann wäre es viel schlimmer«, meinte Ma, »Aber dennoch kann ich es nicht begreifen. Warum müssen gerade wir ein unnormales Kind haben?« »Also Erika«, Vater atmete tief durch, »Alle Menschen wünschen sich, dass ihr Kind Erfolg hat im Leben und glücklich ist.« »Schon«, sagte Mutter, »aber jede Mutter wünscht sich auch eine nette Schwiegertochter von ihrem Sohn.« »Oh, Erika«, erwiderte Vater, »Weißt du überhaupt was du da redest? Erstens wohnt Daniel weit weg von uns, also selbst wenn er die beste Schwiegertochter der Welt heiraten würde, hättest du nicht viel davon. Außerdem wie viele Frauen in deinem Alter kennst du, die von ihren Schwiegertöchtern richtig schwärmen. In den meisten Fällen ist es doch so, dass die Mütter immer der Meinung sind, dass ihr Sohn eine andere Schwiegertochter hätte bringen können. Ich glaube, dass es zu den Urinstinkten der Mütter gehört, dass sie immer der Ansicht sind, dass ihr Sohn etwas Besseres verdient hätte.« »Aber trotzdem«, führte Mutter an, »Eben eine Schwiegertochter.« Mutter standen die Tränen in den Augen: »Hubert, was haben wir nur falsch gemacht?«

Hirngespinste! Natürlich konnte ich nicht wissen, was sich im Schlafzimmer meiner Eltern tat und worüber sie philosophierten. Doch noch während ich den Hirngespinsten nachjagte, versank ich in das Land der Träume. Sicher gingen die Träume in eine ähnliche Richtung, doch daran konnte ich mich schon am nächsten Morgen nicht mehr erinnern. Als ich erwachte, stand meine Mutter vor mir. Sie starrte mich an als wolle sie feststellen, ob ein schwuler Sohn denn anders aussehen würde als ein vermeintlich `normaler´. Ich tat so, als sei alles normal. »Morgen Ma«, begrüßte ich sie. Mutter bemühte sich zu lächeln und erwiderte meinen Gruß.

Ich ging ins Badezimmer, um mich frisch zu machen. Danach klopfte ich an die Tür des Gästezimmers. »Ja«, rief es von drinnen. »Bist du wach, Marc?« fragte ich. »Nein, ich schlafe noch«, rief Marc. »Dann sieh mal zu, dass du wach wirst. Es gibt gleich Frühstück«, erklärte ich. »Du kannst mich ja aufwecken!« rief Marc mir zu. Ich öffnete die Tür. Marc hob seinen Kopf an, ließ ihn aber dann gleich wieder fallen und tat so als würde er noch schlafen. Mann, sah er süß aus. Ich sollte ihn aufwecken!? - Warum nicht, dachte ich so bei mir. Behutsam setzte ich mich auf die Bettkante, beugte mich langsam zu ihm hinunter und gab ihm einen zärtlichen Kuss auf seine rechte Wange. Marc öffnete die Augen, und da war es wieder sein engelhaftes Lächeln, das auch den härtesten Stein hätte erweichen können. Es war einfach unglaublich. Da lag er vor mir und mir wurde so richtig bewusst, was für ein Glück ich doch hatte. Das herrlichste und liebenswerteste Wesen auf dieser Welt und er liebte ausgerechnet mich, mich, Daniel Müller, einen unscheinbaren und gewöhnlichen Jungen, das war es zumindest, was ich in mir selbst sah. Manchmal konnte ich dieses Glück einfach nicht begreifen. Ich war mir sicher, dass ich Marc niemals als Selbstverständlichkeit ansehen würde. Marc war für mich etwas Wunderbares, für das ich jeden Tag aufs Neue dankbar sein würde.

Vater und Mutter saßen schon am Küchentisch als Marc und ich in den Raum kamen. Ma stand auf und goß uns Kaffee in die Tassen. Es gab alles, was das Herz begehrte: Käse, Marmelade, Wurst, Sirup, und das alles auch noch in großer Auswahl. So kannte ich es von Früher. Das Frühstück war schon als Kind immer großartig. Kein Wunder, es war die einzige Mahlzeit, die meine Mutter nicht kochen musste, und die sie nur aus dem Kühlschrank zu nehmen hatte. Also konnte sie hier nichts verderben. Und so sehr ich meine Mutter auch liebte, ihre Kochkünste waren nun einmal nicht die Besten.

Wir frühstückten in aller Ruhe, und wenn ich Ruhe sage, dann meine ich auch Ruhe, denn keiner traute sich, auch nur ein Wort zu sagen. Erst als Vater den Mut fasste, wurde die Situation erträglicher: »Ich denke, dass wir uns noch einmal darüber unterhalten sollten. Mutter und ich haben gestern noch eine ganze Weile im Bett darüber gesprochen. Daniel, Marc, ihr müßt wissen, es ist nicht leicht, wenn man so plötzlich mit einer solchen Geschichte konfrontiert wird. Wir hatten uns bisher noch nie mit so etwas beschäftigt. Es kam wirklich ein bisschen plötzlich, um ehrlich zu sein. Ich kann euch aber versichern, dass wir lernen wollen es zu verstehen.«

Mir war klar, wie ernst es meinem Vater mit dem war, was er sagte. Bei meiner Mutter war ich mir in diesem Moment nicht ganz so sicher, zumindest ließ ihr Blick diesen Schluss zu.

»Und ich bin mir in einem Punkt klar geworden«, fuhr Vater fort, »Marc, du weißt dass wir dich mögen. Ich sehe keinen Grund dafür, warum wir dich nun weniger mögen sollten. Im Grunde genommen kann ich mir vom Charakter her keinen besseren Schwiegersohn vorstellen, auch wenn wir eigentlich mehr mit einer Schwiegertochter gerechnet hatten.« Vater konnte sein Lächeln nicht verbergen. Es lag schon etwas Komik in der Situation.

Mutter schwieg. Ich hätte mir gewünscht, dass auch sie ein paar Worte sagen würde, egal ob positiv oder negativ, doch sie musste das Ganze wohl selbst erst noch für sich verarbeiten.

Schon bald nach dem Frühstück brachen wir zur Heimfahrt auf. Wir verabschiedeten uns. Mein Vater zog mich noch einmal kurz zur Seite. Er wollte mir unbedingt noch etwas unter vier Augen sagen: »Daniel, wenn ich ehrlich bin, dann muss ich dir gestehen, dass ich schon seit Jahren davon ausgegangen bin, dass du damals schon solche oder so ähnliche Gefühle zu Marc hattest. Ich habe nicht mit Mutter darüber gesprochen. Sie ist da leider etwas altmodisch, was das betrifft. Dann habe ich später gedacht, dass es sich erledigt hätte. Daniel, ich bin trotzdem sehr stolz auf dich.« Vater legte mir seinen Arm auf die Schulter. Er war für mich da. Mein Vater stand zu mir, und das war sehr wichtig für mich. Vielleicht würde Mutter auch noch akzeptieren lernen.

Als Marc und ich wieder im Auto saßen, verspürte ich eine Art Erleichterung. Erstens hatte ich endlich meinen Eltern reinen Wein eingeschenkt und zweitens waren Marc und ich endlich wieder für uns. So war es mir am liebsten.

Unterwegs dachte ich darüber nach, wie Ma und Pa nun daheim sitzen würden und über Marc und mich beratschlagen würden. Würden sie sich vielleicht sogar in die Haare kriegen? Absurd, denn Ma und Pa stritten sich praktisch nie. Doch, es gab als ich noch daheim wohnte, eigentlich immer nur einen Anlass, der schließlich jedes Mal zum Streit führte. Ich musste schmunzeln, wenn ich daran dachte.

Klein Daniel, damals etwa sechs oder sieben Jahre alt, saß immer auf dem Rücksitz des alten Familien-Volvos. Meist saß mein alter Herr am Steuer. Mutter hätte ich auch nicht ans Steuer gelassen, wenn es nach mir gegangen wäre, denn sie besaß keinen Führerschein. Doch bei ihr war es so, wie bei den meisten Fußball-Fans, die nie selbst auf dem grünen Rasen standen, die aber dennoch einfach alles besser zu wissen glauben. Auch meine Mutter war so, wenn es um das Autofahren ging.

»Hubert, fahr nicht so schnell«, wies sie Vater an. »Aber Erika, ich habe gerade mal 60 Sachen drauf. Sogar die Schnecken überholen uns schon«, erwiderte Vater. »Trotzdem dein Fahrstil ist bedenklich«, erklärte Mutter. »Ich kann dich ja ans Steuer lassen, wenn du möchtest«, konterte Vater. Mutter schwieg für ein paar Minuten.

»Pass doch auf!« Ma zuckte ängstlich zusammen. Sie hatte wohl wirklich kein großes Vertrauen in Vaters Fahrstil. Ich beobachtete im Spiegel wie Vater das Gesicht verzog. Er versuchte die Beherrschung zu behalten.

»Jetzt musst du gleich nach rechts abbiegen«, leitete Mutter meinen Vater durch den Verkehr. »Gut, dass ich dich habe. Ich wüsste wirklich nicht, wie ich ohne dich durch den Straßenverkehr finden sollte!« erkannte Vater. »Sei nicht so zynisch. Ich meine es doch nur gut«, stellte Mutter eingeschnappt fest. - Moment mal!, dachte ich so bei mir: Der Satz ist doch eigentlich für mich reserviert. Sonst sagte sie ‘Ich meine es doch nur gut' immer nur zu ihrem Lieblings- und einzigen Sohn Daniel.

»Ich bin nicht zynisch!« betonte Dad. »Bist du wohl!« brummelte Mutter. »Ruhe jetzt«, forderte Vater, »sonst lasse ich den Wagen räumen.«

»Äh, ich muss mal ganz dringend«, meldete sich Junior Daniel vom Rücksitz. »Pech gehabt! Wir hatten vor einer Viertelstunde eine Rast.« Mutter war sehr barsch. Sie hatte sich über ihren Alten...äh, ich meine über meinen lieben Dad, geärgert und ich musste es nun ausbaden. »Aber da habe ich doch noch nicht gemusst. Ich muss wirklich gaaaaanz dringend«, wiederholte ich.

»Ich hatte dich vorher gefragt«, meckerte Mutter, »jetzt musst du es aushalten!«

»Dringend!« betonte ich noch einmal.

»Daniel, mach bloß kein Scheiß dahinten!« meinte Dad. - »Nein, nicht Scheiß - Ich muss Pipi!« stellte ich ungeduldig fest, während ich es krampfhaft zu halten versuchte.

Vater fuhr rechts ran. Ich sprang in Windeseile aus dem Wagen und verschwand im Wald, wo ich mir Erleichterung verschaffte. Es war wirklich allerhöchste Eisenbahn.

Als ich wieder zum Wagen zurückkam, waren Mutter und Vater noch immer dabei über Dads Fahrkünste zu diskutieren. Auch während der Fahrt ging es damit weiter. Doch daran war ich gewöhnt und solange die beiden nicht mit Messern aufeinander losgingen, amüsierte es mich sogar, wusste ich doch, dass Ma und Pa spätestens eine Stunde nach Ankunft wieder ein Arsch, pardon: Herz und eine Seele wären. Sie vertrugen sich dann wieder, als ob nie etwas gewesen wäre. So war es immer...bis zur nächsten Autotour!

Während der Fahrt schossen mir alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Ich war sehr erleichtert darüber, dass ich, bzw. wir meinen Eltern reinen Wein eingeschenkt hatten. Das allein war eigentlich schon Grund genug zum Feiern. Doch es gab noch einen anderen, vielleicht sogar noch entscheidenderen Grund, hatte ich doch noch etwas gut zu machen bei Marc. Jedenfalls drückte mir eine gewisse Geschichte noch immer aufs Gewissen:

Eines Abends, als ich von der Arbeit nach Hause kam, war es in der Wohnung stockdunkel. Seltsam!, dachte ich so bei mir, denn sonst brannten mehr Lampen als eigentlich nötig waren. Selbst die Flurlampe brannte üblicherweise immer, auch wenn sich dort niemand aufhielt. Ich knipste das Flurlicht an. Mit einem eigenartigen Gefühl öffnete ich die Wohnzimmertür. Moment mal, warum öffnete ich die Wohnzimmertür? - Seit wann war die Wohnzimmertür geschlossen? Außer der Schlafzimmer- und der Badezimmertür, standen alle Türen üblicherweise offen! Plötzlich ging das Licht wie von selbst an. »Überraschung!«, rief Marc ganz laut und sprang auf mich zu.

»Karl, mei Herztroppe!« Ich atmete tief durch. Marc strahlte mich mit großen Augen an. »Bist du eigentlich wahnsinnig geworden?« fragte ich ihn ganz ruhig. »Das hätte mein Tod sein können!« Erst jetzt sah ich, dass Marc den Tisch ganz festlich geschmückt hatte. Mein Gehirn war am rotieren. War es eine seiner »üblichen«, spontanen Überraschungen, die keinen besonderen Anlass hatten, oder hatte ich ein bestimmtes Datum vergessen? Moment mal, war nicht heute der 19. April!? Oh, verdammt! Wie peinlich! Ich hatte unseren »Kennenlerntag« vergessen! Auf die Schnelle wollte mir keine passende Ausrede einfallen. Doch wie ich Marc kannte, würde er mir das großzügig verzeihen. Oder sollte ich mich da täuschen?

Also tat ich so, als ob ich nicht wüsste, was los war. Marc stand lächelnd vor mir, als warte er auf ein Wort von mir, meinte dann schließlich: »Na!?« - »Na!?« erwiderte ich. »Na, na!?« wiederholte Marc voller Erwartung. »Na, was gibt's?« fragte ich scheinheilig. »Weißt du denn nicht, was für ein Tag heute ist?« stellte Marc enttäuscht fest. »Lass mich raten«, führte ich an, »Muttertag, Weihnachten, Ostern, Halloween, Namenstag?« zählte ich auf. »Weißt du es wirklich nicht?« Marc klang ganz geknickt.

»Nein«, tat ich scheinheilig, »ich weiß es wirklich nicht. Aber bevor ich es vergesse: Hast Du eigentlich schon Deinen Cousin Martin angerufen und ihm zum Geburtstag gratuliert?« - »Du Schuft!« frotzelte Marc. »Du weißt es also doch, dass es unser Kennenlerntag ist!«

»Wie könnte ich diesen Tag vergessen, « gab ich an, »den Tag, an dem der hübscheste, bezauberndste, liebenswerteste, herzigste, phantastische, sympathischste, großartigste und einfach wunderbarste Mensch der Welt in mein Leben trat!?« Auch wenn ich diese Auflistung mit einem leicht-ironischen Unterton vortrug, so meinte ich jedes einzelne Wort wirklich todernst, und man hätte jedes dieser Worte auf die Goldwaage legen können. Gold? Ja, Gold - goldig, das war mein Marc!

Es war mir unangenehm, dass ich diesen Tag vergessen hatte. Eigentlich hatte ich ihn nicht vergessen, denn ich wusste, dass der 19.April unser Kennenlerntag war, der Tag an dem ich Marc auf der Geburtstagsfeier seines Cousins kennen gelernt hatte, nur hatte ich nicht daran gedacht, dass heute dieser 19.April war. Aber das musste ich Marc doch nicht unbedingt auf die Nase binden und ihn dadurch enttäuschen. Hoffentlich hatte Marc nicht auf ein Geschenk von mir spekuliert. Ich kam mir ziemlich beschissen dabei vor. Doch Marc hatte sich so sehr auf seine Überraschung für mich konzentriert, dass er gar nicht daran dachte, dass ich doch eigentlich auch etwas für ihn haben könnte.

»In zwei Stunden gibt's Essen«, erklärte Marc. »Erst in zwei Stunden?« fragte ich erstaunt. »Ja«, entgegnete Marc, »Ich war zu faul zum Kochen und habe etwas im Feinschmeckerrestaurant bestellt. Es wird um 21 Uhr geliefert.« - »Warum so spät?« wollte ich wissen.

Marc sah mich schelmisch von unten heraus an: »Du hast die Vorspeise vergessen.«

»Zwei Stunden für die Vorspeise!?« fragte ich mit einem breiten Grinsen. »Bist du etwa müde?« wollte Marc von mir wissen. »Für eine solche Vorspeise!?« bekundete ich. »Niemals! Mir erschienen zwei Stunden eher zu wenig!« Marcs Grinsen wurde noch breiter: »Du bist aber gierig!?« - »Gibt es zur Feier des Tages nicht eine besondere Vorspeise?« erkundigte ich mich. »Ist nicht jede Vorspeise, die wir haben, etwas Besonderes?« meinte Marc. »Ja, ich habe zwar keine Vergleiche, aber Deine Vorspeisen sind das Größte auf der Welt«, sagte ich anerkennend.

Nachdem ich also unseren Tag der Tage im letzten Jahr vergessen hatte, wollte, nein, musste ich diesmal etwas ganz Besonderes machen. Jetzt kam mir eine Idee. Diese Idee war so toll, dass ich richtig stolz auf mich selbst war, dass ich sie gehabt hatte. Hoffentlich würde Marc sie genauso toll finden. Aber noch wollte ich ihn nicht einweihen. Es sollte eine Überraschung werden. Doch um ihn überraschen zu können musste ich gleich nach unserer Rückkehr allein in die City. Ich musste mir also eine Ausrede einfallen lassen. Ich überlegte eine ganze Weile. Plötzlich kam mir die passende Ausrede in den Sinn. Na klar, dass ich darauf nicht gleich gekommen war! War doch ganz einfach. Ich erzählte Marc, dass ich noch kurz in die Firma müsse, um noch ein paar Dinge zu erledigen.

Wieder Zuhause in Berlin angekommen, setzte ich Marc vor der Wohnung ab und fuhr weiter. Marc versprach mir ein besonderes Abendessen zu kochen. Sehr verlockend für mich, denn Marc konnte wirklich erstaunlich gut kochen. Wirklich allererste Klasse! Ich liebte alles, was er zubereitete. Zugegeben, zuweilen nahm er auch einmal zuviel Salz...aber wie heißt es so schön mit dem Salz? Gilt versalzenes Essen nicht als Zeichen dafür, dass man verliebt sei? Also nahm ich das ab und zu ganz gerne in Kauf.

Als ich, zurück von meinem kleinen Abstecher, die Wohnungstür aufschloss, kam mir der Geruch eines wunderbaren Mahles entgegen und zog mich magisch in Richtung Küche. Marc hatte mich kommen gehört und schlug mir die Tür vor der Nase zu. »Draußen bleiben!« rief er. Marc mochte es nicht, wenn man ihm beim Kochen in die Töpfe schaute.

»Wie kann ein soooo süßer Marc nur so grausam sein?« meinte ich zu ihm, durch die Tür durch. »Er kann!« meinte er energisch.

»Gut«, erklärte ich, »dann gibt's auch keine Überraschung für ihn!«

»Überraschung?« Marc war hellhörig geworden, öffnete die Tür einen Spalt und streckte seinen Kopf heraus: »Was für eine Überraschung?«

Ich lehnte meinen Kopf zurück, schaute an die Decke und pfiff ein paar Takte aus Valencia, um ihn dann aber doch noch weiter auf die Folter zu spannen: »Ätsch, das hast du nun davon, die Überraschung gibt's erst nach dem köstlichen Abendmahl!«

Marc zog sich brummelnd in die Küche zurück. Eigentlich bestrafte ich mich selbst damit, denn wenn ich eine Überraschung oder ein Geschenk für jemanden hatte, dann war es mir immer ein Bedürfnis es sofort zu überreichen. Es machte mich wahnsinnig, wenn ich warten musste. Das war schon immer so. Meine Mutter bekam ihr Geburtstagsgeschenk früher meist schon einen Tag zuvor. Ich konnte einfach nicht warten. Besonders Weihnachten war es immer sehr schlimm für mich. Wenn ich die Geschenke schon drei Wochen vor dem Fest im Schrank liegen hatte, dann war es eine Qual für mich, die kommenden Tage zu überstehen, bis ich endlich Christkind spielen konnte. Umgekehrt war es ähnlich, aber ich konnte eher auf Geschenke für mich warten, als darauf meine Geschenke überreichen zu können. Mann, es macht einfach Spaß, Dinge zu verschenken und andere Menschen zu überraschen. Auf Marcs Gesicht jedenfalls, war ich schon sehr gespannt.

Als Marc das Essen servierte, trat meine Überraschung, zumindest für mich, etwas in den Hintergrund. Es duftete wirklich köstlich, wenn es nur halb so gut munden würde, wie es meine Nase vernahm, dann musste es herrlich sein. Marc hatte den Tisch auch noch ansprechend hergerichtet. Das tat er nicht jeden Tag. Wenn er es jeden Tag gemacht hätte, dann wäre es ja auch nichts Besonderes mehr gewesen. Aber es brauchte keinen besonderen Anlass, dass wir uns gegenseitig überraschten oder verwöhnten. Das ergab sich spontan. Sicher, es gab Tage, an denen wir es auch aus bestimmten Anlässen taten, der 19. April, der Tag unseres ersten Kennenlernens auf der Geburtstagsparty von Marcs Cousin, war beispielsweise so ein Tag, aber auch darüber hinaus überraschten wir uns gelegentlich. Das machte das Leben viel schöner!

»Was ist denn das Feines?« erkundigte ich mich. Marc nannte irgendeinen ausländischen Namen. Auch das, was er schließlich auftischte, konnte ich vom Aussehen her nicht unbedingt identifizieren, aber es sah einfach köstlich aus. Eigentlich nahm ich ja nicht gerne Nahrungsmittel zu mir, deren Herkunft ich nicht identifizieren konnte, aber wenn es Marc mir vorsetzte und es mich zusätzlich auch noch vom Teller heraus so anlächelte, dann verlor ich meine Bedenken und langte genüsslich zu. Mir lief das Wasser im Munde zusammen. Genüsslich kauend ließ ich das fremdartige Mahl auf meinem Gaumen zergehen. Meine Nase hatte mir nicht zuviel versprochen. Es war einfach delikat!

»Kompliment an den Koch«, sagte ich, »Er hat sein Handwerk wirklich gelernt!«

Marc freute sich über mein Urteil, doch ich sah ihm an, dass er die ganze Zeit, während des Essens, auf etwas wartete. Neben dem köstlichen Essen, kostete ich auch dies voll aus. Nicht dass es mir Spaß gemacht hätte, andere Menschen auf die Folter zu spannen...na ja, ein kleines bisschen vielleicht... Na gut: Es machte mir einen Heidenspaß, andere Menschen auf die Folter zu spannen! Besonders bei Marc hatte ich Spaß dabei. Er sah so unglaublich süß aus, wenn er auf etwas wartete.

»Na?« Marc starrte mich an. »Na!«, wiederholte ich. »Na!« machte Marc erneut. »Was na?« fragte ich. »Na, was ist nun mit der Überraschung?« wollte Marc wissen. »Was für eine Überraschung?« fragte ich verschmitzt. »Du hast doch vorher von einer Überraschung gesprochen!« stellte Marc beharrlich fest. »Ach die Überraschung«, entgegnete ich, »Ich wusste nicht, dass du die Überraschung meinst. Sag das doch gleich!«

Ich griff nach der kleinen Dessertschüssel mit dem gezuckerten Obst in Milch, das Marc als Nachtisch hingestellt hatte. Genüsslich schmatzend zog ich mir das Obst rein. Marc starrte mich die ganze Zeit wartend an und rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Schließlich schlug er die Arme auseinander und fragte erneut: »Na, was is' denn nun mit der Überraschung?«

Nachdem ich die Milchreste aus der Schüssel ausgeschlürft hatte, stand ich auf, ging zu meiner Jacke und holte daraus zwei Tickets hervor. »Toll!« meinte Marc genervt, »Du hast also schon wieder zwei Strafzettel bekommen. War das etwa die große Überraschung?« - »Das sind keine Strafzettel«, stellte ich fest, »die habe ich in der anderen Jackentasche. Das sind Fluuuuuugtickets.«

»Flugtickets?« Marc war sehr verwundert. »Jäh, Flugtickets«, bekräftigte ich meine Aussage. »Für was?« wollte Marc nun unbedingt wissen. »Das heißt nicht für was«, belehrte ich ihn, »Du könntest fragen `Für wen? ´ oder `Wohin? ´« Marc verzog verschmitzt das Gesicht: »Also gut: Für wen und wohin?«

»Siehst du, das sind schon bessere Fragen«, erklärte ich.

»Verdammt noch mal, Daniel, willst du mich vor Neugierde umbringen!?« Mit den Fingern aufgeregt auf dem Tisch hämmernd, platzte Marc förmlich vor Neugierde. Wenn ich ihn noch länger hätte schmoren lassen, dann wäre es wirklich unverantwortlich von mir gewesen, also erlöste ich ihn von seinen Qualen: »Ich sage nur Valencia! Es sind zwei Flugtickets nach Valencia! Und für wen sie sind: Rate mal! Wir fliegen morgen früh um acht!«

»Du bist verrückt!«, stellte Marc fest. »Ja, Marc, nun kennen wir uns seit acht Jahren, und du merkst das erst jetzt? Ich muss mich schwer wundern!« meinte ich nur dazu.

Und tatsächlich befanden wir uns am nächsten Morgen bereits um sechs Uhr am Flughafen `Berlin-Tegel´. Eigentlich war es viel zu Früh, denn unsere Maschine würde erst zwei Stunden später gehen, aber Marc hatte Bammel, dass sich das Flugzeug ohne uns in die Lüfte begeben würde. Die ganze Nacht über hatte er mich wach gehalten. Er konnte vor Aufregung nicht schlafen, und so erkundigte er sich alle fünf Minuten bei mir, ob ich denn schon schlafen würde. Am liebsten hätte ich ihn gewürgt, aber ich konnte mich gerade noch beherrschen. Eine andere Person hätte sich das bei mir jedenfalls nicht erlauben dürfen.

Sowohl für Marc, als auch für mich war es der erste Flug überhaupt. Und hier am Flughafen war alles neu für uns. Wir fühlten uns wie die kleinen Kinder, die das erste Mal einen Jahrmarkt entdecken. Aufmerksam beobachteten wir das bunte Treiben im Flughafengebäude.

Wir vertrieben uns die Wartezeit mit kleinen Albernheiten. Es war schon fast peinlich, wie wir herumalberten und kicherten. Doch in der Gegenwart von Marc war mir nichts peinlich. Wenn er an meiner Seite war, hatte ich nie das Gefühl, mich durch irgendetwas zu blamieren. Es machte mich selbstbewusst, ihn dabei zu haben. Vielleicht mag es albern klingen, aber ihn zum Freund zu haben, machte mich unglaublich stolz.

So verging die Zeit recht schnell, bis endlich unser Flug aufgerufen wurde, der uns nach Valencia bringen sollte. Eigentlich wusste ich nicht viel über Valencia, außer dass uns der Flug nicht nach Venezuela, wo es auch noch ein Valencia gibt, sondern nach Spanien bringen würde. Wie ich dann ausgerechnet auf die Idee eines Urlaubsfluges nach Valencia kam? Es war ein Last Minute Angebot, und die schmackhafte Dame im Reisebüro hatte es mir...Quatsch, ich wollte sagen: Die Dame im Reisebüro hatte es mir schmackhaft gemacht.

Im Flugzeug unterhielten wir uns dann über die bevorstehenden zwei Wochen. Ich erklärte Marc, dass ich keinerlei Ahnung von Valencia hätte. Voller Stolz begann er dann zu glänzen: »Valencia ist die drittgrößte Stadt Spaniens und war ehemals sogar Hauptstadt. Valencia und Murcia sind die Küstenlandschaften Spaniens am Mittelmeer. Rodrigo Diaz de Vivar, mit dem Beinamen `Cid´, schuf sich 1094 ein eigenes Reich um Valencia. 1238 eroberte Jaime el Conquistador das Königreich Valencia, im Kampf gegen die Mauren und wurde zum katalanischen Nationalhelden...«

Marc erzählte mir nahezu die gesamte Geschichte Valencias. Das konnte ich mir unmöglich alles merken. Nach zehn Minuten unterbrach ich ihn schließlich in seinem Redefluss und fragte: »Sag mal Marc, das ist ja alles waaaaaaahnsinnig interessant. Woher weißt du denn das alles?« »Von der Toilette«, erklärte Marc. »Lieber Marc, ich wage ja kaum die Frage zu stellen, aber wie kann man so etwas von der Toilette lernen?« wollte ich nun wissen.

»Äh, ich konnte heute Nacht doch nicht richtig schlafen...«, meinte Marc. »Wem sagst du das«, sagte ich mit einem großen Seufzer, denn ich erinnerte mich allzu gut daran, »du hast mich ja alle fünf Minuten geweckt.« - »Habe ich nicht!« verteidigte sich Marc. »Hast du doch«, beharrte ich. »Hab ich nicht«, wiederholte Marc. »Doch du hast«, bekräftigte ich noch einmal. »Na ja«, gab Marc zu, »vielleicht hatte ich heute Nacht wirklich etwas übertrieben, aber ich war so aufgeregt. Tut mir leid, Daniel. Aber eine Stunde lang habe ich dich nicht geweckt. Ich saß auf dem Klo und hatte Durchfall. Da wieder irgendjemand meine ganzen Spiderman-Comics weggeworfen hatte...« Marc sah mich dabei vorwurfsvoll an, »...habe ich einen Bildband über Spanien aus deinem Bücherregal genommen und durchstudiert.« Unglaublich für was solche Sitzungen alles gut sein können.

Am Zielflughafen angekommen ließen wir uns mit einem Taxi ins Hotel fahren. Auf dem Zimmer machten wir uns erst mal ans Auspacken. »Oh verdammt«, stellte Marc plötzlich fest, »Ich hab die Badehose vergessen!« - »Kein Problem«, bekannte ich, »wir können dir nachher ja eine neue kaufen oder...« - »Was oder«, fragte Marc. »...oder du schwimmst einfach ohne!« erklärte ich schmunzelnd. »Pfui, Daniel!« meinte Marc.

»Wieso `Pfui, Daniel´?« erläuterte ich, »Ich will doch nicht selbst nackend schwimmen. Das war doch nur ein Vorschlag für dich!« Marc sah mich streng an. Aus seinem gestrengen Blick wurde aber sofort wieder ein Lächeln.

Da Marc meinen letzten Vorschlag nicht annehmen wollte, entschieden wir uns für Lösung Nummer eins und besorgten ihm eine neue Badehose in dem kleinen Shop im Hotel. Das Hotel war wirklich schön. Wir hatten es gut getroffen. Wie oft hört man doch von Hotels, die einem im Prospekt einen blauen Himmel versprechen, und die einem damit das Blaue vom selben herunter lügen. In der Tat hatte hier das Prospekt nicht zuviel versprochen: Die Lage war ziemlich ruhig, zum Strand waren es nur wenige Hundert Meter, es gab keinerlei Baustellen, und auch sonst war alles Tip Top.

Am Strand herrschte reger Betrieb. Doch wir fanden noch ein schönes Plätzchen und konnten sogar noch einen freien Strandkorb ergattern.

»Komm lass uns ‘ne Sandburg bauen«, schlug ich vor. »Sei nicht albern«, ermahnte mich Marc, »ich meine, wir sollten lieber ein Sandschloss bauen!« - »Was genau ist der Unterschied?« wollte ich wissen. »Ich weiß nicht so recht«, meinte Marc, »aber für gewöhnlich bauen Kinder Sandburgen. Aber von Sandschlössern habe ich noch nicht so oft gehört. Also ist das vielleicht eher etwas für Erwachsene!« - »Gut«, gab ich nach, »Nenn es wie du willst, aber ich bau' auf jeden Fall jetzt drauf los!«

Wir bauten etwa zwei Stunden und schufen tatsächlich so etwas wie eine Burg, meinetwegen auch so etwas wie ein Schloss. Dabei gaben wir uns sehr viel Mühe. Es machte uns sichtlich Spaß. Der Opa im Nachbarkorb schien sich köstlich darüber zu amüsieren. Es muss schon ziemlich albern ausgesehen haben: Da sind zwei 21/22-jährige Boys, die im Sand spielen, als seien sie noch 12 Jahre alt. Doch wir kamen uns nicht im Geringsten albern dabei vor. Es machte einfach viel Spaß. Ist doch seltsam, wenn ein Kind bei uns gewesen wäre, und wir hätten zusammen mit dem Kind im Sand gespielt, dann hätte kein Mensch sich darüber gewundert. Aber dadurch, dass zwei `alte Esel´ wie wir das allein taten, wurde es von einigen anderen Urlaubern belächelt.

Als wir ziemlich fertig waren, nahte ein etwa zehn Jahre alter Junge heran. Marc steckte gerade ein Fähnchen, das er von seinem Eisbecher übrigbehalten hatte, in den höchsten Turm unserer Burg. »So, fertig«, stellte Marc Stolz fest. »Ja«, stimmte ich zufrieden zu, »das Werk ist vollbracht. Wir haben ganze Arbeit geleistet.«

»Oh nein!« schrie Marc entrüstet auf. Dieser zehnjährige Rotzlümmel war doch tatsächlich durch unsere Burg durchgelatscht. Das Bürschchen drehte sich um und lachte hämisch. Nicht mit mir, dachte ich so bei mir. Na warte! Ich ergriff die Flasche mit der Sonnencreme, die ich neben mir liegen hatte, schraubte schnell den Verschluss ab und schoss - Volltreffer! Ich hatte ihn mitten ins Gesicht getroffen. Jetzt lachte er nicht mehr. Er stand regungslos mit offenem Mund da. Damit hatte er wohl nicht gerechnet. Marc und ich aber lachten herzlich. Jetzt musste auch der Bengel lachen. Ich warf ihm eines unserer Handtücher zu, die wir mitgebracht hatten.

Nach diesem Erlebnis holten Marc und ich uns noch eine Portion Eis. Anschließend beschlossen wir, uns noch ein wenig in die Sonne zu legen. Wir legten uns beide auf den Bauch und ließen uns von den Sonnenstrahlen streicheln. So lagen wir einige Minuten stillschweigend da, als plötzlich zwei gutaussehende Girls im Bikini auf uns zukamen. Sie blieben vor uns stehen. Ich schaute die langen Beine nach oben. Die Ladys grinsten uns an. »Hi«, machten sie. »Hi«, antworteten wir beide im Chor. »Na, so allein?« fragten sie. Aha, sie waren also der deutschen Sprache mächtig, erkannte ich. »Ist bei euch noch ein Plätzchen frei?« fragten sie. »Ja sicher!« sagte ich.

Die Girls legten sich neben uns. »Oh entschuldigt«, meinte eine der beiden, »wie unhöflich. Wir haben uns ja noch nicht vorgestellt. Das ist meine Freundin Carmen. Ich bin Natascha.«

»Angenehm«, sagte ich, »der Hübsche da drüben ist Marc. Mein Name ist Daniel.« »...und nicht weniger hübsch!«, vervollständigte Carmen meinen Satz. Ich fühlte mich geschmeichelt.

»Wisst ihr ‘was, Jungs?!« meinte Carmen. »Könntet ihr uns vielleicht einen kleinen Gefallen tun?« - »Jeden«, bekannte ich. Die Mädels sahen sich kichernd an, und Carmen fragte schließlich: »Bevor wir hier in der Sonne verkohlen, könntet ihr uns vielleicht den Rücken mit Sonnencreme einschmieren. Da kommen wir selbst so schlecht hin.«

Sicher, die Girls hätten sich ja gegenseitig einschmieren können, aber das wäre ja etwas anderes gewesen. Marc sah mich fragend an. Ich grinste und nickte ihm verschmitzt zu. »Aber gerne doch, ihr Hübschen«, sagte ich. »Nichts lieber als das«, stimmte Marc zu. Ganz behutsam massierten wir den beiden gutaussehenden Girls den Rücken mit Sonnenöl ein. Darin hatten wir ja beide schon Übung, hatten wir uns doch noch vor knapp drei Stunden gegenseitig den Rücken mit Sonnenöl eingerieben. »Das machst du aber gut«, meinte Natascha, die sich in Marcs Händen befand. »Und, mache ich es auch gut«, wollte ich von Carmen wissen. Sie nickte zustimmend: »Ganz ausgezeichnet!«

Wir vier unterhielten uns eine ganze Weile über Gott und die Welt. Schließlich luden wir die Mädels noch in ein kleines Café nahe des Strandes ein. Die Girls und Marc bestellten sich einen Eisbecher. Ich zog einen Kaffee vor, denn es wäre das dritte Eis an diesem Tage für mich gewesen, und damit vielleicht doch des Guten ein bisschen zu viel. Auch für Marc war es das dritte Eis, aber Süßmaul Marc machte das nichts aus. Er hätte vermutlich sogar noch eine vierte oder gar fünfte Portion verdrückt.

Auch im Café machten wir vier unsere Späße. Carmen und Natascha stammten aus Hamburg. Sie waren etwa in unserem Alter, wenn ich sie richtig einschätzte, danach gefragt haben wir freilich nicht, denn wir wussten ja, was sich gehörte. Die beiden waren allein in die Ferien gefahren. Sie berichteten, dass sie zurzeit solo seien. Irgendwie kamen sie dann darauf, uns zu fragen, ob zu Hause Freundinnen auf uns warten würden. »Nein«, antwortete ich, »auf uns warten zu Hause keine Freundinnen.«

Marc begann ganz plötzlich fürchterlich zu husten. Ich vermutete, dass er sich auf Grund der Frage und meiner Antwort irgendwie verschluckt haben musste und klopfte ihm auf die Schultern. Aber es schien nichts damit zu tun zu haben. Er hustete eine ganze Weile und hörte erst nach einigen Minuten wieder auf.

»Ich muss mich irgendwie erkältet haben«, meinte er. »Ja«, es ist auch unheimlich kalt, scherzte ich, denn es dürften sicher weit über 30 Grad vorgeherrscht haben.»

»Hängt sicher auch mit meinem Schnupfen zusammen!« versuchte er zu erklären. »Welchen Schnupfen?« wollte ich von ihm wissen. »Habe ich seit gut zwei Wochen«, erzählte er, »Seit zwei Wochen kann ich kaum durch die Nase atmen. Ständig ist sie verstopft. Ich muss mich irgendwie erkältet haben.« Ich sah ihn nachdenklich an, sagte aber nichts weiter dazu.

Die Girls waren wirklich sehr nett. Wir vier verbrachten fast die ganze Zeit miteinander und machten gemeinsame Ausflüge in die Umgebung. Es war eine schöne und abwechslungsreiche Zeit.

Nur Marc machte mir sorgen. Ich beobachtete, dass er beim Atmen oft Schwierigkeiten hatte. Wie konnte man sich nur bei dem Wetter erkälten?

Als wir nach 14 Tagen wieder deutschen Boden betraten, war ich trotz der schönen Zeit in Spanien sehr froh, wieder daheim zu sein. Marc hatte noch eine Woche Urlaub vor sich. Auch ich konnte mir noch eine Woche frei nehmen.

Da Marcs vermeintliche Erkältung nicht besser wurde, bestand ich darauf, dass er zum Arzt ging. Ich bekleidete ihn und ging auch mit ihm ins Behandlungszimmer. Der Arzt war genau genommen eine Ärztin, und die war nicht wenig erstaunt, dass zwei Boys gemeinsam bei ihr erschienen. Na ja, sie hatte die Praxis wohl auch noch nicht so lange. Oder war es wirklich so ungewöhnlich, dass zwei Jungs zusammen ins Behandlungszimmer kamen? Bei Eheleuten war das doch auch üblich.

»Sie gehören zusammen?« fragte sie verwundert. »Wie Donald und Daisy«, gab ich scherzhaft zur Antwort. »Und wer von Ihnen ist Herr Grober?« wollte sie wissen. Marc meldete sich wie in der Schule mit Fingerzeig: »Das bin ich!«

»Aha«, erkannte die Ärztin, »und Sie sind?« Damit meinte sie mich. »Ich bin der Freund, äh, Lebensgefährte von Marc«, bekannte ich. Seltsam, noch nie hatte ich das Wort `Lebensgefährte´ zuvor in den Mund genommen gehabt. Aber eigentlich war es ja wohl der richtige Ausdruck. Wir lebten ja zusammen. Frau Dr. Kiefer war eine noch sehr junge Ärztin, wohl nicht einmal dreißig Jahre alt, oder zumindest nicht viel darüber.

»Freut mich«, sie streckte uns beiden die Hand zum Gruß entgegen. Mit soviel Toleranz hatte ich gar nicht gerechnet. Sie nahm es hin, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. Eigentlich sah ich darin ja auch nichts Besonders, aber allgemein wurde eben doch noch anders auf solche Dinge reagiert. Die Ärztin schien ihrer Zeit schon um ein paar Jährchen voraus zu sein. Ja, ein paar Jährchen voraus! - Ich war überzeugt... Ich dachte an Martin Luther King und an seine historische Rede vom 23. Juni 1963: »Heute Nachmittag habe ich einen Traum, tief mit dem amerikanischen Traum verbunden. Ich habe den Traum, dass eines Tages von Georgia bis nach Mississippi und Alabama, die Söhne von ehemaligen Sklaven und die Söhne von ehemaligen Sklavenbesitzern, wie Brüder zusammenleben können. Ich habe einen Traum, dass eines Tages kleine weiße Kinder und kleine schwarze Kinder, sich wie Brüder und Schwestern die Hände geben. Ich habe heute Nachmittag einen Traum, dass meine vier Kinder eines Tages nicht so aufwachsen werden wie ich aufgewachsen bin. Sie werden beurteilt nach ihrem Charakter und nicht nach ihrer Hautfarbe.« Diese Rede mussten wir damals auf Englisch auswendig lernen. Um ehrlich zu sein, war ich der einzige, der das tat. Aber irgendwie habe ich mir das bis heute gemerkt.

Wie ich gerade auf Martin Luther King komme? Diese Rede hatte ich mir sehr verinnerlicht. Ich bezog sie auf etwas anderes: Ich habe einen Traum, dass eines Tages, alle Menschen auf der Welt, egal welcher Art und Rasse, egal welcher Glaubensrichtung oder Sexualität, sich wie Brüder und Schwestern die Hände geben. Ich habe einen Traum, dass man alle Menschen eines Tages nur noch nach ihrem Charakter beurteilen wird und nicht nach ihrer Rasse, Glaubensrichtung, Herkunft oder Sexualität.

Also entweder konnte diese Ärztin es sehr gut verbergen, oder sie war so tolerant. Das ist man irgendwie nicht gewohnt! Sie forderte uns auf Platz zu nehmen.

»Wo drückt denn der Schuh?« fragte sie. »Ich habe seit ein paar Wochen eine Erkältung«, meinte Marc. »Sorry«, fügte ich hinzu, »aber ich muss betonen, dass er glaubt eine Erkältung zu haben. Eine normale Erkältung scheint es mir aber nicht zu sein. Seit gut vier Wochen ist seine Nase ständig verstopft und Nasentropfen helfen so gut wie gar nicht!«

»Jetzt übertreib mal nicht«, meinte Marc. »Stimmt es etwa nicht?« fragte ich ihn zurück. »Schon...«, entgegnete Marc. »Na, dann wollen wir einmal sehen«, erklärte Frau Dr. Keil, nahm eine Art Taschenlampe und ein metallisches Stäbchen, um Marc in die Nase zu schauen. »Machen sie sich mal den Oberkörper frei«, forderte sie Marc auf. Dann nahm sie ihr Stethoskop, klopfte Marc den Rücken ab und ließ ihn tief ein und ausatmen. Schließlich durfte er auch noch husten. »Hm«, machte sie. Marc konnte sich wieder anziehen und hinsetzen. Auch sie nahm wieder Platz.

»Also«, fuhr sie fort, »etwas Genaues kann ich natürlich so noch nicht sagen, aber ich würde vermuten, dass es wohl keine normale Erkältung ist. Vermutlich ist es ganz harmlos, aber sicherheitshalber, um hundertprozentig beruhigt sein zu können, würde ich sagen, wir nehmen eine Gewebeprobe. «Gewebeprobe?» wollte Marc wissen. «Ja», entgegnete sie, «Wie erkläre ich es am Besten? Sie wissen doch sicher, was eine Warze ist? Oder eben auch Polypen? So wie es aussieht, könnte es sein, dass sie auch so etwas in der Nase haben. Sowohl Warzen als auch Polypen sind gutartige Geschwulste, also kein Grund, sich aufzuregen. Wenn wir eine Gewebeprobe entnehmen, dann können wir feststellen, ob es sich um solche harmlose Polypen handelt und können dann etwas dagegen unternehmen.»

»Und wenn es keine Polypen sind?« wollte ich wissen.

»Ich glaube, wir sollten erst einmal das Ergebnis abwarten. Über ungelegte Eier sollte man nicht reden.«

Frau Dr. Keil entnahm aus Marcs Nase eine Gewebeprobe und erklärte uns, dass das Ergebnis in ein bis zwei Tagen da wäre. Wir sollten bei der Sprechstundengehilfin einen Termin für den übernächsten Tag machen.

Ich machte mir ziemliche Sorgen. Nun schien auch Marc beunruhigt zu sein. Zunächst schwiegen wir darüber. Doch am darauffolgenden Abend, ich lag schon im Bett, Marc war noch im Badezimmer, um sich die Zähne zu putzen, hatte ich furchtbare Angst. Ohne dass die Ärztin uns Genaueres gesagt hatte, ich malte mir die schlimmsten Dinge aus. Sonst kam Marc immer voller Freude ins Bett gehüpft. Meist machte er einen großen Sprung, so dass das Bett zu wackeln begann und man sogar Angst haben musste, dass es irgendwann durch seinen Hechtsprung zusammenbrechen würde. Diesmal aber kam Marc sehr bedächtig ins Zimmer, schlug fast in Zeitlupe das Lacken zurück und krabbelte ebenso langsam ins Bett hinein.

Ich richtete mich auf: »Marc, was hast du?« Natürlich wusste ich, was er hatte, machte ich mir doch mindestens ebenso viele Sorgen wie er selbst, aber ich wollte, dass er darüber redet.

»Daniel, ich habe Angst, furchtbare Angst«, sagte er vorsichtig, »was ist, wenn es keine einfachen Polypen sind?«

Zärtlich streichelte ich ihm über sein weiches blondes Haar. »Marc, noch wissen wir nicht, was sein wird. Ich glaube, es wird schon gut werden. Aber egal, was es ist, ich bin überzeugt, dass wir es zusammen regeln können. Bisher konnten wir beide immer alles zusammen regeln. Oder etwa nicht!?«

Marc schmiegte sich ganz fest an mich. So schliefen wir dann auch irgendwann beide zusammen ein.

Das Frühstück am nächsten Morgen lief recht wortkarg ab. Außer dem Nötigsten, sagte keiner von uns auch nur ein Wort. Wir hatten beide unheimlichen Bammel. Um Elf hatten wir einen Termin bei Frau Dr. Kiefer. Und es kam uns vor, als hinge davon unsere gemeinsame Zukunft ab. Im gewissen Sinne war es wohl auch so. Wenn es einfache Polypen waren, dann war alles in Butter und wir konnten so weiterleben wie bisher, ansonsten würde sich sicher einiges bei uns beiden ändern, dann müssten wir unser ganzes Leben umstellen. Wir bibberten förmlich im Chor.

Als wir endlich ins Sprechzimmer gerufen wurden, war zumindest ich schon wesentlich gefasster. Auch Marc schien die Ruhe wiedergefunden zu haben. Es war ja auch nicht nötig unruhig zu sein. Schließlich konnten wir es doch nicht ändern, egal, was uns die Ärztin auch gleich mitteilen würde. Wir waren auf alles gefasst.

Sie begrüßte uns freundlich. Aber irgendwie hatte ich schon gleich das Gefühl, dass ihr Lächeln diesmal eher gedrückt war. Sie bat uns Platz zu nehmen.

Ich sah Marc in die Augen. Sie hatten nicht den Glanz, den ich sonst von ihm gewohnt war. Was er wohl in diesem Momente dachte? Vermutlich hatte auch er gemerkt, dass die Ärztin recht unsicher wirkte.

Frau Dr. Kiefer setzte sich hinter ihren Schreibtisch, schlug Marcs Krankenblatt auf, das vor ihr auf dem Tisch lag und las noch einmal still ein paar Sätze darin.

»Nun, ich habe die Ergebnisse vorliegen«, begann sie zu reden, »Es sieht leider so aus, dass es sich nicht um einfache Polypen handelt. Wie es aussieht, handelt es sich um ein Karzinom...« Wir hörten ihr stillschweigend zu. Ich konnte Marcs Blicken entnehmen, was in ihm vorging. Mir war genauso elend zumute. Zwar wusste ich nicht genau, was ein `Karzinom´ war, aber ich hatte meine Vermutungen, die alsbald von ihr bestätigt werden sollten: »...um es mit möglichst einfachen Worten zu erklären: Das Karzinom ist ein bösartiges Geschwulst, das in den gesamten Organismus eindringt und nach und nach Nachbargewebe zerstört. Es bildet Metastasen, das sind Tochtergeschwulste, die zum Beispiel über den Blutweg in entfernter gelegene Organe gelangen. Wichtig ist jetzt eine möglichst schnelle Behandlung. Zeit ist hierbei ein wichtiger Faktor. Wir müssen es so schnell wie möglich genauer untersuchen, um festzustellen, in welchem Stadium es sich befindet. Dadurch, dass sie die Beschwerden wohl erst seit vier Wochen haben, hoffe ich, dass wir es möglichst früh erkannt haben.«

»Und was geschieht jetzt weiter?« unterbrach ich die Ausführungen. Marc selbst war in diesem Moment nicht im Stande auch nur einen vollständigen Satz herauszubringen.

Ich legte ihm meine Hand auf seine Schulter.

»Die Behandlungsmethoden können sein«, fuhr Frau Dr. Kiefer in ihren Ausführungen fort: » 1. Operation, also die Entfernung des Geschwulstes. 2. Bestrahlung und dadurch Zerstörung der Krebszellen und 3. Chemotherapie, Schädigung der Krebszellen durch Medikamente. Ich werde sie so schnell wie möglich ins Krankenhaus einweisen lassen, damit wir sofort mit der Behandlung beginnen werden. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«

Frau Dr. Kiefer telefonierte und machte alles klar. Marc sollte noch am gleichen Tag ins Krankenhaus eingeliefert werden, wo man ihn genaustens unter die Lupe nahm. Ich war mir sicher, es würde alles Menschenmögliche für Marc getan werden. Wenn ich nur hätte dabei sein können. Erst am übernächsten Tag würde ich ihn besuchen dürfen.

In der Wohnung kam ich mir so einsam ohne meinen Marc vor. Die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Das alles kam mir so verdammt bekannt vor, hatte ich doch schon einmal voller Bangen um Marc Stunden, Tage und Wochen verbracht. Damals lag er im Koma, sein Leben stand auf der Kippe. Und nun sollte sich das noch einmal wiederholen? Sollte ich nun erneut Tage, Wochen oder vielleicht Monate an seinem Krankenbett verbringen müssen? Marc, oh Marc! Mir wurde übel. Ich musste mich ganz schnell hinsetzen. Meine Gedanken kreisten. Liebe macht stark und schwach zugleich. Sie verlangt uns viel ab, gibt uns aber gleichzeitig wieder so viel zurück.

Erinnerungen kamen wieder auf: Ich dachte an all die Stunden, die ich mit Marc verbracht hatte. Bewusst oder unbewusst suchte ich an diesem Abend einen Ort auf, der für mich als Synonym für meine gesamte Kindheit stand. Ich weiß, dass es verrückt war, doch ich dachte nicht darüber nach, ich fuhr die vielen Kilometer in meine Heimatstadt, aber nicht um Vater und Mutter zu besuchen. Die erfuhren nie, dass ich an jenem Abend in der Stadt war. Nein, ich fuhr an einen ganz anderen Ort - an meine alte Schule. Es war bereits dunkel, als ich dort ankam. Aber mehrere Laternen spendeten genügend Licht, um die Szenerie in Augenschein nehmen zu können.

Hier auf dem Pausenhof war es, als ich Marc zum zweiten Mal begegnete, als er mich plötzlich ansprach. Ich hatte ihn sofort an der Stimme erkannt. Ich hätte diese liebliche Stimme überall erkannt. Mann, das war acht Jahre her. Meine alte Schule hatte ich seit vier Jahren nicht mehr gesehen. Aber jetzt mochte ich sie mehr als zu der Zeit als ich noch dazu verdonnert war auf sie zu gehen. Ist es nicht eigenartig? In der Erinnerung werden Dinge plötzlich viel freundlicher, als man sie früher empfand. Wenn ich früher die Schule verdammte und am liebsten schon am ersten Schultag abgeschlossen hätte, dann hatte dieser Ort für mich in diesem Moment eine ganz besondere Bedeutung. Mit diesem Ort verband ich nicht nur Zeit mit Marc. Auch andere Dinge prägten hier entscheidend mein Leben. Ich hatte einmal ausgerechnet, dass ich hier insgesamt so 437 Tage und Nächte verbracht hatte, wenn ich die gesamte Zeit addierte. Ein schrecklicher Gedanke: Ein Kind verbringt weit über ein gesamtes Jahr Tag und Nacht in der Schule. Verteilt auf zehn Jahre mag das aber noch erträglich sein.

Ich nahm auf dem alten Holzbänkchen Platz, das auf dem Pausenhof stand. Hier saß ich als Schüler sehr oft und beobachtete das Treiben auf dem Hof. Außer Marc hatte ich nie einen richtigen Freund in der Schule gehabt. Außer gelegentlichen kurzen Gesprächen mit Klassenkameraden hatte es nie etwas gegeben. Halt nein, falsch! Erst jetzt fiel es mir wieder ein. Da war doch... ja, da war etwas. Es muss in der dritten oder vierten Klasse gewesen sein. Also war ich wohl so etwa zehn Jahre alt. Was man nicht alles vergisst, wenn man älter wird! Es kommt einem ganz plötzlich wieder in den Sinn, wenn man bestimmte Dinge wieder zu Gesicht bekommt. Dinge, die einen direkten oder zumindest indirekten Bezug zu Ereignissen haben.

»Und ihr glaubt, dass es klappen wird?« fragte ich verunsichert. Die Frage galt meinen drei Spielkameraden Sebastian, Guido und Julian. Wir waren alle gleichaltrig, fast zumindest. Nur Julian war ein Jahr jünger. Er war erst neun Jahre alt und deshalb auch nicht in unserer Klasse. Wenn ich hätte sagen sollen, wen ich von meinen Spielkameraden am meisten mochte, dann wäre es Julian gewesen. Er war mir wohl auch am ähnlichsten, auch wenn ich es mir nicht anmerken ließ. Er war ein wenig der Außenseiter in unserer Klicke. Das lag daran, dass er im Gegensatz zu Sebastian und Guido kein Raufbursche war. Die beiden gingen keiner Rauferei aus dem Wege. Julian war ein wenig Mamasöhnchen. Seine Mutter war immer sehr darauf bedacht, dass sich ihr Julian nicht erkältete oder gar schmutzig machte. Sebastian und Guido spotteten deswegen so oft sich nur die Gelegenheit dazu ergab. Ich wollte kein Außenseiter sein, nein, das wollte ich nicht. Also machte ich fast alles mit, was Guido und Sebastian taten. Ich ließ es zu, wenn sie Julian verspotteten, und leider muss ich zugeben, dass ich oft auch mitspottete. Während das geschah, ließ ich mich einfach mitziehen und sah nichts Schlimmes dabei, aber oft lag ich abends im Bett und hatte Gewissensbisse. Doch schon beim nächsten Mal hatte ich diese wieder vergessen.

Einmal waren zwei Cousins von Guido zu Besuch. Wenn ich mich recht entsinne, dann waren ihre Namen Frank und Lars, doch so genau weiß ich das nicht mehr. Jedenfalls waren sie auch in etwa in unserem Alter. Guido, der sich immer gerne als Anführer aufspielte schlug vor Krieg zu spielen. Nun, Kriegsspiele sind wohl auch nichts Außergewöhnliches für Kinder in unserem Alter gewesen, doch diesmal sollte es eskalieren. Zunächst verlief noch alles normal. Hier ein paar blaue Flecke, da ein paar blaue Flecke oder ein paar Schrammen - also nichts Außergewöhnliches. Irgendwann kam einer der beiden Cousins auf die Idee, dass man doch einen gefangen nehmen könnte. Guido war Feuer und Flamme von der Idee. Als `Gefangener´ kam natürlich nur einer in Frage: Julian. Ohne dass dieser so recht mitbekam, wie ihm geschah, wurde er in den Schwitzkasten genommen und schließlich an einem Rohr in Guidos Keller festgebunden. Die Eltern von Guido waren den ganzen Tag über nicht zu Hause, also war das kein Problem. Ich beteiligte mich nicht direkt daran. Ich wollte das auch nicht. Aber wenn ich etwas dagegen gesagt hätte, dann wäre ich wohl schief angeguckt worden, und das wäre noch das wenigste gewesen, was mir hätte passieren können. Also schwieg ich. Ich höre noch heute, wie Julian damals flehte: »Hört doch bitte auf, ich will nicht mehr mitspielen. Macht mich bitte los. Das ist kein Spaß mehr.«

Doch umso mehr Julian flehte, umso mehr hatten die anderen ihren Spaß daran. Zu diesem Zeitpunkt lief gerade »Das fliegende Klassenzimmer« im Fernsehen. Vermutlich war das auch der Grund für die Idee meiner Spielkameraden, und so kamen sie sogar auf die Idee den Gefangenen zu foltern. Das sollte bedeuten, dass sie ihm alle halbe Stunde eine Backpfeife auf die Wangen geben würden. Ich kann nicht sagen, ob sie das wirklich vorhatten, oder ob sie das nur sagten, um Julian noch mehr Angst einzuflößen, doch genau in diesem Moment beschloss ich, nicht mehr länger zuzusehen. Julian kullerten dicke Tränen über seine Wangen. Ich verlor die Beherrschung, ging einfach hin und schnitt die Fesseln durch. »Spinnst du«, plärrte mich Guido an. Die Jungs machten drohende Gebärden. Aber seltsamer Weise beließen sie es bei den Drohungen an diesem Tag. Julian und ich gingen langsam weg. Seine Jacke war total verdreckt und auch aufgerissen. Ich wusste, dass er daheim Ärger mit seinen Eltern bekommen würde. Leider konnte ich ihm dabei kein bisschen behilflich sein. Julian sah mich traurig an. Ich wollte noch etwas sagen, aber er ging einfach weiter und ließ mich stehen. Ich schämte mich dafür, dass ich das alles zugelassen hatte. Zwar war ich eingeschritten, aber das war viel zu spät. Das hätte ich früher tun können, nein, ich hätte es früher tun müssen. Es war das letzte Mal, dass Guido, Sebastian, Julian und ich zusammen gespielt haben. Mit Guido und Sebastian wollte ich nicht mehr spielen und bei Julian traute ich mich nicht mehr. Zwar versuchte ich mich bei ihm zu entschuldigen, aber seine Mutter ließ mich nicht zu ihm. Ein paar Wochen später zogen sie weg in die Nachbarstadt. Ich habe ihn nie wieder gesehen.

12 Jahre sind seither vergangen. Was wohl aus Julian wurde? Doch diese Frage stand für mich nicht im Vordergrund. Vielmehr sorgte ich mich um Marc. Für einige Minuten hatte ich es geschafft, mich abzulenken und an andere Dinge zu denken, doch jetzt war die Sorge um Marc wieder da. Sicher würde er gerade im Bett liegen. Vielleicht würde er gerade überlegen, was ich wohl machen würde. Oder würde er etwa schon schlafen? Sicher nicht! Na, man weiß ja nie.

Ich schaute auf meine Rolex, die ich vor ein paar Jahren von meinem Chef für eine wohl sehr gelungene Werbeaktion geschenkt bekommen hatte. Es war kurz nach Neun. Ich hatte mir noch gar keine Gedanken darüber gemacht, wo ich heute Nacht schlafen sollte. Aber im Auto könnte ich sicher auch eine Nacht verbringen. Zu meinen Eltern wollte ich jedenfalls nicht. Da fiel mir ein, dass Marcs Cousin Martin vielleicht noch immer hier in der Stadt wohnen könnte. Nein, ich wollte nicht bei ihm übernachten, aber er und dessen Eltern waren so ziemlich die einzigen Verwandten, die Marc noch hatte. Aber konnte ich um diese Zeit bei meinem alten Klassenkameraden noch anklingeln? Warum nicht, dachte ich: Mehr als wütend die Tür zuknallen kann er ja nicht. Ich fuhr zu einer Telefonzelle in der Nähe und schlug im Telefonbuch nach. Tatsächlich: Martin Wörner wohnte noch immer hier.

Nicht überlegen - ,Klingle einfach!' sagte ich zu mir und drückte auf den Knopf. Nach zwei Minuten wurde mir die Türe geöffnet. Martin stand bereits im Pyjama vor mir: »Was um alles in der Welt...«, meinte er. Erst jetzt schien er zu erkennen, dass ich es war. »Daniel, du?« fragte er verdutzt. »Bitte entschuldige die Störung«, meinte ich zu ihm. Er bat mich einzutreten. Anscheinend wohnte er allein. Erst jetzt machte ich mir Gedanken darüber, dass ich ihn ja vielleicht bei etwas gestört haben könnte. Das hätte peinlich werden können. Aber der Fernseher lief. Anscheinend hatte ich ihn nur dabei gestört. »Bitte entschuldige«, wiederholte ich noch einmal, »Aber ich bin nicht ganz ohne Grund hier.« - Martin bot mir einen Platz auf seiner Couch an und schenkte mir ein Glas Orangensaft ein. »Hoffentlich nichts Schlimmes?« wollte Martin wissen.

»Wie man's nimmt«, erklärte ich, »heute Morgen wusste ich noch nicht, dass ich jetzt hier sein würde. Es ist wegen Marc...«

»...wegen Marc!?« unterbrach mich Martin, »Was ist mit Marc? Ich habe ihn schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Ich weiß noch nicht einmal, wo er wohnt. Das letzte, was ich erfahren habe ist, dass Tante Gerda und Onkel Fred bei einem Unfall ums Leben kamen. Marc ist danach verschwunden. Er hat sich seitdem nie bei uns gemeldet.« - »Ja«, fuhr ich fort, »Ich wohne seit fünf Jahren in Berlin. Marc und ich wohnen zusammen. Nach dem Tod seiner Eltern ist er bei mir aufgetaucht. Seitdem wohnen wir zusammen.« Martin war sehr überrascht: »Warum hat er sich nie gemeldet?« - »Das kann ich dir nicht sagen«, meinte ich, »ich kann nur vermuten, dass er Angst vor Abhängigkeit hatte. Bevor er an meiner Tür klingelte, hatte er schon mehrere Tage vor meiner Haustür verbracht, weil er sich nicht traute.« - »Warum ist Marc nicht mitgekommen?« wollte Martin von mir wissen.

»Er...er...«, stammelte ich, »...er liegt im Krankenhaus. Er ist sehr krank. Marc hat Krebs.« Martin hatte es die Sprache verschlagen, vielleicht wusste er auch nicht so recht, was er jetzt antworten sollte. Auch ich schwieg einen Augenblick.

»Ist er ganz allein?« fragte Martin schließlich. »Im Moment darf man ihn nicht besuchen, weil noch einige Untersuchungen bis übermorgen gemacht werden. Erst dann kann man wieder zu ihm. Deshalb bin ich auch hierher gefahren, um auf andere Gedanken zu kommen«, berichtete ich.

»Marc und du seid wohl noch immer dicke Freunde?« erkundigte sich Martin. »Ja«, sagte ich leise, »eigentlich sind wir mehr als lediglich dicke Freunde.«

Martin nickte zustimmend. Er hatte wohl verstanden, was ich damit andeuten wollte. »Wie geht es ihm?« wollte Martin von mir wissen. Doch eine Antwort auf diese Frage hätte ich in diesem Augenblick selbst gerne gehabt. Martin knipste den Fernsehapparat aus: »Tja, ich weiß gar nicht so recht, was ich nun sagen soll. Es ist ja schon eine Ewigkeit her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben«, meinte er. »Ich glaube, es war vor fünf Jahren bei der Abschlußfeier«, erinnerte ich mich. »Ja«, stimmte Martin zu, »da muss es gewesen sein.« - »Hast du eigentlich noch Kontakt mit anderen aus unserer alten Klasse«, erkundigte ich mich. »Jens sehe ich gelegentlich. Ab und zu auch mal Frank, Stefan oder auch Martina. Wen ich öfters sehe, ist Anja. Sie arbeitet in der gleichen Firma wie ich und läuft mir so fast täglich über den Weg«, berichtete er. Anja!? Es schoss mir durch den Kopf. Ja, natürlich erinnerte ich mich an Anja. Mann, war ich mal in sie verschossen. Ja, es war eine heimliche Schülerliebe. Anja Schwalbach, war das süßeste Girl der ganzen Schule. Vermutlich sah nur ich das so, denn im Gegensatz zu anderen Klassenkameradinnen war sie bei weitem nicht so umschwärmt. Mehr als gelegentliche verstohlene Blicke waren für mich jedoch nie drin, dazu war ich auch zu schüchtern. Aber Anja war sooooooo süß. Gelegentlich träumte ich sogar des Nachts von ihr. Gut erinnere ich mich auch noch heute daran, dass ich eines Morgens aufwachte und erkannte die Bescherung... das sind Eindrücke, die man niemals im Leben vergisst.

Martin bestand darauf, dass ich die Nacht auf der Couch verbringen sollte. Ich hätte durchaus auch im Wagen geschlafen, aber es war nicht gerade so, dass ich mich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hätte, mich hier zur »Ruhe« zu legen. Ruhe hatte ich mit Sicherheit nicht vor lauter Gedanken. Eine weiche Couch war aber allemal besser als der unbequeme Sitz meines Vehikels.

Am nächsten Morgen wollte ich schon früh aufbrechen, um möglichst schon am frühen Nachmittag wieder in Berlin sein zu können. Dort wollte ich noch ein paar Dinge im Büro erledigen, um mich die nächsten Tage voll und ganz Marc widmen zu können.

Martin sagte, dass er so bald als möglich nach Berlin kommen wolle, um Marc zu besuchen. Er gab mir ein kleines Päckchen mit. Den Inhalt wollte er mir nicht so genau verraten, ich solle es Marc geben. Obwohl es mich brennend interessierte, was in dem Päckchen war, fragte ich nicht weiter nach dessen Inhalt. Schließlich war ich ja auch nicht neugierig - ich wollte halt nur immer alles ganz genau wissen.

Zurück in Berlin führte mich mein Weg wie geplant zuerst in mein Büro. Ich arbeitete bis tief in die Nacht an einer Werbeidee für einen neuen Brausekopf. Ohne die Inspiration von Marc, durch dessen pure Anwesenheit ich in den letzten Monaten einen Geistesblitz nach dem anderen hatte, fehlte mir einfach etwas und mir fiel nur ziemlich zähflüssig eine halbwegs brauchbare Idee ein. Auch wenn ich es nicht erklären konnte, wenn Marc in meiner Nähe war, dann fiel mir meist auf Anhieb etwas nahezu Geniales ein. Marc war wie ein Quell, aus dem man unendlich viel Kraft schöpfen konnte.

Na ja, besser als nichts, stellte ich gegen Mitternacht fest. Ich war der Letzte im ganzen Gebäudekomplex. Alle anderen waren schon seit Stunden Zuhause. Kein Wunder, sie hatten ja auch jemanden, der dort auf sie warten würde. Ich hingegen hatte Bammel davor, in die leere Wohnung zurückzukehren. Kein Marc würde diesmal dort auf meine Rückkehr warten. Was sollte ich dann dort zu Hause? Ja, bis vor zwei Jahren wohnte ich dort allein, also hätte ich es gewohnt sein müssen, und es hätte mir nichts ausmachen dürfen, aber man gewöhnt sich an gewisse Dinge. Und an Marc brauchte man sich noch nicht einmal gewöhnen, Marc war einfach... einfach ein Mensch, den man gern haben musste. Ich gestehe, ich war süchtig nach ihm, süchtig nach seiner Gesellschaft. Lieber hätte ich drei Tage auf Nahrungsmittel verzichtet, als auch nur einen Tag auf Marc. Und nun musste ich ihn schon ganze zwei Tage entbehren. Ich konnte es kaum noch abwarten, bis endlich am Morgen wieder die Sonne aufgehen würde und ich nachmittags dann endlich zu ihm ins Krankenhaus durfte. Insgeheim war ich am Überlegen, ob ich nicht auch irgendeine Krankheit hätte, die genügen würde, um mich auch ins Krankenhaus einliefern zu lassen. Natürlich am Besten ins Nachbarbett! Dabei kannte ich das Krankenhaus eigentlich vom Hörensagen. Nur einmal in meinem Leben war ich selbst in einer solchen Institution »inhaftiert«. Doch davon bekam ich damals nicht allzuviel mit, denn das war zu dem Zeitpunkt als ich das Licht dieser Welt erblickte.

Und endlich, endlich wurde es Morgen, dem dann auch irgendwann der Mittag folgte. Besuchszeit war ab 14 Uhr. Bereits um halb zwei stand ich vor dem Krankenhaus und wartete, dass ich endlich zu Marc durfte. Vielleicht hätten die es noch nicht einmal so genau genommen und hätten mich noch nicht einmal rausgeworfen, wenn ich früher zu Marc ins Zimmer gegangen wäre, aber ich war nun einmal ein sehr genauer Mensch. Ehrlich gesagt, ich wartete nicht deshalb, weil ich so genau war, sondern weil ich es nicht hätte ausstehen können, wenn mich jemand darauf hingewiesen hätte, dass ich unberechtigter Weise zu früh hineingegangen wäre. Zum Sprechen war ich jetzt nicht in der Lage. Irgendwie musste ich über meine eigene Dummheit lächeln. Ja, ich fand mein Verhalten lächerlich, doch so war ich halt! Ändere ‘was dran!

Marc lag auf Zimmer 326, wie man mir an der Rezeption mitteilte. Mit einem Blumenstrauß und dem Päckchen, welches mir Martin mitgegeben hatte, betrat ich erwartungsvoll das Zimmer. Marc lag im Bett und las in einem berüchtigten Revolverblatt. Als er mich sah, setzte er sein hübschestes Lächeln auf. Es tat so gut ihn zu sehen.

»Na, bildest du dich?« fragte ich ihn. »Ja, ich weiß ja wie sehr du diese Zeitung schätzt. Mann, du glaubst gar nicht, was die wieder festgestellt haben...!?« wollte er mich informieren. »Moment mal«, schob ich ein, »lass mich raten: Die haben herausgefunden, dass der Papst eigentlich evangelisch ist!?« - »Nööö«, Marc schüttelte belustigt den Kopf, »...aber auch nicht schlecht! Nein, ein Wissenschaftler will herausgefunden haben, dass Schokolade schlank macht, wenn man täglich drei Tafeln davon essen würde. Natürlich sonst nichts anderes.« - »Stimmt...«, scherzte ich, »das haben die ein ganzes Jahr lang getestet, und der Proband starb danach an Magersucht.«

In Zimmer 326 lagen noch zwei etwas ältere Herren, beide so um die 60. Marc lag an der Fensterseite. Die beiden älteren Herren schienen unseren Scherz gar nicht so amüsant zu finden und warfen uns eher böse Blicke zu.

Na, dachte ich mir, da könnten wir den beiden noch etwas mehr Grund für Ärger und Entrüstung geben, und ich drückte Marc einen dicken Begrüßungsschmatzer auf die rechte Wange. »Du hast mir Blumen mitgebracht?« stellte Marc verwundert fest. »Ja«, gab ich ihm zur Antwort, »zuerst wollte ich dir Pralinen mitbringen, aber dann habe ich so bei mir gedacht, dass du doch eigentlich schon süß genug bist!« - »Darfst du aufstehen?« fragte ich. »Ja, sicher!« entgegnete er.

Marc zog sich seinen Bademantel an und wir gingen in einen der Aufenthaltsräume, der für Nichtraucher vorgesehen war. Wir hatten Glück, es war dort fast menschenleer. Außer uns war dort nur noch ein etwa 30 Jahre altes Pärchen, die sich angeregt unterhielten und keinerlei Notiz von uns zu nehmen schienen.

»Und wie geht's dir?« fragte ich Marc. »Die haben gestern mit der Chemotherapie begonnen. Man wird abwarten müssen«, erzählte er mit trauriger Stimme und gesenkten Haupt. Ich bemühte mich, mir meine Gefühle nicht anmerken zu lassen. Doch das war unglaublich schwer. Eigentlich war mir nach Heulen zumute, hätte ich ihn in den Arm nehmen müssen und hemmungslos drauflos heulen müssen, doch das hätte Marc nicht geholfen - ganz im Gegenteil. Also hieß es Ruhe bewahren, auch wenn es mir noch so schwer fiel.

»Was is'n das?« wollte Marc von mir wissen und deutete auf das Päckchen. »Das soll ich dir geben und dir schöne Grüße sagen«, meinte ich. »Von wem?« fragte Marc neugierig. »Ich hatte vorgestern Abend noch schnell einen Abstecher in alte heimische Gefilde gemacht. Dort kam es mir in den Sinn, Martin einen Besuch abzustatten. Frag mich bitte nicht wieso, aber irgendwie kam ich drauf.« Marc hörte aufmerksam zu, was ich ihm da zu berichten hatte. Wie ich seinen Blicken entnehmen konnte, war er nicht wenig verwundert darüber, dass ich seinen Cousin Martin besucht hatte. »Martin war sehr froh zu erfahren, wo du abgeblieben bist. Natürlich macht er sich jetzt auch Sorgen. Er hat gesagt, dass er dich so schnell wie möglich besuchen will und bat mich, dir dieses Päckchen zu überreichen. Was darin ist, hat er mir nicht gesagt.«

»Möchtest du sicher auch nicht wissen«, alberte Marc. Dabei wusste er doch wie schrecklich neugierig ich war... ich meine, dass ich natürlich nicht neugierig war, aber halt immer alles wissen wollte.

Ich stellte das Päckchen, welches ich die ganze Zeit in meiner Hand gehalten hatte, auf den Tisch - direkt vor Marcs Nase. Mit einer einladenden Handbewegung forderte ich ihn auf, es zu öffnen. Marc grinste mich an und ließ sich viel Zeit dabei es zu öffnen.

Behutsam öffnete er den Deckel und legte ihn bei Seite. »Oh«, stellte Marc mit weit geöffnetem Mund fest, »ein Fotoalbum!«

Marc legte das Album neben das geöffnete Päckchen und kramte dann noch einen Brief hervor, den er zunächst still für sich allein las. Ich sah ihm dabei gespannt zu, wie seine Augen auf dem Brief wanderten. Den unteren Teil seines hübschen Gesichtes hatte er dabei ganz und gar hinter dem Papier verborgen.

Als er ausgelesen hatte, schien er einen Augenblick zu überlegen, ob er mir den Brief zum Lesen geben solle. Dann streckte er ihn mir entgegen. Wir hatten keine Geheimnisse voreinander:

Lieber Marc,

sehr lange haben wir nichts mehr von Dir gehört und haben uns große Sorgen um Dich gemacht. Leider haben wir erst sehr spät vom Tode Deiner Eltern erfahren. Wir haben es sehr bedauert, dass Du damals nicht zu uns gekommen bist. Wenn wir davon gewusst hätten, dann hätten wir Dir gerne geholfen. Doch ich weiß, dass es noch nie Deine Art war, andere Menschen um etwas zu bitten.

Ich bin sehr froh, dass Du in Daniel einen guten Freund gefunden hast und glaube, dass Du Dich immer auf ihn verlassen kannst. Es gibt immer wieder Situationen im Leben, in denen man einen guten Freund braucht. Ich hatte in meinem Leben etwa ein Dutzend Freundinnen. Oft habe ich Schluss gemacht, manchmal aber auch sie. Sicher, es waren Beziehungen dabei, die ich nicht missen möchte, aber im Grunde genommen ist es sehr schwer einen Menschen zu finden, mit dem man das ganze Leben verbringen und alles teilen möchte, dem man gleichzeitig auch alles anvertrauen kann. Ich erinnere mich, dass wir uns einmal darüber unterhalten haben, als wir bei Euch in Frankreich zu Besuch waren. Du hattest mir erzählt, dass Du Daniel sehr vermissen würdest. Damals habe ich Dich verwundert gefragt, warum ihr beide nicht wenigstens in Briefkontakt geblieben wärt. Du konntest es mir nicht richtig erklären. Vermutlich hast weder Du, noch Daniel gewusst, warum das so war. Er sei der einzige richtige Freund gewesen, den Du jemals hattest. Damals konnte ich nicht wissen, wie stark Eure Freundschaft war und wohl noch immer ist. Sonst hätte ich vermutet, dass Du den Weg zu Daniel finden würdest. Ich sagte Dir damals etwas ganz Dummes, ich sagte, dass Du bald in Frankreich neue Freunde finden würdest und glaubte tatsächlich, dass Du Daniel vergessen würdest. Heute weiß ich, dass es dumm war, nicht nur weil mir die Gegenwart etwas anderes zeigt. Mir wurde bewusst, dass man wahre Freunde nie vergessen wird. Sicher, die Zeit bringt viele Veränderungen mit sich und dabei können auch Freundschaften verloren gehen, aber vergessen wird man dies trotzdem nie. Gerade Du bist ein Mensch, der sehr intensiv Gefühle lebt. Du lebst von Gefühlen und lebst diese auch intensiv aus. Ich glaube, dass ich keinen Menschen kenne, der ähnlich offen und ehrlich ist wie Du. Ich glaube, Du kennst keine negativen Gefühle für andere Menschen. Selbst Menschen die Du nicht magst, verdammst Du nicht. Das habe ich früher, als wir noch ganz kleine Kinder waren, immer belächelt. Heute bewundere ich das, denn ich kann das nicht, wenn ich jemanden nicht mag, dann merkt man mir das an.

Auch wenn es Dir im Moment sehr schlecht geht, ich bin überzeugt, dass Du stark genug bist, dies durchstehen zu können. Marc, ich glaube an Dich, lieber Cousin!

So bald es mir möglich sein wird, werde ich Dich in Berlin besuchen.

Kopf hoch!

Dein Cousin Martin

»Glaubst du, dass ich wieder gesund werde?« Marc klang sehr ängstlich. Ich musste nachdenken. Ihm eine Antwort zu geben war nicht einfach, aber ein zu langes Zögern, hätte auch eine Art Aussage sein können. Also antwortete ich ihm: »Ich glaube, dass es Dinge im Leben gibt, die man einfach nicht beeinflussen kann. Damals als Du im Koma gelegen bist, und ich jeden Tag an deiner Seite wachte, da habe ich sehr oft gebetet, obwohl ich kein besonders gläubiger Mensch bin. Dennoch glaube ich an Schicksal. Viele Dinge sind einfach vorgegeben und werden geschehen. Marc, du weißt, wie ich zu dir stehe. Egal welche Zeit jetzt vor uns liegen mag, wir werden es gemeinsam durchstehen und verdammt noch mal, wir werden diese verdammte Krankheit besiegen. Nein, Marc, du wirst nicht sterben. Du wirst nicht sterben, Marc, weil ich das nicht zulassen werde!« Ich stand auf, ging zum Fenster und öffnete es einen Spalt weit. Frische Luft konnte nicht schaden. »Daniel«, sagte Marc, »ich habe Angst!« Ich ging auf Marc zu und nahm ihn in die Arme. Seine Wärme und Nähe zu spüren tat mir gut, und ihm schien es ebenso zu gehen.

Als wir uns wieder etwas beruhigt hatten, schauten wir uns zusammen Martins Fotoalbum an. Es enthielt zahlreiche Familienbilder. Als Marc und Martin klein waren, haben die beiden Familien sehr viel Zeit miteinander verbracht. Marc erinnerte sich daran, dass er mit seinen Eltern, Onkel, Tante und Cousin Martin oft Sonntagsausflüge miteinander unternommen hatten. Sie fuhren in Märchenparks, machten Picknicke und viele andere aufregende Sachen. Die Fotos erzählten davon. Marc musste mal kurz zur Toilette. Ich blätterte weiter im Album. ‘So ein süßer Knottel', stellte ich so bei mir insgeheim fest. Ja, Marc war schon als Baby und Kleinkind ganz besonders knuddelig. Bisher hatte ich noch kein Kinderfoto von ihm gesehen gehabt. Ich kannte nur den Marc mit 13 Jahren und dann wieder den Marc, wie er jetzt war. Ja, ja, ich gebe es ja zu, vermutlich hätte mir jedes Bild von Marc gefallen. Selbst morgens, direkt nach dem Aufstehen, wenn er verstrubbelte Haare hatte, dann fand ich ihn einfach herrlich, und ich konnte mich einfach nicht satt sehen an seinem Anblick. Deshalb fand ich auch die alten Fotos ganz toll. Marc im Kinderwagen, Marc in der Reitschule auf dem Rummelplatz, Marc an Fasching in einem Marienkäferkostüm, Marc am Strand, Marc beim Klettern auf einem Abenteuerspielplatz oder auch im Winter bei einer Schlittenfahrt.

Das junge Pärchen hatte inzwischen den Raum verlassen. Als Marc zurückkam, waren wir beide also ganz allein im Raum. »Also Marc«, ich tat ganz entrüstet, »das hätte ich nicht von dir gedacht!« »Was is'n?« wollte er verwundert von mir wissen.

»Da ist ja ein Nacktfoto von dir drin!« teilte ich ihm mit. »Waaaaaaaas? Ein Nacktfoto? Kann nich' sein!« rief er erstaunt. »Doch da«, tat ich ganz hochnäsig und streckte ihm das Album entgegen. Dann fing Marc ganz fürchterlich an zu lachen, und ich lachte ebenso mit. Das Foto zeigte Marc, etwa im Alter von zwei oder drei Jahren. Er stand nackend in einer Blechwanne und hatte eine Gießkanne in der Hand.

»Du hast dich aber ganz schön verändert«, stellte ich schließlich fest. »So meinst du!?« sagte Marc. »Ja, du bist größer geworden, zumindest das meiste an dir!« scherzte ich. »Moment mal, Moment«, ermahnte er mich, »wie soll ich denn das verstehen!?« Ich grinste ihn an und er wusste doch ganz genau, dass ich ihn so liebte wie er war - ganz genau so, und dass ich ihn gar nicht anders haben wollte.

Marc bekam täglich Chemotherapie, die ihre Wirkung zeigte. Ihm war sehr oft übel, und er musste sich übergeben. Nach ein paar Tagen durfte Marc nach Hause. Man wollte versuchen, die Behandlung ambulant weiterzuführen. Zur Begrüßung schmückte ich die Wohnung wie für eine Kinderparty. Vor die Tür hängte ich ein Schild, auf dem stand ‘Willkommen daheim!'. Marc war froh wieder daheim zu sein, und ich erst! Schon bald stellten sich weitere Nebenwirkungen der Behandlung ein. Das wovor Marc am meisten Angst hatte war der Haarausfall. Auch da musste er durch. Die größte Angst für ihn war wohl, wie ich darauf reagieren würde. Sicher, es war schrecklich, Marc praktisch von einem zum anderen Tag mit Glatze zu erleben, doch im Grunde genommen...

Marc stand vor dem Spiegel im Badezimmer. Dicke Tränen kullerten über seine Wangen. Ich hörte, wie er weinte und kam zu ihm. Ich lehnte mich über seine Schultern und schaute mit ihm in den Spiegel. »Daniel«, weinte er, »...Daniel, meine Haare.«

»Oh Marc«, sagte ich ganz leise zu ihm und streichelte ihm dabei behutsam über seine tränenbefeuchteten Wangen, »die wachsen wieder, wenn es soweit ist.«

Ich nahm ihn ganz behutsam in die Arme und drückte ihn ganz fest an mich. Zärtlich gab ich ihm einen Kuss auf seine Wangen. »Marc«, sagte ich leise, aber mit betonter Stimme, »du bist wunderbar.«

Die Chemotherapie schien zunächst anzuschlagen. Wir waren überglücklich. Marc ging es von Tag zu Tag besser, zumindest hatte es den Anschein. Die Chemotherapie wurde abgesetzt. Man wollte abwarten, wie es sich weiter entwickeln würde.

Um Marc ein Wenig über den Verlust seiner Haare hinweg zu trösten machte ich einen kleinen Einkaufsbummel allein und besorgte ihm ein paar Baseballkappen. Auch wenn Marc über meine Großmengeneinkäufe inzwischen Bescheid wusste, hatte er wohl doch nicht damit gerechnet, dass ich mit einem Überraschungspäckchen mit 79 verschiedenen Kappen ankommen würde. »Bist du wahnsinnig geworden?« fragte er mich ganz erstaunt. - Ich war nun einmal immer sehr euphorisch und Marc stand mir da in nichts nach. Sicher, Marc hatte nicht die »Krankheit« immer nur Großmengen kaufen zu können, aber auch er steigerte sich in Dinge sehr hinein und musste alles ausgiebig auskosten. Da passten wir wunderbar zusammen. Ja, Marc und ich waren ein perfekt harmonierendes Pärchen.

Marc und ich versuchten, unser Leben so normal wie möglich weiterzuleben. Nur ging Marc nicht mehr arbeiten. Das war ohnehin nicht notwendig, denn mein Job in der Werbeagentur hätte eine ganze Familie ohne weiteres ernähren können. So konnten wir viel Zeit miteinander verbringen. Es war eine herrliche Zeit - Jede Zeit mit Marc war eine herrliche Zeit. Wenn man sich liebt, dann können auch schwere Zeiten einem nichts anhaben. Liebe ändert den Blickwinkel und verschönt das Leben auf eine besondere Art und Weise.

Normalerweise wartete ich, während Marc bei den Untersuchungen war, im Nebenzimmer, oder ging gelegentlich sogar mit ihm ins Sprechzimmer hinein. An einem Tag aber war es abzusehen, dass die Untersuchungen den ganzen Vormittag in Anspruch nehmen würden. Deshalb beschloss ich einen kleinen Spaziergang zu einem nahegelegenen See zu unternehmen.

Die Sonne schien majestätisch vom Himmel. Die Vögel zwitscherten vergnügt in den Bäumen. Hier außerhalb des Zentrums war die Welt noch ruhig und in Ordnung, fast schon einsam. Ja, Berlin bietet durchaus auch erholsame Fleckchen Natur. Dabei denkt man, wenn man das Wort `Berlin´ hört, doch eher an Trubel und Betriebsamkeit, denn an Grünflächen.

Nachdenklich und behutsamen Schrittes, schlenderte ich einen kleinen Pfad entlang, der am See vorbeiführte. Auf dem Wasser schwammen einige Schwäne und Enten. Ich blieb einen Augenblick stehen und verharrte. In Gedanken versunken sah ich über den See hinaus ans andere Ufer, wo eine Mutter zusammen mit ihrer kleinen Tochter Enten fütterte. Langsamen Schrittes ging ich weiter. Etwa 20 Minuten schritt ich so durch die Natur. Dabei wurde mir wieder einmal bewusst, was für uns, für Marc und mich, auf dem Spiel stand. Es ging um unsere Zukunft. Da machte ich keinen Unterschied. Für mich war Marcs Schicksal fest verwurzelt mit dem eigenen. Was ihm geschah, das hatte nicht nur Einfluss auch auf mein Leben, es war mehr noch...ein Leben ohne ihn konnte es für mich nicht geben. Weder konnte, noch wollte ich mir so etwas vorstellen.

War es Schicksal, war es Zufall, oder vielleicht auch vom Unterbewusstsein gelenkt, plötzlich stand ich vor einer kleinen abgelegenen Kapelle in einer kleinen Waldlichtung.

Viele Jahre war es her, dass ich das letzte Mal irgendwelche »heiligen Hallen« betreten hatte. Damals war ich 14. Man schrieb den 3.April, etwa 14 Tage bevor ich Marc das erste Mal begegnete. Der Anlass für den Kirchenbesuch war ein recht feierlicher: Meine Konfirmation. »Gott rüstet mich mit Kraft, und macht meine Wege ohne Tadel« - so lautete mein Konfirmantenspruch, Psalm 18 Vers 33. An diesem Jubeltag war ich sehr aufgeregt. Eigentlich sollte dieser Tag ja dazu dienen, in die Glaubensgemeinschaft aufgenommen zu werden, doch ich war da wie viele andere Kinder in meinem Alter auch. Irgendwie sieht man es doch auch als einen Tag, an dem man tolle Geschenke bekommt. In zweiter Linie fühlt man dann aber doch auch noch, dass man irgendwie ein Stück erwachsener geworden ist, an jenem Tag. Marc war, im Gegensatz zu mir, katholisch getauft, aber auch kein so strenggläubiger Christ.

Es schien mir eine Ewigkeit her zu sein. Ja, ich war wirklich kein so gläubiger Mensch, aber vielleicht christlicher, als so viele andere Menschen, die jede Woche in die Kirche rennen, nur um ein gutes Gefühl dabei zu haben. Viele davon meinen dann, sie könnten die ganze Woche sündigen, nur weil sie sonntags wieder um Vergebung bitten würden. Ich versuchte mein Leben einfach so zu leben, dass ich jeden Morgen aufrechten Blickes in den Spiegel sehen konnte. Weiß Gott, um beim Thema zu bleiben, ich war freilich kein Heiliger oder Engel, doch wer ist das schon!?

Die Kapelle war nicht verschlossen. So betrat ich das heilige Gewölbe. Es war vollkommen Menschenleer. Ein paar Kerzen brannten vor einem kleinen Altar, hinter dem ein Kruzifix mit Jesusfigur an der Wand hing. Ich nahm auf einer Bank in der ersten Sitzreihe Platz. Insgesamt hatte diese kleine Kirche sechs Bankreihen. Oh, hätte ich nicht vielleicht beten müssen, bevor ich mich hingesetzt hatte?

Wenn man, so wie ich, diese Umgebung nicht gewöhnt ist, dann kann es schon ziemlich befremdlich, fast schon unheimlich, auf jeden Fall aber eindrucksvoll, auf einen wirken. In meinem gesamten Leben hatte ich vielleicht fünf Mal den Fuß in ein Gotteshaus gesetzt. Aber jedes Mal hatte ich ein ungewöhnliches, fast schon seltsames Gefühl dabei. Kirchen haben etwas Mystisches an sich.

Eine Totenstille tat ihr übriges dazu, mir verloren in dem alten Gemäuer vorzukommen. Doch »verloren« fühlte ich mich schon die ganze Zeit. Ich fühlte mich hilflos, dabei wollte ich doch zusammen mit Marc, mit aller Kraft gegen diese heimtückische Krankheit ankämpfen. Ein Teil in mir war mehr als zuversichtlich und war davon überzeugt, dass Marc wieder vollkommen genesen würde, doch irgendein anderer Teil, eine Stimme in mir hatte Angst, dass vielleicht doch alles anders kommen könnte.

Mein Blick fiel auf die Jesusfigur am Kreuz, die über dem Altar hing. Als Kind hatte ich oft »Don Camillo« gelesen, bzw. auch die Fernandel-Filme angesehen. Der Priester Don Camillo, der als einziger Mensch die Stimme des Herren vernimmt, und der immer wieder mit diesem Zwiegespräche führte, das fand ich damals wahnsinnig komisch. Auch heute noch kann ich mich darüber amüsieren. Doch in diesem Moment, wo ich hier im Gotteshaus saß, fand ich es nicht so komisch. Sicher, ich vernahm nicht die Stimme des Herren, wenn es so gewesen wäre, hätte ich mich sofort höchstpersönlich irgendwo einweisen lassen. Aber, obwohl ich kein so gläubiger Mensch war, verspürte ich das Bedürfnis zu reden, und so ließ ich meinen Gedanken freien Lauf:

»Du weißt, dass ich selten zu dir spreche. Sicher bist du es gewohnt, dass man es meist nur dann tut, wenn man Sorgen hat. Schon einmal habe ich vor einiger Zeit zu dir gesprochen. Damals hast du mich erhört. Marc wurde wieder gesund. Du kennst Marc, und dann weißt du auch, dass er ein guter Mensch ist, ein verdammt guter. Er hatte es in seinem Leben schon oft so schwer. Darf er nicht auch einmal Glück haben?

Vielleicht möchtest du ihn auch gerne bei dir haben. Doch was sind für dich 100 Jahre? Ich kann mir nicht vorstellen, jemals wieder ohne ihn leben zu können. Mag sein, dass ich keinen Zutritt in dein Reich bekommen werde, doch dürfen wir nicht wenigstens hier und jetzt eine längere Zeit zusammen sein?

Es gibt Menschen die glauben, so etwas seien Strafen für unsere Art von Liebe. Doch was soll an Liebe verkehrt sein? Ist nicht jede Art von Liebe ein Geschenk, für das man dankbar sein sollte? Ich glaube ganz fest daran, Liebe ist geschlechtslos.»

Mit dem Handrücken fuhr ich mir über das Gesicht und wischte somit einige Tränen fort.

»Ich habe Angst, wahnsinnige Angst. Auf alles in der Welt könnte ich verzichten, doch nicht auf Marc. Ohne ihn wäre alles trostlos und einsam. Für mich bedeutet Marc Leben und Glück.«

Plötzlich spürte ich eine innere Kraft, und ohne zu Überlegen setzte ich meinen einseitigen Dialog fort:

»Verdammt, Marc wird nicht sterben. Ich werde es nicht zulassen. Es darf einfach nicht sein. Er hat es nicht verdient, und das weißt du auch.«

Erst jetzt erkannte ich, dass ich recht unbedacht ausgesprochen hatte, was ich dachte. Doch man sagt ja ohnehin, dass Gott auch das Unausgesprochene hören könne. Wenn das so war, dann wusste Gott wie ich es meinte und er würde es mir nachsehen, ohne Zweifel.

Als ich Marc im Krankenhaus abholte, verlor ich keinen Ton über die kleine Kapelle und mein Zwiegespräch, welches ich dort geführt hatte. Ich hatte einiges an Frust abgeladen und dabei neue Kraft geschöpft.

Nach sechs Wochen musste Marc wieder zur Kontrolle in die Klinik. Da die Chemotherapie nicht die gewünschte Wirkung erreicht hatte, entschloss man sich nun zur Strahlentherapie, die ambulant durchgeführt wurde. Marc klagte ständig über Übelkeit. Er wurde immer niedergeschlagener. Ich überlegte mir alle möglichen Dinge, mit denen ich ihn aufheitern konnte.

Da erinnerte ich mich an unsere Spanienreise. Marc hatte sich doch damals so wahnsinnig darüber gefreut, als ich ihn damit überrascht hatte. Also überlegte ich mir, dass man das doch wiederholen könnte. Selbstverständlich nicht wieder Spanien. Nein, es gab einen Ort von dem Marc schon immer geträumt hatte. Ja, auch für mich war es ein Traumort. Ich überraschte Marc mit vier Wochen Disneyworld in Florida. Das hieß Spaß pur für uns beide. Darüber vergaßen wir fast den Kummer und die Sorgen. Ich hatte mit einem Arzt über Marc gesprochen. Dieser Arzt war Neurologe, kannte sich also mit dem Seelenleben bestens aus und riet mir, dass es am Besten sei, möglichst wenig über die Krankheit nachzudenken. In Marc musste der Lebenswille geweckt werden. Wenn Marc Spaß haben würde, dann würde ihm das auch Kraft geben und so könnte sein Körper sich am Besten regenerieren. Und ich war fest überzeugt, ganz fest überzeugt, dass Marc wieder gesund werden würde.

Schon gleich nach unserer Ankunft in Orlando - Florida, trat Marcs Krankheit deutlich in den Hintergrund. Uns tat sich eine herrliche Welt auf. Da war keine Zeit zum traurig sein. Wir waren da, am Ziel unserer Kindheitsträume angekommen. Wir waren in Disneyworld, der Heimat von Mickey und Donald, Pluto und Goofey! Wahnsinn! Das war einfach unglaublich. Und das allerschönste an der Sache war, dass mein Begleiter in dieser Wunderwelt der Mensch war, der durch seine pure Anwesenheit, jedem Traum noch ein weiteres Sahnehäubchen hinzufügte.

Der Zimmerboy führte uns in eine wahre Luxussuite. »Wow! Wahnsinn!« staunte Marc nicht schlecht. Ich nickte zustimmend. Der Page erklärte uns wie man das Haustelefon zu bedienen hätte, um den Zimmerservice in Anspruch nehmen zu können. Ich drückte dem Zimmerboy eine 5 Dollarnote in die Hand. Von Trinkgeld hatte ich keine Ahnung, deshalb war ich mir auch nicht sicher dabei, ob das nun zuviel, oder eher zuwenig war.

Kaum hatte der Page das Zimmer verlassen, setzte Marc zu einem großen Sprung an und ließ sich auf das Bett plumpsen. »Hier läßt's sich's leben«, stellte Marc frohlockend fest. »Gewöhn' dich nicht zu sehr daran«, gab ich spaßhaft zu bedenken, »denn wenn wir hier auf Dauer einziehen würden, müssten wir vorher im Lotto gewinnen!« »Haben wir doch letzte Woche«, erklärte Marc. »Ja«, uzte ich, »drei Richtige mit Zusatzzahl. Das waren gerade mal 120 Märker.« »Das tollste dabei war«, führte Marc nun an, »dass ein gewisser Daniel Müller, der sonst nie Lotto spielt, auch hier wieder übertreiben musste. Um die 120 Mark zu gewinnen, kaufte er 50 Rubbellose für zusammen 50 Mark, spielte für 80 Mark in der Glücksspirale, weitere 90 Mark steckte er in Lotto Toto-Scheine und insgesamt investierte er noch 215 Mark in Lotto, womit er dann den unsagbaren Gewinn von 120 Mark gemacht hatte. Daniel Müller hat also 435 Mark eingesetzt, um die 120 Mark zu gewinnen.«

Ich bemühte mich, ein möglichst genervtes Gesicht zu machen: »Ja, ja, ist ja schon gut. Aber stell dir mal vor, ich hätte sechs Richtige gehabt, oder in einem der anderen Lotterien einen Millionengewinn abgeräumt! Dann hätte mein Marc ein ganz dummes Gesicht gemacht...Ich meine ein wirklich dummes Gesicht!« »Äh«, grinste mich Marc an, »Erstens ist es mehr als unwahrscheinlich sechs Richtige zu haben und zweitens, wie darf ich das mit dem wirklich dummen Gesicht verstehen? Willst du damit sagen, dass ich ein dummes Gesicht machen würde.« »Lieber Marc - mein liebes Märkchen! Ich würde mir nie erlauben zu behaupten, dass du ein dummes Gesicht machen würdest. Aber erstens kann ich mich ja auch mal irren, und zweitens liebe ich dumme Gesichter. Drittens hättest du doch sicher auch nichts gegen einen Millionengewinn!?«

Marc sah mich lächelnd an, während er sich das Kopfkissen zurechtrückte, um es sich auf dem Bett noch bequemer zu machen: »Außerdem lieber Daniel, ich brauche keinen großen Lottogewinn. Weißt du, statistisch gesehen, ist es sehr unwahrscheinlich, dass man zweimal im Leben einen ganz großen Gewinn macht, und schließlich habe ich schon den größten Gewinn gemacht, den man überhaupt nur machen kann. Ich habe dich getroffen und mit dir zusammen sein zu können, ist wie der Hauptgewinn in der größten Lotterie des Lebens.«

Diese Worte gingen hinunter wie Öl. Marc hatte mir schon oft Komplimente gemacht, doch dies war das größte Kompliment, das er mir überhaupt machen konnte. Am liebsten hätte ich geweint vor Rührung. Ich sah ihn an. Er erwiderte meinen Blick. So sahen wir uns eine ganze Weile tief in die Augen. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf, und jeder dieser Gedanken war wie eine Streicheleinheit für mich. Diese Blicke streichelten meine Seele. Es tat so unglaublich gut. Blicke können stärker und intimer sein, als jede Art von Berührung.

Das größte Geschenk, das man einem Menschen machen kann, ist ihn kompromisslos und aufrichtig zu lieben. Wir beide wussten, dass das bei uns der Fall war. Egal was der andere auch machte, oder was dem anderen auch zustieß. Wir wussten, dass wir uns immer aufeinander verlassen konnten. Liebe darf sich nicht auf bestimmte Dinge beschränken. Ich liebte alles an Marc und war mir sicher, dass es ihm genauso ging. Selbst die Dinge über die wir uns gegenseitig lustig machten - unsere Eigenarten, selbst die mochten wir im Grunde genommen. Sich damit gegenseitig aufziehen, war eine ganz spezielle Liebeserklärung, die sicher nicht alle Menschen nachvollziehen können, doch warum sollten sie das auch?

Dann löste ich meine Blicke für einen Augenblick von Marc, um das Badezimmer zu inspizieren. »Wow!« rief ich aus. »Was isn los?« wollte Marc von mir wissen. »Du glaubst es nicht«, meinte ich erstaunt. »Glaub ich auch nicht«, bestätigte Marc, »Und was glaub ich nicht?« »Wir haben ein Telefon im Badezimmer!« teilte ich Marc mit. »Das ist ja toll«, entgegnete Marc, »Dann kannst du ja gleich mal die vielen Menschen anrufen, die du ohnehin anrufen wolltest!« »Ich wollte doch gar niemanden anrufen«, stellte ich verwundert fest. »Eben«, erklärte Marc, »das spart ungemein!«

Aber auch Marc war neugierig geworden und schaute sich das Telefon genauer an. Danach begutachteten wir noch den Rest des Zimmers. In so einem Luxusappartement hatten wir noch nie gewohnt. Zwar war unsere Wohnung daheim auch nicht so ganz ohne, doch dies war wirklich ein ungewohnter Anblick für uns. Außer der Spanienreise mit Marc, hatte ich noch keine große Auslandsreise hinter mich gebracht, und auch für Marc war es erst der zweite große Auslandsaufenthalt.

»Ups«, stieß Marc aus, »was isn das!« Marc hatte eine Fernbedienung entdeckt. »Was wohl passiert, wenn ich darauf drücke?« fragte Marc neugierig. »Tu's lieber nicht«, meinte ich zu ihm, »Man weiß ja nie, was dann passiert. Vielleicht gehen dann im Park alle Lichter aus. Oder du setzt eine Lawine in Gang.« »Eine Lawine im Hotel?« fragte Marc verwundert. »Na ja, ich mein ja nur!« entgegnete ich. Marc ließ sich nicht beirren und drückte einfach auf einen der Knöpfe. »Mann oh Mann oh Mann!« staunte Marc. Auf Knopfdruck öffnete und schloss sich der Vorhang. Er hatte ein neues Spielzeug entdeckt und ließ den Vorhang gleich einige Male auf und zu gehen.

Kaum hatte er sich wegen des Vorhanges etwas beruhigt, machte er bereits die nächst Entdeckung: »Schau mal Daniel was hier ist! Wir haben einen eigenen Kühlschrank auf dem Zimmer!« Oh Gott, nein! Marc hatte die Minibar entdeckt!

Schon gleich schnappte er sich eine Packung Erdnüsse. Genüsslich schmatzend ging er zum Fenster, um einen Blick nach Draußen auf den Park zu werfen. Wir wohnten direkt in einem der schicken Hotels, die sich mitten im Park befanden.

»Weißt du wo wir uns hier befinden?« fragte Marc mit einem feierlichen Gesichtsausdruck. »Nein, das weiß ich nicht«, stellte ich grinsend fest, »Vielleicht in Pumplitonien?« »Nein«, erklärte Marc, »Ich meine doch, ob du die Geschichtlichen Hintergründe von Disneyworld kennst?« »Aber Marc«, frotzelte ich, »Hattest du etwa Heute Nacht wieder einmal eine längere Sitzung auf der Toilette?« - Dabei musste ich an unsere Spanienreise zurückdenken. Marc hatte doch damals nicht schlafen können, und so widmete er sich auf der Toilette dem Studium eines Spanien-Bildbandes. - »Nein«, Marc verzog das Gesicht, »Ich habe aber trotzdem einige Dinge gelesen. Außerdem weißt du denn nicht, dass Walt Disney ein großes Idol von mir ist!?« »Nein, das hast du mir bisher vorenthalten«, stellte ich fest. »Wirklich!« meinte Marc und sah mich dabei so an, als ob ich etwas ganz Törichtes gesagt hätte, aber ich wusste wirklich nicht, dass er Walt Disney so verehrte, »Walt Elias Disney war uns beiden sehr ähnlich, glaube ich...« »Was!« rief ich aus, »So einer war er. Das wusste ich wirklich nicht!« »Quatsch!«, fauchte mich Marc an, »Das meine ich doch nicht! Walt Disney blieb ein Leben lang ein großes Kind. Er hatte Träume und die hat er dann verwirklicht, trotz widriger Umstände.«

Ich wusste, dass jetzt eine längere Erzählung seitens Marcs folgen würde. Sicher würde ich jetzt voll und ganz über Disneyworld und dessen Geschichte informiert werden. Normalerweise hielt ich nicht viel von langen Vorträgen, doch Marcs lieblicher Stimme hätte ich stundenlang lauschen können - meistens jedenfalls.

Und so begann er seinen Vortrag:

»Am 17. Juli 1955 eröffnete `Die Schau der Superlative´, wie sie die Los Angeles Times nannte ihre Pforten: Disneyland. Wobei die Betonung auf `Disneyland´ liegt. Wir befinden uns hier in `Disneyworld´, dem jüngeren Schwesternpark. Walt Disney verwirklichte sich mit Disneyland einen Kindheitstraum. Alle Welt belächelte ihn deswegen. Er investierte sein gesamtes Vermögen, welches er mit seinen Filmen verdient hatte, in das Projekt. Doch trotz seines enormen Privatvermögens, und obwohl er seine Villa und Grundstück in Beverly Hills belieh, reichte das Geld nicht aus. Keine Bank wollte ihm auch nur einen Pfennig leihen. Man dachte, dass die Zeit für Vergnügungsparks, Anfang der fünfziger Jahre endgültig vorbei sei. Schließlich aber konnte Disney die Fernsehgesellschaft ABC für sein Projekt gewinnen, indem er ihnen anbot, sieben Jahre lang wöchentlich eine TV-Show zu liefern. Auch die Western Publishing und Printing Co., die Disney-Comic-Hefte vertrieb, stieg schließlich mit 20 % in das Projekt mit ein. Kristine Vess Watkins, 5, und Michael Schwartner, 7, waren dann die ersten Besucher des neueröffneten Disneylands. Keine geringere als Micky Maus persönlich begrüßte diese ersten Gäste. Und Walt Disney wurde von einem Radio-Kommentator interviewt, der sich anschickte, einmal der mächtigste Mann Amerikas zu werden: Ronald Reagan. Disney erwartete rund 3000 Besucher für den ersten Tag, 28.154 kamen! Später wurden es dann sogar 90.000 täglich!

Als Disney wegen seines Imaginations- und Organisationstalents zum Bürgermeister von Los Angeles vorgeschlagen wurde, winkte er dankend ab und meinte: `Warum sollte ich Bürgermeister werden wollen, wo ich doch schon König bin! ´

Am 4.Juli 1979 konnte Disneyland seinen ersten Staatsbürger begrüßen. Teresa Salcedo erblickte im Erstehilferaum am Mickey Place das Licht der Welt. Später überreichte Micky Maus den stolzen Eltern die `Geburtsurkunde Nummer 1, gezeichnet: Magic Kingdom of Disneyland´.

Disneyland war einen solch großen Profit ab, dass man schließlich Disneyworld baute, wo wir uns heute befinden. Später folgten dann »Tokyo Disneyland«, das 1983 seine Pforten eröffnete und schließlich »Euro-Disney« in Paris.»

Damit hatte Marc seinen Vortrag beendet und die Tüten mit den Erdnüssen geleert. Er hatte mir nicht eine davon angeboten!

Jetzt kam ich mir irgendwie gebildeter vor. Es schadet nie etwas, wenn man über geschichtliche Vorgänge Bescheid weiß. Sicher, die Geschichte Disneylands war nichts, was man im Geschichtsunterricht gelernt hätte, doch vielleicht hätten die Schüler bessere Noten erzielt, wenn es so gewesen wäre.

Am nächsten Morgen klingelte schon sehr früh der Wecker. Wir bestellten uns das Frühstück aufs Zimmer. Schließlich wollten wir rechtzeitig fertig sein, wenn der Startschuss für den neuen Tag in Disneyworld fallen würde. Und dort standen wir dann auch ganz pünktlich vor dem Absperrseil. Wir standen gleich in der ersten Reihe und konnten so gleich losstürmen in die bunte Disneywelt, nachdem das Seil gelöst wurde.

Eine Zauberwelt tat sich vor uns auf. Hier wird wohl jeder Erwachsene wieder zum Kind. Und pausenlos trifft man hier alte Bekannte aus der Kinderzeit. Hier liefen sie alle herum, die Helden aus den Disneyfilmen und Micky Maus-Heften. Alle waren sie hier lebendig, alle!

»Was machen wir als erstes?« wollte Marc von mir wissen. »Mal sehen«, antwortete ich ihm. Marc hatte sich einen `Disneyworld-Führer´ besorgt, in dem er aufgeregt herumblätterte. Wie ich Marc kannte, hatte er ohnehin schon die Hälfte davon auswendig gelernt. »Also ich will unbedingt in die Halle der Präsidenten«, erklärte mir Marc. »Was willst du dort?« erkundigte ich mich, »Das sind bestimmt nur ein paar verstaubte alte Wachsfiguren!« »Geschichte Daniel, Geschichte!« lehrte mich Marc, »Oder willst du irgendwann ungebildet sterben?« »Ich und ungebildet?« fragte ich, und bemühte mich dabei möglichst beleidigt zu tun, »Na warte mal ab: George Washington, John Adams, Thomas Jefferson, James Madison, James Monroe, John Quincy Adams, Michael Jackson, äh, meine natürlich Andrew Jackson, Martin van Buren, William Henry Harrison, John Tyler, James Polk, ...«

Marc kam aus dem Staunen nicht heraus. Mit weit geöffnetem Mund stand er da. Das hatte er nicht erwartet. Ich zählte ihm sämtliche Präsidenten der Vereinigten Staaten auf. Normalerweise konnte ich mir solche Sachen nur schlecht merken. Sicher hätte ich mir das auch nie gemerkt, doch es gab schon einen Grund dafür, warum ich die alle kannte. Den behielt ich freilich für mich. Wenn ich schon einmal so auftrumpfen konnte vor Marc, dann wollte ich das auch auskosten, denn sonst war er es immer, der mich mit solchen Dingen volldröhnte. Der Grund für mein Wissen bestand darin, dass ich einmal in Geschichte ziemlich auf der Kippe stand. Um mich im Zeugnis zu verbessern, musste ich mir eine Eins verdienen. Also lernte ich in einer Nachtaktion die ganzen ollen Präsidenten auswendig, und so kannte ich sie alle, von Washington bis Clinton.

So besuchten wir schließlich die `Halle der Präsidenten´, damit Marc seinen Willen hatte, außerdem interessierte es mich auch, wenn ich ehrlich war. Anschließend ging es ab in das `Piratenland´. Sowohl Marc als auch ich mochten Piratengeschichten und so kamen wir auch hier voll auf unsere Kosten.

Ein besonderer Clou des Parkes war es, das man hier innerhalb des Parkes praktisch von einem Land in das nächste Reisen konnte. Ein Sprung von England, direkt nach Frankreich oder Deutschland war also ohne weiteres möglich. In einem englischen Pub mit dem Namen »Rose & Crown« machten wir Rast und bestellten uns eine Kleinigkeit. Mann, das waren vielleicht Preise. »Das ist ja teurer als in der Apotheke«, meinte Marc entsetzt, was ihn aber nicht davon abhielt, richtig reinzuhauen. Ich mochte es Marc beim Essen zu zuschauen. Ja, ja, ich mochte es Marc bei allem zu zuschauen was er tat. Wie brachte er es nur fertig seine Figur zu behalten, ständig in sich hineinzuschaufeln, und dabei überhaupt kein Gewicht anzusetzen. Er blieb einfach so wie er war, so unglaublich knuddelig, nicht gertenschlank, aber auch nicht zuviel. Wobei das mit Sicherheit auch nichts an meinen Gefühlen zu ihm geändert hätte.

Den ganzen Tag über hatten wir nicht einmal über Marcs Krankheit gesprochen. Bei so viel Vergnügen stand das nicht zur Debatte, und wenn es nach mir gegangen wäre, dann hätte das Ewig so weitergehen können. Marc dachte da sicher nicht viel anders.

Als wir jetzt am Abend in unserem Doppelbett lagen, ließen wir den ganzen Tag noch einmal Revue passieren: Die Halle der Präsidenten, Piratenland, der Besuch in `Paris´, in `München´ und in dem englischen Pub. Dann hatten wir noch eine Fahrt in den `Teetassen´ gemacht. Das waren tatsächlich riesengroße Teetassen, die sich im Kreis herumdrehten. War irre lustig! Genauso auch die Fahrt auf den Dumbos - auch ein Kindheitstraum von mir: Einmal auf Dumbo, dem fliegenden Elefanten sitzen, und auf dessen Rücken durch die Lüfte schweben. Auf diesem Karussell war das möglich.

Später machten wir dann noch die »Thundermountain-Bergfahrt« mit. Die Gondeln des Karussells sahen aus wie eine große Eisenbahn, mit der wir durch eine Wildwestlandschaft fuhren, vorbei an Hügeln, Kakteen und durch Tunnel hindurch.

Marc musste sich unbedingt eine »Micky Maus-Kappe« kaufen, mit großen Ohren, wie sie eben auch Micky Maus hatte. Damit lief er dann die ganze Zeit herum. Ich hätte mich damit ja nicht unter die Leute getraut, aber Marc standen sie ungemein gut. Jedenfalls standen sie ihm so gut, dass Minnie Maus zu ihm hin kam und mit ihm `herumflirtete´. »Hey, nicht so doll!« rief ich den beiden entgegen, »Das ist mein Mäuserich!« Und Minnie grinste. Doch da es eine Maske war, tat sie das ja immer! Ohnehin galt hier im Park für alle Mitarbeiter die Parole `lächeln was das Zeug hielt´. Hier im Park gab es etliche Regeln und Voraussetzungen um hier arbeiten zu dürfen. Alle Mitarbeiter sprachen mindestens zwei Sprachen. So konnten auch etliche Mitarbeiter deutsch sprechen. Außer im Piratenland durfte kein Mitarbeiter einen Bart tragen. Und so gab es noch etliche Regeln, aber davon bekam der normale Besucher nicht viel mit. Ich hatte das alles...ja natürlich, ich hatte das alles von Marc gelernt, der auch darüber bestens informiert war.

Am Abend gab es dann eine große Lichterparade. Riesengroße Wagen, mit hunderttausenden von einzelnen Lampen geschmückt fuhren durch die Straßen des Parks. Und auf den Wagen saßen alle unsere Disney-Lieblinge. Der Tag wurde dann mit einem riesigen Feuerwerk beendet.

»Das war ein wirklich toller Tag«, meinte Marc ganz geschafft, denn trotz des Vergnügens, es war auch ziemlich anstrengend gewesen. »Und so haben wir noch eine ganze Woche vor uns«, bemerkte ich schon in voller Vorfreude darauf.

Für einige Sekunden herrschte vollkommene Stille, nicht nur im Raum, sondern im ganzen Park und Hotel herrschte eine herrliche Ruhe.

»Daniel«, durchbrach Marc plötzlich die Stille, »Das war eine großartige Idee von dir. Schon als kleiner Junge hatte ich von Disneyland geträumt.« Ich drehte mich zu ihm rum und sah ihn lächelnd an. Da sah ich es: »Hey Marc, weißt Du was!« »Was ist denn los?« fragte er verwundert. Behutsam streichelte ich ihm über sein blankes Oberhaupt: »Deine Haare kommen wieder!« »Wirklich!« rief Marc überglücklich. »Ja«, sagte ich mit einem Funkeln in den Augen, »Wenn dein Kopf die Rasenfläche eines Fußballstadions wäre, dann könnten wir in ein paar Wochen vermutlich wieder Turniere darauf austragen.« Ich nahm ihn liebevoll in meine Arme. Irgendwann sind wir dann so eingeschlafen.

Wir hatten noch eine ganze volle Woche vor uns. In dieser Zeit wollten wir den ganzen Park unter die Lupe nehmen. Am nächsten Tag stand jedenfalls das `Epcot-Center´ auf unserem Programm. Prunkstück des `Epcot-Centers´ war das Raumschiff Erde, eine freischwebende Miniatur-Erde von 52 Metern Durchmesser. Während `Disneyworld´ sich der Vergangenheit und Gegenwart widmete, hatte sich das `Epcot-Center´ der Zukunft verschrieben. Hier war die Zukunft schon heute.

Uns stand schon die eine oder andere Träne im Auge, als wir unsere Koffer packten. Wobei Marc weitaus trauriger war als ich selbst. Wusste er doch noch nicht was ich wusste. Und er sollte es auch noch nicht wissen, denn es sollte einmal mehr eine Überraschung auf ihn warten.

Am Flughafen verwickelte ich ihn in ein intensives Gespräch, um ihn so davon abzulenken, in welches Flugzeug wir schließlich stiegen. Marc sollte in dem Glauben belassen sein, dass er heute Nacht wieder in seinem eigenen Bett schlafen würde. Kaum hatten wir uns im Flugzeug auf unseren Sitzen niedergelassen, ich saß am Fenster, setzte ich ihm einen Discman auf seine hübschen Lauscher. Zwar wunderte er sich darüber, aber ich meinte, etwas Meditationsmusik sei jetzt das richtige für den langen Flug. Der wahre Grund für den Discman war freilich, dass Marc nicht die Durchsagen des Flugkapitäns vernehmen konnte, der unser wahres Flugziel ankündigte.

Zwei Tage zuvor hatte ich ein wichtiges Telefongespräch mit Sal, meinem Chef in der Werbeagentur. Ich war richtig stolz auf mich, dass ich ihn von etwas überzeugt hatte. Wobei ich gestehen muss, dass ich es wohl nur deshalb fertiggebracht hatte, weil Sal mich zu mögen schien, und weil er einfach ein herzensguter Mensch war. Erst vor wenigen Wochen hatte ich ihm gestanden, dass ich mit Marc in einer Beziehung zusammenlebte. Sal war überhaupt nicht erstaunt darüber. Die meisten Chefs hätten deswegen einen Rückzieher gemacht und es einem spüren lassen. Sal war auch da ganz anders, obwohl er selbst schon seit fünf Jahren glücklich verheiratet war und aus dieser Ehe bereits zwei Kinder hervorgegangen waren. Sal wusste von Marcs Gesundheitszustand. Er hatte mir sogleich Unterstützung zugesagt. Und im Gegensatz zu vielen anderen Menschen, die nur einfach davon redeten, bei ihm konnte ich mir sicher sein, dass er es wirklich so meinte. Gut, sicher war er mit mir auch nicht so schlecht gefahren. Mit aller Bescheidenheit muss ich sagen, dass ich wirklich brauchbare Konzepte ablieferte. Und seitdem ich mit Marc zusammen war wurden die Ideen noch besser. Er beflügelte mich förmlich bei meiner Arbeit.

Also fasste ich mir ein Herz und rief Sal von Orlando aus an. Dass das Telefongespräch ein halbes Vermögen kostete nahm ich dabei in Kauf. Ich unterbreitete Sal einen Vorschlag, den er recht schnell annahm. Wir einigten uns darauf, dass ich vom Ausland aus arbeiten könnte. Sal würde mir die Unterlagen per Eilboten zukommen lassen. Ich müsste dann die passenden Konzepte abliefern, und war mir sicher, dass das bei dieser Umgebung, und damit meinte ich nicht nur die uns umgebende Landschaft, kein so großes Problem sein würde.

Marc schlief tatsächlich über die Meditationsmusik ein, er war ohnehin recht müde gewesen, hatte er doch die Nacht vorher wieder kaum ein Auge zubekommen. Erst als ich ihn nach einer ganzen Weile behutsam am Pulli zog wachte er wieder auf. »Sind wir schon in Berlin?« fragte er gähnend. »Nein, noch nicht ganz«, erwiderte ich mit todernstem Gesicht. Dabei hatte ich große Mühe mich nicht zu verraten, denn Berlin war doch ziemlich weit von dem Ort entfernt, an den ich Marc hier `entführt´ hatte.

Nach ein paar Minuten sah ich aus dem Fenster und meinte ganz trocken zu Marc: »Schau mal! Ein Känguru!« »Unsinn!« stellte Marc fest, »Hier in Europa gibt es keine Kängurus. Es sei denn im Zoo.« »Oh verdammt!« erkannte ich, »Dann muss sich der Kapitän irgendwie verflogen haben. Dort unten war eben ein Känguru. Ich schwöre!«

»Daniel«, führte Marc aus, »Wenn wir gelandet sind, dann musst du unbedingt zum Augenoptiker. Ich glaube, du brauchst eine gute Brille.« Marc beugte sich über mich und schaute aus dem Fenster: »Mein Gott, ich glaube der Pilot hat sich tatsächlich ganz schön verfranzt. Das ist nie im Leben Deutschland!« Ich konnte das Lachen nicht mehr halten. Marc sah mich sprachlos an. Er wusste nicht genau was denn nun eigentlich los war. »Warum lachst du?« fragte er mich verwundert. »Warum lachst du nicht?« fragte ich zurück. »Weil ich keinen Grund dazu habe!« erklärte Marc. »Keinen Grund?« meinte ich, »Wenn du einen Grund willst, den kannst du haben!« Ich begann ihn zu kitzeln, so dass Marc fürchterlich zu lachen anfing. Die anderen Fluggäste schauten schon ganz verwundert, was wir beide dort trieben. Ich rechnete damit, dass jeden Augenblick eine Stewardess auftauchen würde, um uns zur Räson zu rufen, aber nichts dergleichen geschah, also gab es auch keinen Grund für uns aufzuhören. Wir lachten beide im Chor, wenn gleich auch aus etwas unterschiedlichen Gründen: Marc weil ich ihn kitzelte und ich, weil mir die Situation an sich Freude bereitete.

»Daniel«, meinte Marc ganz streng zu mir, »Du bist nicht zufällig dafür verantwortlich, dass das Flugzeug hierher geflogen ist?« »Klar doch«, erklärte ich im Scherze, »Ich bin zum Piloten gegangen und habe ihn mit Waffengewalt dazu gezwungen nach Australien zu fliegen!« »Das ist Australien!?« rief Marc ganz erstaunt aus. Ich tat ganz unschuldig, obwohl Marc doch schon längst wusste, dass ich ihn hierher gelotst hatte: »Tja, dann müssen wir uns wohl oder übel in unser Schicksal ergeben und vier Wochen hier verbringen.« »Wir verbringen vier Wochen in Australien!?« stieß Marc aus und fiel mir dabei um den Hals. »Ruhig, ruhig«, meinte ich zu ihm, »was sollen denn die anderen Passagiere denken?« »...dass du der liebste Freund bist, den man haben kann!« rief Marc überglücklich aus.

Als unser Flugzeug in Sydney landete, hatte sich Marc schon wieder etwas beruhigt. Nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, war er sprachlos und überglücklich. Und wenn er es war, dann war ich es auch. Marc glücklich zu sehen, war das größte Glück für mich, das es geben konnte.

Australien war ein schönes, weites Land, das doch so viel Abwechslung zu bieten hatte. Es war mehr als nur das Land des Kängurus. Schon als Kind faszinierte mich dieses Land und zog mich magisch in seinen Bann. Die Zeit verging wie im Fluge. Hier in atemberaubender Umgebung, hatte ich die Aufgabe, einen Werbeslogan für ein neues Familienmagazin zu kreieren. Einfach, leicht und mit einem hohen Wiedererkennungswert müsste er sein, so war zumindest meine Vorgabe. Neben einem Slogan galt es zudem aber auch noch einen Namen für dieses `Kind´ zu finden, das schon bald seinen Weg auf die Ladentheken finden sollte. Und dann musste ich feststellen, dass es doch nicht so einfach war, wie ich eigentlich gedacht hatte, hier im Urlaubsparadies genügend Konzentration zu finden, um in kürzester Zeit eine brauchbare Idee vorweisen zu können. Ich wollte mich von der freien Natur inspirieren lassen. So schnappte ich mir meinen Block nebst Marc, und ich versuchte in einem kleinen Wäldchen, mich von der Muse küssen zu lassen. Und diese `Muse´ hatte ausnahmsweise nicht das Aussehen von Marc, denn schließlich brauchte ich doch gewisse Konzentration dabei.

Ich hatte mich auf einen Baumstumpf niedergelassen. Marc machte derweil ein paar Lockerungsübungen, will sagen, er sprang wie ein Hampelmann hin und her. Mit dem Block auf dem Schoss und aufgestützt auf eben jenen, saß ich da - mir wollte einfach nichts Rechtes einfallen.

»Marc«, meinte ich schließlich genervt zu meinem Hampelmann. Jener wurde allerdings erst beim zweiten Wiederholen auf meinen Ruf aufmerksam. »Ja? Was is'n?« fragte er. »Könntest du mir bitte einen Gefallen tun?« bat ich ihn mit ruhigem Ton. »Klar doch Danny, klar doch, jeden!« erklärte Marc. »Ja«, meinte ich, »dann nenn mich bitte nicht Danny, und zweitens könntest du dich bitte einen Augenblick ruhig hinsetzen. Es macht mich waaaaaahnsinnig nervös. Morgen früh muss ich ein fertiges Konzept nach Deutschland faxen, und ich habe noch nicht den blassesten Schimmer, wie dieses aussehen könnte!« - »Tut mir leid, Daniel. Kann ich dir vielleicht dabei helfen?« meinte Marc mitleidig. Marc beugte sich zu mir herunter und sah ganz mitfühlend auf das leere Blatt Papier auf meinem Schoss.

»Es müsste ein Name sein, mit dem man Freude und Spaß verbindet. Ein Name, bei dem man sofort an etwas Schönes denkt«, führte ich an. Marc verzog nachdenklich das Gesicht. »Eisbombe!«, meinte er mit einem glücklichen Lächeln im Gesicht. »Was heißt Eisbombe?« wollte ich von ihm wissen. »Du hast doch gesagt: Etwas bei dem man sofort an etwas Schönes denkt. Und bei `Eisbombe´ denke ich sofort an etwas Schönes!« - »Toll, ganz toll«, spöttelte ich, »dann können wir das neue Magazin auch Marc nennen - da denke ich sofort an etwas Wunderschönes! Aber trotzdem wäre das wohl kein geeigneter Name für ein Familienmagazin.« - »War ja nur so ein Gedanke!« gab Marc kleinlaut zu. Ich sah ihn strahlend an, obwohl dazu doch eigentlich nicht die Zeit war, denn schließlich lief mir eben jene davon. Doch wie Marc so da stand: Marc - der Sonnenschein meines Lebens... Moment mal, da kam mir die Idee. Sicher, es war keine geistig akrobatische Glanzleistung, aber immerhin doch eine halbwegs brauchbare Idee.

»Ich glaub ich hab's!« stieß ich urplötzlich jubelnd aus und sprang wie von der Tarantel gestochen auf. »Ich glaube dich hat's«, erkannte Marc belustigt. »Nein... nein, ich hab ‘ne Idee!« sagte ich überglücklich. »Gibt's nicht«, frotzelte Marc, »Daniel hat ‘ne Idee?!« - »Spotte er nur!« entgegnete ich, »Wir können das nächste Mal ja tauschen, dann überlegst du dir ‘was.« - »Nun sag schon«, forderte Marc mich auf. »Was hältst du von dem Namen `Sunshine - Das Familienmagazin´?« - »Und das bei jeder Wetterlage?!« ergänzte Marc mit einem breiten Grinsen. »Hey, das ist es! Ziemlich verrückt, aber einprägsam! `Sunshine - Das Familienmagazin... und das bei jeder Wetterlage´ - Marc, du bist genial«, meinte ich anerkennend. »Tja«, frotzelte dieser, »wir sind eben ein Superteam!«

Zurück in der Stadt, nachdem ich das Fax an Sal aufgegeben hatte, suchten wir ein Lokal auf, um unseren gemeinsamen `Geistesblitz´ zu feiern. Noch war es zwar nicht sicher, wie Sal auf die Idee reagieren würde, doch mir war einfach nach einer Belohnung für die ach doch so `schwere´ Arbeit, die wir beide eben geleistet hatten. Was hatte ich doch für ein Glück mit meinem Job. Sicher so etwas konnte ich nicht ewig tun. Irgendwann müsste ich auch wieder nach Berlin ins Büro, doch Sal hatte mir zugesichert, dass ich durchaus auch ein Jahr, oder sogar noch etwas länger vom Ausland aus agieren konnte. Ob er meine erste Idee aus dem Ausland für gut befinden würde? Doch letzten Endes kam es ja ohnehin nicht auf Sals Urteil, sondern auf das des Kunden an. Also abwarten und Kakao schlürfen, das war es, was wir nun tun konnten.

Mein neuer Geschäftspartner und ich, betraten ein kleines, gemütliches Lokal in der Pitt Street von Downtown Sydney. Hier herrschte reger Betrieb. Marc wollte schon wieder den Rückzug antreten, als wir von einer jungen Dame, etwa in unserem Alter, an den Tisch gebeten wurden. Die junge Lady hatte wohl bemerkt, dass wir schon wieder gehen wollten.

»Hi«, machte sie, »Kommt doch hierher. An diesem Tisch ist noch genügend Platz.« Wir grüßten höflich und nahmen Platz. »Eigentlich warte ich seit einer halben Stunde auf ein paar Freunde von mir. Ich glaube nicht mehr, dass sie noch kommen.« - »Um so schöner für uns«, erklärte ich, »das ist Marc. Mein Name ist Daniel. Wir kommen aus Deutschland.« - »Freut mich«, entgegnete sie, »mein Name ist Shirley. Ihr macht hier Urlaub?« - »Ja«, meinte Marc, »Wir sind für vier Wochen hier. Eine Überraschungsreise.« - »Überraschungsreise?«, fragte Shirley verwundert. »Ja«, erklärte Marc, »Dafür ist dieser junge Mann verantwortlich. Nach einem Urlaub in Florida, hat er mich einfach hierher entführt. Dabei dachte ich, dass wir jeden Augenblick in Berlin landen würden. Stattdessen sah ich die Känguruhs hüpfen!« - »Oh, du bist aber ein Schlimmer«, meinte Shirley in meine Richtung lächelnd.

Shirley hatte kurzgeschnittene, hellbraune Haare und hellgrüne Augen. Sie sah sehr hübsch aus. Ja, sie war wohl so etwas, was man als heißen Feger hätte bezeichnen können. Selbstverständlich war das ein rein objektives Urteil meinerseits, saß doch mit mir am Tisch der Mensch, neben dem nach meiner Ansicht, jeder andere Mensch einfach verblassen musste.

»Tja«, bemerkte ich, »Überraschungen sind doch schließlich das Salz in der Suppe!«

»Ich liebe Überraschungen auch sehr«, meinte Shirley mit einem Augenblitzen, als wolle sie sagen: `Überrasch mich doch auch einmal´.

Es entwickelte sich ein sehr reges Gespräch zwischen uns Dreien, währenddessen wir sogar vergaßen auf die Uhr zu schauen. Im Nu waren vier Stunden vergangen. Wir wussten nun schon so einiges voneinander. Shirley war wahnsinnig nett. Es gab keinen Grund für Marc und mich, unsere Liebe zueinander zu verheimlichen. Shirley störte das überhaupt nicht, oder sie konnte es zumindest phantastisch verbergen.

Irgendwann sah Shirley erschrocken auf die Uhr: »Oh Gott, es ist ja schon gleich acht! Ich habe versprochen um Sieben zu Hause zu sein. Na ja, was soll's! Wir haben uns so gut unterhalten.« Wir lächelten Shirley an. »Sagt mal ihr beiden«, fragte uns Shirley, »Habt ihr nicht Lust, morgen auf meine Party zu kommen? Ich feiere Geburtstag. Würde mich wirklich sehr freuen, wenn ihr kommen würdet.« Die Einladung nahmen wir gerne an. Shirley schrieb uns die Adresse auf eine Serviette. Schon im Weggehen, drehte sie sich noch einmal um: »Ach so, das hätte ich beinahe vergessen. Es ist eine Shakin' Stevens Party. Wäre toll, wenn ihr etwas anziehen könntet, was zu den 50er, 60er Jahren passen würde. Hoffe, ihr mögt Oldies?! Ich stehe total auf Shakin' Stevens! Kennt ihr den überhaupt?« Klar kannten wir Shakin' Stevens. Wir outeten uns noch schnell als Elvis-Fans. Und als solche mochten wir auch Shakin' Stevens, der in den achtziger Jahren mit ähnlich gelagerten Songs große Erfolge feierte. So waren wir im Prinzip auch Fans von Shaky. Shirley erklärte uns noch schnell, dass eine Shakin' Stevens Party bedeuten würde, dass den ganzen Abend nur seine Songs gespielt würden, dass alle Gäste in entsprechender Kleidung kommen würden und dass eben auch alles andere darauf abgestimmt sei.

Am nächsten Morgen stellte sich uns dann ein kleines Problem. Um ehrlich zu sein, freuten wir uns beide schon sehr auf den bevorstehenden Abend bei Shirley. Wir waren zwar beide keine richtigen Party-Löwen, aber dennoch, oder vielleicht gerade auch deshalb, waren wir ganz heiß darauf. Das kleine Problem, von dem hier die Rede ist, war natürlich die Kleiderfrage. Zwar führten wir etliche Kleidungsstücke in unserem Gepäck mit, doch etwas Passendes befand sich leider nicht dabei. Also hieß es shoppen gehen. `Shoppen´ - ein Zauberwort, das Marc und auch ich besonders mochten. In einer Boutique statteten wir uns anlassgerecht aus. Um ehrlich zu sein, war es gar nicht so schwer. Auf der George Street gab es Gowings, und da scheint irgendwie alles aus den 50er, 60er Jahren zu stammen. Ob das beabsichtigt ist, sei dahingestellt! Marc wählte einen lachsfarbenen Sakko und kombinierte eine schwarze Hose dazu. Ich kleidete mich ganz in Jeans - standesgemäß für eine Shakin' Stevens-Party!

Abends nahmen wir uns dann ein Taxi, denn wir hatten nicht die leiseste Ahnung, wo die Adresse zu finden war, die uns Shirley aufgeschrieben hatte. Der Stadtteil hieß Vaucluse. Das Wort allein war schon komisch.

Der Taxifahrer zog die Augenbrauen hoch, als wir ihm die Adresse nannten. Was das zu bedeuten hatte, konnten wir dann sehen, als er bei besagter Adresse vorfuhr. »Das muss ein Irrtum sein«, meinte Marc verwundert. »Nein«, entgegnete der Taxifahrer, »Das ist schon richtig!« Wir staunten nicht schlecht, standen wir doch vor einem wahren Palast. So in etwa würden die reichen Leute in Beverly Hills wohnen. Eine richtige Luxusvilla lag vor uns. Es war schon ein eigenartiges Gefühl für uns da zu klingeln. Nach einer Minute wurde uns die Tür von einem griesgrämig dreinschauenden alten Gentleman im Frack geöffnet. Von drinnen klang es schon stark nach dem »Old Time Feeling«. Ich vernahm `This Time´ in der Shakin' Stevens-Version. Wir waren also wirklich nicht im falschen Film!

Der ältere Mann musterte uns von oben bis unten. Mit einem Naserümpfen ließ er uns schließlich ein. Er schien nicht besonders viel von dieser Party zu halten. War wohl nicht so ganz seine Musik. Sicher stand er mehr auf Techno!

Da kam uns auch schon Shirley entgegen: »Hallo, da seid ihr ja, ihr zwei Hübschen.« »Hätten wir um nichts in der Welt versäumen wollen«, entgegnete ich.

Shirley trug eine weiße Bluse und einen rosafarbenen Minirock dazu. `Ganz schön flott! ´ dachte ich so bei mir. Wir gratulierten Shirley herzlich. Aus meiner Jackentasche holte ich ein kleines Päckchen. Marc und ich hatten das Geschenk gemeinsam in der Stadt ausgesucht.

»Kommt, gehen wir da ‘rüber«, führte uns Shirley an eine Bar. Außer dem Butler war wirklich alles auf fünfziger Jahre getrimmt. Selbst der Barkeeper war entsprechend gekleidet. Wir kamen uns vor, als seien wir in einer anderen Welt gelandet. Irgendwie waren wir das auch. Bisher kannten wir so etwas nur aus dem Kino oder Fernsehen. Marc und ich nahmen auf Shirleys Geheiß auf zwei Barhockern Platz. Sie selbst blieb stehen.

»Du hast uns gar nicht gesagt, wie du lebst«, sagte ich, während ich meine Blicke auffallend im Raum umhergehen ließ. »Dazu bestand kein Grund. Wenn ich gesagt hätte, dass mein Alter eine Menge Kohle hat, dann wärt ihr vielleicht nicht gekommen«, meinte Shirley. »Meinst du?« fragte ich sie. »Ja«, erklärte sie, »ich glaube, dass ihr beide nicht so oberflächlich seid, wie die meisten anderen Jungs, die ich kenne. Die meisten sind nur deshalb mit mir zusammen, weil sie sich etwas davon versprechen. In unserem Gespräch habe ich gemerkt, dass ihr da ganz anders seid.« Shirley nickte dem Barkeeper zu, worauf er uns drei Drinks brachte. »Probiert«, forderte Shirley uns auf. Wir nippten, es schmeckte vorzüglich. Da ich nicht oft Alkohol zu mir nahm, hatte ich mir vorgenommen mich zurückzuhalten, doch dieser eine Drink würde nicht schaden, hoffte ich zumindest.

»Schöne Wohnung«, meinte Marc. ,Wohnung?' dachte ich so bei mir, irgendwie mehr ein Palast. »Ja, ganz nett«; bestätigte Shirley, »Aber darauf kommt es nicht an. Ich hoffe, dass ihr euch heute gut amüsieren werdet. Wenn ihr nichts dagegen habt, werde ich mich um euch persönlich kümmern. Ihr seid sozusagen meine Ehrengäste.« - »Womit haben wir das denn verdient?« wollte ich wissen. »Einfach so«, erklärte Shirley mit einem vieldeutigen Grinsen.

»Du hast das Geschenk noch nicht geöffnet«, stellte Marc fest. »Aber ich habe es fest in meiner Hand«, lachte Shirley. Vorsichtig öffnete sie die Schleife. Zum Vorschein kam eine kleine goldene Rose, in Form einer Brosche. Sie war nicht echt Gold, aber ganz billig war sie auch nicht gewesen, falls das eine Rolle spielte. Sicherlich aber war Shirley teurere Geschenke gewohnt. Ihrer Reaktion nach zu urteilen, war sie jedoch ganz begeistert von unserem kleinen Geschenk. »Würdest du sie mir anstecken?« bat sie mich mit einem bezaubernden Lächeln. Natürlich kam ich diesem Wunsch gerne nach. Sie sah mir tief in die Augen. Ohne es zu wollen, reagierte ich mit einem charmanten Lächeln.

Wir drei unterhielten uns eine ganze Weile, bis Shirley schließlich meinte: »Ich würde gerne ‘mal tanzen. Daniel, würdest du mir die Ehre erweisen? Hoffe es macht dir nichts aus, Marc, wir sind auch gleich wieder da!« Marc entschuldigte uns für ein paar Minuten. War ja auch kein Problem. Marc wusste ja, dass nichts dabei war, wenn ich mit einem Mädchen tanzte - dachte ich zumindest.

Aus den Lautsprechern klang `Teardrops´. Wie ich von Shirley erfuhr, war das gerade einer ihrer Lieblingssongs von Shaky. Es war ein ruhiger Song, weswegen wir ganz eng zusammen tanzten. So nah war ich noch nie zuvor einem Mädchen gekommen. Shirley schmiegte sich ganz eng an mich heran. Ich wusste gar nicht so recht wie mir geschah. Da ich nichts Schlimmes dabei empfand, ließ ich mich ganz in der Musik aufgehen. Ihr Haar kitzelte mich am Ohr. Sie lächelte mich an. Unbeholfen lächelte ich zurück. Für einen Augenblick vergaß ich alles um uns herum. Wir waren ganz allein in einem großen Ballsaal. Ich kam mir vor wie bei einem Abschlussball. Shirley war ein ganz besonderes Mädchen. Sie tanzte sehr gefühlvoll. Es war, als schwebten wir durch den Raum.

Als wir zur Bar zurückkehrten, warf Marc mir einen bitterbösen Blick zu. So kannte ich ihn gar nicht. Noch nie hatte ich einen solchen Blick in seinem Gesicht gesehen. Ich kannte Marc, wenn er traurig war, kannte ihn, wenn er enttäuscht war, oder auch wenn er Angst hatte. Aber so hatte ich ihn wirklich noch nie gesehen. Aus seinem Blick war so viel zu lesen. Hatte ich etwas falsch gemacht? Schon hatte ich ein schlechtes Gewissen. Ja sicher, der Tanz mit Shirley hatte mir Spaß gemacht und es war auch ein schönes Gefühl, aber das hatte doch nichts mit meinen Gefühlen für ihn zu tun. Nichts, gar nichts konnte an meinen Gefühlen für ihn etwas ändern. Vielleicht aber, war ich wirklich unsensibel gewesen. Mein Tanz mit Shirley musste ja solche Gefühle in ihm hervorrufen.

Shirley entschuldigte sich für einen Augenblick bei uns, sie würde gleich wieder zurückkommen, musste nur schnell ein paar neue Gäste begrüßen. So waren Marc und ich einen Moment ungestört. Ich konnte mich ja nicht direkt bei Marc entschuldigen, denn es gab doch gar keinen Grund dafür. Jedoch erkannte ich, dass ich etwas tun musste. Mit gesenkter Kinnlade konnte ich ihn jedenfalls nicht hier herumsitzen lassen. Es war zwar nicht unsere Art so etwas in der Öffentlichkeit zu tun, aber in diesem Falle! Ich ging hinüber zum Discjockey, der für das Auflegen der richtigen Shaky-Songs zuständig war, redete kurz mit ihm und steckte ihm eine 50 Dollar Note zu.

Marc saß völlig geknickt und wohl auch sehr sauer auf dem Barhocker. Ich stellte mich links neben ihn und drückte mich ganz fest an ihn: »Darf ich um den nächsten Tanz bitten?« Marcs Blick verformte sich zu einem Ausdruck des Erstaunens. Noch nie hatten wir beide zusammen getanzt. Und das hier an diesem Ort. Aber Marc ließ sich dennoch nicht lange überreden und folgte mir zur Tanzfläche.

Es war nicht irgendein Titel, den ich mit Marc tanzen wollte. Deshalb hatte ich auch den Discjockey bestochen. Ich wollte einen bestimmten Shaky-Titel: `A Love Worth Waiting For´.

Die meisten anderen Gäste hatten sich auf das gerade eröffnete kalte Büfett gestürzt. Außer uns stand in diesem Moment fast niemand auf der Tanzfläche. Nein, wir würden nicht eng aneinandergeschmiegt tanzen, so sehr wollten wir die anderen Gäste auch nicht schockieren.

Wir sahen uns beide ganz tief in die Augen. Ich musste tief schlucken. Erst jetzt setzte die Musik ein. Wir tanzten, ohne uns dabei auch nur ein einziges Mal körperlich zu berühren. Doch jede unserer Bewegungen war eine Berührung im Geiste. Auf diese Weise waren wir beide uns in diesem Moment so nahe, wie sich zwei Menschen nur irgend nah sein konnten. Ich spürte Marc an meinem ganzen Körper. Es war ein unglaubliches Gefühl. Ich hatte eine Gänsehaut, und fühlte das Adrenalin in meinem Körper brodeln. Dieser Moment sollte nie zu Ende gehen. Ein großartiges und stolzes Gefühl begleitete mich hier. Mit niemand hätte ich in diesem Moment tauschen wollen, für nichts in der Welt. Reiche Menschen waren sich bestimmt nicht bewusst, dass ihr ganzer Reichtum doch nichts dagegen war, was ich hier bei mir hatte. Einen solchen Menschen bei sich zu haben, das war der größte Reichtum den es gab. So befand ich mich in der Lage sagen zu können, dass ich ein sehr, sehr reicher Mensch war.

Schließlich waren wir wirklich die einzigen, die sich noch auf der Tanzfläche befanden. Dutzende Blicke sahen uns interessiert beim Tanzen zu. Davon bekamen wir beide nicht viel mit. Erst als das Lied zu Ende gespielt hatte, erkannten wir, dass wir doch nicht allein hier im Raum waren. Ein paar Gäste applaudierten uns. Sicher lag es nicht nur an unserer großartigen Tanzkunst, sondern es war vermutlich auch eine Art der Anerkennung dabei, dass wir uns so ungeniert hier bewegten. Eines Tages, und da war ich mir sicher, würde so etwas völlig normal sein. Hier in Sydney jedenfalls, wo auch jährlich das Mardi Gras stattfindet, ein Schwulen- und Lesbenfestival, waren die Leute viel toleranter als daheim. An besagtem Karneval nahm wohl die halbe Stadt teil, so kam es mir jedenfalls vor.

Shirley holte uns applaudierend von der Tanzfläche ab: »Wow! Ihr seid ein wirklich tolles Paar.« - »Ich dachte schon, dass du uns böse wärst, weil wir hier so...« - »Quatsch«; unterbrach Shirley sofort, »Ihr seht doch selbst, wie gut ihr angekommen seid. Außerdem...« Shirley beendete den Satz nicht. Sie hielt inne und wirkte sehr nachdenklich.

Im Hintergrund spielte bereits das nächste Lied, auch einer meiner Lieblingssongs von Shakin' Stevens, mit dem Titel `Give me your Heart Tonight´. Es war ein Lied, das förmlich zum Träumen einlud.

»Entschuldige Marc«, wandte sich Shirley an ihn, »Ich hätte eine große Bitte. Ich weiß, dass es dir vorher nicht ganz recht war, dass ich mit Daniel getanzt habe. Du hast mein vollstes Verständnis dafür, denn Daniel ist wirklich etwas Besonderes. Wenn ich Dir verspreche, dass ich ihn dir gleich wieder zurückbringe, dürfte ich ihn mir noch einmal für einen Moment ausleihen? Ich bringe ihn dir auch völlig unbeschädigt wieder zurück. Garantiert!« Obwohl Shirley das Ganze mit einem scherzhaften Grinsen im Gesicht rausbrachte, so schien Marc dennoch nicht ganz begeistert davon zu sein. Er hatte wohl bemerkt, dass ich Shirley nicht ganz unattraktiv fand. Dennoch stimmte er schließlich zu: »Okay, aber wehe er hat hinterher auch nur einen Kratzer. Dann werde ich dich verklagen!« scherzte er und war dabei krampfhaft bemüht zu lächeln.

Ich folgte Shirley auf den Balkon, der in den großen Garten des Anwesens hineinragte. Im Hintergrund konnte man leise das bunte Treiben im Raum und die Musik vernehmen. Doch hier draußen war es eine sonst ruhige Nacht. Wir hatten Vollmond, so dass man noch sehr viel von der Umgebung wahrnehmen konnte. Shirley lehnte sich an das Geländer, sah in die Nacht hinein: »Siehst du den Stern da oben, wie er funkelt.« - »Ja, eine wunderschöne Nacht«, sagte ich. »Dieser Stern - es ist egal, wo auf der Welt man lebt. Er funkelt überall gleich. Ich liebe die Sterne. Sie sind einfach schön. In dunkler Nacht stehe ich oft hier und schaue in den Himmel. Ich liebe diese Atmosphäre. Alles ist so friedlich. Oft komme ich mir klein und verloren vor. Wenn ich dann in den Himmel schaue und die Sterne sehe, dann weiß ich, dass in dem gleichen Moment sicher noch viele andere Menschen in den Himmel schauen und die Sterne beobachten. Ich bin dann einfach nicht mehr so allein. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie das ist so allein zu sein.« Shirley atmete tief durch und seufzte: »Alle Menschen meinen, dass ich glücklich sein müsste, nur weil mein Vater viel Geld hat. Sicher, ich habe viele sogenannte Freunde. Aber ich glaube, dass ich nicht einen richtigen Freund habe. Die sind alle nur hinter der Kohle meines Alten her. Das ist ein richtiger Fluch.« Ich stellte mich direkt neben sie, legte meine Hand auf ihre, die sie auf das Geländer aufgestützt hatte: »Vielleicht siehst du das zu schwarz. Sicher sind nicht alle deine Freunde so.«

»Glaub mir, sie sind so«, widersprach Shirley, »Einmal habe ich gehört, wie sie sich über mich unterhalten haben. Sie wussten nicht, dass ich ihnen zuhören konnte. Eigentlich sollte ich kein Wort mehr mit ihnen reden, doch ich habe ja nur sie.«

»Hattest du noch nie einen Menschen, in den du richtig verliebt warst?« wollte ich von ihr wissen. »Doch«, erklärte Shirley, »das war es was ich vorher sagen wollte, als Marc meinte, ob ich euch böse wäre. Wie kann ich das. Ich hatte schon vergleichbare Gefühle...« Wieder stockte Shirley mitten im Gedankengang. Ich streichelte vorsichtig ihre Hand. Sie drehte sich zu mir um, sah mir tief in die Augen: »Sie heiß Julie und war eine Klassenkameradin von mir. Es war vor zwei Jahren. Ich hatte mich unheimlich in sie verliebt. Nach vierzehn Tagen konnte ich dann nicht anders und musste es ihr einfach sagen.« Shirley zitterte am ganzen Körper. Ich zog mein Jackett aus und legte es ihr vorsichtig über die Schultern. »Danke«, sagte sie zärtlich und drehte sich wieder in Richtung Garten. »Und was war dann?« bat ich sie weiterzuerzählen. Shirley zog das Jackett vorne zusammen: »Julie war zunächst entsetzt. Noch nie hatte sie vorher, wie ich auch, eine Beziehung zu einer anderen Frau gehabt. Aber sie reagierte recht freundlich. Ich durfte sogar mit ihr in ihre Wohnung. Wir unterhielten uns angeregt über meine Gefühle zu ihr. Zunächst wollte sie aber nicht viel davon wissen. Doch sie bat mich wieder zu ihr zu kommen. Wir freundeten uns an und irgendwann wurde doch mehr daraus. Es war meine bisher einzige richtige Beziehung.« - »Siehst du«, sagte ich, »dann hast du doch eine richtige Freundin.« Shirley brach in Tränen aus: »Julie starb vor einem Jahr an einer Überdosis Heroin. Irgendein Schwein hat sie auf den Kokstrip gebracht und sie damit ermordet.«

Ich wusste nicht, was ich ihr daraufhin antworten sollte. Gerne hätte ich sie getröstet und ihr gesagt, dass es irgendwie weitergehen würde, doch ich musste an Marc denken, was wäre, wenn ihm etwas passieren würde?

Beruhigend legte ich meine Hand auf ihre Schulter. Wir beide richteten unsere Blicke wieder in Richtung Himmel und betrachteten die Sterne. »Ich dachte«, fuhr Shirley fort, »ich dachte, dass ich mich nie wieder verlieben könnte. Ein paar Mal habe ich sogar überlegt, meinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Alles erschien mir so trostlos, so sinnlos.« Mein Blick wieder auf Shirley gerichtet, meinte ich: »Ich bin mir sicher, dass du eines Tages wieder einen Menschen finden wirst, in den du dich einfach so verliebst.« - »Und was ist, wenn er mich nicht liebt?« entgegnete sie, noch immer mit Tränen in den Augen. »Wer könnte dich nicht lieben«, meinte ich zu ihr. »Meinst du das ernst?« Shirley wischte sich die Tränen aus ihren Augen. »Ja«, erklärte ich, »Du bist doch ein bildhübsches Mädchen - bildhübsch und liebenswert.«

»Meinst du das wirklich alles im Ernst?« fragte sie noch einmal nach. »Jedes Wort«, bestätigte ich, »jemand, der dich nicht liebt, müsste blind sein...«

»Ich habe mich nämlich wieder verliebt«, erklärte Shirley und schaute dabei in die andere Richtung. »Siehst du«, meinte ich ruhig, »dann ist doch alles halb so schlimm. Du musst es der Person einfach sagen. Kennst du sie schon lange?«

Shirley zog die Nase hoch: »Noch nicht allzu lange. Eigentlich erst seit gestern.«

Erst jetzt dämmerte mir so langsam etwas. Mensch Daniel! Sagte ich zu mir selbst - Du bist doch sonst nicht so sehr auf den Kopf gefallen. Ich Dummkopf hätte es doch schon ein paar Minuten früher merken müssen, worauf dieses Gespräch hinausführt. Mein Gott, was sollte ich ihr jetzt antworten? Und ich riesengroßes Rindviech lege ihr auch noch die Hand auf den Rücken!

Shirley wagte es nicht sich umzudrehen. Sie traute sich einfach nicht und wartete wohl auf eine Reaktion von mir.

»Ach, da seid ihr beide!« hörte ich plötzlich eine mir sehr vertraute Stimme hinter meinem Rücken. Marc hatte es wohl nicht mehr allein da drinnen, mit den vielen ihm unbekannten Personen, ausgehalten. »Was ist denn los?« fragte er verwundert, als er sah, dass Shirley Tränen in den Augen hatte und ich ratlos dreinblickte. Ich schaute kurz zu ihm rüber, blickte dann aber wieder zu Shirley. »Ich störe wohl!« meinte er und machte kehrt, um wieder nach drinnen zu gehen. »Marc«, rief ich ihm nach, »ich erkläre dir nachher alles.« - Hoffentlich hatte er diese Szene nicht missverstanden.

Langsamen Schrittes ging ich auf Shirley zu, die noch immer mit dem Rücken zu mir stand. »Shirley«, ich drehte sie langsam zu mir um, »ehrlich gesagt, weiß ich nicht so recht, was ich sagen soll.« Das Sprechen fiel mir sehr schwer: »Ich habe nicht gemerkt, worauf du hinaus wolltest... Du bist ein wirklich bezauberndes Mädchen...und das sage ich nicht einfach nur so... Es gibt bestimmt Tausende von Jungen oder Mädchen, die dich ohne Kompromisse lieben würden, und zwar dich, und nicht das Geld deines Vaters...« Ich musste tief schlucken: »...Und jetzt weiß ich nicht, wie ich es formulieren soll, ohne dir weh zu tun. Doch so sehr ich es auch versuchen will, ich glaube nicht, dass ich es dir sagen kann, ohne dir weh zu tun...« Shirley sah mich traurig an. Ich neigte meinen Kopf etwas nach rechts: »Shirley, und das sage ich ganz ehrlich. Wenn ich Marc nie kennengelernt hätte, dann wärst du vermutlich der erste Mensch auf dieser Welt, den ich richtig lieben könnte, aber...« Shirley blickte mir tief in die Augen. Ich spürte die Angst und Traurigkeit, die aus diesen Augen sprach. Ein beklemmendes Gefühl war das. Schon immer hatte ich Schwierigkeiten anderen Menschen auf irgendeine Art und Weise weh zu tun, und ich vermied es, wo ich nur konnte, doch hier konnte ich es nicht vermeiden. Der Schmerz, den ich selbst in diesem Augenblick spürte, war unendlich groß. Es war in etwa mit dem zu vergleichen, was ich fühlte, als ich von Marcs Krankheit erfuhr, oder mit dem, als man mich damals wegen ihm anrief, dass er im Koma läge. Ich war mir nicht sicher, was ich für Shirley empfand. Vielleicht war es sogar so etwas wie Liebe. Ja, vermutlich war es das. Jedenfalls war es mehr als eine Freundschaft. Doch egal, was es auch immer war, es kam nicht annähernd an das heran, was ich für Marc empfand. Und es hatte nicht das Geringste damit zu tun, das ich Marc länger kannte als Shirley. Auch in hundert Jahren wäre das nicht anders gewesen. In meinem Herzen nahm Marc einen solchen Platz ein, dass niemand auf dieser Welt eine Chance gehabt hätte ihn zu verdrängen.

»Tut mir leid Daniel«, rief sie und wollte weinend davon laufen. »Halt!« rief ich sie zurück, »Warte, so darfst du nicht gehen!« Shirley drehte sich um: »Ich habe mich doch total lächerlich gemacht!« meinte sie weinend. »Finde ich nicht im Geringsten«, erklärte ich ihr, »Es ist eher das Gegenteil. Du hattest viel Mut, das so zu sagen. Shirley, ich finde dich wirklich toll. Und es war sehr mutig von dir das zu sagen. Es tut mir leid, dass es so ist wie es ist. Doch du sollst wissen, dass ich deine Gefühle zu schätzen weiß. Das hat mir noch kein Mädchen gesagt.«

Ich ging auf sie zu und nahm sie in den Arm.

Als wir wieder den `Tanzsaal´ betraten, versuchten meine Augen vergeblich Marc irgendwo ausfindig zu machen. Auch eine intensive Suche brachte mich nicht weiter. Ein anderer Gast erzählte schließlich, dass er Marc wütend hätte rauslaufen sehen. Verdammter Mist - wie ich schon befürchtet hatte! Marc hatte die Szene in den falschen Hals bekommen. Shirley rief den Chauffeur ihres Vaters herbei, der sofort mit einem großen schwarzen Bentley vorfuhr, um mich ins Hotel zurückzufahren. Hoffentlich hatte Marc auch den Weg ins Hotel gewählt und war nicht sonst irgendwo in der Nacht verschwunden.

Mit großem Unbehagen schloss ich die Zimmertüre auf. Als ich die Türe wieder schloss hörte ich schon ein Wimmern aus Richtung Schlafraum. Marc lag bäuchlings auf dem Bett und hatte sich zusätzlich noch das Kissen über den Kopf gezogen. Sicher hatte er mich kommen gehört. Ich kniete mich vor dem Bett nieder und zog ihm langsam das Kissen weg. Er wendete seinen Kopf von mir ab und sah in Richtung Wand. Dennoch konnte ich erkennen, dass er weinte. Ich streichelte ihm über den Kopf und legte mich danach auf das zweite Bett, das in der anderen Ecke des Zimmers stand. Leise begann ich zu reden: »Marc, ich war furchtbar traurig, als ich gemerkt habe, dass du nicht mehr da warst. Ich hatte wahnsinnige Angst... Weißt du was, Marc, Shirley hat sich in mich verliebt... Sie hat mir erzählt, dass sie sich vor zwei Jahren in ein Mädchen namens Julie verliebt hatte, das vor einem Jahr an einer Überdosis Heroin starb. Shirley war danach sehr traurig. In dem Moment, wo sie es mir erzählt hat, bist du auf dem Balkon erschienen. Natürlich wusste ich nicht, was ich in diesem Moment machen sollte.«

Marc sagte kein einziges Wort dazu, doch war hörbar ruhiger geworden. Er hörte mir genau zu. »War doch eine dumme Situation«, erklärte ich weiter. Dann schwieg ich für ein paar Minuten. Keiner von uns beiden sprach auch nur ein Wort. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können.

»Und was dann?« fragte Marc schließlich ganz leise, hatte dabei seinen Blick noch immer von mir abgewendet. »Liebst du sie auch?« Wenn ich eines gelernt hatte, dann war es, wann immer mir das möglich war, die Wahrheit zu sagen, und so hielt ich es auch in diesem Falle: »Ich habe ihr gesagt, dass sie ein tolles, gutaussehendes Mädchen ist, und dass sie, wenn ich dich niemals kennengelernt hätte, der erste und einzige Mensch gewesen wäre, in den ich mich hätte verlieben können. Ich weiß nicht genau, was ich für sie empfinde, Marc, aber in einem Punkt bin ich mir ganz sicher. Keine Gefühle könnten jemals stärker sein, als ich sie für dich empfinde. Du weißt ganz genau, dass ich ohne dich niemals leben könnte. Und da kann niemand etwas ändern. Marc, ich liebe dich so sehr.« Jetzt konnte auch ich die Tränen nicht mehr halten. Sie flossen mir literweise über die Wangen. Marc stand auf und kam zu mir herüber. Er legte sich direkt neben mich und drückte sich ganz fest an mich heran. Lächelnd gab er mir einen dicken Kuss auf die rechte Wange. Das tat so unsagbar gut, so unsagbar gut!

Als wir am nächsten Morgen beim Frühstück saßen, welches wir auf unserem Zimmer einnahmen, herrschte zunächst eine Totenstille. Dann schließlich fasste sich Marc ein Herz und fragte mich: »Und? Wirst du sie wiedersehen?« Ich war gerade mit dem Studium der Morgenzeitung beschäftigt, allerdings nur mit halber Konzentration, denn die ganze Zeit schon war ich mit Gedanken beim gestrigen Abend und überlegte, wie ich das Gespräch beginnen konnte. Langsam erhob ich meinen Kopf und schaute Marc mit unsicherem Blick an: »Du meinst Shirley?«

Marc nickte mit bitterer Mine. Einen Augenblick dachte ich angestrengt darüber nach, was ich ihm denn antworten sollte. Eigentlich war ich mir der Antwort selbst nicht sicher. Was sollte ich verdammt noch einmal tun?! Shirley tat mir leid und ich konnte sie doch nicht einfach so zurücklassen. Andererseits war Marc doch das Wichtigste, was es für mich auf der Welt gab, und ich wollte ihm nicht wehtun, was angesichts seines Gesundheitszustandes auch nicht unbedingt förderlich gewesen wäre. Oh verdammt, was sollte ich nur tun?

Schließlich meinte ich zu ihm: »Marc, ehrlich gesagt, kann ich dir nur schlecht eine Antwort geben. Ich mache dir einen Vorschlag. Entscheide du, was ich machen soll.« Marcs Blick verriet mir, dass ich ihn mit diesen Worten verwirrt hatte, also fuhr ich gleich fort: »Egal, was auch immer ist, ich möchte dich auf keinen Fall in irgendeiner Weise enttäuschen. Das wäre das Schlimmste, was es für mich geben könnte. Du weißt genau, oder solltest es zumindest wissen, dass es nichts auf der Welt gibt, was mir so wichtig ist wie du. Mir tut Shirley leid. Sie hat keine Freunde. Ich habe es bestimmt nicht gewollt, dass sie sich in mich verliebt, und wenn ich ehrlich bin, dann kann ich es noch nicht einmal verstehen, wie sie sich in mich verlieben konnte. Aber ich muss zugeben, dass es mir auch etwas schmeichelt«, ich musste dabei ein bisschen lächeln, weil ich das nicht gerne zugab. »Wenn du möchtest, dann werde ich Shirley nicht wiedersehen. Aber vielleicht wäre es möglich, dass wir beide, du und ich, mit Shirley reden?«

Marc war am Grübeln. Ihm war die Situation genauso unangenehm wie mir selbst. »Daniel«, sagte er schließlich, »ich möchte mich bei dir entschuldigen.« Völlig überrascht und voller Verwunderung sah ich ihn an: »Für was möchtest du dich denn entschuldigen?!« - »Es tut mir leid Daniel«, erklärte Marc, »es tut mir leid, dass ich auch nur den geringsten Zweifel an dir hatte. Ich war schrecklich `eiersüffig´. Aber ich hätte wissen müssen, wie du zu mir stehst.«

Ich sah ihn ratlos an: »Eifersucht kann auch eine Art der Liebeserklärung sein. Du brauchst dich also nicht im Geringsten zu entschuldigen. Mir tut es leid, dass ich nicht rechtzeitig bemerkt hatte, worauf Shirleys Reaktionen hinausgingen.«

»Du solltest noch einmal mit ihr reden, Daniel«, meinte Marc selbstsicher, »sie ist ein nettes Mädchen, und ich kann ihr ganz bestimmt nicht verdenken, dass sie sich in dich verliebt hat.« - »Wann wollen wir denn zu ihr gehen?« fragte ich. »Nicht wir«, erklärte Marc, »ich glaube, dass es ihr nicht recht wäre, wenn ich mitkomme. Du solltest allein gehen.«

Eine halbe Stunde nach dem Frühstück ging ich allein nach unten ins Foyer. Marc wollte sich noch einmal hinlegen. Ich ging zum Telefon und wählte bedächtig Shirleys Nummer. Zunächst war ein anderer am Apparat. Schließlich kam Shirley an den Hörer: »Ja?« - »Ich bin's Daniel«, sagte ich vorsichtig. »Daniel!« ihre Stimme klang freudig und ängstlich zugleich. »Ich glaube«, fuhr ich fort, »dass wir uns noch einmal in aller Ruhe unterhalten sollten. Gestern ging alles drunter und drüber.« - »Ja«, meinte Shirley, »ich habe mich lächerlich benommen!« - »Nein«, erwiderte ich, »das ganz bestimmt nicht.« Dann war Funkstille. Nach einem Augenblick des Warten, fragte ich noch einmal nach: »Bist doch noch da?« - »Ja«, flüsterte Shirley mir vom anderen Ende der Leitung zu, »könnt ihr, du und Marc, heute Abend noch einmal zu mir kommen?« »Sicher können wir das«, erklärte ich. Wir verabredeten uns für 19, pardon 7 Uhr p.m., denn wir waren ja in Australien.

Nach dem Telefongespräch ging ich noch ein wenig am Circular Quay spazieren. Die Geschichte des vergangenen Abends ließ mir keine Ruhe. Ich überlegte, wie ich Shirley helfen konnte. Sicher, ich konnte ihre Liebe nicht erwidern, und Marc und ich würden auch schon bald wieder zurück nach Europa fliegen, aber vielleicht konnte ich ihr wenigstens etwas Zuversicht für die Zukunft geben.

Ich muss ganz schön in Gedanken gewesen sein, denn plötzlich war ich wieder in der George Street. Dort schlenderte ich eine ganze Weile umher, musterte die Auslagen der Schaufenster und machte dann noch ein paar Besorgungen.

Etwa drei Stunden später tauchte ich wieder im Hotelzimmer auf. Marc schlief noch. Ich nahm mir einen Stuhl, setzte mich direkt vor sein Bett und, so banal es sich auch anhören mag, ich sah Marc beim Schlafen zu. Er sah so niedlich aus, so niedlich wie immer.

»Was machst du da?« Marc hatte die Augen aufgeschlagen und sah mich gähnend an. »Nichts Besonderes. Da das Fernsehprogramm auch sehr ermüdend ist, habe ich mir gedacht, kann ich mir gleich einen schlafenden Marc ansehen«, meinte ich. »Und war's interessant?« wollte Marc augenreibend wissen. »Ja«, erklärte ich, »Das beste Programm, das ich seit langem gesehen habe! Kommt gleich nach dem Testbild!«

Marc verzog den linken Mundwinkel und die Augenbrauen nach oben: »Freut mich, dass es dir gefallen hat!« Er rutschte ein Stück zurück und forderte mich, indem er mit der linken Hand auf das Bett tatschte, dazu auf, mich zu ihm aufs Bett zu setzen. Dieser Einladung kam ich gerne nach und nahm Platz. Augenzwinkernd sah ich ihm ins Gesicht. Marc blickte mich schelmisch an.

Mit dem Zeigefinger meiner rechten Hand berührte ich sanft seine Nasenspitze: »Na, haben wir gut geschlafen?« - »Was heißt hier wir? Geschlafen habe ja wohl nur ich. Du hast dich nur lustig darüber gemacht und mir zugesehen!« nörgelte Marc. »Hey!« meinte ich. »Ich habe mich gar nicht lustig gemacht. Ich sehe dir einfach gerne zu, egal was du machst!« Marc verzog das Gesicht: »Dann kann ich ja froh sein, dass du mir bisher noch nicht auf die Toilette gefolgt bist.« - »Stimmt«, erkannte ich lachend, »aber das ist deine Schuld, weil du immer abschließen musst! Aber im Ernst! Shirley hat uns beide für heute Abend eingeladen.« - »Uns beide?« wollte Marc wissen. »Jup, uns beide!« bestätigte ich ihm noch einmal. »Shirley hat ausdrücklich gesagt, dass sie uns beide einladen möchte. Außerdem: Das wäre für Dich viel zu langweilig hier. Und für mich ohne Dich sowieso.« - »Sehr witzig«, feixte Marc. »Das ist mein absoluter Ernst!« erklärte ich. »Wer ist Ernst?« wollte Marc belustigt wissen. »Oh, das ist mein heimlicher Freund!« bekundete ich. Marc versetzte mir mit seinem Zeigefinger einen kräftigen Stoß in die Rippen. »Aua!« rief ich ganz laut, »Das machst du nicht noch einmal. Sonst...« »Was sonst!?« grinste Marc. »Sonst werde ich dich... einfach... durchkitzeln!« erklärte ich und fing auch schon gleichzeitig damit an. Ich wusste doch wie kitzlig Marc war. Besonders kitzlig war er unter den Armen und in der Magengegend. Und ich muss gestehen, dass ich mein Wissen diesbezüglich gerne ausnutzte. Marc rief immer wieder lachend: »Aufhören! Aufhören, ich ergebe mich!« - »Piekst du mir noch einmal in die Rippen?« fragte ich, ihn dabei noch immer kitzelnd. »Nein, nie mehr«, lachte Marc. »Wirst du, wenn ich aufhöre, alles machen, was ich sage?« fragte ich. »Nein!« meinte Marc schon mit Lachtränen in den Augen. »Wirklich nicht?« fragte ich nach. »Nein!« rief er noch einmal. Ich kitzelte noch fester: »Absolut sicher?« - »Schon gut, schon gut«, rief Marc, »Ich gebe auf!« - »Dein Glück!« feixte ich und stellte meine Folter ein.

Brummelnd meinte Marc: »Das war unfair!« - »Mag sein«, gab ich zu, »Aber du hast trotzdem zugestimmt!« - »Schon gut«, sagte er, »ein Marc steht zu seinem Wort! Was soll ich für dich tun?« - »Hm, mal überlegen«, machte ich. Aber mir wollte auf die Schnelle nichts Passendes einfallen. »Sagen wir«, erklärte ich, »ich hab' einfach etwas gut bei dir.«

Als das Taxi vor der Villa, Shirleys Domizil, vorfuhr, spürte ich ein tiefes Unbehagen in meinem Innersten. Die Geschichte mit Shirley hatte einen üblen Beigeschmack. Die Geschichte war mehr als nur kompliziert. Womöglich wäre es wirklich besser gewesen, die Sache auf sich beruhen zu lassen und nicht noch einmal nachzuhaken. Aber Shirley tat mir unheimlich leid, so konnte ich sie einfach nicht zurücklassen. Und ich war mir sicher, dass Marc ähnliche Gefühle hatte. Ein so herzensguter Mensch wie er nun einmal war, konnte gar nicht anders als Mitgefühl in solch einer Situation zu haben. Dafür liebte ich ihn.

Auf unser Läuten hin öffnete uns der griesgrämig dreinschauende Butler, den wir ja schon vom Vorabend her kannten, die Tür. Wieder nahm er uns musternd unter Augenschein und meinte schließlich: »Miß Buchanan erwartet sie bereits. Wenn sie mir bitte ins Arbeitszimmer folgen wollen.« Wie ein übergroßer Pinguin watschelte er vor uns her und brachte uns in einen großen Raum, der mit Tausenden von Büchern ausgestattet war. Würde sicher ein ganzes Menschenleben in Anspruch nehmen, die alle zu lesen, dachte ich so bei mir.

»Miß Buchanan, die beiden Herren, die sie erwartet haben«, kündigte er uns an.

»Ach, da seid ihr ja«, begrüßte uns Shirley mit einem feuchten Händedruck. Es war deutlich zu erkennen, dass sie mit ihrem Lächeln die Unsicherheit zu überspielten versuchte.

Auf einem antiken Sofa nahmen Marc und ich Platz. Shirley rückte sich einen Stuhl heran. »Freut mich, dass ihr gekommen seid«, meinte sie. »Es war uns ein Bedürfnis«, erklärte ich. »Marc, ich möchte dir sagen, dass es mir wirklich sehr Leid tut. Ich habe mich unmöglich benommen. Du sollst wissen, dass ich dich mag. Ich wollte dir nicht wehtun. Plötzlich waren die Gefühle für Daniel da. Es war erst zum zweiten Mal in meinem Leben, dass ich mich in einen Menschen verliebt habe. Ich konnte einfach nicht mehr kontrollieren, was ich tat. Das ist keine Entschuldigung. Natürlich hätte ich nicht versuchen dürfen... Ich habe gedacht, dass Daniel ähnliche Gefühle mir gegenüber haben könnte... Es...weißt du... ich kann... jedenfalls habe ich erkennen müssen, dass er anscheinend süchtig nach Dir ist, Marc - wohl leider eine unheilbare Krankheit«, lächelte Shirley. »Ich wusste ja nicht«, grinste Marc, »dass Daniel so schwer krank ist. Aber hoffentlich wird nie ein Gegenmittel dafür entdeckt!« Shirley lachte: »Bestimmt nicht, das Mittel müsste zu stark sein.«

Ich war zunächst wohl eher als eine Art unbeteiligter Beobachter im Raum. Shirley und Marc unterhielten sich eine ganze Weile über mich, ohne mich dabei auch nur mit einem Blick zu würdigen. Das machte mich fast wahnsinnig, aber ich wollte die beiden auch nicht unbedingt unterbrechen, sprachen sie doch in den höchsten Tönen über mich. Hatten die denn vergessen, dass das Objekt ihres Gespräches anwesend war?! Meine Gesichtsfarbe dürfte in diesem Momente der einer überreifen Tomate geglichen haben, wobei ich nicht hätte sagen können, ob es eher die Wut über das Ignorieren meiner Anwesenheit oder eher die Lobeshymnen über meine Person waren, welche diese gesunde Gesichtsfärbung mit sich zogen. Um mich abzulenken, begann ich die Bücher in den Regalen zu zählen. Und ich kam sage und schreibe bis Buch 2586, bis ich unterbrochen wurde: »Daniel, möchtest du auch etwas trinken, hat dich Shirley eben gefragt«, machte mich Marc aufmerksam. »Oh, Sorry. Ich habe gerade die ganzen Bücher bewundert. Hast du die schon alle gelesen?« erkundigte ich mich. »Natürlich nicht«, meinte Shirley, »die Bibliothek ist von meinem Vater, dessen Vater, Großvater und Urgroßvater zusammengetragen worden. Wenn ich zehn dieser Bücher in meinem Leben gelesen habe, dann ist das schon viel. Ich lese zwar auch, aber doch eher modernere Literatur. Diese ollen Schinken interessieren mich wenig.« - »Darf ich mal schauen?«, fragte ich neugierig, »Ich interessiere mich sehr für Antiquare Bücher.«

»Tu dir keinen Zwang an«, forderte mich Shirley auf. Ein wahres Paradies tat sich vor mir auf. Hier in diesem Raum befanden sich praktisch die ganzen Klassiker der Weltliteratur. Auch viele Fachbücher waren dabei, sogar der olle Freud war vertreten, über dessen Theorien ich schon früher mit einem Schmunzeln reagierte. Na ja, manche seiner Theorien entbehrten nicht einer gewissen Logik, doch man sollte sie auch nicht allzu ernst nehmen. Das war zumindest meine Meinung. Was sahen meine entzündeten Augen: »Wow! Mann, ihr habt ja eine Jules Verne-Originalausgabe! Schau mal, Marc.« Marc stand auf, um das Buch in Augenschein zu nehmen.» Shirley schien nicht richtig zu begreifen, was für ein Glücksgefühl das für mich war. Eine Jules Verne-Originalausgabe, das war für mich unglaublich. Marc staunte auch nicht schlecht: «Haue haue, die muss Millionen wert sein!» - «Jetzt übertreib' mal nicht», meinte ich, «aber in der Tat ist das ein kleines Vermögen. So ein Buch ist eigentlich unbezahlbar.» Shirley ließ sowohl Jules Verne, als auch der Wert des Buches vollkommen kalt. Kohle hatte sie ja auch genug, und wenn sie sich nicht für Kulturgeschichte interessierte, dann war es auch nicht weiter verwunderlich, dass sie gelassen reagierte. Aber sie ließ Marc und mich eine ganze Weile herumstöbern. Alte Bücher hatten irgendwie schon immer eine ganz besondere Wirkung auf mich. Sie erzählen eine Geschichte, und damit meine ich nicht die Geschichten, die in den Büchern stehen, sondern die Geschichten derjenigen Personen, welche die Bücher irgendwann einmal in den Händen hielten und gelesen haben. Eine phantastische Vorstellung, dass ein Mensch vor hundert Jahren im Scheine einer Kerze genau über dieselben Zeilen geflogen ist und bestimmte Emotionen dabei hatte. Waren es womöglich die gleichen Gefühle, wie ich sie dann beim Lesen hatte? Für manche Menschen sind alte Bücher nur irgendwelcher Schrott ohne Wert, für mich eben eine kleine Welt für sich. Stundenlang hätte ich stöbern können, aber plötzlich fiel mir ein, dass das ja unhöflich von uns war, so schnappte ich mir Marc und wir setzten uns wieder. Shirley drückte auf einen Knopf, worauf kurze Zeit später der Butler erschien und Kaffee und Kuchen servierte.

»Dumme Situation«, meinte Marc schmatzend, wobei ihm ein paar Kuchenkrümel entkamen, »Sorry, ich weiß, mit vollem Munde spricht man nicht!« Shirley grinste. Auch ich musste lächeln, denn Marc sah so unbeholfen dabei aus. Marc machte gute Mine zum bösen Spiel und setzte ebenfalls ein Lächeln auf.

Shirley sah Marc mit starrem Blick an und beobachtete ihn eine ganze Weile. Marc war eine so genaue Observation inzwischen gewohnt, hatte ich es mir doch schon zur festen Angewohnheit gemacht ihn ständig anzustarren. Sicher war Shirleys Blick nicht mit dem meinigen vergleichbar, vermute ich jedenfalls, denn mir selbst konnte ich ja noch nie beim Beobachten ins Gesicht sehen, aber ihr Blick erinnerte mich eher an den eines neugierigen Kindes, das gerade eben etwas Neues entdeckt hat und dies nun genauestens unter die Lupe nimmt. Nahezu stillschweigend taten wir uns so an Kaffee und Kuchen gütlich.

Marc bekam von den Blicken Shirleys nicht viel mit. Er war zu sehr auf den Kuchen fixiert, der ihm zu munden schien. Klar, war ja auch etwas Süßes. Genau das richtige für mein Süßmaul.

Nachdem alles aufgemampft war, sogar das Anstandsstück hatte Marc auf Shirleys Geheis verschnabulustiert, schaute Shirley zu mir herüber und meinte nachdenklich: »Also irgendwie kann ich euch schon verstehen.« - »Wie meinst du das?« wollte ich von ihr wissen. »Dass Marc dich liebt, konnte ich schon von Anfang an verstehen. Du bist der erste Junge, in den ich mich auf Anhieb verliebt habe. Du bist einfach unglaublich. Aber...« Shirley kniff die Augen für einen Augenblick zu, suchte so wohl genügend Konzentration, »...aber ich lag fast die ganze Nacht wach und habe über die Geschichte nachgedacht. Ich muss gestehen, dass ich dich, Marc, sehr beneidet habe, tue ich auch jetzt noch. Ich fand euch beide auf Anhieb nett, doch irgendwie wusste ich nicht, warum Daniel dich so sehr liebt. Das ist nicht gegen dich gemeint, wenn ich das sage, vermutlich lag es an meinen Gefühlen für ihn, warum ich mir das nicht erklären konnte...« Shirley schaute hinüber zu Marc: »Aber jetzt glaube ich in deinen Augen gesehen zu haben, warum das so ist. Auch du bist etwas ganz Besonderes, Marc. Ihr beide seid die ungewöhnlichsten Menschen, die mir in meinem ganzen Leben begegnet sind. Ja, ich beneide euch um eure Liebe. Und ich glaube, jetzt, in diesem Moment, bin ich auch in der Lage sie euch zu gönnen.«

Wir waren beide ganz Ohr, doch keiner von uns beiden war in der Lage etwas zu sagen, und sei es nur der Grund gewesen, Shirley nicht unterbrechen zu wollen, die fortfuhr, sich auf diese Art und Weise einiges von der Seele zu reden: »Es gibt dumme Menschen, die euch eure Liebe nicht gönnen werden. Das aber sicher aus anderen Gründen, als jene, welche ich hatte. Auch wenn ich im Moment sehr verzweifelt bin, denn meine Gefühle zu dir Daniel sind riesengroß, so gibt mir der Gedanke, dass irgendwo auf der Welt auch ein Daniel oder Marc auf mich warten wird, doch eine gewisse, wenn auch bescheidene Art des Trostes.«

Shirley hatte Tränen in den Augen. Ich bewunderte ihren Mut. So offen zu sprechen, dazu gehörte davon eine ganze Portion. Ich weiß nicht, ob ich das geschafft hätte vor einer Person, die ich erst seit so kurzer Zeit kannte. Marc sah Shirley mitleidig an, stand schließlich auf und ging zu ihr hinüber. Neben ihrem Stuhl ging er in die Hocke und gab ihr ein Taschentuch, welches er aus seiner Hosentasche zog. Vorsichtig streichelte er über Shirleys Wangen. Hinter den Tränen erschien ein Lächeln. Ja, so kannte ich meinen Marc, er zauberte ein Lächeln auf Shirleys Gesicht. Selbst wenn ihr nicht nach Lächeln zumute gewesen sein mochte, sie konnte einfach nicht anders. Das war eine besondere Gabe, die Marc da hatte: Menschen zum Lächeln zu bringen, das vermag, weiß Gott, nicht jeder!

Als wir nach fünf Stunden, es war schon nach Mitternacht, Shirley verließen, war Shirley schon wieder besserer Laune. Wie es in ihr aussah, ging keinen etwas an. Ich konnte nur hoffen, dass sie es verkraften konnte. Da war ich mir eigentlich auch sicher, hatte ich doch schon immer Probleme damit, verstehen zu können, wie sich ein solcher Engel wie Marc in mich verlieben konnte, so konnte ich es auch hier nicht begreifen. Also sah ich es für sie auch nicht als schwierig an, mich vergessen zu können. Sie sah das vielleicht anders, aber wenn es in meiner Macht stünde, hätte ich nachgeholfen. Bei Marc hoffte ich jedoch, dass dies nie der Fall sein würde, und war mir dessen mittlerweile auch sicher.

Dies war unsere letzte Begegnung mit Shirley, zumindest was unsere Zeit in Australien betrifft. Wir hatten Shirley unsere Adresse, Telefon- und Faxnummer gegeben. Besonders vom Fax sollten wir noch regen Gebrauch machen. Sehr oft kommunizierten wir über diese tolle Errungenschaft des 20. Jahrhunderts. Irgendwann, es war einige Monate später, schrieb sie uns, dass sie einen netten Jungen Namens Greg kennen gelernt hätte. Ein halbes Jahr später war Hochzeit. Wir waren auch eingeladen und flogen erneut über den großen Teich, um bei Shirleys großer Stunde dabei zu sein. Sie war eine sehr schöne Braut, ja, eine sehr schöne Braut. Ihr Vater bescherte ihr die wahrste Traumhochzeit. Wir selbst wurden in einem weißen Rolls vom Flughafen abgeholt.

Es war einige Wochen nach unserer Rückkehr aus Australien. Ich dachte schon nicht mehr viel über die Geschichte mit Shirley nach, und hatte auch den Eindruck, daß Marc nicht mehr allzuoft darüber nachgrübeln würde. Doch eines Morgens sollte ich erkennen können, daß dem doch nicht so war. Wie für Gewöhnlich genoß ich es sonntags morgens noch ein paar Stunden im Bett liegen zu bleiben, und mich dabei so richtig ins Bett hineinzukuscheln. Für gewöhnlich kuschelte ich dann nicht nur mit der Bettdecke allein, sondern irgendwann verspürte dann auch Marc das starke Bedürfnis auf eine gewisse Nähe und rückte noch etwas näher. Eigentlich war das schon eine feste Tradition, allerdings eine, welche nicht nur aus Gewohnheit beibehalten wurde. Überhaupt war bei uns nichts einfach nur Gewohnheit. Alles was wir taten war irgendwie auch Spaß haben. Selbst Dinge, die wir nicht so gerne taten, wurden durch die Gemeinsamkeit erträglich und man konnte auf diese Art und Weise jeder Sache seine gewissen Reize abgewinnen.

Nun, an jenem Sonntagmorgen, aber war es anders. Statt sich an mich anzuschmiegen, bekam ich plötzlich eine Frage gestellt. Eine Frage, mit der ich nie im Leben gerechnet hätte, und wobei ich auch davon ausgegangen war, daß Marc noch im Land der Träume wandeln würde.

»Daniel«, sagte er leise, » glaubst du an Schicksal?« Ich überlegte, verstand aber nicht, worauf er hinaus wollte: »Wie meinst du das?« Einen Augenblick herrschte Schweigen, bevor Marc mit unsicherer Stimme zu erklären versuchte: »Ich habe mir schon oft überlegt,.....wie kann es sein, daß wir....... Daniel, würdest du nicht lieber manchmal mit einem Mädchen, z.B. Shirley zusammensein? Vermißt du nicht irgendetwas?« Ich mußte tief Schlucken. Darüber hatte ich mir noch nie irgendwelche Gedanken gemacht. Eigentlich stand es für mich außer Zweifel, daß ich in Marc das größtmögliche Glück gefunden hatte, welches es überhaupt für mich geben konnte. Und dennoch wollte ich ihm seine Frage nicht leichtfertig beantworten. Würde, könnte ich überhaupt, jemals so etwas vermissen? Meine normale, spontane Reaktion wäre gewesen, mich zu erheben, mich über ihn zu beugen, ihm tief in die Augen zu sehen und zu erklären, daß er doch der einzige Mensch für mich war und sich das nie ändern könnte. Doch ich erkannte, daß diese Reaktion ein gerade in der Entstehung befindendes Gespräch abrupt beendet hätte. Und dieses Gespräch war vielleicht nötig, nötig um uns beiden noch mehr Klarheit über unsere Gefühle füreinander zu geben, denn hinter Marcs Frage steckte mehr, wie seine Einleitung, von wegen `Schicksal´, vermuten lies.

»Shirley?« meinte ich vorsichtig, »Shirley ist ein wunderbarer Mensch. Aber nein, ich hätte mir nicht vorstellen können, daß sie immer an meiner Seite ist.« »Warum nicht?« Marc war sehr verwundert über meine Bemerkung. Ich stockte, konnte nicht richtig erklären, wie ich es gemeint hatte: »Es gibt viele Arten von positiven Gefühlen, die man für einen anderen Menschen haben kann. Ich will gar nicht behaupten, daß ich mich nicht hätte in Shirley verlieben können. Irgendwie war da mehr, mehr als ich bisher für irgendein Mädchen empfunden habe. Doch...« Ich sprach nicht weiter. Alles war so verwirrend für mich. »Doch was?« wollte Marc nun wissen. Ich suchte nach Worten, die ausdrücken konnten, was ich fühlte, was sich in mir tat: »Doch es hätte nicht so werden können, wie es sein sollte.« »Wie soll es denn sein?« erkundigte sich Marc. »Liebe ist für mich die größte Sache der Welt. Aber Lieben bedeutet mehr als das was die meisten Menschen darunter verstehen. Es gibt Liebe und Liebe. Man kann sich sehr oft im Leben verlieben, aber ich glaube, daß es nur ein einziges Mal im Leben die wahre Liebe geben kann« erklärte ich vorsichtig. Marc war noch stiller geworden. Hätte man sein leises Atmen nicht vernehmen können, so hätte man denken können, daß er den Raum zwischenzeitlich verlassen hätte.

»Darf ich dich etwas fragen?« wollte Marc von mir wissen. »Selbstverständlich Marc. Du weißt doch, daß du mich alles fragen darfst«, entgegnete ich ihm. Seltsame Frage, dachte ich so bei mir. Seit wann muß er um Erlaubnis fragen, ob er mir eine Frage stellen darf? Also erwartete ich nun eine recht ungewöhnliche, sonderbare Frage, vielleicht etwas ganz Intimes. Doch was konnte das sein? Marc und ich kannten uns in und auswendig, dachte ich jedenfalls. Wir hatten nie, zu keinem Zeitpunkt, irgendwelche Geheimnisse voreinander. Was also konnte es geben, für das er mich zu fragen, um Erlaubnis bitten zu müssen glaubte?

Marc druckste noch etwas herum, meinte dann schließlich: »Wir kennen uns nun seit meinem 13., bzw. deinem 14. Lebensjahr. Über etwas haben wir uns nie unterhalten. Damals, als ich aus dem Koma erwacht bin, hast du mir zum ersten Mal von deinen Gefühlen für mich erzählt. Da wohnten wir schon eine ganze Weil zusammen. Wir haben aber eigentlich nie darüber gesprochen, wie unsere Gefühle die Jahre zuvor waren...« Ich wollte etwas sagen, doch Marc wollte sich nicht unterbrechen lassen, »Mit meinen 13 Jahren damals, wußte ich noch nichts von Liebe. Liebe bedeutete für mich das Gefühl, welches ich für meine Eltern empfand. Als ich dich damals auf der Geburtstagsparty kennenlernte, da war da ein seltsames, eigenartiges Gefühl. Von Anfang an fühlte ich eine ganz besondere Bindung. Ich war total traurig, als der Tag vorbei war. In den darauffolgenden Tagen habe ich immer wieder an dich gedacht. Ich habe ein paar Tage mit niemand anderem spielen können, weil ich mich einfach auf nichts richtig konzentrieren konnte. Als ich dann einige Zeit später erfahren habe, daß wir in eure Stadt ziehen würden, war ich ganz aus dem Häuschen. Mutter meinte ja, daß ich jetzt viel mit Cousin Martin zusammensein könnte, doch daran habe ich gar nicht gedacht. Ich dachte gleich an dich. Der Tag mit dir zusammen, auf der Geburtstagsfeier, hatte mir soviel bedeutet. Ich wußte nicht genau wie mir geschah. Irgendwie glaubte ich, daß ich nicht empfinden darf, wie ich es tat. Ich versuchte mir einzureden, daß ich dich einfach gerne als Freund, als Kumpel hätte. Doch ich empfand mehr als nur das. Schon damals war mir irgendwie klar, daß ich dich liebe. Das hätte ich dir freilich nie sagen können. Auch mir selbst gegenüber versuchte ich die Gedanken zu verdrängen«

Marc hatte seinen Vortrag beendet. Stillschweigend lagen wir da, bis ich schließlich begann das Ganze von meiner Warte aus zu erzählen: »Du hast vorher etwas von Schicksal gesagt!? Ja, ich glaube so etwas gibt es. Man sagt, daß jeder Topf sein Deckelchen finden würde. Sicher gibt es viele Deckel, die auf einen Topf passen können, doch es gibt nicht viele, die wirklich richtig passen, so sehr passen, daß sie ein optimales Gespann bilden. Und irgendwie fühlt man es, wenn einem der Mensch begegnet, mit dem man ein solch optimales Gespann bilden kann. Oft ist es so im Leben, das man dieses Gefühl erst nicht wahrnehmen kann oder will, aber im Grunde genommen, ist es da. Ich konnte lange nicht sagen, daß es so ist, aber es war schon von Anfang an so, daß ich dieses Gefühl für dich hatte.«

Für einige Minuten herrschte Funkstille. Wir lagen nah beieinander, die Köpfte dicht beisammen und starrten beide nachdenklich Richtung Decke. Meine Gedanken gingen in alle mögliche Richtungen. Ich überlegte, was Marc gerade für sich denken würde. Sicher war auch in seinem Kopf alles am rotieren.

»Daniel«, meinte Marc ganz leise, »hast du dir schon einmal vorgestellt mit einem Mädchen...«

»Was meinst du?« fragte ich verwundert zurück, zwar wissend was er mit diesem unvollständigen Satz fragen wollte, aber doch mit einer gewissen Vorsicht, ihn nicht falsch verstanden zu haben.

»Ich meine«, kam es sehr zaghaft aus seinem Munde, »Ich meine, ob du dir schon einmal vorgestellt hast, mit einem Mädchen gewisse Dinge zu tun, mit ihr zu schlafen?«

Ich räusperte mich. Marc fasste dieses Zögern wohl so auf, dass er etwas falsches gefragt haben musste: »Das hätte ich wohl besser nicht fragen sollen!?«

»Unsinn Marc«, belehrte ich ihn, »Hör' zu, es gibt absolut nichts, was du mich nicht fragen kannst. Ich gebe allerdings zu, dass es schon eine etwas plötzliche Frage ist.«

Für ein paar Sekunden herrschte wieder diese unheimliche Stille, bis ich mich endlich zu einer Antwort durchgerungen hatte: »Erinnerst du dich an Anja?«

»Anja?« fragte Marc nachdenklich, »welche Anja meinst du denn?«

»Die aus unserer Klasse«, erklärte ich.

»Ja, an die kann ich mich erinnern«, bestätigte Marc.

»Es gab eine Zeit«, erzählte ich, »da fand ich sie unheimlich toll. Ihre Art war faszinierend. Und wenn ich ehrlich bin, dann habe ich mir schon manchmal gewisse Dinge mit ihr vorgestellt. Es war in dem Alter, wo ich noch nicht so viel Ahnung von gewissen natürlichen Vorkommnissen bei Jungen ab einem bestimmten Alter wußte. Und so bereitete mir der Gedanke an sie meine allererste morgendliche Überraschung, nachdem ich aufgewacht war. Du weißt schon, von welcher Bescherung ich spreche!?« Als ich das erzählte musste ich irgendwie lachen. Ich hörte, dass auch Marc kichern musste. Ich sah kurz zur Seite um einen Blick seines Lachens zu erhaschen.

»Und sonst?« Marc wollte noch mehr wissen

»Du meinst, ob ich noch mehr Mädchen bewundert habe?«

»Ja!«

Ich überlegte: »Sicher habe ich manchmal überlegt, wie wohl dieses oder jenes Mädchen unbekleidet aussehen würde.«

Marc grinste und meinte mit schelmischen Unterton: »Du Lustmolch!«

»Hm«, machte ich, »Jetzt tu' bloß nicht so unschuldig. Was ist eigentlich mit dir?«

»Also Daniel«, tat Marc ganz entrüstet und grinste dabei noch etwas toller, »Ich schwöre dir, dass ich mir nie vorgestellt habe, wie Anja nackend aussieht.«

»Very Funny«, lachte ich, »Ich wollte es auch nicht wissen, wie du es bei Anja gehalten hast, sondern ganz allgemein!«

»Mann, dass du immer alles ganz genau wissen möchtest«, nörgelte Marc lachend, »Ja gut, ich habe mir auch schon manchmal solche Dinge vorgestellt.«

»Und mit welchem Resultat?« fragte ich neugierig.

»Mit welchem Resultat!?« stieß Marc aus, »Dass es einen Schlag getan hat und alle standen wirklich nackt vor mir!...Mensch, Daniel, du kannst Fragen stellen. Natürlich kein weiteres Resultat!«

Ich blickte scharf zu ihm rüber: »Sag' mal mein lieber Marc, bist du so unschuldig, oder tust du nur so!?«

»Natürlich bin ich so unschuldig. Du weißt doch, ich kann kein Wässerchen trüben, habe nie schmutzige Gedanken und bin einfach die Unschuld in Person«, prustete Marc los und hatte Mühe dabei ernst zu bleiben.

»Klar, stimmt ja. Ich bin ja der einzige mit schmutzigen Gedanken bei uns«, frohlockte ich.

»Gut, dass du das zugibst«, meinte Marc und sah mich dabei spitzbübig an.

»Nein, mein lieber Marc, aus der Geschichte kommst du jetzt nicht raus!« drohte ich Marc mit einem Lächeln im Gesicht, »Du hast damit angefangen und jetzt will ich es auch ganz genau wissen. Mit `Resultat´ habe ich gemeint, ob sich an einer gewissen Stelle bei Dir, etwas bei dem Gedanken gerührt hat. Marc, hattest du dabei einen Steifen?«

»Oh«, kickste Marc, »ich hatte als Kind öfters mal einen steifen Hals!«

Ich schmunzelte: »Aha, sonst nichts Steifes bei dir?«

Marc fand die Fassung wieder und wurde ernster: »Doch, Daniel, doch. Natürlich hatte das auch gewisse Auswirkungen auf den kleinen Marc vom kleinen Marc.«

»Und wann hast du gewusst, dass du lieber Jungs magst?« erkundigte ich mich.

»Meinst du `gewusst´, `geahnt´ oder `mir selbst eingestanden´?« fragte Marc zurück.

»Ist das ein Unterschied?«

»Ja, schon!« meinte er, »Geahnt habe ich es sicher schon als ich zehn oder elf war. Eigentlich war es so, dass ich schon früh mehr auch auf Jungs geachtet habe. Aber ich habe mir versucht einzureden, dass ich lieber Mädchen mögen würde. Und ein Wenig gelang mir das auch. Irgendwie gewusst, aber mir noch nicht eingestanden, habe ich es wohl, als wir beide uns damals am Bahnhof voneinander verabschiedet haben, vielleicht auch schon an dem Tag, als wir uns kennenlernten. Aber so genau lässt sich das nicht mehr ausmachen. Eingestanden habe ich es mir erst als wir beide schon zusammen lebten und...nein, ich kann es dir genau sagen, wann ich es mir richtig eingestanden habe. Es war im Park, als wir auf der Parkbank saßen. Da wurde mir vollkommen klar, dass du derjenige bist, den ich wirklich liebe.«

Ich schluckte tief. Meine Gedanken gingen zurück. Ich versuchte mich zu erinnern, was ich damals auf der Parkbank empfand. Dann wiederum fiel mir ein, dass ich ja erst richtig über meine innersten Gefühle für Marc klar wurde, als er hilflos für lange Zeit im Koma lag. Doch gewisse Gefühle hatte ich auch schon damals, wenn ich mich richtig zurück erinnere. Da war doch etwas? - Ja, jetzt erinnerte ich mich wieder.

»Schön, nicht wahr«, Marc hielt sein Ohr in Richtung Lautsprecher, aus denen Elvis `Sentelmental Me´ erklang. Ich nickte zustimmend.

Es war ein paar Tage nach unserem Campaufenthalt. Die Schule hatte gerade wieder begonnen. Die erste Woche neigte sich dem Ende. Wie üblich trafen wir uns gleich nach der Schule bei mir, um gemeinsam die Hausaufgaben zu machen und anschließend zusammen noch ein Wenig Musik zu hören. Und diesmal sollte sogar ein besonderes Wochenende sein. Marc sollte zum ersten Mal bei mir übernachten. Seine Eltern waren zu Bekannten nach Frankreich gefahren. Wir konnten damals noch nicht wissen, dass dieser Besuch der Eltern in Frankreich auch das Ende unserer damaligen gemeinsamen Zeit bedeuten würde. Wie sich später herausstellen sollte, diente dieser Besuch dazu, die letzten Details für einen Umzug von Marcs Familie nach Frankreich vorzubereiten. Hätten wir es gewusst, so wäre vielleicht einiges an jenem Wochenende anders abgelaufen.

»Ich könnte Elvis wirklich stundenlang zuhören«, schwärmte Marc. »Ja, wirklich unglaublich seine Stimme«, stimmte ich zu.

Es klopfte an die Tür. Herein kam meine Mutter: »Na, habt ihr es euch schon gemütlich gemacht!? Wann sollen wir denn das Gästebett aufschlagen?«

Ich schaute auf die Uhr: »Es ist doch erst 19 Uhr.«

»Ich schlage vor«, meinte meine Mutter, »dass wir es nach dem Nachtessen machen. Das steht übrigens in einer halben Stunde auf dem Tisch. Es gibt belegte Brote. Danach könnt ihr dann machen was ihr wollt. Wie ich euch kenne, werdet ihr bestimmt die halbe Nacht durchmachen!?«

Das taten wir dann auch. Es war schon kurz vor Mitternacht. Leise lief noch immer der CD-Player. Wir saßen beide auf unseren Betten und hatten uns schon in unsere Schlafanzüge geworfen. Das heißt, ich trug einen Schlafanzug mit langen Hosen, denke ich zumindest mal, weil ich eigentlich immer solche Schlafanzüge trug und Marc, ja...Marc hatte ein blau/weiß gestreiftes T-Shirt an und dazu trug er passende Shorts.

»Willst du noch'n Keks?« fragte ich Marc. »Ja, schmeiß' mal rüber«, blödelte er. Ich hielt mich dran und schon kam die ganze Packung geflogen. Leider war Marc nicht so gut im Fangen, so dass die sie auf dem Bett landete und dort auseinander brach.

»Hey, hey«, lachte Marc, »So war das aber nicht gemeint. Jetzt habe ich lauter Kekskrümel im Bett!«

»Halb so wild«, antwortete ich, stand auf und begann in Marcs Bett Kekse aufzulesen.

Marc schaute mir zu, wie ich die Kekse aufsammelte. Schelmisch lachte er mich an. Ich ging in die Hocke vor seinem Bett. Nach Keks Nummer Acht ging mein Blick hinauf zu ihm, der noch immer auf der Bettkante saß und mir schelmisch bei meiner Sammelarbeit zusah.

»Hebst du mal bitte dein Bein«, meinte ich zu ihm, »da liegt noch ein Keks«. Marc tat wie ihm geheißen und lupfte sein linkes Bein. Ich griff darunter, es war ein seltsames, aber sehr angenehmes Gefühl für mich, und kniff ihm sanft in seinen Allerwertesten.

»Aua«, machte Marc, was aber erkennbar kein Schmerzens-, sondern ein Pflichtschrei war.

»Würdest du dir freundlicher Weise die Mühe machen mit auf Kekssuche zu gehen«, fragt ich Marc ganz höflich, der sich schließlich dazu aufraffte, auch vor seinem Bett kniend auf die Suche nach den `berüchtigten´ Keksen zu gehen.

Wir knieten dicht nebeneinander und duckten uns nur so zum Spaß, als würden auf dem Bett Feinde auf uns lauern. Nur unsere Augen lunsten über die Bettkante.

»Feinde sind umzingelt«, machte ich. »Keine Gefangenen!« meinte Marc. Wir beide schnappten uns jeweils einen Keks von der Bettdecke und stopften ihn uns in den Mund. »Hm«, machte Marc, »Das war ein Schokokeks.« »Hey«, maulte ich, »Ich hatte nur einen gewöhnlichen Butterkeks!« »Tja«, stellte Marc fest, »Jeder so wie er es verdient.« »Pah«, machte ich, »das werde ich mir merken.« »Okay«, nickte Marc, griff zu und steckte mir einen dicken Schokokeks zwischen die Zähne.

»Jawohl«, meinte ich schmatzend, »so lobe ich mir das.« Ich griff nach einem Krokantplätzchen und schob es Marc in seinen weit aufgesperrten Mund. Wir drehten uns um und ließen uns vor dem Bett nach unten gleiten, beide mit halbgefüllten Mündern.

»Hm, Krokant«, machte Marc, »Ich liebe Krokant! So lässt es sich leben!«

Wir beide schauten uns an und lachten.

»Moment!« rief Marc, »Nicht bewegen!« Ich blieb ganz still sitzen. Marc nahm seinen rechten Zeigefinger und strich damit über meine linke Backe. »Schokoreste«, stellte er fest und schleckte sich dabei den Finger ab. »Hey«, nörgelte ich, »Die gehörten aber mir!« »P.G.«, erklärte Marc, »Pech gehabt!« Er schnappte sich einen Schokokeks, wohlbemerkt den letzten Schokokeks, den ich auf dem Bett ausmachen konnte, und legte diesen vorsichtig auf seinen rechten Oberschenkel. »Tja, wer kriegt nun den allerletzten leckeren Schokokeks«, grinste er, streckte seinen Oberkörper nach oben und verschränkte seine Arme hinter seinem Kopf. Dabei sah er mich grinsend an.

Ich zog die Augenbrauen nach oben. Marc sah pfeifend zur Seite, mir damit signalisierend, dass ich mir diesen letzten Schokokeks verdient hatte. Vorsichtig griff ich nach dem Keks. Die Schokolade war schon etwas weich geworden und so hinterließ sie auf Marcs Schenkel einen Schokorand. Marc sah mich abwartend an, ganz gespannt darauf, wie ich nun reagieren würde.

Vorsichtig nahm ich meinen Zeigefinger und strich damit über Marcs Schenkel, holte mir die Schokoreste und schleckte danach genüsslich meinen Finger ab.

»Puh, jetzt bin ich satt«, machte ich. »Ich auch«, erklärte Marc.

Wir beide alberten noch eine Weile herum, bis wir schließlich das Licht löschten und uns schlafen legten.

Für mich war das damals nur ein Scherz...Oder vielleicht empfand ich damals doch schon etwas mehr dabei. Jedenfalls vergaß ich diese Begebenheit bis zu eben jenem Moment, wo Marc und ich über solche Dinge redeten. Vermutlich wollte ich es damals einfach vergessen, weil ich Angst davor hatte mehr empfunden zu haben, als vielleicht zu diesem Zeitpunkt gut gewesen wäre.

»Daniel, was ist los?« Marc hatte sich über mich gebeugt, »Träumst du?«

»Ich musste gerade an etwas denken«, erklärte ich.

»Und an was?« wollte Marc von mir wissen.

»Damals, nach dem Feriencamp, als du bei mir übernachtet hast...«

»Du meinst die Schokoladenkekse?« unterbrach mich Marc.

»Du erinnerst dich?« fragte ich erstaunt.

Marc feixte: »Natürlich, du Krümelmonster! Oder was denkst du, was mir all die Jahre ganz besonders in Erinnerung blieb! Mann, das war damals eine ganz besondere Nacht für mich. Vermutlich hast du es gar nicht bemerkt. Nein, ganz sicher hast du es nicht bemerkt, denn du hast gleich gepennt, nachdem wir das Licht gelöscht hatten. Ich war fast die ganze Nacht wach gelegen und habe nachgedacht. Und auch am Morgen war ich schon früh wach. Die ersten Sonnenstrahlen fielen bereits ins Zimmer. Du hattest dich umgedreht. Pah, und du hast mir dein blankes Hinterteil entgegengestreckt. Und wenn ich `blankes´ sage, dann meine ich es auch so, denn die Hose deines Schlafanzuges war ein Wenig verrutscht.«

»Ich gehe davon aus«, sagte ich und sah Marc dabei ganz streng an, »dass du vor Scham schnell weggeguckt hast, wie es ein anständiger 13jähriger Junge so tut!?«

»Klar doch«, erklärte Marc, »Ich habe ganz schnell weggeguckt ... nach 20 Minuten, als du aufgewacht bist!«

»Wüstling!« rief ich lachend, »Und mit so etwas lebt man zusammen in einer Wohnung!«

Die Zeit zusammen mit Marc verging wie im Fluge. Mit Marc an meiner Seite kostete ich jeden Augenblick voll aus. Die Tage kamen und gingen. Jeder Moment ein neuer Höhepunkt. Trotz der Krankheit schienen wir das Glück gepachtet zu haben. Liebe macht jede Krankheit bedeutungslos. Auch wenn man manchmal einen Gedanken daran verschwendet, dass doch alles so schnell vorbei sein könnte... Und Marc ging es gut. Von seiner Krankheit war nicht mehr viel zu erkennen.

Womit auch immer ich das Glück verdient hatte, Marc bei mir zu haben, ich war zutiefst dankbar dafür. Nie, auch nicht eine einzige Sekunde, wurden wir des anderen überdrüssig. Streitereien, sicher, es gab auch manchmal kleine Sticheleien oder dergleichen, doch auch dies konnte uns nie etwas anhaben, eher das Gegenteil, hinterher war die Versöhnung umso schöner.

»Hast du schon irgendwelche Vorbereitungen für's Fest getroffen?« erkundigte sich Marc ein paar Tage vor Weihnachten, während wir gemütlich beim Frühstück saßen. Bedächtig auf meinem Marmeladebrot herumkauend, antwortete ich mit vollem Munde: »Nein, eigentlich noch nicht.«

Das dritte Weihnachtsfest mit Marc stand bevor. Es sollte ein ganz Besonderes für uns werden. Im Vorjahr konnte einfach nicht die richtige Feststimmung aufkommen. Ein Tag vor dem Fest bekam ich höllische Zahnschmerzen. Trotz Behandlung spürte ich noch ein paar Tage die Nachwirkungen. So war das Fest im Eimer. Ein Grund mehr für uns, das nun bevorstehende Weihnachtsfest so richtig auszukosten.

»Wie würdest du denn gerne die Tage verbringen?« fragte ich ihn. »Hauptsache mit dir zusammen«, grinste Marc.

Ich kratzte mich hinterm Ohrläppchen. Ich fürchte, dass wir an einem der beiden Weihnachtsfeiertage meine Eltern besuchen müssen. Marc sah mich freundlich an: »So schlimm ist das nun auch wieder nicht.«

»Wie wäre es, wenn ich meine Eltern anrufe und frage, ob wir den Heiligabend bei ihnen verbringen können. Dann könnten wir am 1. Weihnachtsfeiertag wieder aufbrechen und es uns dann in irgendeinem Hotel gemütlich machen.« - »Hört sich nicht schlecht an«, nahm Marc meinen Vorschlag an.

Ich verabredete mit meinen Eltern, dass wir am 24. zu ihnen kommen würden. Wir wollten bis 18 Uhr bei ihnen eintreffen.

Zum ersten Mal seit Jahren würde es auch wieder weiße Weihnachten geben. Am 22. Dezember fing es an zu schneien und hörte praktisch nicht mehr auf. Überall wohin das Auge schauen konnte, lag die weiße Pracht. Hier in Berlin hatte der Schneeräumdienst zumindest in den wichtigsten Straßen für freie Fahrbahn gesorgt. Das würde freilich nicht auf der ganzen Strecke so sein. Schon deshalb entschlossen wir uns zwei Stunden früher als eigentlich nötig aufzubrechen, damit wir auch pünktlich ankommen würden.

»Hast du alles eingepackt?« erkundigte sich Marc noch einmal bei mir, als ich ins Auto einstieg. Er selbst saß bereits seit gut 15 Minuten im Wagen, weil er wohl befürchtete, dass ich ohne ihn hätte losfahren können.

»Ja, ich habe alles eingepackt. Ja, ich habe die Checkliste, die Du gemacht hast, dreimal durchgesehen. Schrecklich, wenn du drei Tage Zeit hast«, erklärte ich. »Wieso ist das schrecklich?« wollte Marc wissen. »Weil du dann auf solche genialen Ideen wie diese Checkliste kommst.« Marc grinste verschmitzt. »Und«, setzte ich fort, »Ich habe sogar an etwas gedacht, was du auf der Liste vergessen hattest.« - »Ich hab' was vergessen?« wunderte sich Marc. »Ja, ich habe auch noch dein Quietscheentchen mit eingepackt«, frohlockte ich. Marc war bemüht möglichst beleidigt zu wirken, was ihm aber - wie fast immer - nicht gelang. Immer wenn er ein griesgrämiges Gesicht machen wollte, endete es letztendlich dann doch wieder mit seinem lieblichen Lächeln, das darunter hervortrat.

Ich setzte das Auto in Bewegung. Kaum waren wir ein paar hundert Meter gefahren, konnte Marc sich die Frage nicht verkneifen: »Hast du auch die Tasche mit den Hausschuhen eingeladen?« - »Ja, das habe ich«, bestätigte ich. Das ging für vier Minuten gut, bis er schließlich wissen wollte: »Und hast du auch den Föhn?« - »Klar habe ich auch deinen heißgeliebten Föhn«, lächelte ich ihn an. Seitdem seine Haare wieder gewachsen waren, gehörte es zu Marc Lieblingsbeschäftigungen, sich jeden Tag die Haare ausgiebig zu waschen und zu föhnen. `Ausgiebig´ bedeutete in diesem Falle, dass er Stunden im Bad damit zubrachte seine wiedererlangte Haarpracht zu pflegen.

»Hast du auch die Lebensmittel eingepackt?« wurde ich gefragt. »Klar habe ich auch die Lebensmittel eingepackt«, bestätigte ich. »Ich möchte nur wissen, für was wir so viele Lebensmittel im Gepäck mitschleppen müssen!« - »Man kann nie wissen. Wenn wir morgen und übermorgen im Hotel übernachten, und vielleicht haben die nicht genug da!« - »Nicht genug da!?« platzte es aus mir heraus. »Wir haben genug dabei um eine Fußballmannschaft für eine ganze Woche zu verköstigen!«

Irgendwann, so nach einer Stunde, hatte Marc dann die Sorgen über Bord geworfen und nun stand das bevorstehende Fest im Vordergrund.

Seit über zwei Jahren hatte ich meine Eltern nicht mehr gesehen. Wir telefonierten ab und zu miteinander. Unser letztes Zusammentreffen war, als ich ihnen von unserer Beziehung erzählte. Ob Mutter inzwischen ihre Meinung geändert hätte? Am Telefon kam so etwas ja nicht so gut herüber. Da konnte man Menschen eher etwas vormachen. Aber von Angesicht zu Angesicht war das anders. Hier konnte man an den Blicken sehr viel mehr erkennen.

»Ist es deinen Eltern überhaupt recht, wenn ich mit ihnen Heilig' Abend zusammen verbringe? Da ist man doch am liebsten mit der eigenen Familie zusammen?« stellte Marc in den Raum. Verwundert, wandte sich mein Blick für einen Augenblick von der Fahrbahn ab und richtete sich auf Marc: »Sonst geht es dir noch gut?! Ob es meine Eltern, oder sagen wir besser meiner Mutter, Recht ist oder nicht, Du gehörst doch zur Familie!«

Je weiter wir von zu Hause wegkamen, desto schlechter wurde die Wegstrecke. »Ich glaube, ich kenne eine Abkürzung«, meinte ich und fuhr von der Autobahn herunter.» «Sollten wir nicht lieber die normale Route nehmen?» warf Marc seine Bedenken ein. Doch ich war mir meiner Sache sicher, dadurch etliches an Strecke einsparen zu können. Vermutlich hätte ich bei besserer Wetterlage damit sogar Recht gehabt, nur wäre es Angesichts des starken Schneefalles wirklich ratsam gewesen, auf der normalen Strecke weiter zu fahren. Hier fuhren nur sehr wenige Autos. Und je weiter wir kamen, desto weniger Autos wurden es. Schließlich hatten wir schon seit einigen Minuten kein einziges anderes Auto mehr gesehen. Ich begann immer mehr an meinem tollen Abkürzungsplan zu zweifeln. Verdammt, Marc hatte mit seinen Einwänden recht gehabt. Aber umkehren und die ganze Strecke zurückfahren? Der Schnee fiel immer dichter. Sicher hätten wir inzwischen auch in dieser Richtung wenig Erfolg gehabt. Der Wischer bewegte sich so schnell hin und her wie es nur ging, aber trotzdem waren die Schneeflocken schneller. Die Sicht war, ja eigentlich würde ich sagen, dass sie nicht vorhanden war. Da halfen auch die Nebelscheinwerfer nichts. Ich atmete auf, als ich eine kleine Hütte am Straßenrand entdeckte. Viel weiter wären wir vermutlich nicht gekommen. Es wäre weder vorwärts noch rückwärts gegangen.

Wir stiegen aus, um zu sehen, ob die Hütte bewohnt sei. Wie wir erkennen konnten, war zumindest keiner zu Hause. Sicher war es so eine Art Wochenendhütte. Marc sah mich streng an. Ihm war sicher nicht wohl in seiner Haut. Mir war es mindestens genauso unangenehm. Was sollten wir tun? Hier draußen war es eiskalt. Sollten wir den Heilig' Abend etwa im Auto verbringen? Kein schöner Gedanke. Und meine Eltern warteten auf uns. Ich konnte es nicht ändern. Daran änderten auch die Selbstvorwürfe, die ich mir machte, nicht viel.

»Moment mal«, rief Marc und verschwand kurz, während ich im Auto wartete. »Hab' ihn!«, hörte ich ihn rufen. Marc hielt einen Schlüssel in der Hand. »Wo hast du den denn her?« wollte ich wissen. Er erklärte mir, dass ihn die meisten Leute entweder unter einem Fußabstreifer oder sonst wo direkt an der Tür verstecken würden. In diesem Falle habe er daneben in einer Nische gesteckt. Gab es etwas, was Marc nicht wußte, dachte ich so bei mir.

Die Einrichtung der Holzhütte war zwar nicht unbedingt königlich, doch recht gemütlich. Sie war durch einen Kamin beheizbar. An den Wänden hingen einige Geweihe. Strom gab es freilich keinen und auch kein fließendes Wasser. Aber es gab einen Tisch mit Stühlen und einen uralten Kohleofen. Vor dem Kamin lag ein großer ovaler Teppich, auf dem ein Schaukelstuhl stand. Es war sogar noch Holz da. Wir konnten uns also ein Feuerchen im Kamin entfachen und es uns so gemütlich machen. Sicher es war nicht gerade die feine englische Art, es sich in einer fremden Behausung gemütlich zu machen, aber wir würden uns schon erkenntlich zeigen. Schon gleich zog ich ein paar größere Scheine aus meiner Tasche und pinnte sie mit einer Sicherheitsnadel aus unserem Notfallset, das wir dank Marc immer mit uns führten, von innen an die Tür. Dazu schrieb ich ein paar Sätze der Entschuldigung, wo ich unsere Lage beschrieb. So fühlten wir uns schon gleich wohler in unserer Haut.

In einer Truhe fanden wir ein paar Kerzen. Marc zündete das Feuer im Kamin an, während ich die Taschen aus dem Auto holte, das schon ziemlich eingeschneit war. Jetzt war ich doch froh, dass Marc unbedingt so viel mitnehmen wollte. Mit den vielen Lebensmitteln hätten wir tatsächlich einige Zeit überleben können. Ein Festmahl würde es zwar nicht unbedingt ergeben, aber irgendetwas würde Marc schon daraus zaubern. Daran zweifelte ich nicht einen Augenblick.

Tatsächlich gelang es uns auch, den Kohleofen zum Glühen zu bringen. Inzwischen war es schon Abend geworden. Ma und Pa würden sich sicher Gedanken um uns machen, und das am Heilig' Abend - kein schöner Gedanke. Doch Marc und mir blieb nur, das Beste aus unserer Situation zu machen. Und ich vertraute auf den kühlen Kopf meines Vaters. Sicher würde er vermuten, dass wir irgendwo stecken geblieben seien. Zumindest redete ich mir das ein, um nicht zu sehr in Gedanken zu versinken, denn ich hatte mir geschworen, dass Marc und ich feiern würden.

Marc fand im Vorratsschrank eine Flasche mit Olivenöl und ein paar Gewürze. Aus den mitgebrachten Kartoffelchips und einer Dose mit mexikanischem Gemüse zauberte er eine zwar ungewöhnliche, aber doch essbare Mahlzeit. Eigentlich schmeckte es so, wie er es zubereitete, nicht einmal so übel. Das Wichtigste war ja ohnehin, dass wir beide zusammen waren.

Nach dem Essen stellte Marc den mitgebrachten Kassettenrecorder ein. Weihnachtliche Musik vervollständigte das Ambiente. Wir machten es uns auf dem Teppich vor dem Kamin mit einem Glas Sekt gemütlich. Kalt genug war er ja, im Gegenteil, wir mussten aufpassen, dass er nicht gefror. Aber hier vor dem offenen Kamin war es richtig mollig warm.

»Weißt du was, Daniel«, sagte Marc, »auch wenn die Situation an sich nicht zum Jubeln ist, ich glaube, das ist das schönste Fest, das ich bisher hatte.« Ich lächelte ihn zustimmend an.

Nach einer Weile fiel Marc ein: »Oh, das Geschenk. Ich habe doch noch ein Geschenk für dich!« Er lief zu einer Reisetasche und kramte ein Geschenkpäckchen hervor, das er mir freudestrahlend überreichte. Vorsichtig und sehr erwartungsvoll öffnete ich das Präsent. »Mann, eine neue Kamera!« strahlte ich. »Vollautomatik mit vier Motivprogrammen, präzise 6-Zonen-Belichtungsmessung, 3 AF-Sensoren«, erklärte mir Marc.

Natürlich musste ich die Kamera sofort ausprobieren, und da ich mein Lieblingsmotiv zufällig bei mir hatte, legte ich sofort los und lichtete Marc mehrfach ab. Wir lachten viel und hatten unseren Spaß dabei.

»Komm setz dich wieder neben mich, forderte Marc mich auf, der im Schneidersitz vor dem Kamin Platz genommen hatte. «Moment», meinte ich und zog ein kleines Geschenkpäckchen aus meiner Reisetasche. Ich nahm neben Marc Platz, sah ihm ganz tief in die Augen. Marc entfernte das Geschenkpapier. Ein kleines schwarzes Etui kam darunter zum Vorschein. Er schaute mich erwartungsvoll an. Ich sagte kein einziges Wort und blickte ihm nur ganz tief in seine hübschen Augen. Vorsichtig öffnete er den Deckel, verharrte regungslos in der Bewegung. Ich rückte ganz nahe an ihn heran, flüsterte ihm leise zu: «Marc, ich liebe dich. Lange habe ich überlegt, wie ich es am Besten zum Ausdruck bringen kann. Dann habe ich diese beiden Ringe gekauft.»

Es waren zwei goldene Ringe. Ich hatte unsere Namen und das Datum unseren Kennenlernens eingravieren lassen. Ich nahm einen der Ringe und steckte ihn Marc an seinen Finger. Mit Tränen in den Augen sah er mich ganz verliebt dabei an. Er nahm den anderen Ring und tat es mir gleich. Jetzt war es offiziell, Marc und ich gehörten zusammen. Daran konnte es auch nach außen hin nicht mehr den geringsten Zweifel geben. Hier und jetzt dokumentierten wir unsere Zusammengehörigkeit. Es war ein wahrhaft großartiger Moment, vielleicht einer der schönsten Momente unseres Lebens. Die Zukunft lag vor uns, eine gemeinsame Zukunft. Zwar würde es noch ein paar Jahre dauern, bis man definitiv sagen konnte, dass Marc...nein, dass wir Marcs Krankheit endgültig besiegt hatten, doch daran bestand für mich nicht der geringste Zweifel. Marc und ich würden noch viele Jahre zusammen verbringen können. Davon war ich damals überzeugt und bin es auch noch heute.

Seit dem Tag in der Hütte sind inzwischen vier Jahre vergangen, vier wundervolle Jahre. Sicher, es gab auch trübe Stunden, doch wenn zwei Menschen sich richtig lieben, dann kann einem einfach nichts etwas anhaben. Jeder Tag mit Marc ist auch heute noch wie ein Geschenk für mich. Oft liege ich nachts im Bett wach und denke darüber nach, welches Glück mir doch mit Marc vergönnt ist. - Lieben bedeutet, es zu akzeptieren, gemeinsam älter zu werden und es genießen zu können.

Viele Menschen können und wollen unsere Art der Liebe nicht begreifen. Sicher ist, dass wir miteinander glücklich sind. Vielleicht sind wir glücklicher als viele dieser Menschen, die das nicht wahrhaben wollen. Oft wird uns zum Vorwurf gemacht, dass man nicht ständig »Liebe leben« könne. Ich für meinen Teil spüre es einfach, ganz tief in mir. Warum soll man nicht das leben was man fühlt. Traurige Zeiten gibt es auch. Auch die spüre ich, ganz tief in mir drin. So trivial es auch klingen mag, auch diese Gefühle verdienen es ausgiebig und intensiv gefühlt zu werden. Wenn man jemanden hat, der mit einem fühlt, dann können auch solche Gefühle etwas Positives in einem wecken. Nur wenn man sich gegenseitig wichtiger ist, als alles andere, wichtiger als man selbst, wichtiger als wenn das Dach über einem einstürzen würde, dann kann man aus allen Situationen etwas gutes gewinnen.

Das größte Kompliment welches uns jemals gemacht wurde, auch wenn es eher als Vorwurf gedacht war, war die Aussage, dass Marc und mein Leben einem »einzigen großen Disneyland« gleichen würde. Ja, mag sein, dass wir große, niemals erwachsen werdende Kinder sind. Doch, das frage ich, was ist daran verkehrt?

Gute Zeiten, schlechte Zeiten – Hauptsache man hat jemanden, der sie mit einem durchsteht. Hinter jeder ernsten Situation steckt für uns auch Freude. Und bei jeder Freude vergessen wir auch den Ernst des Lebens niemals. Wir verbinden alle Seiten des Lebens zu einer »bunten Spielwiese« für uns. Den Bolero tanzen wir gemeinsam.

Wir haben unser »Neverland« gefunden.

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