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Dienstagabend

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Dienstagabend. Ich sitze wie so oft bei meiner Tante in der Küche beim Abendbrot. Seit meine Eltern aufs Land gezogen sind und ich zum Studieren in Berlin blieb, bin ich öfter hier, jede Woche sozusagen. Mit ihr kann man über alles reden, sie ist klug und direkt. Sie war auch eine der ersten, die erfahren hat, dass ich schwul bin, damals, mit 16. Das ist jetzt vier Jahre her, und ich bin inzwischen selbst bei meiner Oma out.

Während wir reden, klingelt plötzlich das Telefon. Meine Tante nimmt ab, hört kurz zu und gibt es dann an mich weiter. „Chris, für dich“ zwinkert sie mir zu. Ich schaue verdattert den Hörer an, dann nehme ich ihn. „Ja, hallo?“ „Hallo, hier ist Dirk. Störe ich?“ ER. Meine Knie werden weich, gut, dass ich sitze! Ich schlucke, dann sage ich, so gut es geht: „Nein, gar nicht. Schön, dich zu hören!“ Meine Tante sitzt immer noch neben mir und grinst wissend. Ich mache ihr ein Zeichen. Sie steht auf und lässt mich allein. Ich könnte sie knutschen! „Chris, ich möchte dich treffen.“ Mir wird warm und kalt zugleich. „Ja, gern“, stammele ich in die Muschel. „Wann?“ „Noch diese Woche, wie wäre es am Wochenende?“ Mist, denke ich, da habe ich Dienst. „Da muss ich raus zu meinen Eltern, Orgeldienst und Chorprobe, aber wie wäre es mit Freitag?“, frage ich vorsichtig. „O.k.“, kommt es zurück, „wir haben Freitag zwar Weihnachtsfeier, aber dann gehe ich einfach etwas früher. Sagen wir, so um acht?“ Mein Magen hüpft, mein Herz auch. „Ja“, höre ich mich sagen, „ich freue mich!“ „Ich freue mich auch!“, sagt er. „Also, bis Freitag dann. Bye.“ „Bye“, sage ich, dann lege ich auf.

Meine Tante kommt herein, immer noch grinsend. „Ein Date?“, fragt sie. Ich nicke nur stumm. In meinem Bauch tanzen Schmetterlinge. ER hat wirklich angerufen! Ich kann es nicht fassen.

Freitag also. Ich bin aufgeregt wie ein Kind zu Weihnachten. Freitag.

Angefangen hat alles mit einer Kontaktanzeige. Ich war schon länger solo und fand sie witzig, also nahm ich meinen Mut zusammen und habe witzig geantwortet. Eine Woche später dann der Brief von ihm. Dass er meinen Brief toll fand und mich gern kennenlernen möchte. Bums. Ich war wie vom Donner gerührt. Dass er Banker ist, 22, dass er eine eigene Wohnung hat. Und dass ich ihm mal schreiben soll, wo er mich erreichen kann. Dienstag bei meiner Tante hab ich ihm geantwortet. Heute nun der Anruf. Bis Freitag. Ich halte es kaum aus.

Freitagabend. Um viertel vor acht stehe ich vor seiner Haustür, aufgeregt, ungewiss, hoffnungsvoll. Er ist noch nicht da, also klingele ich irgendwo und setze mich auf die Treppe vor seine Tür. Die Zeit schleicht, unendlich langsam. Fünf Minuten nach acht werde ich unruhig. Hat er mich vergessen? Will er mich doch nicht sehen? Zweifel nagen. Vielleicht ist er nur aufgehalten worden, meldet sich mein anderes Ich. Gut, sage ich mir, 15 Minuten. Nach 10 Minuten geht das Licht an und jemand kommt die Treppe rauf. Zunächst sehe ich nur einen Blondschopf mit Mantel, dann blicken mich zwei wunderschöne braune Augen fragend an „Bist du Chris?“ Ich möchte versinken und nicke nur, etwas sagen kann ich nicht. „Ist etwas später geworden, sorry, aber die haben mich nicht weggelassen“, entschuldigt er sich und blickt mich mit seinen großen Augen an. Man, ist der schön, denke ich mir. „Macht doch nichts“, sage ich, so gut ich kann. „Komm rein“, sagt er, dann schließt er die Tür auf und macht eine einladende Bewegung. Die Wohnung ist klein, aber irgendwie süß. „Sorry“, entschuldigt er sich schon wieder, „aber ich habe noch nicht aufgeräumt“, sagt er und zeigt auf einen Wäscheständer. „Macht doch nichts“, höre ich mich schon wieder sagen. Er grinst verlegen. „Ich zieh mich mal schnell um.“ „Soll ich rausgehen?“, frage ich. „Nein, bleib bitte“, sagt er und zeigt auf die Schlafcouch. Ich setze mich und schaue ihn an. Was ich sehe, gefällt mir sehr. Dann ist er fertig. „Möchtest du was trinken?“, fragt er mich. Ich nicke leicht. „Ja, gerne.“ „Ist Cola o.k.?“, fragt er und sieht mich an. „Cola ist super!“ Ich versuche ein Lächeln, er lächelt zurück. Ups, mein Magen. Ruhig Brauner, sage ich mir. Er verschwindet in der Küche und kommt kurz darauf mit zwei Gläsern zurück. Einen Moment steht er vor mir, dann setzt er sich zu mir auf die Couch und schaut mich an. „Deine Cola.“ Ich bin nicht in der Lage, etwas zu sagen. Er hält mir das Glas hin. Als ich es nehme, berühren sich unsere Hände. Ich bin wie elektrisiert. Er schaut mich immer noch an. Wie mit einem Magneten zieht es mich zu ihm. Unheimlich langsam nähern sich unsere Gesichter einander. Ich schließe die Augen, dann spüre ich seine Lippen. Plötzlich beginnt die Welt um uns zu tanzen, ich habe Mühe, mein Glas nicht fallen zu lassen. Unendlich sanft ist dieser Kuss, voller Liebe. Dann lösen wir uns. Ich öffne meine Augen und schaue direkt in die seinen. Versuche ein Lächeln. „Du“, sagt er. Ich schaue fragend. „Nochmal“, sagt er, stellt sein Glas ab, nimmt mir meines aus der Hand, legt seine Hand in meinen Nacken und zieht mich zu sich. Ich gebe mich geschlagen. Der zweite Kuss will nicht aufhören, mir wird schwindlig. Schließlich lassen wir voneinander ab, atemlos, schwerelos. Ich grinse wie ein Honigkuchenpferd, ihm geht es nicht besser. Als ich gerade etwas sagen will, klingelt es plötzlich. Seine beste Freundin. Sie bleibt an diesem Abend nicht die einzige, die mich „begutachten“ will. Ich komme mir vor wie in einem Bienenstock. Endlich, so gegen halb eins, sind alle weg. Ich bin erschossen, ihm geht es ähnlich. Er schaut mich an. Natürlich bleibe ich da. Er versteht ohne Worte. Wir legen uns auf seine Couch, küssen, schmusen. Irgendwann schlafen wir aneinandergekuschelt ein. Ich bin einfach nur glücklich und möchte ihn nie wieder loslassen. Als ich mitten in der Nacht aufwache, liegt er neben mir und atmet leise. Auch im Schlaf ist er wunderschön, denke ich. Dann schlafe ich wieder ein.

Am nächsten Morgen muss ich zeitig los, viel zu zeitig. Wir küssen uns noch mal, lang und zärtlich. Mein Körper tobt. „Ich muss jetzt leider“, sage ich noch. „Ja, ich weiß“, sagt er, dann lässt er mich kurz los. „Rufst du mich an?“ „Logo, heute Abend?“ „Super“, strahlt er, „so um sieben?“ „So um sieben“, sage ich. Noch eine Umarmung, noch ein Kuss, dann gehe ich. Auf der Treppe winke ich. Er strahlt schon wieder. Wie schön er ist, wenn er lacht, denke ich noch beim Gehen. Ich möchte platzen vor Glück, laut schreien und die Welt umarmen. Das Leben ist schön. Ich bin verliebt bis über beide Ohren. Und ich bin mir sicher, dass es nicht allein mir so geht. Die Schmetterlinge flattern wie verrückt. Noch heute werde ich es meiner Family erzählen, es ist wahrscheinlich sowieso nicht zu übersehen, wie glücklich ich bin. Ich steige in mein Auto. Es schneit leise. Bis heute Abend, mein Schatz.

Wie es weiterging mit uns? Wir haben uns fast täglich gesehen. Zwei Wochen später habe ich ihn meinen Eltern vorgestellt. Sie haben ihn gleich in ihr Herz geschlossen. Drei Wochen später bin ich bei ihm eingezogen. Sylvester haben wir uns auf der Party meiner besten Freundin verlobt, acht Jahre später haben wir geheiratet. Wir sind immer noch zusammen, und ich bin verliebt wie am ersten Tag.

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