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Growing Up

Teil 4

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Nur widerwillig lösten wir uns voneinander und Micky stand als erster auf. Er warf mir meine Klamotten zu, die doch über Nacht getrocknet waren. Zwar fühlten sie sich ein bisschen blöd an, so wie altes zerknittertes Papier, aber es würde doch gehen. Noch einmal strecken und gähnen und ich war einigermaßen wach.

Stillschweigend gingen wir hintereinander die Treppe hinunter. Naja ich humpelte noch leicht, aber mein Fuß fühlte sich schon wirklich besser an.

»So wohin jetzt?«, fragte mich Matthias, als wir wenig später vor dem Bootshaus standen.

»Ich würde gerne erst einmal zu mir und wenigstens andere Klamotten anziehen?«, schaute ich ihn fragend an.

»Ok, dann bringe ich dich erst mal zu dir und muss dann auch erst einmal zu mir, Klamotten wechseln und natürlich Schulsachen holen.«

»Blödsinn, du brauchst mich nicht zu bringen, wäre doch nur ein Umweg und vor allem zu Fuß würdest du zu lange brauchen.«

»Zu Fuß schon aber anscheinend hast du zum zweiten Mal vergessen, dass ich ein Moped habe. Zwar noch gedrosselt, aber immerhin«, und mit einer fallenden Handbewegung deutete er auf sein blau-weißes Gefährt neben dem Bootshaus. Dies war mir irgendwie nicht aufgefallen, als wir hier reingekommen sind. Wir wollten schließlich auch bloß ins Trockene.

Im selben Moment war er noch einmal ins Bootshaus gegangen, holte zwei Helme und drückte mir einen davon sanft auf den Kopf.

»So und jetzt aber ab.«

Matthias setzte sich auf sein Moped und klopfte mit der flachen Hand auf den Platz hinter sich.

»Und diesmal stellst du dich nicht so an wie gestern. Einfach an mir festhalten!«

»Ok Kleiner.« Ich setzte mich hinter ihn und umklammerte seine Brust. Er schüttelte nur leicht lachend den Kopf und fuhr los. Anscheinend war es für ihn doch erst noch eine Gewöhnungssache »Kleiner« genannt zu werden. Auch er würde es irgendwann einmal lernen und akzeptieren. Und er hat dieses auch.

So schnell es mit dem Moped ging, fuhr er aus dem Wald heraus und die Straße zu mir entlang. Es dauerte auch keine 4 Minuten und wir standen vor meiner Haustür.

»So ich werd jetzt weiter und bin in etwa 15 Minuten wieder da. Also beeil dich.«

»Ja großer Kleiner. Ich mach so schnell es geht. Also bis gleich!«

»Ich hab dich lieb«, lächelte er mich an.

»Ich dich auch.«

So fuhr er wieder an und war ein paar Momente später hinter der nächsten Ecke verschwunden.

Ich sah ihm noch ein paar Sekunden nach und kramte dann meinen Schlüssel wie in Gedanken aus meiner Hosentasche heraus, schloss auf und ging in das erste Stockwerk. In meinem Zimmer holte ich mir frische Sachen aus dem Schrank und stand nur kurze Zeit später unter der Dusche.

Das Gefühl war einfach herrlich, diese warmen Tropfen an einem herunter tropfen zu spüren. Sie liefen warm und sanft über meinen verspannten Rücken. Die Nacht auf dem harten Boden war wohl doch nicht ganz so angenehm, wie ich dachte.

Durch meinen Kopf lief der ganze gestrige Tag noch einmal von vorne ab. Und immer wieder huschte über mein Gesicht ein Lächeln, als Matthias auftauchte. Vielmehr verharrte ein Lächeln die ganze Zeit auf meinem Gesicht, denn jeder einzelne Moment erinnerte mich an ihn und daran, dass er gleich wieder vor meiner Tür stehen würde und wir zur Schule fahren würden.

Doch bei dem Gedanken an Schule durchfuhr es mich kalt. Ich zuckte zusammen und die warmen Wassertropfen verwandelten sich in heiße Nadeln, die sich in meine Haut bohrten.

Meine Stimmung war in nur wenigen Momenten, eigentlich in einem Bruchteil einer Sekunde von himmelhochjauchzend zu todbetrübt gewechselt.

Erst jetzt wird mir klar, was es eigentlich bedeutet,, schwul zu sein. Es heißt nicht allein, einfach bloß sich in einen Mann zu verlieben. Es bedeutet genauso Angst zu haben. Angst abgelehnt zu werden. Angst vor der Reaktion anderer, vor Mobbing, vor Gewalt. Davor nur noch auf das Schwulsein reduziert zu werden.

Klar, in diesem Moment und auch in der Folgezeit ging es mir vor allem um meine Homosexualität. Es war neu, es war so geheimnisvoll, so verlockend und ich musste erst mal selber damit klar kommen, was es eigentlich alles bedeutet. Die erste Zeit habe ich mich wahrscheinlich sogar selber reduziert, aber ich war dennoch ein ganzer Mensch, der nicht nur aus seiner Sexualität besteht.

Aber erst jetzt wird mir klar, dass ich dieses die ganze Zeit bei Schwulen gemacht habe und dieses jetzt selber spüren werde. Ich war bisher immer ziemlich tolerant zur Homosexualität, vielmehr akzeptierte ich es auch öffentlich bei anderen. Aber ich musste mir jetzt erst einmal klar werden, dass es genauso Menschen gibt, die dieses von vorn herein ablehnen und auch auf solche Menschen werde ich treffen.

Erst jetzt wurde mir wirklich bewusst, dass es doch noch mehr Probleme geben würde, mir schossen die Tränen in die Augen und ich sackte zusammen. Es war einfach zu viel. Ich dachte eigentlich, ich könne es wegstecken und so schlimm sei es nicht, aber die letzten 24 Stunden würden mein Leben in eine andere Richtung lenken, sie würden mein Leben in eine andere Richtung lenken. Ob diese Richtung schön würde, wird sich erst noch herausstellen.

Ich glitt entlang der Kacheln zu Boden und mir schossen die Tränen in die Augen. Mir war einfach in diesem Moment alles zu viel. Ich wusste nicht einmal mehr, wohin mit mir selbst. Zusammengekauert saß ich da, den Kopf auf die Knie gelegt. Das Wasser prasselte weiter in Strömen von oben herab und aus meinen Augen quollen die Tränen.

Wieso musste auch mir dieses geschehen? Wieso kann ich nicht wie jeder andere auch sein? Wieso muss es Matthias sein und keine Marie?

Ich weiß nicht wirklich, wie lange ich dort gesessen habe, aber irgendwann vernahm ich im Hintergrund immer wieder dieses Klingeln. Immer wieder: Ding-Dong, Ding-Dong. Lustlos raffte ich mich auf, griff mir ein Handtuch, schlang es mir um die Hüften und ging zur Tür.

Als ich sie öffnete, strahlte mich Matthias an. Die Sonne schien mir direkt ins Gesicht, aber ich konnte deutlich sein lächelndes Gesicht erfassen. Der Himmel war blau, kein Wölkchen weit und breit, der erste wirkliche Sommertag, aber irgendwie wollte diese Stimmung nicht auf mich übergreifen. Es wollte einfach nicht.

»Hallo Kleiner!«, raunte mir Matthias sanft entgegen. Doch es fühlte sich eher wie ein Messer an, dass sich von hinten in meinen Rücken bohrte. Als er schließlich auch noch seine Hand um meine Hüften legen wollte, um mich an sich zu ziehen, platzte bei mir der Knoten. Ich wich einen Schritt zurück und schlug barsch seine Hand zurück.

»Hey was ist denn los? Habe ich etwas falsch gemacht?«

Mein Gesicht war wie versteinert. Es war keine wirkliche Regung zu verspüren. Es strahlte nur Kälte ab, keine Regung. Nur mein Mund öffnete sich und wie automatisch sagte ich nur:

»Verschwinde!«

»Wieso denn? Was habe ich getan?« Aus Matthias Strahlen war eine besorgte und ängstliche Miene geworden.

»Verschwinde einfach und lass mich in Ruhe.«

»Aber ... Aber wieso denn?« Seine Augen wurden ganz Trüb und langsam begannen die ersten Tränen zu fließen.

»Verschwinde, ich kann und will dich nicht sehen. Ich bin keine dumme Schwuchtel ...«

»Aber ... Aber ...«

»Kein Aber, verschwinde einfach.«

»Aber ...«

Ich hörte ihm jedoch nicht weiter zu. Wieso auch. Ich hatte ihm zu verstehen gegeben, dass ich keine dumme Schwuchtel war und nie eine sein werde. Ich knallte die Tür direkt vor seiner Nase zu. Vor der Tür hörte ich nur ein tiefes Schluchzen, was immer mehr zu einem großen Weinen umschlug. Aber mir war dieses in diesem Moment mehr als egal. Ich war keine Schwuchtel. Ich war keiner dieser Weicheier, die sich in Frauenklamotten hüllten und überall zeigen mussten, was sie doch für geile Tussen sind. Ich war ich, vollkommen unauffällig, vollkommen »normal«.

Ich lief in mein Zimmer und schmiss mich förmlich aufs Bett. So etwas konnte ich einfach nicht sein. Ich war keine dieser dummen Tucken. Ich will nicht so ende wie sie. Aber wieso mag ich dann Matthias, wieso zieht er mich so an? Was hat er, was zum Beispiel Sandy nicht hat? Bin ich doch bloß eine dumme Schwuchtel?

Wieder liefen mir Tränen über die Wangen und diesmal immer mehr. Ich rollte mich im Bett von einer Seite auf die andere. Hin und her und immer wieder hin und her. Immer wieder kamen mir diese blöden Gedanken. Von diesen Tucken, von diesen Klischeeschwulen. Ich wollte nicht so sein wie sie, aber ich wollte Matthias. Immer wieder mischte sich sein Gesicht mit ein, immer wieder tauchte es auf. Mal im Hintergrund und mal wieder als einziger Gedanke. Er, immer wieder er. Was hatte er so besonderes? Er war doch im Grunde bisher immer bloß einer dieser dummen Proleten gewesen. Was zog mich so an ihm an? Was zog ihn so sehr an mich an? Er war nun überhaupt nicht klischeemäßig, er war zwar laut und auffällig, aber nun wirklich nicht tuckig oder geschweige denn tuntig. Worin lag diese Faszination.

In mir kämpfte gut gegen böse. Immer wieder warf ich mich hin und her. Mal auf die rechte Seite, mal wieder auf die linke. Letztendlich war ich dann unter Tränen eingeschlafen.

Dass ich eigentlich zur Schule gemusst hätte, interessierte mich nicht. Ich wollte einfach alleine sein, von niemandem etwas hören. Einfach bloß nachdenken ...

»Hey! Micky! Aufwachen! Was ist denn los mit dir!«

Irgendwer rüttelte unsanft an meinen Schultern. Erst aus der Ferne vernahm ich diese Stimme, bis sie immer näher und auch realer klang. Langsam öffneten sich zwei kleine Schlitze, auch als meine Augen bekannt, und wurden erst mal von der Sonne geblendet, die draußen über das weite Blau des Himmels strahlte.

»Hey was ist denn mit dir los?« Erst jetzt erkannte ich, wer da vor mir saß. »Du hast ja vollkommen verheulte Augen. Was ist passiert?«, fragte mich Sandy sorgenvoll.

Irgendwie schaute ich sie wohl verwundert an. Da griff sie mich bei der Hand und schleifte mich erst mal ins Badezimmer. Sie hielt meinen Kopf direkt vor den Spiegel. Zwei blutunterlaufene Augen starrten mich an. Es war kaum noch weißes zu erkennen. Überall diese kleinen feinen roten Äderchen und auch die Pupillen standen hervor. Im ersten Moment konnte ich nicht wirklich glauben, dass ich dieses jemand war. Aber kein Zweifel.

Das Gesicht war fad und weiß, so als wenn jedes Leben aus ihm gewichen sei. Die Lippen waren rau und hell. Es wirkte so, als wenn überhaupt kein Blut mehr vorhanden war.

Ich starrte mich wohl Sekunden selber an und konnte einfach nicht begreifen, was aus mir geworden war.

Sandy zerrte mich wieder zurück in mein Zimmer, setzte mich aufs Bett und sich direkt daneben.

»Wie bist du hier überhaupt hereingekommen?«, war meine erste Frage, die irgendwie so unbedeutend zugleich war. Hauptsache man spielt nicht auf das zu erwartende Thema an.

Sandy griff in ihre Hose und fischte einen Schlüssel hervor.

»Weißt du nicht mehr? Den hast du mir vor ein paar Monaten selber gegeben, damit ich unbemerkt hereinkommen kann, so dass deine Eltern nicht immer gleich sofort wach werden.«

Ich wusste die Antwort schon, bevor sie diese überhaupt gegeben hatte. Aber es lenkte erst einmal in die falsche Richtung.

»So und nun erzähl mir, was mit Matthias und dir los ist!«

Erschrocken sah ich sie an. Konnte sie wirklich wissen, was vorgefallen ist oder was hat Matthias ihr erzählt? Sie verstand meine Frage, ohne dass ich sie wirklich aussprechen musste.

»Er hat mir nichts erzählt.« Begann sie mich aufzuklären. »Er kam heute nur mit traurigem Blick zur Schule. Er wirkte die ganze Zeit verstört und abgelenkt, so als würde er gar nicht wahrnehmen, was um ihn herum eigentlich geschieht.«

Sandy machte eine kurze Pause, um ein wenig Luft zu schnappen.

»Und da habe ich eins und eins zusammengezählt. Was ist nun zwischen euch beiden passiert?«

Ich wurde innerlich unruhig. Konnte sie wirklich ahnen, dass dort überhaupt irgendetwas gelaufen war? Ich wurde unruhig, in mir baute sich eine Spannung auf, die einfach abgebaut werden musste. Ich war wütend, ich weiß selber nicht mehr warum, aber ich sprang auf und lief im Zimmer auf und ab.

»Wieso soll ich etwas mit Matthias zu tun haben?«, brüllte ich plötzlich Sandy einfach bloß grundlos an. Ich hatte Angst. Angst davor, dass sie mich auch für schwul hält. Angst, dass sie mein kleines Geheimnis einfach so sehen konnte. Angst wirklich genauso klischeehaft zu sein, wovor ich mich doch so sehr fürchtete.

Anstatt zurückzuschrecken, ging Sandy in den Direktangriff. Sie sprang auf und sah mir direkt in die Augen. »Ich hab es nicht nötig, mich hier von dir anbrüllen zu lassen. Ich hab mir einfach sorgen um dich und Matthias gemacht. Aber anscheinend stört dich das. Also gut, dann schließ dich hier ein und versteck dich vor der Welt, aber erwarte nicht, dass dir jemand hier heraus hilft.«

Sie sah mir wütend in die Augen, sie starrte mich förmlich an und wartete auf eine Reaktion. Ihre Augen waren tief schwarz und innen sah man ein kleines Feuer. Es strahlte Wärme aus und wirkte einfach bloß ruhig und gelassen. Es stand komplett im Gegensatz zu ihrer Erscheinung, dem kalten harten Auftreten.

Dieses Feuer strahlte einfach so viel Vertrauen aus, dass ich einfach nicht mehr konnte. Aus meiner Wut wurde wieder Verzweiflung. Innerlich brach ich erneut zusammen. Die Tränen quollen wieder aus meinen Augen und ich viel ihr einfach um den Hals. Ich brauchte in diesem Moment einfach jemanden, an den ich mich stützen konnte, der mir einfach bloß bedingungslos Halt bot und Sandy war dafür die Richtige.

Schon seit dem Kindergarten war sie immer meine beste Freundin und wir waren seitdem nahezu unzertrennlich. Es gab kaum einen Tag, an dem wir nicht einfach bloß zumindest für ein paar Minuten gemeinsam unseren Träumen und Problemen nachhingen.

Bis zum heutigen Tage war ich es, der normalerweise sie in die Arme schoss und ihr einfach bloß zuhörte. Manchmal passierte es, dass sie Mitten in der Nacht heulend vor der Tür stand.

Meine Eltern waren davon nicht wirklich angetan, deswegen hat sie letztendlich auch den Schlüssel für die Haustür bekommen. So konnte sie einfach und geräuschlos direkt in mein Zimmer gelangen.

Zum Glück musste sie dieses in letzter Zeit nicht sehr oft. Sandy war so ziemlich mit allem um sich herum glücklich, zumindest seitdem sie fest vergeben war. Genauso eine lange, anstrengende Geburt. Es dauerte mehrere Monate, bis sie endlich mit ihm zusammenkam und während dieser Zeit gab es mehr als nur eine Nacht, in der sie zu mir kam, um sich auszuheulen. Es gab sogar Zeiten, da kam sie nahezu jede Nacht, weil sie einfach nicht mehr weiterwusste und einfach bloß fertig war. Aber letztendlich hatten es dann doch beide geschafft, zueinander zu finden und sich auch endlich mal zu gestehen, was sie füreinander empfinden.

Ich schwöre, wenn sich beide irgendwann einmal trennen sollten, dass ich ihnen den Kopf umdrehe. Während der ganzen Zeit habe ich so viele Nerven verloren, dass dieses durch gar nichts mehr gut zu machen ist. Und ich glaube auch nicht, dass beide irgendwie so schnell auseinander gehen würden. Ich machte mir einfach sorgen um sie und umgekehrt. Wir beide waren wie Geschwister. Wir waren auch schließlich beide Einzelkinder, vielleicht haben wir uns deshalb gefunden, vielleicht brauchten wir die Schwester beziehungsweise den Bruder.

Aber dieses wäre eine andere Geschichte.

Auf jeden Fall war es diesmal an Sandy. Es war eigentlich das erste Mal, dass sie mich tröstete. Bis zu diesem Moment war es immer ich gewesen, der zu trösten hatte. Aber ich war wirklich froh, dass Sandy da war. Weinend viel ich ihr um den Hals. Ich musste es irgendwo herauslassen. Irgendwo jemand, der einfach da ist, ohne dumm zu fragen. Einfach auch einmal abwarten kann. Und zum Glück war dieses Sandy.

Sandy hielt mich einfach die ganze Zeit im Arm und wartete hab. Sie hielt mich einfach fest, bis ich irgendwann aufhörte zu schluchzen, bis ich mich so einigermaßen wieder gefangen hatte. Es dauerte auch nicht wirklich lange, bis sie mich aufrichte und zwang in ihre Augen zu schauen.

»Nu sag schon, was ist los mit dir?«

Doch von mir gab es erst einmal keine Reaktion. Mein Kopf viel nach vorne und ich starrte den Fußboden an. Ich wollte Sandy in diesem Moment nicht in die Augen schauen. Ich weiß nicht warum, aber ich wollte ihr nicht in die Augen schauen. Sie nahm aber meinen Kopf in beide Hände und hob ihn soweit an, dass ich ihr in die Augen schauen musste.

»So und nun sag mir was los ist!«

»Ich weiß es nicht.« Kam es kaum hörbar aus meinem Mund gekrochen.

»Wie du weißt es nicht?«

»Ich weiß es einfach nicht, was soll ich sonst noch sagen?«

»Wovon sollst du denn nichts wissen und warum siehst du dann so verheult aus?«

»Ich weiß nicht.«

»Kannst du auch noch mal was anderes sagen außer ‚ich weiß nicht'?«, fuhr sie mich diesmal etwas härter an.

Ich war anscheinend in diesem Moment hypersensible, denn irgendwie schossen mir schon wieder die Tränen in die Augen und ich wusste eigentlich gar nicht warum. Man hätte zu mir sonst was sagen können und ich wäre in Tränen ausgebrochen.

»Hey nicht schon wieder weinen, es war ja nicht böse gemeint.«

»Ich weiß«, brachte ich nur unter starkem Schluchzen hervor.

»Was ist nun mit dir los?«

»Ich weiß es wirklich nicht.«

»Hat es was mit Matthias zu tun?«

Ich konnte auf die Frage einfach nur noch Nicken.

»Seid ihr also endlich zusammengekommen?«

Diese Frage traf mich wie eine Faust direkt in den Magen. Woher wusste sie dieses? Ich hab doch niemandem davon erzählt und Matthias garantiert auch nicht. Hat uns etwa jemand gesehen gehabt? Mir wurde irgendwie ziemlich übel und schwarz vor den Augen.

»Hey alles in Ordnung mit dir?«, schaute mich Sandy auch gleich sorgenvoll an. Anscheinend war ihr dieses auch gleich aufgefallen.

»Ja es geht schon. Mir ist bloß ein bisschen schlecht.«

»Ist wirklich alles ok?«, fragte sie dann auch gleich noch einmal nach.

»Ja, es geht schon …«, und im selben Moment kam mir alles hoch. Ich sprang so schnell es ging auf und rannte mit der Hand vor dem Mund ins Bad. Alles was ich noch im Körper hatte, kam mit einemmal herausgeschossen und flog darauf gleich in die Toilette. Es fühlte sich so an, als wenn sich alle Organe noch dazu den Weg ins freie suchten.

»Hey alles ok, wird schon wieder!«, und im gleichen Moment strich mir Sandy sanft über den Rücken. »Alles ok, lass einfach raus, was raus muss!«

Die Sprüche waren zwar schon zu tausende male abgegriffen, aber ich war doch mehr als froh, dass ich nicht allein da war. Einfach bloß froh, dass sie neben mir kniete.

»Alles wieder ok?«

Ich konnte nur nicken, mehr war in diesem Moment einfach nicht drin. Sandy nahm ein feuchtes Tuch und wischte mir erst einmal die Lippen ab. Ich kam mir schon irgendwie blöd vor, so hilflos vor ihr zu knien

»Schaffst du es alleine zurück in dein Zimmer?«

Ich nickte wieder bloß kurz. Sandy stand auf und ging schon mal vor. Irgendwie wirklich ein komisches Gefühl sie so umhegen zu lassen. Sonst war es wirklich immer Sandy, die betrunken von irgendeiner Party kam und nicht nach Hause konnte. Da hab ich dann diese ganze Prozedur mit ihr gemacht und jetzt auf einmal läuft es genau umgekehrt.

Mir war noch etwas schummerig. Nur langsam konnte ich aufstehen und auch meine Beine fühlten sich an wie Pudding. Schritt für Schritt schlich ich langsam in mein Zimmer zurück. Als ich am Spiegel vorbei kam und wieder einmal hineinsah, bekam ich fast einen Schreck. Ich sah schon fast aus wie der Tod. Kreidebleich. Um die Augen tiefe schwarze Ringe und die Augen selber trüb und blutunterlaufen.

»Alles in Ordnung Micky?« Was eine dumme Frage. Ich sah einfach nur beschissen aus und hab mir gerade alles aus dem Leb gekotzt und sie fragt ob alles in Ordnung sei. Natürlich war nicht alles in Ordnung. Ich war einfach bloß fertig. Ich gab gar nichts mehr von mir.

Ich schlurfte nur noch irgendwie zurück und setzte mich auf mein Bett. Ich war in diesem Moment auch nicht mehr wirklich bei mir. Nur noch durch einen trüben Schleier bekam ich noch mit, was so in etwa um mich herum geschah. Ich sah nur, wie mir Sandy die Hose auszog und mich sanft auf mein Bett zurückdrückte. Es dauerte auch nur ein paar Sekunden und ich verfiel in einen tiefen Schlaf. Ich war einfach zu erschöpft, ich konnte einfach nicht mehr. Das letzte, was ich noch bemerkte war, dass mir Sandy noch die Decke über den Körper legte.

»Hey Micky!«, schaute mich Sandy immer noch sorgenvoll an, wie ich danach das erste Mal wieder die Augen aufschlug. Von draußen platschten dicke Tropfen gegen die Fensterscheibe und immer wieder zuckten helle Blitze durch die dunkle Nacht. Die schweren schwarzen Wolken zeigten sich immer nur, wenn einmal ein Blitz zu Boden fuhr und alles erleuchtete. Nur wenige Sekunden später ertönte dann auch das Grollen.

»Na wie geht's dir? Schon besser?«

Ich nickte nur. Ich fühlte mich noch immer irgendwie matt und ausgelaugt, wie ein nasser Lappen, der über der Spüle hängt.

»Hier ist noch jemand, der dich unbedingt sehen muss und du wirst diesmal nicht einfach so die Tür zuschlagen!« Mir ahnte schon schlimmes.

Hinter ihr ging bei diesen Worten die Tür auf und Matthias kam mit gesenktem Blick herein. Es sah nicht so aus, als wenn es im wirklich gut ginge. Er wirkte eher eingeschüchtert und ängstlich. Sandy stand auf und bat ihm ihren Platz an. Irgendetwas in mir verkrampfte sich und ich lief kreidebleich an. Als Matthias schließlich das erste Mal aufsah und mein Angst und auch meine Abwehrhaltung spürte, wollte er auch gleich wieder umdrehen und zum Zimmer hinausgehen.

»Stopp, Stopp, Stopp! Du bleibst jetzt gefälligst hier und ihr beide klärt die Sache zwischen euch, oder ich bringe euch beide um! So kindisch kann sich doch kein Mensch verhalten!«

Sandy erwartete auch keine wirkliche Reaktion. Sie griff Matthias am Ärmel und zog ihn auf den Stuhl.

»So ihr beide sprecht jetzt miteinander und wenn ihr euch dabei anbrüllt. Aber schafft endlich diese lächerliche Sache aus der Welt. Eher kommt hier sowieso keiner raus.«

Diese lächerliche Sache. Haha. Wenn sie nur wüsste. Wie viel weiß sie eigentlich genau davon? Matthias hat ihr doch nicht alles brühwarm erzählt?

Die Tür flog auch nur Momente später mit einem großen Knall ins Schloss und Sandy war aus dem Zimmer verschwunden.

Matthias und ich saßen uns schweigend gegenüber. Beide mit gesenkten Köpfen. Ich konnte ihm in diesem Moment einfach nicht in die Augen schauen. Ich fixierte meine Hände an, die auf der Decke lagen. Ich bewegte sie immer hin und her und versuchte herauszufinden, wie genau meine Gelenke am kleinen Finger funktionieren. Sicherlich blöd, aber mir viel in diesem Moment einfach nichts Besseres ein. Ich musste mich irgendwie ablenken.

Wir saßen die ersten Minuten nur stillschweigend nebeneinander und schauten auf unsere Hände. Keiner traute sich etwas zu sagen, geschweige denn, sich groß zu bewegen. Jeder hörte den anderen atmen, dieses sanfte monotone Geräusch. Es wirkte teilweise krampfhaft, wie erzwungen. Am liebsten hätten wir wohl beide sogar damit aufgehört, bloß um sich ja nicht bemerkbar zu machen.

»Wie geht's dir?«, fragte Matthias dann doch als erster, aber mit kaum wahrnehmbarer Stimme. Es hörte sich eher wie ein krächzen an. Ganz heiser und tränenerstickt. Draußen regnete es noch immer noch wie in Strömen. Man hörte immer nur das Platschen gegen die Fensterscheiben. Draußen war es dunkel, nur ein paar Straßenlaternen spendeten etwas Licht, aber selbst dieses ging größtenteils im Regen unter.

Im Zimmer selbst war nur ein Deckenfluter, der genauso nur wenig Licht spendete. Es waren nur die Umrisse und wenig markante Gesichtszüge. An der Stelle seiner Augen waren nur zwei dunkle Schatten. Das Glitzern war verschwunden, dieses Funkeln, was mich so sehr anzog. Dieses Funkeln strahlte so viel Hoffnung aus, so viel Offenheit. Es war verschwunden. Er wirkte jetzt eher ängstlich und verstört. Seine Hände waren zusammengefaltet und weiß. An einigen Stellen traten sogar die Äderchen blau hervor. Sie wirkten kalt und zitterten sogar. Mit seinen Armen hatte er sich auf seinen Knien abgestützt und sein Blick fiel direkt auf den Boden. Seine Harre waren strubblig, so als wenn er die letzten Tage nicht geschlafen hätte, so als wenn er gerade erst aufgestanden wäre, ohne sich zu kämmen. Es wirkte wild, ungeordnet, aber es passte zu ihm.

»Es geht wieder so einigermaßen«, gab ich nur kurz und knapp wieder zurück. Meine Stimme klang belegt und zerbrechlich, fast schon heiser. Wieder kam dieses ewig lange Schweigen. Wir saßen einfach da und starrten irgendwo hin. Der Regen prasselte weiter gegen die Fensterscheiben. Nur die Blitze hörten auf zu Zucken und auch das Donnergrollen wurde immer leiser. Vor dem Fenster hörte man ein Auto lang rauschen, aber gleich danach herrschte wieder Stille.

»Warum hast du mir heute die Tür vor der Nase zugeschlagen?«, fragte er plötzlich mit einer etwas weinerlichen Stimme. Ich sah in diesmal direkt an. Aus den dunklen Schatten traten zwei silbern glänzende Tränen hervor.

»Ich bin nicht schwul. Ich kann einfach nicht schwul sein!«

Matthias Kopf schnellte hoch und sah mich direkt an. Seine Augen glänzten im Schein des Lichtes. Seine Augen waren rot und verquollen, aber in diesem Moment so klar und rein. Es zeigte ein Fragezeichen. Es war so deutlich, dass er es gar nicht hätte aussprechen musste, ich hätte ihm die Frage auch schon vorher stellen können.

»Warum auf einmal nicht? Was ist so schlimm daran? War es für dich abstoßend von einem Jungen berührt zu werden?« Sein Blick ruhte auf mir. Es lag so viel Angst und zugleich Hoffnung darin.

»Ich bin halt nicht so wie diese Homos. Ich spreche normal, ich trage durchschnittliche Kleidung. Ich falle nicht auf. Ich bin kein Partylöwe. Ich bin einfach ich und ich will nicht so sein wie diese Tunten. Ich kleide mich nicht gern mit Frauenkleidern. Ich kann nicht schwul sein.«

»Wieso denkst du so in Schubladen?«

Ich sah ihn nur fragend an. Wie meinte er dieses?

»Müssen bei dir Schwule immer wie dieses Klischeebild aussehen? Müssen sie alle Frauenklamotten tragen? Können sie nicht einfach bloß so sein, wie sie es bevorzugen? Können sie nicht einfach bloß durch die Gegend laufen wie durchschnittliche Menschen, ohne dabei großes Aufsehen zu erregen? Sehe ich aus wie eine Klischeetucke?«

Ich konnte einfach nur mit dem Kopf schütteln. Natürlich sah er nicht aus wie eine Tucke oder Tunte. Er war er.

»Oder sieht Sandys Bruder Ralf aus wie eine Tunte?«

Entgeistert sah ich ihn an. »Ralf ist auch schwul?«

Matthias nickte nur. Ich wollte mir in diesem Moment aber dennoch einfach nicht eingestehen, dass ich doch schwul bin. Ich verharrte einfach darauf.

»Aber ich bin nicht schwul!«

»Woher weißt du das? Was gefällt dir denn eher, von einem Jungen oder einem Mädchen berührt zu werden? Wovon träumst du? Nach wem drehst du dich am ehesten um? Nach einem Mädchen oder nach einem Jungen?«

Ich begann zu grübeln. Ich musste an letzte Nacht denke, wie schön es doch war, von Matthias einfach so gehalten zu werden. Von ihm so sanft geküsst zu werden. Es war einfach perfekt. Auch wenn ich jetzt die letzten Jahre zurückdenke oder auch jetzt daran denke, so hatten Jungen bzw. Männerkörper immer eine größere Anziehung auf mich als Frauen.

Sicherlich, Frauen beziehungsweise Mädchen waren wirklich nett und ich kam mit ihnen bestens aus, man siehe nur Sandy, aber mehr hätte ich nie gewollt. Sie zogen mich einfach nicht an. So langsam begannen bei mir die Groschen Stück für Stück zu fallen.

Ich sah ihn nur etwas verstört an. Ich brauchte keine Antwort geben. Er sah es mir an, er wusste es einfach. Aber ich wollte einfach nicht nachgeben, auch wenn mir so langsam der Stoff ausging. Ich wollte einfach nicht zugeben, dass ich schwul bin.

»Aber ich darf nicht schwul sein!«

»Wieso, wer verbietet dir dieses? Hast du Angst davor, dass dich deine Eltern vor die Tür setzen, dass sie dich nicht mehr akzeptieren? Dass sie dich verachten?«

In mir stiegen die Tränen auf. Mir wurde einfach immer bewusster, dass ich schwul bin und daran nichts ändern könne.

»Willst du dich ewig verstecken? Willst du ewig jemand anderen spielen? Willst du ewig jemand sein? Steh zu dir, zeig, dass du nicht schlecht bist, zeig, dass du stolz auf dich sein kannst! Zeig einfach, was du bist, was du sein kannst!«

Seine Stimme klang so sanft, so aufmunternd. Sie öffnete in mir eine Tür, die bis zu diesem Tage verschlossen war.

Langsam kullerten mir die Tränen über die Wangen. Ich merkte jeden einzelnen Millimeter, den sie vorankamen. Ich fühlte mich in diesem Moment so hilflos und so verletzlich wie eigentlich noch nie zuvor.

»Ich schaff das nicht alleine!«

»Musst du auch nicht. Ich steh dir immer bei. Aber erst einmal musst du zu dir selbst stehen. Musst du selber wissen, was du willst.«

Er legte seine Hand an meine Wange. Sie war warm und sanft und wischte mir vorsichtig die Tränen weg.

»Ich helfe dir gern, aber den ersten Schritt musst du machen.«

Ich zitterte am ganzen Körper. Ich war so nervös so aufgeregt und so ängstlich. Es war keine Kälte, es war einfach die Aufregung. Ich wusste nicht, wohin mit mir selbst.

»Hey alles in Ordnung?«

Matthias beugte sich über mich und schaute mir sorgenvoll direkt in die Augen.

»Du zitterst ja so. Ist dir kalt? Soll ich einen Arzt rufen?«

Im selben Moment viel bei mir der letzte Groschen. Endgültig wurde mir klar. Ich war schwul, ich bin schwul und ich werde immer schwul sein. Zudem hatte ich noch den liebsten Menschen vor mir den es gibt. Der so viel Geduld aufbringt, der mich einfach nie hängen lassen wird.

Vorsichtig legte ich meine Hand in seinen Nacken und strich sanft mit meinem Daumen über seine weiche Haut. Sie fühlte sich warm und glatt an. Von einer auf die andere Sekunde hörte ich auf zu zittern. Ich war ruhig und wusste genau, was ich wollte und was ich brauche. Und dieses war kein Arzt.

Langsam zog ich seinen Kopf immer dichter zu mir heran und gleichzeitig hob ich vorsichtig meinen Kopf. Die Kopfschmerzen waren wie auf einmal verflogen. Ich spürte keinen einzigen Schmerz mehr. Ich wollte nur noch eines spüren. Matthias!

Sanft berührten sich unsere Lippen. Sie waren warm und weich. Es fühlte sich einfach bloß traumhaft an. Ich wollte, dass dieser Kuss nie zu Ende gehen würde. Ich wollte nie wieder damit aufhören und wenn mir dabei die Luft ausginge. Sanft drang seine Zunge in meinen Mund vor und begann langsam mit meiner zu spielen.

Erst nach Minuten, für mich wirkte es eher wie Sekunden, lösten wir uns wieder voneinander und sahen uns einfach in die Augen. Für Matthias kam diese Reaktion doch etwas früh. Er hatte anscheinend nicht damit gerechnet. Er sah etwas verwirrt, aber dennoch glücklich aus. In seinen Augen war wieder dieses kleine Feuer, dieses Funkeln, was ich vorhin so vermisst habe.

»Hilf mir einfach. Zeig mir einfach den Weg!«

»Den kennst du schon. Aber ich geh ihn liebend gerne mit dir!«

Innerhalb von Bruchteilen von Sekunden, war von mir eine Last gefallen. Ich war in diesem Moment so befreit wie noch nie zuvor, ich war so glücklich wie noch nie zuvor. Ich wusste, was ich bin, was ich wollte und wie ich dieses wollte.

Auch Matthias strahlte übers breite Gesicht.

»Hey du kannst ja sogar wieder lächeln.«

»Noch viel lieber würde ich aber küssen!«

Und wieder zog ich ihn zu mir herunter und verfielen in einen gemeinsamen Rausch. In diesem Moment wollte ich ihn bloß bei mir spüren. Einfach bloß bei ihm sein. Von Matthias gehalten werden. Einfach bloß wissen, ich bin nicht allein, da ist wer, der auf mich aufpasst und nie wieder loslässt.

Wir hatten keinen Sex, wir wussten beide, dass dieses nicht der richtige Moment war, wir wollten uns einfach Zeit lassen. Keiner von uns beiden musste dieses sagen, wir wussten es einfach so. Wir schliefen nebeneinander ein. Matthias hielt mich im Arm und ich lehnte mich einfach gegen seine Brust ...

Irgendetwas stupste mich am nächsten Morgen auf die Nase. Als ich schließlich die Augen öffnete, sahen mich zwei tiefschwarze Augen ganz unbekümmert und fragend an. Doch diesmal war es nicht Matthias, diesmal war es mein kleiner Kater Mike. Er hatte den Kopf schräg gelegt und stupste immer wieder sanft mit seiner Pfote auf meine Nasenspitze.

»Morgen Miky, na auch gut geschlafen.« Und natürlich war erst mal das obligatorische Morgenkraulen dran. Mike warf sich auf den Rücken und streckte mir seinen Bauch entgegen. Kaum hatte ich angefangen ihn zu streicheln, da fing er auch schon an zu Schnurren. Und obwohl Miky knapp ein halbes Jahr alt ist, hat er dieses schon so drauf, dass er damit jeden aufwecken konnte. Es hörte sich bald schon wie ein Presslufthammer an. Naja etwas übertrieben, ich gebe es ja zu, aber dennoch so laut, dass auch Matthias wach wurde.

»Guten morgen Kleiner. Na gut geschlafen?«

»Bei dir doch immer bestens!«, lächelte er mich an und gab mir natürlich gleich darauf einen Kuss. Es dauerte aber nicht lange, bis Matthias zusammenzuckte, da ihm irgendetwas über die Hand leckte.

»Hey wer ist denn da?«

»Das ist nur Miky, der fühlt sich nur vernachlässigt.«

»Hey Katerchen. Ab jetzt musst du sowieso teilen, der hier gehört nicht mehr dir alleine, der gehört jetzt auch mir. Ab und an bekommst ihn auch noch mal.« Matthias beugte sich zum Kater herunter und begann mit ihm wie mit einem kleinen Kind zu reden. Miky hörte anscheinend ziemlich interessiert zu, aber zum Schluss holte er doch mit seiner Tatze aus und stupste auch ihn damit auf die Nasenspitze.

»Hey, das sind unfaire Mittel kleiner!«

Matthias nahm Miky in beide Hände und setzte ihn sich auf die Brust und begann ihn erst mal durch zu kraulen. Anscheinend hatte auch Miky meinen kleinen sofort liebgewonnen. Er schnurrte wie verrückt und machte sich richtig auf seiner Brust breit.

»Wie ist der überhaupt hier reingekommen?«, fiel mir erst in diesem Moment ein und als ich zur Tür sah, stand da natürlich Sandy, die uns angrinste.

»Wie hätte ich euch beide wohl sonst wachbekommen können? Ihr hättet so wahrscheinlich noch Jahrhunderte weiterschlafen können!« Wo Sandy recht hat, hat sie natürlich recht. Ich hätte noch eine halbe Ewigkeit hier so weiter liegen können, Hauptsache Matthias ist bei mir.

»Ja und? Bist ja bloß neidisch!«, und demonstrativ küsste mich Matthias in diesem Moment noch einmal richtig. Nicht bloß ein Bussi. Sondern gleich so ein Kuss, der einem den Erdboden unter den Füßen wegzieht.

»Holla, nicht gleich so stürmisch Kleiner!«, und mir gingen erst einmal die Augen über und vor allem musste ich nach Luft schnappen, als wir uns dann doch irgendwann wieder voneinander gelöst hatten.

»Wieso denn? Oh Entschuldigung ... ich ... ich ... hatte doch vergessen ... ähm ...«

»Hey ganz ruhig. Kein Problem, solange es im Moment nur Sandy ist. Der vertraue ich bis in den Tod. Da mach dir keine Sorgen!« Und wieder kamen wir uns näher, aber diesmal küsste ich ihn und zog ihm den Erdboden weg.

»Gott, da kann man ja bald wirklich eifersüchtig werden. Und passt vor allem auf, dass ihr mit eurem Schmalz nicht die ganze Wohnung verschmiert.«

»Hey! Bist ja bloß neidisch!«

»Ja vielleicht. Aber das wird sich auch gleich legen. Mein Liebster holt mich zur Schule ab!«

Und ihr entfuhr gleichzeitig ein wirklich tiefer Seufzer. »Zum Glück habt ihr es dann doch endlich einmal geschafft zusammenzukommen.«

»Wieso endlich?«, fragte ich dann doch eher etwas verdutzt.

»Naja, so wie ihr euch die letzten Tage angesehen habt, da musste man ja schon aufpassen, dass man nicht gleich mit angesteckt wird. Und Micky töte nicht gleich jeden mit Blicken, der auch nur in 2 Meter Entfernung zu Matthias steht! Und Matthias nicht eifersüchtig sein, wenn ich öfter mit ihm alleine und auch mal zutraulicher Rede, das ist normal. Ich werd ihn dir schon nicht wegnehmen!«

Irgendwie wurden wir beide auf frischer Tat ertappt und liefen somit auch gleichzeitig rot an.

»Waren wir wirklich so schlimm?«, fragt Matthias dann doch etwas ungläubig.

»Also mir ist es doch direkt aufgefallen. Ich weiß nicht wie genau andere hinschauen, aber da Micky für mich sowieso sauwichtig ist, bemerke ich natürlich so was.«

Irgendwie wurde mir bei dem Gedanken daran, dass jeder etwas hätte bemerken können, irgendwie unwohl. Heißt das jetzt, dass schon Gerüchte über uns gesponnen wurden, oder dass wir gar schon irgendwie unfreiwillig geoutet wurden? Oder ist dieses jetzt nur Angstmacherei?

Ich lief kreidebleich an und mir wurde auch im gleichen Moment wieder übel. Es war immer noch ein beängstigendes Gefühl, sich vor jedem dafür rechtfertigen zu müssen, dass ich mich in einen Jungen verliebt habe und vor allem, dass ich mich vor jedem rechtfertigen musste, dass ich, der bisher eigentlich unauffällige Schüler, so sehr von der Norm abweiche. Bei so einem guten Elternhaus und bei so einer guten Erziehung unverständlich.

Ich hatte Angst. Angst vor dieser alltäglichen Diskriminierung. Angst davor, von Leuten plötzlich schief angeschaut zu werden, mit denen ich mich vorher blendend verstand. Und natürlich bekam ich Angst vor der rechten Szene und homophoben Schlägertypen. Ich hatte niemandem etwas getan und ich will und wollte auch nicht, dass mir irgendwer etwas tut.

Schließlich wollte ich irgendwann nicht als blutiger Haufen in irgendeiner dunklen Ecke landen.

Irgendwie bekam ich ein ungutes Gefühl, wie Sandy so redete. Konnten andere wirklich sehen, dass Matthias oder ich schwul sind? Oder kann dieses nur Sandy? Ich bekam einfach bloß Angst. Angst vor dem neuen, unbekannten Leben. Angst vor mir selber, was ich selber bei anderen Leuten an Reaktionen verursachen kann. Einfach bloß dadurch, dass ich sage: »Ich bin schwul!«

»Ist dieses so offensichtlich?«, fragte ich doch immer mehr mit Angst in der Stimme und kaum noch verständlich. Sandy sah mich doch etwas erschrocken an. Anscheinend hatte sie verstanden worauf ich anspielte.

»Du hast Angst davor, wie die anderen reagieren. Nicht wahr?«, fragte sie mehr um sich zu vergewissern.

Ich konnte daraufhin nur nicken. Matthias legte vorsichtig eine Hand um meine Hüfte und zog mich zu sich ran. Seine Hand strich langsam und vorsichtig über meinen Rücken und versuchte mich doch etwas zu beruhigen, doch ich saß neben ihm wie ein Eisblock, nur schemenhaft nahm ich die Welt um mich herum wahr.

Im Raum war daraufhin ein bedrückendes Schweigen. Keiner konnte im ersten Moment darauf eine Antwort geben. Miky setzte sich auf meinen Schoß und begann wie wild zu schnurren. Er wurde genauso unruhig und begann hin und her zulaufen, immer wieder versuchte er sich anzukuscheln. Mit seinem kleinen Katzenkopf begann er immer wieder mit meinem Kinn zu schmusen und stupste leicht mit den Pfoten gegen meinen Mund. Er merkte anscheinend, dass mit mir irgendwas nicht stimmte. Er schmuste immer weiter, er bekam anscheinend Angst um mich, anscheinend haben doch einige Tierchen diesen Draht zu ihren Besitzen und merken sofort, wenn irgendetwas nicht stimmt.

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